Die Romane von André de Richaud - Sophie I. Nieder - E-Book

Die Romane von André de Richaud E-Book

Sophie I. Nieder

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Beschreibung

"Ich kenne André de Richaud nicht, sein schönes Buch werde ich aber nie vergessen, es war das erste, das mir von Dingen erzählte, die ich kannte." So äußerte sich Albert Camus 1951 über "Der Schmerz", jenen Roman, der ihn nach eigener Aussage selbst zum Schriftsteller werden ließ. Wer war dieser Autor, dessen Buch Camus so beeindruckte? Was zeichnet sein literarisches Werk aus und wie wurde es von der Öffentlichkeit und der Kritik aufgenommen? André de Richaud war ein französischer Schriftsteller, Dramatiker und Poet des frühen 20. Jahrhunderts. Diese Arbeit ist eine Einführung in Richauds Werk als Romancier. Seine Romane werden in ihren literarischen und historischen Kontext eingeordnet, verschiedene Interpretationsansätze und stilistische Charakterisierungen sollen das literaturwissenschaftliche Interesse an diesem verkannten Autor wecken. Konkret werden folgende Aspekte von André de Richauds Romanen untersucht: Im ersten Teil wird die These aufgestellt, dass Richauds Romane in der Tradition des Gesellschaftsromans stehen. Hierzu werden in vergleichenden Lektüren einige Charakteristika der Romane herausgearbeitet, die für die Zugehörigkeit zu dieser literarischen Gattung sprechen. Im zweiten Teil werden Richauds Romane im Zusammenhang mit dem Existenzialismus betrachtet. Hier wird argumentiert, dass Richaud einerseits als Vorreiter des Existenzialismus betrachtet werden kann und dass, anderseits, seine späteren Romane von der Literatur und Philosophie des Existenzialismus beeinflusst wurden. Der dritte und vierte Teil sind Richauds wichtigstem Werk, dem Roman "La douleur" ("Der Schmerz") gewidmet. In Teil drei geht es um die Rezeption des Romans bei seinem Erscheinen im Jahr 1931. Anhand der zahlreichen in der Presse erschienen Rezensionen wird der Frage nachgegangen, was 1931 an La douleur als skandalös wahrgenommen wurde. Der vierte Teil besteht aus einer stilistischen Charakterisierung von "La douleur" und einer Interpretation einiger stilistischer Besonderheiten des Romans.

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Die folgende Arbeit wurde im Jahr 2017 als Masterarbeit im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin verfasst.

"Je ne connais pas André de Richaud. Mais je n'ai jamais oublié son beau livre, que fut le premier à me parler de ce que je connaissais. […] La douleur me fit entrevoir le monde de la création […]."

Albert Camus, "Rencontres avec André Gide" (117)

"Je ne suis pas mort."

André de Richaud, Je ne suis pas mort

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Richaud und der Gesellschaftsroman

2.1 Romanzyklus und Familiensaga

2.2 Details des Alltagslebens

2.3 Gesellschaftskritik und Satire

2.4 Außenseiterfiguren und gesellschaftliche Normen

Richaud und der Existenzialismus

3.1 Das Absurde

3.2 Die Flucht vor der Freiheit

3.3 Problematische zwischenmenschliche Beziehungen

3.4 Schreiben als Revolte

3.5

L'étrange visiteur

und

L'étranger

La douleur

– ein Skandalroman: Rezeption

4.1

Prix du premier roman

und Veröffentlichung von

La douleur

4.2 Richauds "Tendenzen"

4.3 Eine Frage der

vraisemblance

?

La douleur

: stilistische Charakterisierung und Lektüre

5.1 Redewiedergabe

5.2 Intertextualität

5.3 Erzählerstimme

Fazit

Bibliographie

Abbildungsverzeichnis

Anhang

Bibliographie André de Richaud

1. Einleitung

"La douleur me fit entrevoir le monde de la création" (Camus, "Rencontres avec André Gide" 1117). Camus schreibt 1951 diese bedeutsame Zeile über André de Richauds ersten Roman, La douleur, in einer Hommage an den kurz zuvor verstorbenen André Gide. In diesem Text, in dem Camus berichtet, wie er selbst zu schreiben begann, widmet Camus André de Richaud einen ganzen Absatz. In der Tat war die Lektüre von La douleur ein Schlüsselerlebnis für den jungen Camus:

