Die Sache in London - Helene Reckling - E-Book

Die Sache in London E-Book

Helene Reckling

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Beschreibung

Als Clara Behrent auf der Hochzeit ihrer Schwester Niklas Wilde kennen lernt, nimmt ihr bisher ruhiges, beschauliches Leben eine turbulente Wendung. Plötzlich hat sie einen attraktiven, liebevollen, faszinierenden Freund, der sie so liebt, wie sie ist. Wenn doch nur nicht die ständigen Andeutungen und Anfeindungen seitens ihrer Schwester wären, die auf einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit hinweisen ...

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Kurzbeschreibung: Als Clara Behrent auf der Hochzeit ihrer Schwester Niklas Wilde kennen lernt, nimmt ihr bisher ruhiges, beschauliches Leben eine turbulente Wendung. Plötzlich hat sie einen attraktiven, liebevollen, faszinierenden Freund, der sie so liebt, wie sie ist. Wenn doch nur nicht die ständigen Andeutungen und Anfeindungen ihrer Schwester wären, die auf einen dunklen Punkt in seiner Vergangenheit hinweisen ...

Helene Reckling

Die Sache in London

Roman

Edel Elements

Edel Elements

- ein Verlag der Edel Verlagsgruppe GmbH

© 2021 Edel Verlagsgruppe GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2021 by Helene Reckling

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Ashera.

Covergestaltung: Designomicon, München.

Konvertierung: Datagrafix

Lektorat: Jennifer Eilitz

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-399-1

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Inhalt

Kapitel 1: Willst du, Laura?

Kapitel 2: Der Reiz des Unbekannten

Kapitel 3: Herrlich gefährlich

Kapitel 4: Der süße Lohn der Selbstüberwindung

Kapitel 5: Und nur der Mond schaut zu

Kapitel 6: Ich will Antworten!

Kapitel 7: Der Durchbruch

Kapitel 8: Stille Nacht

Kapitel 9: Unheilige Nacht

Kapitel 10: Eiszeit

Kapitel 11: London calling

Kapitel 12: Rette mich, wer kann!

Kapitel 13: Kaffee mit Folgen

Kapitel 14: Lauras Stern

Kapitel 15: Christine

Kapitel 16: Ein ungebetener Gast

Kapitel 17: Böses Erwachen

Kapitel 18: Atempause

Kapitel 19: Schlimmer geht immer

Kapitel 20: Ein Ende mit Schrecken

Kapitel 21: Zeit zum Aufatmen

Kapitel 22: Willst du, Clara?

Kapitel 1

Willst du, Laura?

„Clara! Geh und sieh nach, ob deine Schwester so weit ist. Der Pfarrer ist gerade eingetroffen“, hörte ich meine Mutter von der Treppe her zu mir heraufrufen.

Ich saß auf dem Bett in meinem alten Zimmer meines Elternhauses, hatte ein Buch in den Händen und versuchte mein Möglichstes, dem Gewusel im Haus aus dem Weg zu gehen.

„Clara? Hast du mich gehört?“, erklang erneut die befehlsgewohnte Stimme meiner Mutter.

„Ja!“, rief ich laut. Mit einem genervten Seufzen legte ich meine Lektüre beiseite und stand auf. Ich ging betont langsam den Flur entlang zum Zimmer meiner Schwester, wo diese mit ihren immens lebhaften Freundinnen dabei war, sich feucht-fröhlich für den großen Tag in Schale zu werfen.

Schon durch die geschlossene Tür hörte ich ihr Geschnatter, Gekicher und ohrenbetäubendes Gequietsche. Ich holte einmal tief Luft, um mich zu stählen, und trat ein.

Ihre drei Brautjungfern – obwohl der Begriff „Jungfer“ wohl bei keiner zutreffend war – saßen auf ihrem Bett und dem Schreibtischstuhl, während meine drei Jahre ältere Schwester Laura mitten im Raum stand. Sie sah umwerfend aus. Ihr blondes Haar war in kleine Locken gedreht und auf ihrem Kopf aufgetürmt. Sie hatte auf einen Schleier zugunsten einer aufwendig gearbeiteten silbernen Tiara mit kleinen rosa Steinen verzichtet.

Ihr Kleid war aus zartrosa Seide, trägerlos, mit einer kräftigen bordeauxroten Borte am Ausschnitt und einer gleichfarbigen Schärpe um ihre zierliche Taille, die hinten fast bis zum Boden reichte. Der Rock bauschte sich imposant um ihre schlanken Beine.

Ihre Brautjungfern trugen ebenso zartrosafarbene bodenlange, eng geschnittene Seidenkleider. Nur ich, als Lauras Trauzeugin, stach aus der süßen rosa Masse hervor. Und das war auch gut so. Es hatte mich etliche Mühe gekostet, ihr klarzumachen, dass ich auf gar keinen Fall in Rosa antreten würde. Wenn es denn sein musste, würde ich ein sehr unpraktisches Kleid tragen, aber auf keinen Fall rosa Seide!

„Mama will wissen, ob du heute noch fertig wirst. Der Pfarrer ist auch schon da.“ Ich stand mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen gelehnt und betrachtete die Szene schweigend. Ich dachte mir meinen Teil, behielt meine Meinung aus Rücksicht auf die ohnehin blank liegenden Nerven meiner Schwester jedoch für mich.

Laura drehte sich zu mir um und musterte mich von Kopf bis Fuß. Ich trug ein bordeauxrotes, schulterfreies Taftkleid, das bis zum Boden reichte. Die halblangen Trompetenärmel passten wunderbar zu dem leicht ausgestellten Rock. Dafür war ein Unterrock mit Tüllbesatz verantwortlich. Mein langes schokobraunes Haar war bereits frisiert und fiel in dichten Wellen lose über meinen Rücken. Gebändigt wurde es von einem silbernen Haarreif, dessen Stränge ineinander verschlungen waren und ein anmutiges Muster bildeten. Er erinnerte ein wenig an eine Tiara. Kleine silberne, tropfenförmige Ohrhänger und die passende Kette verliehen mir den letzten Schliff. Auch die für mich unübliche Prozedur des Schminkens hatte ich bereits hinter mich gebracht.

„Hast du wieder auf dem Bett gelesen? Du bist völlig zerknittert“, tadelte meine Schwester mich. Bevor ich reagieren konnte, war sie bei mir und zupfte an meinem Rock und meinen Haaren herum.

„Das reicht jetzt“, sagte ich nachdrücklich und schob ihre Hände weg.

„Du bist unmöglich!“, schimpfte sie.

„Ja, ich weiß. Könntest du jetzt bitte heiraten?“

Ihr eisblauer Blick verfing sich in meinen haselnussbraunen Augen.

Lauras Freundinnen tuschelten und lachten leise.

Schließlich trat ich einen Schritt zurück und deutete mit der rechten Hand hinter mich. „Können wir?“

Laura wandte sich halb ab, sah mich aber nach wie vor an. „Sag Mama, wir sind in zwei Minuten unten.“

Ich nickte und verließ den Raum. Ob das so stimmte, bezweifelte ich, aber gut.

Auf dem Treppenabsatz lag Oscar, mein heiß und innig geliebter zweijähriger Bernhardiner, und schlummerte friedlich.

„Oscar.“ Beim Klang meiner Stimme hob er seinen großen Kopf und sah schläfrig zu mir auf. Ich pfiff durch die Zähne und wies mit einem Kopfnicken nach unten. Langsam und schwerfällig erhob er sich und tapste gemütlich vor mir die Treppe hinunter. Wenn Oscar gerade erst erwachte, war er zu nichts zu gebrauchen. In dieser Hinsicht waren wir uns sehr ähnlich.