L'année suivante, je rencontrai Jean Grenier. Lui aussi me tendit, entre autres choses, un livre. Ce fut un roman d'André de Richaud qui s'appelait La douleur. Je ne connais pas André de Richaud. Mais je n'ai jamais oublié son beau livre, que fut le premier à me parler de ce que je connaissais: une mère, la pauvreté, de beaux soirs dans le ciel. Il dénouait au fond de moi un nœud de liens obscurs, me délivrait d'entraves dont je sentais la gêne sans pouvoir les nommer. Je le lus dans une nuit, selon la règle, et au réveil, nanti d'une étrange et neuve liberté, j'avançais, hésitant, sur une terre inconnue. Je venais d'apprendre que les livres ne versent pas seulement l'oubli et la distraction. Mes silences têtus, ces souffrances vagues et souveraines, le monde singulier qui m'entourait, la noblesse des miens, leur misère, mes secrets enfin tout cela pouvait donc se dire! Il y avait une délivrance, un ordre de vérité, où la pauvreté, par exemple, prenait tout d'un coup son vrai visage, celui que je soupçonnais et révérais obscurément. La douleur me fit entrevoir le monde de la création où Gide devait me faire pénétrer (Camus, "Rencontres avec André Gide" 1117).

Wie dieses emotionale Zitat zeigt, hatte die Lektüre von La douleur den jungen Camus zutiefst beeindruckt, seine Vision von Literatur verändert und ihm so den ersten Impuls gegeben, selbst zu schreiben. Wer ist dieser Autor, der einen so entscheidenden Einfluss auf den Werdegang Camus ausübte?

Abbildung 1: André de Richaud als junger Mann, Foto: Manuel Frères/ Grasset (de Richaud et al. 217)

André de Richaud wird 1907 in Perpignan geboren. Im Jahre 1914, nach dem Tod seines Vaters im Ersten Weltkrieg, zieht er mit seiner Mutter zu deren Vater nach Althen-les-Paluds, einem Dorf im Vaucluse, das auch der Schauplatz einiger seiner Romane werden wird. Seine Mutter stirbt 1923 im Alter von nur 40 Jahren. Richaud, zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, wird als Internatsschüler am collège von Carpentras aufgenommen. Während der Schulferien lebt er bei seinem Großvater, zu dem er ein schwieriges Verhältnis hat. Bereits 1927 veröffentlicht er seinen ersten Text, die Erzählung Comparses, bei den Éditions des Heures (vgl. de Richaud et al. 235)1. Nach seinem baccalaureat studiert er Philosophie und Jura an der Universität von Aix-en-Provence und schreibt weiterhin. 1928 erscheint La vie de Saint Delteil bei der Nouvelle société d'édition. Ab 1929 arbeitet er als Philosophielehrer am lycée in Meaux. Kurz darauf veröffentlicht er La création du monde, einen kurzen Text in poetischer Prosa bei Grasset. Außerdem schreibt er sein erstes Theaterstück Village (vgl. de Richaud et al. 213).

1930 bewirbt sich Richaud mit dem Manuskript seines ersten Romans La douleur für den Prix du premier roman, vergeben von der Revue hebdomadaire. Die Jury wird auf ihn aufmerksam. Einige der Juroren sprechen sich jedoch aus moralischen Gründen gegen seine Auszeichnung aus (vgl. Le Grix 59-60). Nach erhitzten Diskussionen unter den Jurymitgliedern, die auch zu einer öffentlichen Debatte über Literatur und Moral führen, entscheidet sich die Jury gegen eine Preisverleihung an Richaud (vgl. Le Grix 59-60). Sie gratulieren ihm und setzen die Vergabe des Preises in diesem Jahr aus (vgl. Le Grix 60). Die Entscheidung der Jury wird in einem offiziellen Kommuniqué in der Presse veröffentlicht und löst wiederum eine Kontroverse aus (vgl. La douleur/André de Richaud: Préface 7). Die Verlegenheit, in die der Roman die Juroren des Prix du premier roman brachte, und das öffentliche Interesse, das La douleur anschließend zuteil wurde, zeigen, dass der Roman einen Nerv traf.

Die Handlung des Romans ist für die damalige Zeit durchaus gewagt: Thérèse Delombre ist die Witwe eines an der Front im ersten Weltkrieg gefallenen Hauptmanns. Seit Beginn des Krieges lebt sie zusammen mit ihrem zehn- (bzw. elf-)jährigen Sohn Georget in einem kleinen, verlorenen Dorf in der Provence. Als Fremde und Witwe eines Offiziers ist sie im Dorf sozial isoliert. Außerdem leidet sie unter ihren starken sexuellen Wünschen, die sie weder ausleben noch beim Namen nennen darf. Sie ist überzeugt, dass ihr im Leben nichts bleibt als das Warten: das Warten, dass ihr Sohn erwachsen wird und sie verlässt, und dann das Warten auf ihren Tod. Sie konzentriert daher all ihre Aufmerksamkeit auf den kleinen Georget. Eine intensive Beziehung geprägt von Eifersucht und Abhängigkeit entspinnt sich zwischen Mutter und Sohn. Nach einiger Zeit kommt eine Gruppe von Kriegsflüchtlingen ins Dorf. Thérèse entschließt sich, ein Flüchtlingskind bei sich aufzunehmen. Nach kurzer Zeit freundet sich Georget mit dem kleinen Mädchen an und die beiden werden unzertrennlich. Thérèse Delombre wird immer eifersüchtiger und erträgt es nicht, die Liebe ihres Sohns mit einer anderen Person teilen zu müssen. Schließlich bedient sie sich einer Lüge, um das Mädchen wieder loszuwerden: Sie behauptet es habe ihr Geld gestohlen. Georget, der um die Lüge seiner Mutter weiß, nimmt ihr das übel. Die Beziehung der beiden verschlechtert sich, jedoch kehrt nach einiger Zeit wieder der gewohnte Alltag ein. Thérèse entscheidet sich, obwohl sie selbst nicht gläubig ist, Georget zum Katechismusunterricht zu schicken. Georget kommt zum ersten Mal mit der Religion in Kontakt. Er ist von dieser neuen Welt, die sich ihm nun eröffnet, fasziniert und geht voll in seinem neuen Glauben auf. Die Situation ändert sich, als drei deutsche Kriegsgefangene, die in den Weinbergen als Landwirtschaftshelfer eingesetzt werden, ins Dorf kommen und Thérèse ein Verhältnis mit einem von ihnen, dem schönen Otto Rülf, beginnt. Nach einigen Monaten erfährt schließlich das Dorf durch eine böswillige Bekannte Thérèses von ihrer heimlichen Beziehung mit dem Deutschen. Sie wird vom Dorf gemieden und kurz darauf von Otto verlassen. Der Krieg und die patriotische Propaganda dauern an und Thérèses illegitime Beziehung wird vom Dorf als Verrat am Vaterland betrachtet. Während Thérèse, die zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Feindseligkeit des Dorfs ahnt, an einem Beerdigungsumzug teilnimmt, wird ihr Haus mit den Worten "Bordell Franco-Boche" beschmiert – eine öffentliche Erniedrigung. Zu allem Überfluss ist die verstoßene und verlassene Thérèse auch noch schwanger. Sie denkt ernsthaft an Selbstmord, kann sich aber nicht dazu entschließen und zieht sich aus Scham mehr und mehr zurück. Selbst ihr Sohn, gekränkt von der Vernachlässigung, die er während der Liaison seiner Mutter erfahren hat, und von den Anfeindungen des Dorfs angesteckt, beginnt sie zu verachten. In einem Torpor von Verzweiflung fällt sie eines Tages, hochschwanger, die Treppe hinunter, zerbricht dabei eine Öllampe und setzt das Haus in Flammen. Das Buch endet mit einem (fiktiven) Zeitungsartikel aus der Lokalzeitung Écho du Ventoux, in dem berichtet wird, dass Thérèse Delombre im Feuer umgekommen ist. Ihr Sohn Georges, so erfährt man in dem Artikel, konnte gerettet werden, aber er befinde sich auf Grund des Schocks in einer instabilen psychischen Verfassung.

Der Roman wird schließlich im Februar 1931 bei Grasset veröffentlicht. Der Verleger Bernard Grasset macht sich den zweifelhaften Ruf des umstrittenen Romans zunutze, indem er Richauds Manuskript unverändert veröffentlicht und ihm ein Vorwort voranstellt. In diesem berichtet er von der Kontroverse bei der Verleihung des Prix du premier roman und fordert die Leser dazu auf, sich selbst von der moralischen Unbedenklichkeit des Romans zu überzeugen (vgl. Grasset zitiert in "Les lettres: Art et morale" 465-466). La douleur erhält bei seinem Erscheinen viel öffentliche Aufmerksamkeit und löst in der Presse wiederum gespaltene Reaktionen aus. Alles in allem erweist sich der verfehlte Preis als ein großer Erfolg für Richaud, da er ihm zu großer Bekanntheit verhilft.