Unten blieb ich stehen und rief: „Mama, Laura sagt, sie braucht noch zwei Minuten. Also dauert es gar nicht mehr lange, bis wir sie endgültig los sind.“

Mein Vater war unbemerkt aus seinem Arbeitszimmer gleich neben der Treppe getreten. Bei seinem leisen Räuspern drehte ich mich um und sah, dass er grinste.

„Paps!“ Ich musterte ihn von Kopf bis Fuß und pfiff anerkennend. Es war schon eine Weile her, dass ich meinen Vater in einem so schicken Anzug gesehen hatte. Dem Anlass entsprechend, hatte Mama ihm einen ganz besonders edlen Zwirn beschafft: schwarz, dazu ein leuchtend weißes Hemd und eine bordeauxrote Krawatte. Seine schwarzen Schuhe glänzten und sein dunkles, leicht meliertes Haar war frisch gestutzt und ordentlich gekämmt. Er war zweifellos eine stattliche Erscheinung.

„Ist Mama sich eigentlich bewusst, was sie da tut, wenn sie dich so rausputzt? Ich will keine Stiefmutter!“

Papa legte den Kopf schräg und sah mich groß an. „Böses Clärchen!“

„Was denn? Ich mein doch nur, dass du toll aussiehst und dass das auch anderen Frauen auffallen wird“, schniefte ich theatralisch und schob die Unterlippe vor.

„Keine Angst. Ich bin treu wie Gold.“ Seine braunen Augen, die den meinen so sehr ähnelten, funkelten verschwörerisch.

„Nun steht einem friedlichen Leben auch fast nichts mehr im Wege.“ Während ich sprach, wanderte mein Blick vielsagend nach oben.

Wir hatten uns gestern Abend auf der Terrasse bei einem Bier unterhalten und waren beide zu dem Schluss gekommen, dass es Zeit war, dass Laura aus dem Haus kam. Sie war dreißig und es wurde Zeit, dass sie ihr Leben umkrempelte, in ihrem Job als Dolmetscherin kürzertrat und sich der Gründung einer eigenen Familie widmete. Dann könnte sie ihre gesamte Energie darauf verwenden, ihre eigenen Kinder und ihren Göttergatten zu kritisieren und zu erziehen. Papa und ich waren ihrer ständigen Verbesserungsvorschläge für unser Äußeres, unser Benehmen und unser Dasein im Allgemeinen mehr als leid.

Mama anderseits war wahrhaftig traurig darüber, dass ihre ältere Tochter nun heiraten und mit ihrem Mann nach England gehen würde. Diese Regung war uns gänzlich unverständlich.

„Vielleicht findet mein kleiner Trotzkopf ja heute auch einen netten Mann“, sagte Papa beiläufig.

Ich hob fragend eine Augenbraue.

„Du siehst bezaubernd aus, Clärchen. Und wenn die Männer nicht alle vollkommen verblödet sind, wird ihnen das auffallen.“

„Danke, aber ich fürchte, du bist voreingenommen.“

„Papperlapapp.“

Es lag nicht daran, dass ich keinen Partner wollte, sondern eher daran, dass es verdammt schwer war, jemanden zu finden, wenn das Leben aus Arbeit, Hund und Büchern bestand.

„Manchmal geschehen die Dinge, wenn wir am wenigsten damit rechnen.“

„Ach mein daueroptimistisches Papilein.“ Ich küsste ihn auf die Wange und fühlte mich einmal mehr von ihm getröstet.

Wir schwiegen und beobachteten Oscar dabei, wie er durch das Foyer strich und überall neugierig schnupperte.

„Kann er in deinem Arbeitszimmer bleiben? Wenigstens während der Zeremonie? Der bringt‘s fertig und stürzt sich auf die Hochzeitstorte.“ Es war zwar wahrscheinlicher, dass ich mich auf die Torte stürzen würde, aber ich wollte Oscar trotzdem aus der Schusslinie wissen. Wenn er heute einem der Gäste auch nur zu nahe kam, würde Mama ihn eigenhändig aus dem Haus werfen. Als Papa nickte, beorderte ich meinen Vierbeiner zu mir und führte ihn ins Arbeitszimmer.

Auf seinem großen Schreibtisch türmten sich Aktenberge, aufgeschlagene Gesetzesbücher und sein Laptop war eingeschaltet. Papa war selbstständiger Steuerberater mit einer gutgehenden Kanzlei.

„Glaubst du ernsthaft, du könntest heute noch groß was schaffen?“, erkundigte ich mich über die Schulter.

„Ich wollte zumindest so lange fleißig sein, bis Mama mich hier herauszerrt.“

Das lag durchaus im Rahmen des Möglichen.

Von oben vernahmen wir die aufgeregten Stimmen der Brautjungfern, die ununterbrochen durcheinanderredeten, ohne auch nur eine Sekunde darauf zu achten, was die anderen sagten.

„Es geht los“, raunte Papa mir zu. Wir blickten erwartungsvoll nach oben.

Laura kam wie ein rosa Rausche-Engel die Treppe hinuntergeschwebt. Sie blieb vor uns stehen und strahlte aufgeregt und glücklich zugleich.

Unserem Papa stand der Vaterstolz ins Gesicht geschrieben.

„Laura, du sieht traumhaft aus. Freddie ist ein sehr glücklicher Mann.“

„Danke“, hauchte sie. Nun zeigten auch ihre Wangen ein ganz zartes Rosa.

In dem dringenden Bedürfnis, nichts Unbedachtes von mir zu geben, machte ich kehrt und ging auf unsere Mutter zu, die mir aus dem hinteren Teil des Hauses entgegenkam.

„Da seid ihr ja endlich. Dann können wir ja anfangen.“ Sie nahm mich am Arm und dirigierte mich zur Terrassentür, wo auf einem kleinen Klapptisch unsere Sträuße aus zartrosa und dunkelroten Rosen parat lagen.

Braut, Brautvater und Brautjungfern hatten uns eingeholt.

An der Wand gegenüber des Tisches stand eine Reihe junger Männer, die uns erwartungsvoll entgegenblickten.

Wie Mama nun einmal veranlagt war, übernahm sie das Kommando.

Sie reichte jedem Mädchen seinen Blumenstrauß und schob es anschließend zu dem für sie zugedachten Herren.

Es handelte sich um übersättigte, erfolgsverwöhnte Geschäftsmänner um die 30, mit der Intensität und der Ausstrahlung eines nassen Waschlappens. Alle stammten sie aus guten Familien. Sie sahen aus, als wären sie allesamt vom selben Designer entworfen worden. Ich würde wetten, dass sie auch alle ähnlich intelligente Gespräche über Aktien, die Weltwirtschaft und neue Geschäftsmöglichkeiten draufhatten. Wenn ich richtig Glück hatte, würde der eine oder andere mir noch über die neuesten Entwicklungen aus der Automobilbranche berichten können oder mir Tipps geben, wo ich meinen alten Hobel am besten aufmotzen lassen könnte.

Ich konnte mir ein gequältes Stöhnen nicht verkneifen. Laura drehte sich zu mir um und durchbohrte mich mit einem warnenden Blick. Als Antwort zuckte ich mit den Schultern und nahm den mir angebotenen Arm des Trauzeugen meines zukünftigen Schwagers. Soweit ich wusste, hieß er Danny und war sein jüngerer Bruder.

Einen Nachmittag würde ich diese Clownsbrigade schon aushalten – zumindest hoffte ich dies inständig.