1932 absolviert Richaud seinen Militärdienst in Paris und veröffentlicht La fontaine des lunatiques, eine Art Bildungsroman mit fantastischen Elementen. Im gleichen Jahr werden zwei seiner Theaterstücke, Le village und Le chateau des papes, unter der Regie von Charles Dullin uraufgeführt. Während dieser Zeit frequentiert er das berühmte Café Les Deux Magots und hat dort Kontakt mit vielen Persönlichkeiten der literarischen Szene (vgl. Malves 51). Richaud lehrt noch kurze Zeit in Paris am lycée Saint-Louis und gibt dann seinen Beruf als Lehrer auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen (vgl. Malves 52).

1936 veröffentlicht er den Roman L'amour fraternel und im darauffolgenden Jahr seinen ersten Gedichtband Le droit d'asile. Es folgen weitere Romane: 1938 erscheint La barette rouge, 1944 La nuit aveuglante und die fiktive "autobiographische Erzählung" La confession publique. Er beginnt außerdem einen Romanzyklus, Les Brunoy, den er nie fertig stellen wird. Die ersten beiden Bände, Le mauvais und La rose de noël erscheinen 1945 und 1947. Hinzu kommt 1947 ein Band von Kurzgeschichten mit dem Titel Le mal de terre. Zu dieser Zeit ist Richaud mit wichtigen Figuren der literarischen und künstlerischen Szene befreundet und hat berühmte Unterstützer u.a. Albert Camus, Jean Cocteau, Joseph Delteil, Fernand Léger und Pierre Seghers (vgl. Malves 50, 54). Trotzdem bleibt nach La douleur der große öffentliche Erfolg aus. Es gelingt ihm nicht, sich durchzusetzen und sein Publikum zu finden. Trotz einiger guter Kritiken gerät er zunehmend in Vergessenheit, wird depressiv und alkoholabhängig (vgl. La douleur/André de Richaud: Préface 8). Er wird weitgehend von Freunden und Unterstützern ausgehalten (vgl. de Richaud et al. 184). Camus kannte ihn vermutlich nur flüchtig, gründete aber zusammen mit einigen anderen Freunden und Bewunderern Richauds einen Verein um ihn finanziell zu unterstützen (vgl. de Richaud et al. 184). Zwischen 1950 und 1958 lebt Richaud in ärmlichen Verhältnissen in einem heruntergekommenen Hotel der Rue des Canettes. Die Wirtin dieses Hotels ist interessanterweise Prousts ehemalige Gouvernante Celeste Albaret (vgl. La douleur/André de Richaud: Préface 8). Trotz seiner Armut und seiner schlechten gesundheitlichen und moralischen Verfassung veröffentlicht Richaud weitere Texte. 1956 erscheint der Roman L'étrange visiteur. Außerdem werden hin und wieder Theaterstücke von ihm aufgeführt und 1954 verlegt Pierre Seghers seinen Gedichtband Le droit d'asile, in dem er Richauds bereits 1937 erschienenen Gedichte durch die in den folgenden Jahren erschienenen ergänzt. Richaud erhält den Prix Appolinaire für diese Gedichtsammlung (vgl. de Richaud et al. 215).

Mit nur 51 Jahren lässt sich Richaud 1958 schließlich in ein Altenheim in Vallauris im Süden Frankreichs einweisen. Sein Aufenthalt dort ist aufgrund der Angabe eines falschen Geburtsdatums möglich (vgl. La douleur/André de Richaud: Préface 8). Er lebt zurückgezogen und mit der Unterstützung einiger enger Freunde. In Paris geht das Gerücht um er sei tot (vgl. Morel). In Vallauris verfasst er 1965 die autobiographische Erzählung Je ne suis pas mort. Robert Morel, einer von Richauds alten Freunden, nimmt Kontakt mit ihm auf, nachdem er zufällig erfährt, dass der totgeglaubte Autor noch am Leben ist, und veröffentlicht kurz darauf Je ne suis pas mort (vgl. Morel). Die literarische Presse entdeckt ihn wieder und der Text wird zu Richauds letztem großen Erfolg. François Mauriac schreibt eine enthusiastische Kritik und Marcel Ayme weist sogar André Malraux, den damaligen Kulturminister, in einem offenen Brief auf das Buch hin (vgl. Brun 11-12). Ihm wird der Prix Roger Nimier verliehen (vgl. Brun 11-12). André de Richaud hat allerdings wenig Zeit seinen neu gewonnenen Ruhm zu genießen. Im Jahr 1968 stirbt er im Alter von 61 Jahren an einer Lungenentzündung.

1970 werden posthum die fiktiven Memoiren Il n'y a rien compris veröffentlicht. Des Weiteren erscheinen mehrere Bände mit gesammelten Kurzgeschichten, die bis dahin noch gar nicht oder ausschließlich in Zeitschriften veröffentlicht worden waren: Retour au pays natal (1985), La Part du diable (1986), Le noël du père Bonnet (2008), Quatre nouvelles (2009), Pays natal, pays mortel (2009) und zuletzt Échec à la concierge (2012). Im Jahr 2012 wird sein Roman La nuit aveuglante mit dem Prix nocturne der Revue Fictions ausgezeichnet (vgl. Virot 61). Aufgrund seines tragischen Schicksals, in dem sich Ruhm und Vergessenheit abwechseln, hat Richaud bis heute den Ruf eines "écrivain maudit" (vgl. Virot 153).

Die Werke Richauds werden seit seiner Wiederentdeckung in den 1960er Jahren durch Robert Morel immer wieder bei verschiedenen Verlagen in Frankreich veröffentlicht. Es ist erstaunlich, dass Richaud, trotz seines wichtigen Einflusses auf die Literatur seiner Zeit und trotz seines glänzenden und skandalumwitterten Auftritts auf die literarische Bühne im Jahre 1930, gegenwärtig nur wenigen bekannt ist. Keiner seiner Texte, mit Ausnahme von der Erzählung Je ne suis pas mort, die 2002 in einer Übersetzung von Esther von der Osten in Lettre International veröffentlicht wurde, ist bisher ins Deutsche übersetzt worden und auch in der Literaturwissenschaft, sowohl in Frankreich als auch in Deutschland, ist der Autor André de Richaud heute verkannt. Diese Lücke soll hier geschlossen werden. Im Anschluss an diese Arbeit habe ich vor, La douleur ins Deutsche zu übersetzen.

Wie bereits erwähnt, liegt kaum Sekundärliteratur zu Richaud vor, die als Grundlage für diese Arbeit verwendet werden könnte. Zu den wenigen Richaud gewidmeten längeren Schriften zählen André de Richaud (ein 1985 von Patrick Cloux herausgegebener Sammelband mit unveröffentlichten Texten, Interviews, Briefen und Fotos von und über Richaud), Sol y sombra: Joseph Delteil et André de Richaud (ein 1996 erschienener vergleichender Aufsatz über Richaud und Delteil), Visions de Richaud (ein biographischer Essay von Ivan Mécif aus dem Jahr 2008) und einige wenige ältere Publikationen. Diese Beiträge haben gemeinsam, dass sie sich hauptsächlich auf Richauds Persönlichkeit und seine Biographie konzentrieren. Sie sind daher für diese Arbeit nur bedingt hilfreich.