Nachdem Mama uns zu ihrer vollen Zufriedenheit arrangiert hatte, huschte sie hinaus in den Garten, um das Startsignal zu geben. Vor mir standen die drei Brautjungfern mit ihren Begleitern, neben mir machte sich Danny bereit und hinter uns warteten Laura und Papa.

Draußen begann das Streichquartett mit dem klassischen Stück, das meine Mutter für diesen Anlass ausgesucht hatte, und das erste Pärchen setzte sich in Bewegung. Ich fand es erstaunlich, dass sie trotz ihres bereits erheblichen Alkoholkonsums noch in der Lage waren, geradeaus zu gehen. Es sah aus, als würden sie einander stützen. So in meine Gedanken vertieft, entging mir beinahe der leicht lüsterne Blick meines Begleiters Danny. Ich wandte mich seufzend ab.

Der weitläufige Garten hinter unserem Haus war seit Tagen von vielen fleißigen Helfern in ein Märchen aus Blumen, Schleifen und kunstvollen Springbrunnen verwandelt worden. Überall befanden sich kleine Sitzgruppen, damit man sich dort nach der Zeremonie am reichhaltigen Buffet bedienen konnte. Selbst mein recht zynisches Gemüt war davon gerührt. Vielleicht etwas zu viel Rosa für meinen Geschmack, aber wem es gefiel …

Ich hörte meinen Vater hinter mir schnauben und musste mir ein Grinsen verkneifen. Also war ich nicht allein mit meiner Meinung. Wobei ich glaubte, in seinem Schnauben auch so etwas wie Unglauben mitschwingen zu hören. Die Rechnung für diesen Traum würde dann wohl auch den letzten Zauber verpuffen lassen. Aber die Freiheit hatte schon immer einen hohen Preis verlangt.

Die Hochzeit war gut besucht. Etwa 120 Gäste aus dem engsten Familien- und Freundeskreis hatten sich angemeldet und bis auf ein paar Ausnahmen waren sie auch alle erschienen. Sie sahen allesamt ordentlich herausgeputzt und elegant aus. Die Damen hatten diese Gelegenheit zweifelsohne genutzt, um ihrer Lieblingsboutique einen Besuch abzustatten. Natürlich hatten sie auch ihre Männer, Freunde und Söhne nicht vergessen. Ich musste schon zugeben, dass dies hier eine topmodische Bande war.

Wir marschierten angemessenen Schrittes den Mittelweg entlang. Alle Augen waren auf uns gerichtet.

Nur nicht nervös werden, sagte ich mir immer wieder, denn das hätte fatale Folgen für meinen graziösen Auftritt gehabt. Ich sah mich schon mit dem Gesicht nach unten auf dem roten Teppich liegen, während sich alle Anwesenden vor Lachen die Bäuche hielten.

Doch dann hatten wir es geschafft und waren vorne beim Pfarrer angekommen. Mein zukünftiger Schwager Freddie sah nervös aus. Ich fragte mich, ob er seine voreilige Frage vom letzten Valentinstag bereits bereute. Aber er war so ein lieber treuer Kerl, er würde nie von einem Versprechen zurücktreten, das er einmal eingegangen war. Nicht geschäftlich und auch nicht im Privatleben. Laura war wirklich zu beneiden.

Diese kam jetzt am Arm unseres Vaters den Gang entlang geschwebt. Sie schien von innen heraus zu strahlen und war eine umwerfende Braut.

Papa küsste sie auf die Wange und übergab sie dann an ihren Zukünftigen. Gott, die beiden wirkten so glücklich und so verliebt, dass mir beinahe übel wurde.

„Liebe Familie und Freunde“, begann Pfarrer Lämmlein seine Rede. Auch jetzt fiel mir wieder auf, dass wohl noch nie ein Mensch seinem Namen so viel Ehre gemacht hatte wie unser guter Herr Pfarrer. Er war vermutlich der sanftmütigste Mensch, den ich kannte.

Gut, Zeit für mich, mir die Gäste etwas genauer anzusehen.

Die meisten davon kannte ich nicht. Die meisten davon willst du gar nicht kennen, flüsterte mir eine kleine boshafte Stimme zu. Sie hatte zwar recht, aber trotzdem verbat ich mir weitere solcher Kommentare. Dies war Lauras großer Tag und nicht der Ort oder die Zeit für meine boshaften kleinen Stimmen, mir Dinge einzuimpfen.

Unsere Mutter presste sich ein Taschentuch an die Lippen und versuchte, ein Schluchzen zu unterdrücken. Es gelang ihr nicht wirklich. Das hätte selbst ein Hörgeschädigter noch mitbekommen. Papa zwinkerte mir zu und legte den Arm um seine Frau, die jetzt in kürzeren Abständen und immer heftiger zu schluchzen begann.

Unsere Großeltern waren ebenfalls anwesend. Sie saßen direkt neben unseren Eltern und blickten stolz auf ihre älteste Enkelin. Mich bedachten sie mit etwas abschätzigen Blicken, aber das störte mich nicht. Mein Großvater mütterlicherseits war bereits eingenickt und bekam mal wieder nichts mit.

Ich hatte auch die Eltern meines Schwagers, Dave und Karen, bereits kennengelernt. Sie waren nette Leute. Sehr umgänglich und man konnte verstehen, warum Freddie so geworden ist. Alles eine Frage der Vererbung.

Freddies Bruder war ein ganz anderes Kaliber. Er stand neben ihm und beäugte mich, na sagen wir mal: interessiert. Ich warf ihm einen kalten Blick zu und hoffte, dass er nicht einer der von Papa prophezeiten jungen Männer war, doch etwas verriet mir, dass es so sein würde.

Um mich abzulenken, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder den Gästen zu. Langsam ließ ich meinen Blick die Reihen entlangwandern und betrachtete sie. Bei einigen war die Familienzugehörigkeit eindeutig erkennbar, bei anderen eher weniger.

Am hinteren Ende des Gartens sah ich Oscar. Verflixt! Hatte er sich tatsächlich die Tür des Arbeitszimmers geöffnet. Nun sagte er gerade einer Schleife den Kampf an, die einen weißen Blumenständer schmückte, auf dem ein Topf mit zartrosa Blumen stand. Mir schwante Schreckliches! Und richtig: Mit einem von unserem Standpunkt aus kaum hörbaren Plumps fiel der Blumenständer mitsamt des Blumentopfes um. Oscar schnupperte kurz an den Blüten, ob sie vielleicht etwas Abwechslung in seinen Ernährungsplan bringen würden, schien dies aber mit einem klaren Nein zu bescheiden und schnappte so nach der Tüllschleife und zerrte heftig daran, bis sie aufgab und er sie mit sich schleifen konnte, um ihr ohne Zeugen den Rest zu geben. Ich wusste nicht genau, ob ich lachen oder mit ihm schimpfen sollte. Mama würde einen Anfall bekommen, wenn sie das sah!

„Laura Caroline, gelobst du, den hier anwesenden Frederic Charles zu deinem Ehemann zu nehmen, ihn zu lieben und zu ehren, in guten wie in schlechten Zeiten, in Krankheit und Gesundheit, bis dass der Tod euch scheidet? Dann antworte mit Ja“, hörte ich Pfarrer Lämmlein gerade sagen.

Ups, da hätte ich doch fast den wichtigsten Teil verpasst!

„Ja“, antwortete meine Schwester laut und deutlich. Ich blickte zu meinem Papa und wir lächelten beide zufrieden, während Mama immer noch schluchzte. Aber sie war nicht die Einzige. Etliche der anderen Damen betupften sich ebenfalls die Augen.

„So nehmt diese Ringe als Zeichen eurer unendlichen Liebe und sprecht mir nach …“

Nachdem beide ihr Eheversprechen abgelegt hatten, erklärte der Pfarrer: „Somit erkläre ich euch zu Mann und Frau! Du darfst die Braut jetzt küssen.“ Was Freddie auch prompt tat. Laura schaffte es gerade noch, mir ihren Brautstrauß in die Hand zu drücken, bevor ihr Mann über sie herfiel. Wer hätte dem scheuen Freddie so viel Leidenschaft zugetraut?

Die Anwesenden brachen in Applaus aus.

„Ich präsentiere Ihnen zum ersten Mal das Ehepaar Frederic und Laura Parson“, rief der Pfarrer und provozierte damit eine weitere Runde Applaus.

Laura umarmte mich stürmisch. Ihr rannen Tränen über ihr schönes Gesicht. Sie war glücklich. Dann küsste sie mich auf die Wange, nahm ihre Blumen, anschließend den Arm ihres Mannes und eilte mit ihm den Mittelgang zurück. Freddies Bruder trat auf mich zu, bot mir seinen Arm an und so folgten wir dem glücklichen Paar in gebührendem Abstand, gefolgt von den anderen Brautjungfern und ihren Galanen.

Sobald wir im Haus waren, machte ich mich von diesem Früchtchen an meiner Seite los und stellte mich etwas abseits. Doch er schien nicht so schnell aufgeben zu wollen. Da kamen unsere Eltern herein. Mama fiel ihrer Großen um den Hals, Papa schüttelte Freddie die Hand und hieß ihn herzlich in unserer Familie willkommen. Dann wandte er sich um und kam zu mir. Er umarmte mich und flüsterte: „Wir haben‘s geschafft, Clärchen!“ Er war der einzige Mensch auf Erden, der mich ungestraft so nennen durfte.

„Oh ja“, flüsterte ich zurück und machte mich dann von ihm los. Wir wandten uns wieder den anderen zu und nahmen deren Glückwünsche und Komplimente entgegen.

Da fiel mir Oscar wieder ein.

„Würdet ihr mich bitte entschuldigen? Mir ist gerade etwas eingefallen“, entschuldigte ich mich bei Laura und Freddie und ging, um meinen vierbeinigen Unruhestifter zu suchen. Ich bahnte mir einen Weg durch die Menschenmenge hinaus in den Garten, wo ich ihn am ehesten vermutete.

„Wir werden aber gleich noch Fotos machen, also sei schnell wieder da und mach ja dein Kleid nicht schmutzig!“, rief Laura mir nach.

„Ja, Mama“, brummte ich vor mich hin. Was glaubte die denn, wie alt ich war? Ich biss die Zähne zusammen, um nicht doch noch eine unpassende Antwort zu geben.

Kapitel 2

Der Reiz des Unbekannten

Draußen atmete ich erst einmal tief durch.

„Oscar!“, rief ich laut. „Wo bist du?“ Wieder ein ungnädiges Brummen meinerseits. „Oscar, verdammt noch mal. Komm her!“

Entnervt stakste ich auf meinen hohen Absätzen dahin und blickte mich suchend um. Als ich ihn dann endlich fand, lag er wie die personifizierte Unschuld im Schatten einer großen Eiche und blickte mich so treu an, wie nur er es konnte. Doch er war nicht allein. Ein junger Mann saß neben ihm im Gras und kraulte ihm den Kopf, als wären sie schon seit Jahren gute Freunde.

„Oscar, wirst du mir etwa untreu?“, fragte ich überrascht. Während ich die vertraute Szene beobachtete, legte ich den Kopf schräg und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Nein, wir haben nur eine kurzlebige Affäre. Nichts Ernstes“, antwortete der junge Mann. Seine Stimme war tief und wohltönend. Äußerst angenehm, wie ich fand.

Neben den beiden im Gras lag, völlig vergessen, die besiegte rosa Tüllschleife.

Mit einem resignierten Seufzen sagte ich: „Und ich hatte Angst um die Torte! Aber ich denke, die hier hatte es verdient.“ Ich trat näher und stupste die Überreste der Schleife mit der Schuhspitze an.

„Jap. Rosa Tüllschleifen müssen vernichtet werden“, stimmte mir der Mann zu. Er trug zwar einen ziemlich schicken dunkelgrauen Anzug, doch er hatte sich ins Gras gesetzt, als wäre es ihm egal, wenn er ihn ruinierte.

Hm, sympathischer Zug, dachte ich. Was würde Laura wohl mit mir machen, wenn ich mit meinem Kleid hier im Gras sitzen würde?, ging es mir durch den Kopf.

„Du sahst vorhin nicht so aus, als würdest du dich wohlfühlen, da vorne“, bemerkte er und blickte mich von der Seite ruhig an.

„Äh, nein. Ja! Ach, na ja, so schlimm war es eigentlich gar nicht. Immerhin musste ich ja nicht das Ja-Wort geben. Ich hatte einen tollen Platz, um die Gäste zu beobachten“, versuchte ich mich herauszureden.

„Das habe ich bemerkt. Du hast den Gästen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als der eigentlichen Zeremonie.“

Hatte er mich etwa beobachtet? Und warum, zur Hölle, war er mir nicht aufgefallen? So ein markantes Gesicht stach doch aus der Masse hervor wie ein Pfau aus einem Schwarm Graugänse. Ich zuckte mit den Schultern und grinste schuldbewusst.

„Wer auch immer diese Hochzeit geplant hat, hat sich äußerst viel Mühe gegeben. Es ist wirklich … außergewöhnlich.“ Während dieser ganzen Zeit hatte er nicht aufgehört, Oscar zu streicheln und ihn zu beobachten. Der verschmuste Verräter ließ sich diese unerwartete Zuwendung natürlich liebend gern gefallen.

„Etwas zu viel Tüll und Rosa vielleicht“, fügte er noch hinzu.

„Viel zu viel Tüll“, murmelte ich vor mich hin. Er schien mir nicht ganz folgen zu können, denn er sah mich mit erhobener Augenbraue an. Ich hob den Saum meines Kleides einige Zentimeter, sodass er den darunter verborgenen schwarzen Tüll erspähen konnte. Er lachte laut auf.

„Meine Schwester hatte schon immer eine Schwäche für Kitsch. Je mehr, desto besser. Diese rosa Ungeheuer und die vielen Blumen und Schnörkel sind ganz eindeutig ihr Werk. Für mich ist es etwas übertrieben, aber so ist Laura nun mal. Wenn sie sich erst mal etwas in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich davon nicht mehr abbringen.“ Bei dieser Bemerkung konnte ich es mir nicht verkneifen, eine Grimasse zu schneiden.

Ich hätte schwören können, dass bei meinen Worten ein Schatten über sein Gesicht gehuscht war.

„Dann bist du Clara? Freddie hat schon von dir erzählt. Aber was war das denn eben für ein Gesicht?“ Seine Stimme war leise und es schwang eine gewisse Belustigung darin mit.

Ich verdrehte die Augen. „Ja, ich bin Lauras Schwester Clara. Und das ist mein Gesicht, wenn ich über Laura spreche.“ Mir war bewusst, dass das nicht gerade freundlich klang, aber das kümmerte mich im Moment nicht.

„Und Freddie hat mit seinen Erzählungen über dich nicht übertrieben“, antwortete er ruhig und erhob sich. Der zusätzlichen Dosis Streicheleinheiten beraubt, hob Oscar den Kopf und blickte den Mann fragend und beinahe vorwurfsvoll an.

„Das war‘s, Baby! Er hat genug von dir. Jetzt wirst du wohl wieder mit mir vorliebnehmen müssen“, erklärte ich meinem Vierbeiner traurig.

Der junge Mann lachte und kam auf mich zu. Er streckte mir die Hand entgegen und lächelte auf mich herab. Er war groß, bestimmt um die ein Meter neunzig und kräftig gebaut. Er überragte mich um ein gewaltiges Stück und nicht einmal meine fast zehn Zentimeter hohen Absätze konnten dies mindern. Ich legte den Kopf in den Nacken und blinzelte ihn misstrauisch an. Was hatte Freddie wohl über mich erzählt?

„Ich bin Niklas Wilde. Freddie und ich haben zusammen in London Wirtschaft studiert. Seitdem haben wir uns zwar etwas aus den Augen verloren, aber ich habe ihm damals versprochen, bei seiner Hochzeit mit Laura anwesend zu sein. Ich wollte ihm früher nicht glauben, dass er und deine Schwester irgendwann vor den Traualtar treten würden, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Und das erklärt meine Anwesenheit.“

Ich ergriff seine Hand und sah zu, wie diese meine eigene fast völlig verschluckte.

„Clara Behrent“, erklärte ich ihm überflüssigerweise.

„Freut mich, Clara!“ Er drückte meine Hand.

„Was hat Freddie über mich gesagt?“, fragte ich interessiert.

„Er meinte, dass du ganz anders bist als seine Frau. Obwohl ihr Schwestern seid, seid ihr wie Tag und Nacht.“

„Dann bin ich wohl die Nacht“, bemerkte ich mit einem schiefen Grinsen.

Er lachte. „Keine Angst. Dein Schwager mag dich gerne. Er hat nur gesagt, dass es schwer ist, an dich heranzukommen.“ Seine grünen Augen studierten mein Gesicht, als würden sie eine Bestätigung für diese Aussage suchen.

„Ich lasse nicht jeden an mich heran, da hat Freddie recht“, bestätigte ich ihm mit einem unterdrückten Seufzen. Ich hoffte, dass er den Subkontext in dieser Aussage erfasste, aber so viel Intelligenz gestand ich ihm ohne Weiteres zu.

„Clara!“, hörte ich jetzt die Stimme meiner Mutter rufen. „Clara, wo bist du? Wir wollen jetzt Fotos machen. Wo bist du, Kleines?“ Sie klang schon leicht genervt, fiel mir auf. Aber gut, sie hörte sich öfter mal genervt an, wenn sie mit mir oder meinem Papa sprach.

Niklas ließ meine Hand los und zog sich etwas zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass er sie immer noch festgehalten hatte.

Und da kam Mama auch schon um die Ecke gestürmt. Als sie uns entdeckte, verdüsterte sich ihr Gesicht und sie kam mit leicht gesenktem Kopf auf uns zu. Dieser Anblick erinnerte mich an einen Stier, der auf den Stierkämpfer losging. Ich grinste zu Niklas empor und wandte mich zu ihr.

„Clara Annabelle Behrent!“

Danke, Mama, ging es mir durch den Kopf. Ich versuchte, meinen verhassten zweiten Namen nach Möglichkeit immer zu unterschlagen, aber warum sollte ich mich bemühen, wenn meine Mutter ihn so freigiebig herausposaunte? Gerade noch im selben Moment, konnte ich ein abgrundtiefes Seufzen herunterschlucken.

Meiner lieben Mama schien dieser Missstand völlig zu entgehen. Stattdessen fuhr sie in ihrem mütterlichen Donnerwetter fort. „Wir suchen dich schon überall. Wie kannst du heute so gedankenlos sein? Deine Schwester ist schon ganz außer sich. Sieh zu, dass du zum Pavillon kommst, bevor ich dich übers Knie lege!“ Nun scheuchte sie mich vor sich her wie eine Bäuerin ihre Hühner.

Ich war heute in Höchstform, fiel mir auf. So viel Widerspenstigkeit in einer Person an einem Tag war nicht normal. Ich wandte mich noch einmal zu Niklas um und rief ihm zu: „Hat mich gefreut, dich kennenzulernen!“ Dann ging die wilde Jagd weiter.

Erst als ich am Pavillon ankam, fiel mir Oscar wieder ein. Ach, sollte er doch machen, was er wollte. Es gab hier noch mehr Tüllschleifen, denen er den Garaus machen konnte.

Mit befehlsgewohnter Miene kommandierte mich Laura an meinen Platz, wandte sich dem Fotografen zu und war die Liebenswürdigkeit in Person. Mir war bewusst, dass ich zu meinem Spaziergang später noch ein oder zwei Worte zu hören bekommen würde, aber das war mir recht egal.

„Süße, rück näher an deine Schwester heran“, kommandierte mich der Fotograf jetzt auch noch herum. Ich tat, wie mir befohlen, und schenkte ihm dann das schönste Lächeln, das ich im Moment zustande brachte.

Es schien, als würde diese Fotosession niemals enden. Langsam befürchtete ich, dass dieses Zahnpastalächeln in meinem Gesicht festgefroren war und ich jetzt immer so rumlaufen müsste.

Endlich, nach einer endlosen halben Stunde, waren wir fertig. Ich seufzte schwer und wollte mich davonstehlen, doch meine Schwester machte mir einen Strich durch die Rechnung. Sie hielt mich am Arm zurück.

Nachdem wir uns von der Menschenmenge getrennt hatten, zog sie mich in eine ruhige Ecke und funkelte mich aus ihren hellblauen Augen warnend an. Ob die Tüllschleife sich ebenfalls so gefühlt hatte, als Oscar ihr vorhin zu Leibe gerückt war?

„Clara, wenn du mir diesen Tag versaust, werde ich dich verprügeln! Das hab ich schon mal getan und ich werde es wieder tun. Heute ist der wichtigste Tag meines Lebens und ich hab keine Zeit für deine Mätzchen. Also bitte, sei so gut und spiel für heute die liebe, gute Schwester, ja? Morgen kannst du dann wieder so widerborstig und kratzbürstig sein wie immer.“ Ihr Griff um meinen Arm verstärkte sich, während sie ihren Worten mit warnenden Blicken Nachdruck verlieh.

„Damals war ich drei. Heute könnte ich dich, ohne mit der Wimper zu zucken, fertigmachen! Aber da ich ja lieb und nett bin, werde ich das nicht tun. Wie wäre es also, wenn du noch ein bisschen fester zudrückst und mir den Arm brichst? Dann könnte ich mich jetzt auf den Weg zur Notaufnahme machen.“ Ein bitterböser eisblauer Blick brachte auch diesen Vorschlag zu Fall. Also seufzte ich und schlug stattdessen hoffnungsvoll vor: „Ich gehe einfach in mein Zimmer und lese. Dann geht mir niemand auf den Keks und ich kann auch nichts falsch machen. Somit würden wir alle gewinnen.“

Laura legte nur den Kopf schräg und sah mich ernst an und dies genügte, um mir klarzumachen, dass mein Antrag abgelehnt worden war.

„Also gut. Aber wenn Freddies Bruder mir zu nahekommt, verpass ich ihm eine!“ Meine braunen Augen waren zwar eher sanft, doch ich versuchte, so viel Überzeugungskraft wie möglich in meinen Blick zu legen.

„Clara, Danny ist echt nett. Vielleicht solltest du ihn erst besser kennenlernen, bevor du etwas Voreiliges tust.“

Ich machte Würgegeräusche. „Den brauche ich nicht kennenzulernen. Der ist abscheulich! Schleimig wie eine dicke Kröte.“

Laura antwortete mit der ihr so eigenen Logik: „Aber manchmal muss man eine Kröte küssen, um den Prinz tief im Inneren zu finden.“

„Das wäre in diesem Fall aber sehr tief im Inneren. Wobei ich ja vermute, dass der Typ durch und durch eine Kröte ist.“ Ich fand den Spruch gut, aber meine Schwester setzte erneut an. „Liebes, willst du denn nicht auch eines Tages den Mann deiner Träume finden und für den Rest deines Lebens mit ihm glücklich sein?“

„Klar, aber doch nicht mit dem Mann meiner Albträume“, warf ich ein.

„Du sollst doch nicht immer so abwertend über andere sprechen. Gib ihm doch wenigstens eine Chance. Vielleicht überrascht er dich ja.“

Da ich immer noch wenig begeistert von einer näheren Bekanntschaft mit Danny wirkte, seufzte sie und fuhr resigniert fort: „Na gut. Aber versuch, ihm eine höfliche Abfuhr zu erteilen, ja?“ Sie streichelte die Stelle an meinem Arm, an dem sie mich noch vor wenigen Augenblicken so fest gedrückt hatte, und blickte über meine Schulter. Plötzlich versteifte sie sich und murmelte einen herzhaften Fluch.

„Was ist denn?“, fragte ich und drehte mich um, um zu sehen, was diese Reaktion hervorgerufen hatte. Zu meiner Überraschung stand Niklas nur wenige Meter von uns entfernt und unterhielt sich mit Freddie.

„Niklas Wilde“, stieß meine Schwester zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Oh, den habe ich vorhin schon getroffen. Er hatte sich zu einer Schmuserunde mit Oscar in den Garten zurückgezogen. Den würde ich schon gerne näher kennenlernen. Was kannst du mir über ihn erzählen?“ Ich war neugierig und gespannt darauf, was es da so alles über ihn zu erfahren gab.

Jetzt war sie es, die schnaubte.

„Der Typ ist das Letzte“, erklärte sie mir.

„Laura, du sollst doch nicht so abwertend über andere sprechen“, schlug ich sie mit ihren eigenen Waffen.

„Ich kenne ihn gut genug, um abwertend über ihn sprechen zu können“, knurrte sie.

„War da mal was zwischen euch?“ Jetzt begann die Geschichte mich doch tatsächlich zu interessieren.

„Wie bitte? Oh, nein, wie kommst du denn darauf?“ Laura funkelte mich böse an.

„Na ja, bei der Reaktion eben … Also, was ist los?“, bohrte ich weiter.

„Ich mag diesen Typen einfach nicht. Er ist so selbstverliebt und arrogant. Er lässt niemanden hinter seine Fassade blicken. Man weiß nie genau, woran man bei ihm ist. Grauenvoller Kerl.“

„Er hat dich abblitzen lassen“, stellte ich überrascht fest. Ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtete meine Schwester spöttisch.

„Ich habe Freddie doch ausdrücklich gesagt, dass ich diesen Idioten nicht bei meiner Hochzeit haben will.“ Sie senkte zornig den Kopf. Wie konnte Freddie sich nur der Order seiner Befehlshaberin widersetzen?

Ich zog übertrieben scharf die Luft ein und legte meine Fingerspitzen an die Lippen. „Krieg dich wieder ein. Erzähl mir lieber, was mit Niklas nicht stimmt.“

Sie ging jedoch zu meinem großen Bedauern nicht weiter darauf ein. Stattdessen griff sie nach meinem Ellenbogen und drückte ihn fest. Offensichtlich befand sie es für nötig, mir Folgendes mit Nachdruck mitzuteilen: „Ich weiß ja, dass du einen sehr merkwürdigen Geschmack in Sachen Männer hast, aber halt dich von ihm fern. Er zieht den Ärger förmlich an.“ Damit ließ sie mich stehen, um ihren Mann so schnell wie möglich von diesem grauenvollen Kerl fortzukriegen. Sie zerrte förmlich an seinem Arm, als würde es ihr nicht schnell genug gehen.

Niklas sah zu mir rüber. Ich hätte schwören können, dass er sich unwohl fühlte, doch dieser Eindruck war innerhalb einer Sekunde wieder verschwunden. Sein Gesicht wirkte ernst. Er nickte mir einmal kurz zu und verschwand dann in der Menge.

Ich legte den Kopf schräg und sah ihm sinnierend nach. Vielleicht sollte ich mich etwas eingehender mit Niklas Wilde beschäftigen. Die Verlockung war groß. Womöglich sollte ich meinen allerliebsten Schwager mal kurz beiseitenehmen und ihn zum Thema Niklas genauer befragen. Er würde die Aussage bestimmt nicht verweigern. Dafür müsste ich ihn nur mal kurz von seiner überaus wachsamen Gattin fortbekommen.

Mit diesem Plan im Hinterkopf machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Plätzchen, an dem ich mich auf die Lauer legen konnte.

Ich saß auf einer Bank im Schatten, die Gäste aufmerksam im Auge behaltend. Oscar lag der Länge nach ausgestreckt zu meinen Füßen im Gras und tat das, was er am liebsten tat: Er schlief.

Mein Papa hatte mir zwischendurch ein Glas Rotwein gebracht, an dem ich jetzt gedankenverloren nippte. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit gefunden, meinen nagelneuen Schwager einem ausführlichen Verhör im Fall Niklas Wilde zu unterziehen.

„Hier bist du! Ich hatte gehofft, dass wir eine Gelegenheit erhalten würden, uns einmal ungestört zu unterhalten.“ Danny Parson, Freddies Bruder, hatte sich mir unbemerkt genähert. Ich verwünschte ihn dafür. Nicht einmal Oscar hatte mich vor dem Feind gewarnt. Ein toller Wachhund war er!

„Oh, hi!“ Ich verzog kurz das Gesicht und lächelte ihn kühl an. Er nahm neben mir auf der Bank Platz, was gar nicht so einfach war, da mein Rock einen großen Teil davon einnahm. Er kämpfte mit den Stoffmassen, aber ich war nicht geneigt, ihm dabei behilflich zu sein.

„Du siehst umwerfend aus. Dieses Kleid und die Farbe passen sehr gut zu deinen dunklen Haaren und Augen. So rassig hätte ich dich mir gar nicht vorgestellt.“ Seine grauen Augen wanderten langsam von unten an mir empor und ruhten dann, nach einem kurzen Ausflug zu meinem Gesicht, auf meinem Ausschnitt.

Ich blickte ebenfalls kurz runter, um zu sehen, ob in dieser Region alles noch gut verpackt war. Nachdem ich dies bejahen konnte, setzte ich mich noch ein wenig aufrechter hin und meinte frostig: „Du solltest dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen lassen, Danny.“ Meine Stimme war ruhig, doch innerlich kochte ich.

„Ach, ich glaube schon, dass du auch ohne Sachen recht feurig sein kannst.“

„Das kann ich nur bestätigen. Schade nur, dass du das nie aus erster Hand erfahren wirst“, entgegnete ich jetzt etwas harscher.

„Hi, Baby.“ Wie aus dem Nichts tauchte Niklas plötzlich neben mir auf, beugte sich zu mir herab und küsste mich mitten auf den Mund.

Einen Moment war ich wie gelähmt, doch dann erdreistete sich mein Mund, darauf einzugehen. Meine Lippen öffneten sich und Niklas konnte den Kuss vertiefen. Die Vertraulichkeit, Intimität und Selbstverständlichkeit, die er dabei an den Tag legte, waren erstaunlich. Das Erschreckende an der Sache war, dass dies bei Weitem der schärfste Kuss war, den ich seit ewigen Zeiten bekommen hatte. Leidenschaftlich, hingebungsvoll, atemberaubend. Aber trotzdem … Waren die Kerle jetzt alle völlig durchgedreht?

„Was machst du denn hier, Wilde? Ich dachte, du wärst gerade wieder einmal damit beschäftigt, jemandem das Herz aus dem Leib zu reißen und es zum Mittag zu verspeisen.“ Abneigung schien dabei noch die mildeste seiner Gefühlsregungen zu sein.

Niklas ließ sich alle Zeit der Welt, um den Kuss zu beenden. „Da verwechselst du mich mit dir, Alter! Du hältst doch in dieser Disziplin seit Jahren den Rekord“, sagte er, als er sich endlich von mir gelöst hatte. Sein grüner Blick bohrte sich tief in meine Augen und ich nahm darin einen Ausdruck wahr, den ich irgendwie aus Nonchalance, Leidenschaft und Humor zusammensetzte. Niklas ließ sich zu meinen Füßen im Gras nieder und blickte Danny gelangweilt an. Sein Arm ruhte auf meinen Knien und mit der anderen Hand kraulte er Oscar.

„Clara, du solltest dich von diesem Penner fernhalten. Der ist echt das Letzte. Wenn du einen Mann brauchst, solltest du dich lieber an mich wenden.“

Niklas schnaubte abwertend. „Das wäre ihr Ende“, murmelte er. Offensichtlich wollte er nicht, dass es jemand anderes hörte, aber meine Öhrchen hatten es trotzdem aufgefangen. Ich warf Niklas‘ Hinterkopf einen fragenden Blick zu.

„Was brabbelst du da?“, fuhr Danny ihn an.

Vielleicht war es besser, wenn ich die Aufmerksamkeit wieder auf mich lenkte. „Was meinst du damit? Warum ist Niklas so schlecht?“ Ich fand diese kryptischen Andeutungen merkwürdig.

„Frag deine Schwester. Die kann dir eine ganze Menge zu diesem Thema sagen. Nicht wahr, Niklas?“ Danny durchbohrte den anderen mit eisigen Blicken.

„Zieh Leine, Parson! Ich will mit meiner Kleinen ungestört sein.“ Niklas blieb immer noch vollkommen ruhig. Ich konnte wirklich nicht sagen, was in ihm vorging. Er legte seine große Hand um meine, die immer noch das Weinglas hielt, und führte dieses an seine Lippen. Er nahm einen Schluck und sah mir dabei tief in die Augen. Er spielte seine Rolle verdammt gut – etwas zu gut. Ein kleiner wohliger Schauder schickte sich an, mir über den Rücken zu laufen, und ließ sich durch nichts davon abhalten. Ein unübersehbares boshaftes Lächeln kräuselte die Lippen des Mannes zu meinen Füßen, als er es bemerkte.

Danny hingegen knurrte angewidert.

„Du bist ja immer noch da“, stellte Niklas fest, ohne seinen Blick von mir abzuwenden. „Wolltest du nicht jemand anderen nerven?“

„Wie du willst. Aber ich werde dich im Auge behalten. Wenn du der Kleinen was tust, schlage ich dir deinen verdammten Schädel ein! Verstanden?“ Der Bruder meines Schwagers hatte sich erhoben und baute sich vor uns auf.

Oh Mann. Testosteronvergiftung!

„Ich werde nichts tun, was die Dame nicht auch will.“ Niklas lächelte so süffisant, dass ich ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte.

„Aber diese Vorgehensweise ist dir ja völlig fremd, nicht wahr, Danny? Du nimmst dir einfach, was du willst“, fügte er gehässig hinzu.

Danny machte einen Schritt auf ihn zu, als wollte er ihn jetzt hier auf der Stelle zum Duell auffordern.

„Du wirst hier niemandem etwas tun, Danny Parson. Sonst trete ich dir in den Hintern, kapiert?“ Mir reichte es mit diesem Hahnenkampf und so sah ich ihn bitterböse an. Fast hoffte ich, er würde mir einen Grund geben, meine Drohung wahrzumachen. Doch er tat es nicht. Stattdessen zog er grantig ab.

Niklas blickte mich über die Schulter nachdenklich an. Seine Miene ließ keinerlei Rückschlüsse auf seine Gedanken zu.

„Was?“, fragte ich leicht genervt.

Als Antwort schüttelte er den Kopf, sagte aber nichts.

„Laura hatte in einer Sache recht: Du bist merkwürdig.“ Meine Stimme war leise und ich hatte die Stirn in Falten gelegt, wie immer, wenn ich nachdachte.

„Was hat sie dir sonst noch von mir erzählt?“, wollte er wissen.

Déjà-vu. Hatten wir diese Unterhaltung nicht schon mal geführt? „Nicht viel. Nur dass ihr euch kennt und dass du das Letzte, ein furchtbarer Kerl und ein Idiot bist. Mehr nicht.“

Er sagte wieder nichts, sondern schüttelte nur den Kopf.

„Ihr hattet wohl einige Probleme miteinander in der Vergangenheit. Kann das sein?“ Ich bemühte mich, mein Gesicht genauso ausdruckslos wirken zu lassen, wie er das seine. Allerdings mit mäßigem Erfolg.

Niklas machte ein ungläubiges Geräusch. „Probleme, so kann man das auch nennen.“ Seine Stimme klang beinahe etwas ärgerlich. „Probleme ist nicht das richtige Wort“, erklärte er, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte. „Ich weiß nicht, wie viel ich dir erzählen sollte, aber sagen wir mal so: Wir waren in bestimmten Dingen grundsätzlich unterschiedlicher Meinung.“

„Geht‘s eventuell ein wenig genauer?“, versuchte ich, ein paar detailliertere Informationen zu erhalten.

Er schüttelte langsam den Kopf. „Das ist lange her.“

„Alles klar.“ Damit erhob ich mich. Er hielt mich nicht zurück, sondern blickte mich einfach nur ganz ruhig an.

„Dann noch einmal, Niklas: Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Hab noch ein schönes Leben.“ Damit ließ ich ihn im Gras sitzen, doch dann drehte ich mich noch einmal um und sagte mit so viel Würde, wie ich nur konnte: „Oscar, wir gehen!“ Mein Vierbeiner erhob sich gehorsam und gemeinsam steuerten wir zielstrebig auf das große weiße Haus zu. Dort hoffte ich, Ruhe und Frieden zu finden. Ich betete, ich würde nicht mehr über diese männlichen Kuriositäten da draußen nachdenken müssen. Hoffentlich würde sich mein ziemlich aufgewühltes Inneres mit etwas Ruhe und Abstand wieder glätten. Ein weiterer positiver Nebeneffekt wäre, dass Oscar nichts mehr anrichten könnte.

Ich überlegte, wo ich mich jetzt am unauffälligsten hin verdrücken konnte. Meine Schwester sah ich in einiger Entfernung mit ihrem Mann und ein paar ihrer Brautjungfern plaudern und lachen. Danny Parson war ebenfalls dabei. Noch hatte er mich nicht entdeckt, also brauchte ich mir im Moment wohl keine Gedanken um ihn zu machen. Wo sollte ich jetzt bloß hin? Ich langweilte mich schrecklich. Doch wenn ich mich jetzt schon wieder verdrückte, würden meine Schwester und Mama mir zweifelsohne Gewalt antun. So wanderte ich eine Weile durch den Garten hinter dem Haus meiner Eltern und sah mich um.

„Wir haben es geschafft, mein Clärchen“, erklang hinter mir Papas Stimme.

Ich wandte mich ihm zu und nickte kurz. „Jap.“

Ihm stand ebenso die Erleichterung ins Gesicht geschrieben wie mir.

„Warum stromerst du denn so verlassen und allein umher?“

Mir fiel auf, dass er seinen Blick sehr auffällig durch den Garten schweifen ließ.

„Was sollte ich sonst tun?“

Seine Lippen kräuselten sich zu einem schelmischen Lächeln. „Du hattest doch eben noch Gesellschaft.“

Er musste meinen fragenden Blick bemerkt haben. „Ich meine den netten, jungen Mann.“ Er verdrehte die Augen und presste dann hervor: „Wie kommt der dazu, mein Clärchen zu küssen?“

„Tja. Das frage ich mich allerdings auch.“

Er wirkte überrascht und hob eine Augenbraue.

„Er ist ein Freund von Freddie. Ich habe ihn vorher noch nie gesehen.“

„Clara!“, tadelte er halb im Scherz, halb im Ernst. „Wie kommst du dazu, dich von einem Wildfremden küssen zu lassen?“

„Ich bin unschuldig“, versicherte ich ihm lachend mit erhobenen Händen.

„Schön wäre es. Zur Strafe kommst du jetzt mit zu den Großeltern.“ Damit hakte er sich bei mir unter und führte mich trotz meines Protestes zu ihnen.

Sie saßen gemütlich mit kühlen Getränken an einem der Tische und sahen uns einigermaßen überrascht an, als wir zu ihnen traten.

Manchen Menschen machte ja Smalltalk Spaß und es fiel ihnen auch nicht schwer, sich darauf einzulassen, doch ich gehörte nicht zu dieser Gattung. Daher fielen meine Antworten, wenn mich einer der Gäste ansprach, zumeist kurz und zurückhaltend aus. In der Hoffnung, dass ein kleines, scheues Lächeln die Leute besänftigen würde, bemühte ich mich ständig um ein ebensolches. Meine Großeltern schienen angenehm überrascht, mich lächeln zu sehen. „Wenn du das doch nur immer tun würdest“, sinnierte meine Großmutter Heidi gerade.

„Geh nur, Kleines. Du solltest dich mit jungen Leuten unterhalten und nicht mit deinen alten Großeltern.“ Meine andere Großmutter Gisela streichelte meinen Arm und machte eine Kopfbewegung in Richtung einer Gruppe junger Leute.

Sie wollten mich also loswerden. Nun gut. Dann würde ich meinen Streifzug fortsetzen.

Kapitel 3

Herrlich gefährlich

Wenig später bog ich um eine Hausecke, hielt jedoch inne, als ich aufgebrachte Stimmen vernahm. Na, was hatten wir denn hier? Es handelte sich zum einen um eine weibliche Stimme, in der ich das zarte Organ meiner Schwester erkannte. Auch wenn sie im Moment ziemlich laut und deutlich sprach.

Und dann war da noch eine männliche Person. Die Stimme klang tief, voll und wohlklingelnd. War das nicht Niklas?

Ich drückte mich gegen die Hauswand und spitzte angestrengt die Ohren. Was auch immer die beiden miteinander zu besprechen hatten, wollte ich mir auf gar keinen Fall entgehen lassen.

„Es ist mir egal, Nick. Ich will einfach nur, dass du dich von meiner Schwester fernhältst. Hast du mich verstanden? Clara weiß nichts davon, was in London passiert ist, und ich würde es auch gerne dabei belassen.“ Laura klang so wütend, wie ich sie schon lange nicht mehr erlebt hatte. Es fühlte sich gut an, dass sie ausnahmsweise mal nicht wegen mir so sauer war. Na ja, zumindest nicht direkt wegen mir.

„Ich werde mich nicht von deiner Schwester fernhalten, nur weil du es mir befiehlst, Laura.“

„Ich will nicht, dass du noch einmal mit meiner Schwester redest oder auch nur in ihre Nähe kommst. Clara steht auf diesen verwegenen Typ Mann. Gefährlich, geheimnisvoll und überhaupt nicht gut für sie. Bleib von ihr fern.“

Mein Männergeschmack war zwar tatsächlich etwas eigenwillig, aber wie kam sie dazu, den armen Niklas so abzubügeln? Ich suchte mir meine Männer immer noch allein aus, ohne die Hilfe meiner großen Schwester.

„Ich habe Clara heute erst kennengelernt. Ja, sie gefällt mir. Ja, ich würde sie gerne näher kennenlernen. Aber wie gesagt, ich habe nur einmal kurz mit ihr gesprochen. Mehr nicht.“ Er unterdrückte seine Wut. Das war sehr offensichtlich.

„Nur einmal kurz mit ihr gesprochen? Willst du mich verarschen? Du hast ihr vor aller Augen die Zunge in den Hals gesteckt! Was bildest du dir eigentlich ein? Wie kommst du dazu, meine kleine Schwester einfach so zu küssen?“

„Ich wollte ihr Danny, diesen Schleimbeutel, vom Hals schaffen. Ich hätte gedacht, dass es auch in deinem Interesse läge, die Bekanntschaft der beiden nicht zu sehr zu vertiefen.“

„Danny wäre auf jeden Fall besser für sie als du“, fauchte Laura.

Niklas schnaubte. „Das glaubst du ja wohl selbst nicht. Der Typ ist die Pest. Ich wollte der Kleinen nur helfen“, donnerte er zurück.

„Und dazu musstest du über sie herfallen?“

„Soweit ich mich erinnern kann, hat es mal eine Zeit gegeben, in der du alles dafür gegeben hättest, von mir geküsst zu werden“, warf er ihr an den Kopf.

Wie bitte? Oh, das wurde ja immer besser! Was kam denn noch? Hatten die beiden doch eine Affäre miteinander? Schwer vorstellbar.

Ein kurzes Schweigen folgte dieser Behauptung. Dann war es wiederum Niklas, der das Wort ergriff. „Hast du denn im Ernst geglaubt, sie würde mir nicht von deinen Schwärmereien erzählen?“ Der Mann spielte augenscheinlich gerne mit dem Feuer. Wenn er so weitermachte, würde Laura ihn vermutlich mit schlagenden Argumenten zum Schweigen bringen.

Ich lehnte mich etwas vor, damit ich um die Hausecke spähen konnte. Das würde ich mir nicht entgehen lassen.

Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und den Kopf schräg gelegt. Zwar konnte ich sein Gesicht nicht sehen, aber ich vermutete mal, dass er ihr nicht gerade mit treuherzigem Dackelblick und einem Lächeln entgegenblickte.

„Bleib von meiner Schwester weg, sonst wirst du dir wünschen, niemals geboren worden zu sein!“, drohte sie ihm.

Oh Gott! Jetzt drehte sie völlig am Rad!

„Entschuldige?“ Niklas klang genauso ungläubig wie ich.

„Du bist gefährlich! Du bringst nur Unglück! Komm meiner Schwester noch ein einziges Mal zu nahe und du lernst mich so richtig kennen!“, wiederholte sie ihre Drohung.

„Ich habe nichts Unrechtes getan. Weder damals noch heute“, knurrte er wie ein gereizter Wolf.

„Nur weil man dir nichts nachweisen konnte, heißt das nicht, dass du unschuldig bist“, warf sie ihm an den Kopf.

Schweigen.

Da hörte ich schwere Schritte, die in meine Richtung kamen. Schnell – so schnell es eben in diesem langen Kleid und den blöden hochhackigen Schuhen ging – machte ich, dass ich wegkam. Wenn Niklas mich hier beim Lauschen erwischte, wäre das wohl nicht so gut.

Als ich gerade erst ein paar Schritte von der Hausecke entfernt war, stürmte Niklas wutschnaubend an mir vorbei. Ich war mir nicht sicher, ob er mich einfach nicht gesehen hatte oder ob er mich absichtlich ignorierte, doch er tat es und dann war er verschwunden.