Im Rahmen dieser Arbeit soll nur ein Teil von Richauds Werk untersucht werden: seine Romane. Aufgrund von Richauds großer literarischer Produktivität würde eine Betrachtung seines Gesamtwerks hier zu weit führen. Es gilt nun zu determinieren, welche seiner narrativen Texte in die Kategorie "Roman" fallen. Eines der hier zur Unterscheidung ausgewählten Kriterien ist die Länge der Texte: La création du monde und Je ne suis pas mort sind deutlich kürzer als beispielsweise La douleur oder La fontaine des lunatiques. Es scheint mir somit sinnvoller diese Texte als Erzählungen oder Kurzgeschichten zu bezeichnen. Für die noch kürzeren Texte, die mit dem Begriff "nouvelle" im Peritext veröffentlicht wurden, wie beispielsweise Automne, Comparses oder Le mal de terre erübrigt sich die Frage. Ein weiteres Kriterium, das ich zur thematischen Eingrenzung dieser Arbeit einführen möchte, ist die (scheinbar) autobiographische Dimension seiner erzählerischen Werke: La confession publique, Je ne suis pas mort und der posthum erschienene Text Il n'y a rien compris fallen in diese hybride Kategorie. Robert Morel, der Verleger dieser Werke, beschreibt diese Art von Text folgendermaßen: "livre[s] où la confession […] virait au roman quand la confession apparaissait dangereuse" (Morel). Man könnte diese Texte vielleicht, was Länge und Inhalt betrifft, als Romane bezeichnen, allerdings unterscheiden sie sich von Richauds anderen Romanen, indem sie die Form eines fiktionalisiert-autobiographischen in der ersten Person Singular geschriebenen Bekenntnisses annehmen – im Gegensatz zu Richauds anderen Romanen, in denen die Erzählerstimme zumeist extradiegetisch ist und in der dritten Person spricht. Des Weiteren bedarf die Untersuchung dieser hybriden Textart zwischen Autobiographie und Roman meines Erachtens anderer Fragestellungen und Vorgehensweisen als die Untersuchung von Richauds klassischeren Romanen. Aus diesem Grund soll diese Arbeit sich auf die Betrachtung folgender Romane beschränken: La douleur, La fontaine des lunatiques, L'amour fraternel, La barette rouge, La nuit aveuglante, Le mauvais, La rose de noël und L'étrange visiteur. Ein Schwerpunkt soll hierbei auf La douleur, Richauds erstem Roman liegen.

Die vorliegende Arbeit, die als Einführung zu André de Richauds Werk als Romancier gedacht ist, widmet sich folgenden Aspekten seiner Romane: Im ersten Teil wird die These aufgestellt, dass Richauds Romane in der Tradition des Gesellschaftsromans stehen. Hierzu werden in vergleichenden Lektüren einige Charakteristika der Romane herausgearbeitet, die für die Zugehörigkeit zu dieser literarischen Gattung sprechen. Im zweiten Teil werden Richauds Romane im Zusammenhang mit dem Existenzialismus betrachtet. Ich argumentiere, dass Richaud einerseits als Vorreiter des Existenzialismus betrachtet werden kann und dass, anderseits, seine späteren Romane von der Literatur und Philosophie des Existenzialismus beeinflusst wurden. Diese These wird durch existenzialistische Lektüren seiner Romane untermauert. Der dritte und vierte Teil sind La douleur gewidmet. In Teil drei geht es um die Rezeption des Romans bei seinem Erscheinen im Jahr 1931. Anhand der zahlreichen in der Presse erschienen Rezensionen soll der Frage nachgegangen werden, was 1931 an La douleur als skandalös wahrgenommen wurde. Im Anschluss wird ein wiederkehrender Aspekt der Rezensionen von La douleur diskutiert werden: die Kritik an der invraisemblance des Romans. Ich analysiere die damals veröffentlichten Zeitungsartikel und versuche zu interpretieren, was die Implikationen dieser Kritik sind und worauf sie abzielt. Zuletzt nehme ich im vierten Teil eine stilistische Charakterisierung von La douleur und eine Interpretation einiger stilistischer Besonderheiten des Romans vor. Ich hoffe durch die Einordnung der Romane in ihren literarischen und historischen Kontext, durch die Interpretationsansätze und die stilistischen Charakterisierungen einen Einblick in das Werk von André de Richaud geben zu können und das literaturwissenschaftliche Interesse an diesem verkannten Autor zu wecken.

1 Alle hier erwähnten Daten der Veröffentlichungen von André de Richaud sind dem Buch André de Richaud (de Richaud et al 235-238) sowie dem Katalog der Bibliothèque nationale de France entnommen.

2. Richaud und der Gesellschaftsroman

"Le long des bâtiments s'étendait un large fumier, de la buée s'en élevait, et, parmi les poules et les dindons, picoraient dessus cinq ou six paons, luxe des basses-cours cauchoises."

Gustave Flaubert, Madame Bovary (73)

"Souvent, ils justifiaient leur présence aux champs en cueillant des aubépines pour la fermière. Ils avaient tout intérêt à rester là, à se faire oublier, et, parmi les poules et les dindons, apportaient aux paysans rassurés, la froide politesse de l'Allemagne."

André de Richaud, La douleur (26)

"Il est difficilement imaginable aujourd'hui qu'on puisse défendre la thèse selon laquelle tout, dans l'œuvre, est individuel, produit inédit d'une inspiration personnelle, fait sans aucun rapport avec les œuvres du passé" schreibt Tzvetan Todorov in Introduction à la littérature fantastique (11). Es ist demnach für die Betrachtung eines literarischen Texts keineswegs belanglos, in welche literarische Tradition und in welche literarische Gattung (Genre) – oder welche Gattungen, denn ein Text kann durchaus mehrere aufweisen (vgl. Todorov 12) – dieser Text eingeordnet werden kann, denn "Les genres sont précisement ces relais par lesquels l'œuvre se met en rapport avec l'univers de la littérature" (Todorov 12). Eine der wiederkehrenden positiven Kritiken in den Rezensionen von Richauds Romanen ist ihre Darstellung der Gesellschaft, beispielsweise steht in einem Artikel des Nouveau journal über Richauds Roman La douleur: "Le lecteur […] appréciera dans le talent de M. Richaud le don qu'il a […] de rendre vivante cette réalité collective que sont un village et un pays" (Emmerod). In diesem Kapitel soll die These aufgestellt werden, dass Richaud, sowohl was die literarische Form als auch was den Inhalt seiner Romane betrifft, in der Tradition des Gesellschaftsromans steht – ob und inwiefern das der Fall ist soll anhand von Textbeispielen, Interpretationen und Vergleichen zu anderen Gesellschaftsromanen ausführlich diskutiert werden.

Silke Müller und Susanne Wess definieren den Gesellschaftsroman folgendermaßen:

Nach Vorformen im Mittelalter, im Barock und in der Klassik findet der Gesellschaftsroman im 19. Jahrhundert mit der Übernahme der gesellschaftlichen Führung durch das Bürgertum seine endgültige Gestalt. Er ist ein Roman, der [oft] in chronologischem Ablauf mit vielen Handlungssträngen das […] Gesellschaftsleben einer Zeit und die daraus entstehenden Konflikte aufzeigt. Somit ist er teils Verkörperung des Gesellschaftsgeistes […], teils Kritik an der Gesellschaft oder regt zu deren kritischen Analyse an. (Müller und Wess 83).

Man kann dieser Definition hinzufügen, dass der Gesellschaftsroman "häufig als satirischer Gesellschaftsroman auf[tritt]. Ihm kann neben dem […] historischen Panorama-Roman auch der sozialkritische Roman und der satirische Roman zugeschlagen werden" (Anz et al. 636).

Als Hauptvertreter des Gesellschaftsromans gelten beispielsweise Jane Austens Sense and Sensibility, Stendhals Le rouge et le noir, Gustave Flauberts Madame Bovary, Honoré de Balzacs Le médecin de campagne und Lew Tolstois Anna Karenina (vgl. Müller und Wess 83). Der Gesellschaftsroman ist zwar ein charakteristisches Phänomen des 19. Jahrhunderts, trotzdem ist er keineswegs zeitlich an dieses gebunden. So wird etwa auch Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften aus dem Jahr 1930 häufig als einer der typischen Vertreter des Gesellschaftsromans genannt (vgl. Müller und Wess 83).

Das wörtliche Äquivalent des Begriffs Gesellschaftsroman im Französischen ist roman social. Jedoch bezieht sich der Begriff roman social nicht auf genau das Gleiche wie der Begriff Gesellschaftsroman. In der literaturwissenschaftlichen Tradition wird als roman social häufig ein Roman bezeichnet, der sich nicht nur mit der Gesellschaft, sondern spezifisch mit dem "milieu populaire", also der Arbeiterklasse, auseinandersetzt, wie dies zum Beispiel in einigen von George Sands oder Émile Zolas Romanen der Fall ist (vgl. Biermann 81). Insofern sollten diese beiden Begriffe unterschieden werden.

Die Bezeichnung Gesellschaftsroman überschneidet sich außerdem mit der ca. 1827 in Frankreich etablierten Bezeichnung roman de moeurs bzw. mit der englischen novel of manners, die auch häufig (und missverständlicherweise) als Übersetzung des Begriffs Gesellschaftsroman genannt werden (vgl. Anz et al. 636; vgl. Switzer 566-567). Ein wichtiger Unterschied ist aber, dass in den meisten Definitionen des roman de moeurs (sowie in denen der novel of manners) betont wird, dass die Darstellung der Sitten der Gesellschaft die ausschließliche raison d'être dieser Art von Roman sind. So schreibt etwa Richard Switzer: