Die Säulen aus Sand - Mark Barnes - E-Book

Die Säulen aus Sand E-Book

Mark Barnes

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Beschreibung

Der fesselnde Abschluss der High-Fantasy-Trilogie

Noch immer strebt Corajidin danach, die alte Macht seines Volkes und dessen ehemaligen Stolz wieder aufleben zu lassen. Dabei schreckt er vor nichts zurück, um seine Widersacher auszuschalten – die Maßnahmen werden immer brutaler und die dunklen Mächte, die ihn unterstützen, immer ungeduldiger. Nachdem ein Gegner nach dem anderen fällt, stehen Corajidin bald nur noch seine ärgsten Feinde gegenüber: Drachenauge Indris und seine eigene Tochter Mariam. Die letzte Schlacht um die Seele und die Zukunft des Reiches steht bevor!

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Seitenzahl: 748

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Die Säulen aus Sand

Roman

Aus dem Englischen von Waltraud Horbas

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Echoes of Empire 3: The Pillars of Sand« bei Amazon Digital Services, Las Vegas.1. Auflage

Deutsche Erstausgabe Oktober 2015 bei Blanvalet, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Mark T. Barnes

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2015

by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, Inkcraft

Redaktion: Catherine Beck

ue · Herstellung: sam

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-15887-3Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvaletund www.twitter.com/BlanvaletVerlag.

www.blanvalet.de

Den Leuten, die mich lieben und in meiner Leidenschaft unterstützen. Ihr habt die Welt zu einem besseren Ort gemacht.

Was zuvor geschah

»Es gibt drei große Flüsse: die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Weder die Zeitläufe noch wir selbst sind eine feste Größe. Unsere Wahrnehmung ist subjektiv, ebenso wie die Zeit, und man sieht uns durch so viele Linsen, wie es Betrachter gibt. Innerhalb der Zeit sind wir sowohl Urheber als auch Beobachter vorübergehender Ereignisse. Wir sind Segler auf einem Fluss, bestehend aus Ursache und Wirkung: Im gleichen Moment, in dem wir ein Ereignis verursachen oder Zeuge seiner Auswirkungen werden, reißt es uns schon mit sich fort. Zurück bleiben nur bruchstückhafte Erinnerungen an den kleinen Teil des Ganzen, den wir gesehen haben. Egal wie sehr wir uns bemühen, es gibt kein Zurück, und niemand ist imstande, alles zu sehen. Wir können nur raten, was die Zukunft uns bringt.«

Aus: Die drei Flüsse von Ahwe, Gelehrter, Philosoph und Forscher (Erstes Jahr des Erwachten Imperiums)

Die Entstehung der Shrīanischen Föderation liegt beinahe fünfhundert Jahre zurück: Dabei handelt es sich um eine Allianz der überlebenden sechs Hohen Häuser und der Hundert Familien der Avān, die beim Sturz des Erwachten Imperiums fliehen konnten und überlebten.

In Shrīan selbst, aber auch in den Nachbarländern stößt man überall auf die Trümmer versunkener Imperien. Das Land ist erfüllt vom Echo des Ruhms und dem Nachhall hoch entwickelter Kulturen, die dem Zahn der Zeit, mörderischen Kriegen und blindem Ehrgeiz zum Opfer fielen. Erbitterter Gegner des Shrīanischen Imperialismus, der von einer Rückkehr zu den ruhmreichen Tagen der Avān träumt, ist das Eiserne Bündnis der Menschen. Dieses Bündnis besteht aus mehreren Nationen und will dafür sorgen, dass kein neues Imperium die Macht ergreift. Denn die Menschen – auch als die »Sternengeborenen« bekannt – erinnern sich noch gut an ihre Tage der Knechtschaft unter den Avān.

Rahn Erebus fa Corajidin, Führer des Hohen Hauses Erebus sowie der politischen Fraktion der Imperialisten, ist ein todgeweihter Mann, dessen Körper langsam von dem Gift in seiner Seele zerstört wird. Doch er erträgt den Gedanken nicht, dass er sterben könnte, bevor er zu den üblichen Höhen eines Führers des Hohen Hauses Erebus aufgestiegen ist. Daher zettelt er einen Bürgerkrieg an, um Zugriff auf alte Schätze und überliefertes Wissen zu bekommen, das sein Überleben sichern könnte.

Indris, ehemaliger Ritter der Sēq, stellt sich Corajidin entgegen. Als Vashne und Ariskander ihn darum bitten, Far-ad-din aufzuspüren und wieder zurückzubringen, wird er erneut in die politischen Konflikte Shrīans verwickelt: Er ist der Einzige, der Beweise für das Ausmaß von Corajidins Falschheit und Korruption liefern könnte. Bei seinem Kampf gegen Corajidin bekommt Indris eine unerwartete Verbündete.

Nachdem sie mit eigenen Augen mit ansehen musste, wozu ihr ehrgeiziger Vater imstande ist, gerät Mari, Corajidins Tochter, in einen tiefen Zwiespalt. Die Pflicht ihrer Familie gegenüber und die Liebe, die sie für sie empfindet, stehen für sie außer Zweifel. Doch auch die Pflicht ihrem Land und sich selbst gegenüber kann sie nicht ignorieren. Nachdem Corajidin Vashne ermordet und Ariskander entführt hat, erkennt Mari eine Dunkelheit in ihrem Vater, die sie zuvor nicht hatte wahrhaben wollen.

Als Corajidin seinen Machtkurs unverändert fortsetzt, stellen sich Mari und Indris ihm mit vereinten Kräften entgegen. Indris und seine Kameraden brechen in die von Ungeheuern bewohnten Marschen der Rōmarq auf, in denen die Ruinen versunkener Zivilisationen verborgen liegen, und versuchen, Ariskander zu befreien. Mari bleibt als Spionin im Hause ihres eigenen Vaters in Amnon zurück und kämpft mit ihren neu gewonnenen Verbündeten darum, die Ordnung aufrechtzuerhalten.

Indris und seine Gefährten stellen sich den vielen Gefahren des Marschlands, doch sie kommen zu spät: Ariskander wurde hingerichtet und seine Seele in einem Angothischen Seelenkäfig gefangen gesetzt. Indris gelingt es, den Käfig an sich zu nehmen, aber Corajidin entkommt und flieht nach Amnon, verfolgt von Indris und dessen Freunden.

Corajidin weigert sich, seine Niederlage zu akzeptieren, und entwirft einen Plan, um seine Gefolgsleute an anderer Stelle erneut zu sammeln. Bevor er Amnon verlassen kann, wird Corajidin jedoch von Thufan, seinem Assassinenmeister, verraten. Corajidin wird beinahe getötet, aber erst muss er noch mit eigenen Augen mit ansehen, wie Belamandris, sein Sohn, tödlich verwundet wird.

Obwohl Indris, Mari und ihre Verbündeten den Kampf gewinnen, zahlen sie einen hohen Preis dafür. Mari wird von ihrer Familie verstoßen, einer Familie, die aufgrund der gescheiterten Intrigen ihres Vaters nun einer unsicheren politischen Zukunft entgegensieht. Es gibt keinen eindeutigen Kandidaten, der das Land regieren könnte, und das Eiserne Bündnis hat ein geschwächtes Shrīan zum Nachbarn, das leicht zu erobern wäre. Die Hohen Häuser und die Hundert Familien wissen, dass der Kampf gerade erst begonnen hat.

Corajidin, der weit entfernt von Amnon sein Lager aufgeschlagen hat, wird der Botschafterin vorgestellt – es ist Anj-el-din, Indris’ tot geglaubte Frau, die nun mächtigen und rätselhaften Meistern dient. Die Botschafterin hat Corajidin viel versprochen: Macht, Majestät und ein langes Leben. Aber der Preis wurde nicht genannt, und verzweifelt, wie Corajidin war, hatte er nicht danach gefragt.

Kurz nach den Ereignissen in Amnon wird in der shrīanischen Hauptstadt Avānweh das Neujahrsfest gefeiert. Zeitgleich findet die Antrittsabstimmung statt, und die neue Regierung wird gewählt. Gewalttaten, die den Streitkräften des Eisernen Bündnisses zugeschrieben werden, und die Rückkehr der Verbannten – politische Straftäter, die von dem verstorbenen Asrahn Vashne ins Exil geschickt worden waren – bedrohen den inneren Frieden. Die Verbannten unterstützten Corajidin bei seinen Machtspielen.

Indris, Mari und ihre Freunde sollen herausfinden, was Corajidin vorhat, und es verhindern. Der Frieden, den Indris und Mari hatten genießen wollen, ist nur von kurzer Dauer, dann wird er durch den Ruf der Pflicht und die Geister ihrer eigenen Vergangenheit gebrochen. Für Indris besteht die Bedrohung in den Sēq und deren fortgesetztem Interesse an seinen wachsenden Fähigkeiten, dazu aus dem Druck, den seine Cousine Roshana auf ihn ausübt. Denn sie will, dass er ihrem Haus dient und für dessen Aufstieg sorgt. Für Mari ist die größte Herausforderung die Gegenwart ihrer machtbesessenen Familie, ihr eigener Ehrgeiz und ihr Pflichtgefühl sowie die Ankunft eines alten Liebhabers, der eine Stellung im Hause ihres Vaters übernimmt: Ihr ist sofort klar, dass seine Gegenwart von Gefahr kündet.

Corajidin verlangt erhebliche Mengen von den Schätzen der Verbannten und fordert, dass sie ihm einen Treueeid leisten. Dafür macht er sie als Gegenleistung zu seinen Verbündeten und versucht erneut, zum Asrahn gewählt zu werden. Die Botschafterin verführt Corajidin dazu, ihre Hilfe anzunehmen, um seine Pläne zu verwirklichen – doch diese Unterstützung bekommt er nicht umsonst. Die Botschafterin behauptet, sie könne Corajidin das beschaffen, was er am meisten begehrt: die Rückkehr seines Sohnes Belamandris, seine Krönung zum Asrahn und die Wiederbelebung seiner toten Frau Yashamin, die ihn mit ihrer beharrlichen Forderung nach Rache bis in seine Träume verfolgt. Blind gemacht durch seinen Ehrgeiz, stimmt Corajidin zu. Belamandris wird aus seinem todesähnlichen Schlaf wiedererweckt, womit das erste Versprechen der Botschafterin erfüllt ist.

Indris, Mari und ihre Kameraden beobachten mit Sorge, dass Corajidins Streben nach dem höchsten Amt in Shrīan in den Bereich des Möglichen rückt. Sie versuchen, so viel wie möglich über seine Machenschaften herauszufinden, indem sie die Verbannten und Corajidins Verbündete heimlich überwachen. Schnell wird klar, dass die Verbannten bedeutende militärische Aktionen planen und dabei von Hexern, Nomaden und gebundenen Elementardämonen unterstützt werden.

In den Ruinen der Mahsojhin, wo die Botschafterin an der Befreiung der eingesperrten Hexer arbeitet, spitzen sich die Ereignisse zu, als Corajidin von einem Nomaden erfährt, dass es Selassin fe Vahineh war, die seine letzte Ehefrau ermordet hat.

Als Corajidin zum Asrahn gewählt und die manipulative Rosha anstelle von Nazarafine zur Führerin der Föderalisten ernannt wird, ist der Schock groß.

Nun bleiben ihnen nur noch wenige Möglichkeiten, um Corajidins Einfluss zu kontrollieren. Daher entschließen sich die Föderalisten dazu, Vahinehs Erwachen abzubrechen, um einen anderen föderalistischen Rahn im Oberhaus des Teshri einzusetzen. Doch während des Abbruchs mischt sich eine Gruppe von Sēq ins Geschehen, die von Meister Zadjinn angeführt wird. Indris, Femensetri und Vahineh werden gefangen genommen. Indris’ Kameraden ahnen nichts von der Einmischung der Sēq und glauben, dass Corajidin die drei entführt hat. Corajidin hingegen – er hatte gefordert, dass Vahineh ausgeliefert und ihr der Prozess wegen Mordes gemacht wird – glaubt, dass die Föderalisten Vahineh verstecken, um sie vor seiner Rache zu schützen. Eine Unterredung, die die Wahrheit ans Licht bringen und den Frieden wiederherstellen soll, wird durch Roshana zunichtegemacht, die Meuchelmörder einschleust, um Corajidin töten zu lassen.

Corajidin wiederum nutzt den Verrat als Rechtfertigung für weitere aggressive Akte, um den Teshri unter seine Kontrolle zu bekommen.

In der Zwischenzeit wird Indris, der von den Sēq gefangen gehalten wird, gefoltert, um die Wahrheit über die ungeklärten Jahre seines Verschwindens herauszufinden. Indris ist außerstande, die gewünschten Antworten zu geben, denn er weiß selbst nicht mehr, was in den Jahren geschehen ist. Allerdings sind sich die Sēq, was Indris betrifft, ohnehin nicht einig: Die Dhar Gsenni, eine mächtige Gruppe innerhalb der Sēq, die von Zadjinn angeführt wird, wollen Indris in Wahrheit für ihre eigenen Zwecke haben. Indris gelingt es, sich und Vahineh zu befreien, und die beiden entkommen den Sēq. Zurück in der Außenwelt, trifft Indris wieder mit Mari und seinen Gefährten zusammen. Ihnen ist klar, dass es zu gefährlich ist, in Avānweh zu bleiben, und sie versuchen, die Stadt zu verlassen. Doch an jeder Straßenecke werden sie angegriffen. Der Himmelslord ist erzürnt über die Gewalttätigkeiten in seiner Stadt und fordert Roshana, Nazarafine und Siamak auf, Avānweh zu verlassen. Auch Indris und seine Gefährten werden verbannt.

Doch noch bevor sie die Stadt verlassen können, werden auf Corajidins Geheiß Elementardämonen entfesselt. Während die Stadt von den Mayhem abgelenkt wird, nutzt Corajidin den Kriegszustand als Rechtfertigung für die Umsetzung seiner eigenen Pläne. Er will zeigen, dass die Sēq ihre Macht längst verloren haben und ersetzbar geworden sind. Die Hexen der Mahsojhin werden zum Teil eingesetzt, um die Verwüstung zu beenden, die Corajidin begonnen hat; die anderen Hexen wurden geopfert, um die Sēq beschäftigt zu halten, sodass sie die Stadt nicht verteidigen können.

In dem entstandenen Chaos trifft Indris, der von Femensetri zur Unterstützung der Sēq herangezogen wurde, auf Anj-el-din. Es scheint, als wäre seine verschollene Ehefrau in Wahrheit zurückgekehrt, um den Sēq zu dienen. Obwohl Indris spürt, dass seiner zurückgekehrten Ehefrau etwas Seltsames anhaftet, hat er keine Zeit, seinem Verdacht auf den Grund zu gehen. Der Kampf fordert all seine Aufmerksamkeit.

Mari versucht, die Rahns an Bord der Wanderer aus Avānweh zu schaffen, doch sie werden verfolgt und zur Landung gezwungen. Belamandris, der Anführer ihrer Verfolger, bietet Roshana, Siamak und Nazarafine die Freiheit im Austausch gegen Mari und Vahineh, und Roshana stimmt den Bedingungen zu. Hayden und Omen werden im Kampf getötet, nachdem die Rahns geflohen sind. Ekko und Shar dagegen können entkommen. Sowohl Mari als auch Vahineh werden gefangen genommen und nach Tamerlan gebracht, an einen Ort des Schreckens, der von Maris rachsüchtiger Großmutter, der Asrahnwitwe, regiert wird.

Sein Sohn ist zu ihm zurückgekehrt, und er trägt die Krone – und nun bekommt Corajidin das letzte Geschenk der Botschafterin: die Wiederbelebung Yashamins. Zum Lohn verlangt die Botschafterin, dass Corajidin Mari weiter in Tamerlan gefangen halten lässt.

Die Mahsojhin ist wieder geschlossen, die Hexen für den Moment bezwungen. Indris und Anj werden in Gewahrsam genommen, und Indris wird für weitere Befragungen nach Amarqa-im-Schnee gebracht.

Indris entschließt sich, mit den Sēq zu gehen, denn sie versprechen ihm, dass sie ihm die Wahrheit über seine Herkunft verraten werden.

Und jetzt …

Kapitel 1

»Wären wir vollkommen, so hätten wir es nicht nötig, an Auseinandersetzungen oder am Unglück zu wachsen. Es gäbe keine Transzendenz, keine Erleuchtung oder Aufklärung. Wir müssen unsere zahllosen Fehler akzeptieren und sie zu einem Teil von uns machen, um unsere eigenen Grenzen zu überwinden.«

Aus: Esoterische Doktrinen von Sedefke, Erfinder, Entdecker und Philosoph (901. Jahr des Erwachten Imperiums)

Spätherbst. 51. Tag im 496. Jahr der Shrīanischen Föderation

Die Hitze versengte Indris, und seine Muskeln, Bänder, Sehnen und Knochen begannen unter der unerträglichen Anspannung zu sirren.

Er schrie, bis er heiser war. Die heiße Luft ließ sein Zahnfleisch verdorren, und die Zunge klebte ihm am Gaumen. Feuer brannte sich seinen Weg die Kehle hinab bis in die Lunge, und jeder Atemzug war eine Höllenqual.

Die Energieströme wanden sich um Indris’ Rückgrat, schlangen sich um die sich entwickelnden Wirbel seiner Energiezentren und kämpften darum, Raum in seinem Geist und seiner Seele einzunehmen. Mein Erwachen, das sich verzweifelt freikämpfen will. Am durchdringendsten war der Schmerz in seinem linken Auge: ein gezacktes, schartiges Etwas, das sich in ihm festgesetzt und Wurzeln innerhalb seines Gehirns gebildet hatte und branntebranntebrannte …

»Genug!«, rief Femensetri. »Das reicht. Gleich wird er uns alle umbringen, verflucht noch mal.«

»Macht weiter. Er hält noch mehr aus«, drängte Er-Der-Sieht, der Inquisitor der Sēq.

»Er vielleicht schon«, erwiderte Ojin-mar, der Scharfrichter. »Aber wir nicht. Sein Jhi-Reflex hat schon einen Großteil des Raums zerstört, bis auf die Bereiche, wo wir eine Mehrfachabwehr errichtet haben. Femensetri, du hast gesagt, es gab noch sieben andere, die waren wie er?«

»Acht besondere Kinder wurden vom Großen Labor ausgewählt. Aber noch einen wie ihn?«, erwiderte Femensetri. »Nein, gab es nicht.«

Als die Sēqmeister aufhörten, seine Erinnerungen zu durchforsten, entspannte sich Indris. Es dauerte mehrere Minuten, bis der Schmerz abgeklungen war, während seine Herzen gegen die Rippen schlugen. Minuten, in denen selbst die sanfte Berührung der Luft Nadelstiche auf seiner Haut waren. Die Hitze in seinem Kopf ließ nach. Er hob die zitternden Hände und strich sich das schweißnasse Haar zurück, während sich Atmung und Puls wieder normalisierten. Indris sah Bilder aus flackerndem Feuer und Strahlenkränze vor seinen Augen tanzen. Als sich das Brennen in seinem linken Auge zu einem schwelenden Feuer reduziert hatte und sein Gehirn sich nicht mehr so anfühlte, als würde es in seinem Schädel kochen, öffnete Indris die Augen.

Der Obsidianstuhl, auf dem er saß, schien nicht in Mitleidenschaft gezogen worden zu sein. Indris blickte auf seinen nackten Körper hinab. Seine Kleidung war zu Asche verbrannt, und das tiefe Rot seiner Haut verlor sich langsam und verblasste zu seinem natürlichen hellen Olivton. Genau das Gleiche war auch die letzten dreiundzwanzig Male passiert, als die Sēqmeister versucht hatten, das Labyrinth der Erinnerung zu durchdringen, das die fehlenden Jahre von Indris’ Leben umgab. Der Rest des Labors – es war eine gewölbte Kammer aus kaltem Stein, die tief unter den Felsen und dem Schnee des Mar Silin lag – sah aus, als wäre es von unterschiedlichen Naturkatastrophen heimgesucht worden. Die Steinmöbel waren zu Schlacke verbrannt, und in den Steinwänden hatten sich Wellen gebildet, die sich konzentrisch von Indris’ Sitzplatz aus wegbewegten. Kleine Silikatstückchen im Fels hatten sich in glitzernde Glassplitter verwandelt.

Dort, wo die Meister standen, war der Raum beinahe unverändert. Bei dem Gedanken, wie viele ihrer Abwehrzauber niedergebrannt waren und nur die dampfenden ziegelroten Fraktale ihrer inneren Regionen intakt gelassen hatten, unterdrückte Indris ein Lächeln.

Die Meister wirkten selbstsicher, doch Indris bemerkte, dass einigen von ihnen der Schweiß auf der Stirn stand. Eine kleine Gruppe mit bewaffneten Sēqrittern und Bibliothekaren, von denen Letztere die Sitzungen schriftlich festhalten sollten, standen hinter ihnen.

Ojin-mar löste den inneren Kreis des Schutzzaubers auf. Die Luft darin begann zu dampfen, während sie sich nun rasch erhitzte, und bildete kleine Wölkchen, die in Richtung Decke schwebten. Der Inquisitor der Sēq trat vor und wirkte deutlich entspannter als der Großteil seiner Kollegen. Ein Büschel blonder Haare und ein kurzer Bart – es waren kaum mehr als Stoppeln – umrahmten sein runzliges braunes Gesicht, und lange Narben zogen sich über sein rechtes Auge und die Wangenknochen bis zum Kiefer. An seiner Hand fehlten sowohl der kleine als auch der Ringfinger. Indris blickte zu Femensetri hinüber, die mit dem Daumennagel an einem Fleck auf ihrem Gelehrtenstab herumkratzte. Sie mied Indris’ Blick, wie immer, seit er nach Amarqa-im-Schnee gebracht worden war. Er-Der-Sieht wischte sich mit seinem leuchtend bunten Taloub den Schweiß von der Stirn.

»Habt ihr irgendwas da drin gefunden?« Indris tippte sich an die Schläfe und griff nach seiner abgetragenen braunschwarzen Kleidung. Die Soutane der Sēq, die sie ihm gebracht hatten, ließ er liegen.

»Wir können die Schichten des Labyrinths in deinem Kopf nicht durchdringen, ohne alle möglichen Arten von mystischen Fallen zu aktivieren«, sagte Ojin-mar. »Wer im Namen aller geheiligten Toten hat das mit dir angestellt?«

»Jemand, der wollte, dass etwas in Vergessenheit gerät.« Indris sah sich im Labor um. »Ihr solltet besser bald etwas herausfinden, bevor euch die Plätze ausgehen, die ich in die Luft jagen kann.«

»Das ist nicht witzig, Junge.« Femensetris scharfe Stimme durchschnitt die Luft. »Glaubst du nicht, wir hätten Besseres zu tun?«

»Ein bisschen witzig ist es schon«, widersprach Indris. Er klang ruhiger, als er sich fühlte oder als sie verdient hätte. »Ich habe Euch gesagt, dass ich nicht weiß, was mit mir passiert ist, aber das hat Euch nicht davon abgehalten, mich hier runterzuschleifen.«

»Du bist aus freien Stücken mitgekommen, schon vergessen?«

»Vermutlich steckt in der Bemerkung ein Körnchen Wahrheit. Ich kam im Austausch für Antworten, die Ihr noch immer zurückhaltet, und um zu verstehen, was mit mir passiert ist, während ich auf den Graten war. Und warum mich das, was ich dort gefunden habe, ausgerechnet nach Manté geführt hat. Wenigstens war einer von uns ehrlich, als er versprochen hat zu kooperieren. Wenn man bedenkt, dass Ihr Euren Teil des Handels mal wieder nicht eingehalten habt, werdet Ihr vermutlich nichts dagegen haben, mir Gestaltwandlerin zurückzugeben, damit ich gehen kann? Mir fallen eine Menge anderer Dinge ein, die ich mit meiner Zeit anstellen kann. Wie zum Beispiel, meine vermissten Freunde zu suchen. Und Mari. Vor allem Mari.«

»So einfach ist das nicht, Indris.« Er-Der-Sieht warf Femensetri einen raschen, besorgten Blick zu. Er machte Indris und den anderen ein Zeichen, ihm aus dem verwüsteten Labor zu folgen.

»Es ist viel passiert, seit du bei uns bist. Unsere Befehle, ebenso wie unsere Notwendigkeiten, haben sich geändert.«

»Was für eine Überraschung«, erwiderte Indris gedehnt. »Die Sēq haben ihre Meinung geändert, weil ihnen das besser in den Kram passt. Wenn ihr mir nicht helft …«

»Ich habe nicht gesagt, dass wir dir nicht helfen werden.«

»Dann gewährt mir Zugang zu den Schwarzen Archiven«, verlangte Indris. Er ballte die Fäuste. »Oder lasst mich gehen, damit ich tun kann, was ich tun sollte, während ihr euch hinter euren Mauern und Schutzzaubern einnistet.«

»Pass auf, was du sagst, Indris«, warnte ihn Ojin-mar. »Wir tolerieren vieles, wenn es um dich geht, aber es gibt Grenzen.«

Grenzen? Indris unterdrückte ein bitteres Lachen. Niemand von uns weiß, wo meine Grenzen liegen. Obwohl ihr weiter und weiter gedrängt habt, fehlen euch noch immer die Antworten, die wir brauchen.

Als sie nach draußen traten, beschirmte er die Augen zum Schutz gegen das grelle Sonnenlicht. Sie befanden sich hoch über Amarqa-im-Schnee mit seinen rauchfarbenen Türmen, dem wichtigsten und größten der Kapitelsäle der Sēq. Wolken jagten über ihnen dahin, und weiter unten im Tal machte Indris die funkelnden Umrisse von Windschiffen aus, die in Richtung Amarqa flogen.

»Wir können dich nicht gehen lassen; noch wissen wir nicht genug.« Er-Der-Sieht stampfte mit den Füßen, um sich warm zu halten. »Und wir können es uns nicht leisten, das zu verlieren, was da in deinem Kopf sein könnte.«

»Spielt es wirklich eine Rolle, warum Sedefke euch verlassen hat?« Indris faltete die Hände in den Ärmeln seiner Robe. »Und warum im Namen all der geheiligten Toten glaubt ihr, dass er mir etwas erzählen würde, das er nicht einmal seinen eigenen Schülern erzählt hat?«

»Das ist eins der Dinge, die wir herausfinden wollen, Junge«, sagte Femensetri. »Und natürlich spielt es eine Rolle. Sedefke ist fort. Die Zeitmeister sind fort. Bis auf die Seethe sind alle anderen Elementarmeister aus unserer Welt verschwunden.«

Ojin-mars Schultern hingen mutlos herab. »Und wir müssen wissen, ob wir verlassen wurden, um allein …«

»Avendi!«, schnappte Femensetri auf Maladhoring. Genug! Sie wusste nicht, dass Indris sie verstehen konnte. Aber wie kommt es, dass ich es kann?

Indris schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln und das Gefühl wachsender Frustration niederzuringen. Er hatte gehofft, die Sēq hätten einen Weg durch das Labyrinth der Erinnerung gefunden und wenigstens ein paar Einzelheiten dessen enthüllt, was ihm während der drei fehlenden Jahre auf den Graten abhandengekommen war. Vielleicht konnte er herausfinden, was er und Anj besprochen hatten, bevor seine Erinnerungen weggesperrt worden waren: Wenn er die Technik des Baums der Möglichkeiten einsetzte, so sagte ihm beinahe jede Kombination, dass seine Frau ihm nicht die Wahrheit erzählen würde. Aber während seines Aufenthalts in Amarqa hatte es keinerlei Fortschritte gegeben. In einundfünfzig Tagen hatte er sieben Labore zerstört und einen Meister mit lebensbedrohlichen Verletzungen in die Ausgleichsbäder geschickt. Vier Ritter und elf Bibliothekare hatten nicht einmal so viel Glück gehabt, dass sie es bis zu den Bädern geschafft hätten. Und noch immer waren sie dem Geheimnis, das in Indris’ Geist eingeschlossen war, keinen Schritt näher gekommen und hatten auch nicht herausgefunden, wer es weggesperrt hatte oder warum.

Wenn Sedefke am Leben ist, und er hat sich tatsächlich die Zeit genommen, mir irgendetwas zu erzählen, warum sollte er sich dann die Mühe machen, es danach wegzusperren?

»Ich muss wissen, was mit meinen Freunden passiert ist«, sagte Indris.

Femensetri blinzelte im hellen Licht. »Du kannst Mari ebenso gut gleich vergessen.«

»Nein. Ich werde weder sie vergessen, noch, dass es dein Eingreifen war, Sahai, das den Tod meiner Freunde Hayden und Omen verursacht hat. Und das dazu geführt hat, dass sie Mari und Vahineh gefangen nehmen konnten. Wenn ich da gewesen wäre, hätte die Geschichte einen anderen Verlauf genommen. Ich habe meinen Teil geleistet. Jetzt seid Ihr dran.«

»Das klingt wie eine Drohung, Junge.« Die Stimme seiner einstigen Sahai war hart wie Stein.

Indris zuckte mit den Schultern. »Ich verlange nur das, was Ihr mir versprochen habt. Ich habe kooperiert, und mein Jhi-Reflex hat ein paar von euch umgebracht und viele andere verwundet. Das nächste Mal könnte die Sache anders ausgehen.«

»Lasst uns alle einen Schritt zurücktreten und die Sache mit etwas Abstand betrachten, in Ordnung?« Ojin-mar hob die Hand, um seine Augen zu beschatten. »Indris, sicher hast du selbst versucht nachzuforschen, oder? Ich wäre enttäuscht, wenn du es nicht getan hättest.«

»Wenn ich es wüsste, würde ich dann fragen?«

»Natürlich würdest du das.« Ojin-mar lächelte. »Sonst würdest du ja zugeben, dass ich recht hatte und du talentiert genug bist, um die Schichten unserer Abwehrzauber zu durchdringen. Was ich auch glaube. Wir respektieren dich, Indris, und sind in Bezug auf ein paar Tatsachen, die dich betreffen, nicht verblendet. Bitte sei so gut und begegne uns mit dem gleichen Respekt.«

»Wenn ihr mich so sehr respektiert, werdet ihr mir dann die Antworten geben, die ich suche? Oder die Mittel, um selbst an sie heranzukommen?«

Femensetri sah die anderen Meister an und sagte dann: »In Anbetracht der jüngsten Ereignisse … komm morgen früh, in der Stunde des Hirschs, zu uns in die Gründertiefe. Stell deine Fragen, und wir werden alles sagen, was wir dir gefahrlos erzählen können.«

»Gefahrlos für wen?«, fragte Indris.

»Für uns natürlich.« Ojin-mars Lippen verzogen sich zu etwas, das man beinahe als Lächeln hätte deuten können, während sich die Meister entfernten. Ihre Roben flatterten im kalten Herbstwind.

Es war ein frustrierender Nachmittag in der Bibliothek gewesen. Indris hatte sich durch zahllose Bücher und Schriftrollen gearbeitet, ohne auf irgendwelche Antworten zu stoßen. Die Mah-Psésahen, die hohen Geisteslehren, wurden erwähnt, aber nicht tiefer gehend diskutiert. Die Deh-Psésahen, die niedrigeren geistigen Disziplinen, wurden dagegen auf ausgiebige und ermüdende Weise untersucht, mit einem Aufgebot an theoretischen und praktischen Arbeiten, von denen keine Indris näher an sein Ziel brachte. Frustriert war er zur Manufaktur gegangen, um weiter an seinen Entwürfen zu arbeiten. In der Manufaktur war es stickig gewesen, und nach Stunden der Arbeit hatte Indris das Gebäude verschwitzt und schmutzig wieder verlassen. Als er endlich seine Tagebücher mit den neuen Entwürfen in sein Zimmer gebracht hatte, freute er sich auf ein ausgiebiges Bad in den heißen Quellen und eine Mahlzeit in der Schwarzen Feder.

»Hallo, mein Gemahl.«

Indris erstarrte, und seine Herzen setzten für einen Moment aus, als er Anj an der Wand lehnen sah, die langen Beine übereinandergeschlagen. Der Anblick ihrer Haltung erinnerte ihn an den Tag, als ihm zum ersten Mal bewusst geworden war, dass er sie liebte. Er atmete rasch ein und hielt dann den Atem an, um sich zu beruhigen, bevor er sich zu einem dünnen Lächeln zwang.

»Anj«, sagte Indris. Wo warst du, und wer bist du jetzt?

Er trat nicht näher zur Tür, aus Furcht, dass Anjs Gegenwart eine Einladung darstellen könnte, zu der er noch nicht bereit war.

»Bist du sicher, dass du nicht ein wenig Gesellschaft brauchen könntest, Fremder?«, fragte sie mit einem schelmischen Lächeln. Sie trat so nahe an ihn heran, dass er die Wärme ihrer Haut spüren konnte, ohne sie zu berühren. Ihre Saphiraugen leuchteten übernatürlich, und ihre Haut glühte unter dem düsteren Schwarz ihrer Soutane.

»Ich weiß nicht. Du siehst aus wie jemand, mit dem man sich einen Haufen Ärger einhandeln kann.«

»Nur wenn du Glück hast …«

Und da sind wir wieder. Die gleichen Worte wie damals, gesprochen an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit. Indris hatte nicht vergessen, wie es sich anfühlte, mit den Fingern durch diese seidigen Federn zu fahren. Sie an sich zu ziehen. Ihren Atem zu schmecken, Lippen, die sich beinahe berührten, Erwartung, die sich aufbaute, bis …

Er blinzelte und schüttelte den Kopf.

Sie lächelte. »Wie ungezogen.« Ihre Stimme war leise und kehlig, beinahe ein Schnurren. »Genau so, wie ich es mag.«

Indris lächelte und trat einen Schritt zur Seite, was sie zu einem Stirnrunzeln veranlasste.

»Was hast du vor, jetzt, da du zurück bist?«, fragte Anj.

»Ich bin hier, weil ich hier besser als irgendwo sonst herausfinden kann, was ich wissen will. Aber ich habe noch keinen richtigen Plan.« Als er an seine Freunde dachte, verfinsterte sich seine Miene. An Mari, die immer in seinen Gedanken war und deren sterblicher Reiz Anjs gespenstischer Faszination so entgegengesetzt war. Es ist Jahre her. Ich dachte, du wärst tot, und habe mich von dir verabschiedet. Was eine schlechte Entscheidung war, wie es jetzt scheint . . .

»Brauchst du Hilfe?«, fragte sie. »Ich habe Zeit, und man scheint mich hier nicht zu brauchen.«

»Danke, aber diese Dinge muss ich selbst regeln. Außerdem dachte ich, dass der Suret großes Interesse an dir hat.«

»Ha!« Ihr ganzer Oberkörper geriet bei dem Ausruf ins Schwingen, was ihn wie immer zum Lächeln brachte. »Sie sind genauso neugierig auf mich wie auf dich. Aber meine Schutzherren im Dhar Gsenni haben mir Freiheiten erkauft, die allerdings nicht auf dich ausgedehnt wurden.« Erneut runzelte sie die Stirn. »So faszinierend die Politik des Ordens auch sein mag, wir müssen uns über andere Dinge unterhalten, Indris.«

»Ich habe dich gesucht, um mit dir zu reden, aber du scheinst immer irgendwo anders zu sein.« Ein Verdacht stieg in ihm auf – nicht zum ersten Mal. »Sag mir, wo du gewesen bist.«

»Hier und dort. Meistens dort. Indris, ich weiß zum Teil, was geschehen ist, nachdem du gegangen bist. Nachdem ich … Du hast nach mir gesucht, mein wunderbarer Mann. Jahrelang. Und ich habe von dieser Avānfrau gehört …«

»Mari.«

Anjs Augen wurden gefährlich schmal und bekamen einen Ausdruck, an den er sich nur zu gut erinnerte. »Ja. Sie. Aber du hast gedacht, ich wäre tot. Jetzt weißt du, dass ich es nicht bin. Also müssen wir reden, du und ich.«

Du bist vielleicht nicht tot, aber du bist auch nicht mehr du selbst. Er öffnete sich dem Ahmsah und suchte nach ihrer disentropischen Färbung. Da war sie! Diese leichte Unschärfe … da waren Schatten, die sich um sie wanden, als würden sie die Wahrheit verbergen wollen. Die gleiche Unschärfe nahm er in den Konturen ihres Gesichts wahr, als hätte jemand das Bild der Frau, die er gekannt hatte, über die Anj gelegt, zu der sie geworden war. Er fühlte diese ölige Beschaffenheit, die er mittlerweile mit unreiner Energie gleichsetzte. Beinahe im selben Moment, als er sie wahrnahm, war sie wieder verschwunden.

»Wir müssen wirklich reden, Anj. Aber es ist lange her, seit … Ich war drei Jahre auf den Graten, und die Ahnen mögen wissen, was ich da getan habe. Danach war ich zwei Jahre als Sklave in Sorochel, dann habe ich zwei Jahre lang nach dir gesucht. Und später hatte ich genug Zeit, um zu versuchen, wieder etwas Glück im Leben zu finden. Sieben Jahre und mehr sind eine lange Trennungszeit. Zu lange, als dass man erwarten könnte, dass sich nichts geändert hat.«

Anj nickte langsam und mit ruhiger Miene, als würde sie seine Gedanken lesen. »Uns wurden viele Jahre gestohlen, Indris, und das war nicht unsere Schuld. Aber ich habe dich nie aufgegeben. Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du uns eine Chance gibst. Wir waren glücklich, wenn ich mich richtig erinnere. Und wir waren gut füreinander, wenn auch sonst niemand gut für uns gewesen wäre.«

»Anj, bitte …« Indris sah auf seine Stiefel hinab, um die Zweifel zu verbergen, von denen er wusste, dass sie ihm ins Gesicht geschrieben standen. Sie kam ihm so nahe, dass sie sich beinahe berührten. Er trat zurück und stellte fest, dass er mit dem Rücken zur Wand stand.

»Bei den lachenden Winden aller wüsten Gelage, entspann dich! Wir haben sieben Jahre gewartet. Und dieses Jahr waren wir beide sehr beschäftigt; die Meister haben dich für sich beansprucht, und ich war die Hälfte der Zeit unterwegs. Was sind schon ein paar Tage mehr, um zu klären, wo genau wir stehen?«

»Danke.« Ich muss erst das »Was«, »Wie« und »Warum« klären, bevor ich über das »Wo« nachdenke. Du hast die Antworten auf so viele Fragen … aber woher weiß ich, dass du mir die Wahrheit sagst? Wenn du doch offensichtlich das Bedürfnis hast, gewisse Dinge vor mir zu verbergen? Er beugte sich vor, um ihre Wange zu küssen, aber als er ihr nahe kam, öffnete sie die Lippen und küsste ihn begierig. Ihre Zunge schmeckte nach Honig, aber er fühlte, dass auch das eine Illusion war, die über einer abstoßenden Wahrheit lag.

Als er ihre Hände nahm und sie beiseiteschob – langsamer, als er das hätte tun sollen; ihre Hände waren warm und weich und brachten eine Flut von Erinnerungen zurück –, trat Indris zurück und fühlte, wie ihm erneut die Herzen in seiner Brust brachen. Jetzt nicht mehr wegen des Verlusts seiner Frau, sondern wegen der Zweifel, die er fühlte.

»Es gibt da einiges, was ich erst in Erfahrung bringen muss, Anj. Über mich und über dich. Ich muss mich auf die Suche nach meinen Freunden machen …«

»Und nach deiner Avān?« Anj zischte es beinahe.

Indris runzelte die Stirn. »Auch nach Mari, ja. Aber erzähl mir, was du über meine Zeit auf den Graten weißt. Und danach reden wir beide über uns.«

»Also gut«, entgegnete sie schmollend und trat mit der Ferse gegen die Wand, die Arme verschränkt und den Kopf gesenkt, doch mit einem gefährlichen Lächeln auf den Lippen.

»Versprochen?«

»Würde ich dich je anlügen?«

»Nicht wenn du klug bist.«

»Dann haben wir beide ja Glück, nicht wahr?«

Dampf umwirbelte Indris’ Gesicht, während er sich in den heißen Quellen entspannte. Er war so tief eingetaucht, dass nur noch sein Kopf aus dem Wasser ragte. Etliche andere Studenten und Einwohner waren ebenfalls hier, um das warme Wasser zu genießen. Sie führten seltsame Tänze auf, während sie sich in der Kälte auszogen, durch den Schnee hüpften und ins Wasser sprangen. Indris grüßte diejenigen, die er gut kannte, und lächelte den anderen zu. Aber sie alle hielten Abstand zu ihm, während sie sich am anderen Ende der Quelle zusammendrängten.

Indris veränderte seinen Atemrhythmus mit der Leichtigkeit jahrelanger Übung und öffnete seinen Geist. Die Gedanken der Badenden bildeten ein Stimmengewirr in seinem Kopf, doch er isolierte sie schnell und ließ sie verstummen. Entferntere Gedanken waren nicht mehr als ein Flüstern, das er nur hörte, wenn er sich konzentrierte, aber seine telepathischen Fähigkeiten waren nicht so gut abgestimmt, dass es ihm leichtfiel. Mit einem Teil seines Geistes identifizierte und isolierte er Geräusche: das Schwatzen der anderen Badenden, den Wind, der durch die Kiefernnadeln fuhr, das Geräusch des Schnees, der von schwer beladenen Zweigen fiel, die Spieler in der Schwarzen Feder, die das voll besetzte Haus unterhielten. Eines nach dem anderen identifizierte er die Geräusche und schob sie beiseite, bis nur noch …

»Chaiya?«

»Indris!« Ihre Antwort kam schnell. »Deine Geiststimme wird von Tag zu Tag stärker.«

»Ich habe sie weiter trainiert, um mit dir sprechen zu können. Gibt es irgendeine Spur von Mari, Shar und Ekko?«

»Von Mari nicht.« Chaiyas Stimme klang traurig. »Aber ihre Seele ist nicht bei den Toten, also nehme ich an, dass sie von Mystikern gefangen gehalten wird. Wo auch immer sie ist, man will nicht, dass sie gefunden wird. Aber ich habe die Träume von Shar und Ekko gehört. Sie segeln südwärts mit Morne Falkenholz und den Unsterblichen Gefährten.«

»Weißt du, warum?«

»Nein, tut mir leid.«

»Aber es geht ihnen gut?«

»Soweit ich das erkennen kann.« Chaiyas Gegenwart in seinem Geist war tröstlich. »Ihre Träume sind sehr lebhaft und voller Erinnerungen, sowohl freudiger als auch herzzerreißender. Sie denken, du wärst tot, Indris.«

»Das habe ich gehört«, erwiderte Indris. »Es scheint, die Sēq sind sehr locker mit der Neuigkeit über mein vorzeitiges Ableben umgegangen.«

»Soll ich in Shars und Ekkos Träume eindringen und ihnen erzählen, dass du am Leben bist?«

»Nein, aber danke für das Angebot. Es ist besser, sie nicht abzulenken oder sie dazu zu verleiten, dass sie nach mir suchen. Wenn sie mit Morne unterwegs sind, dann wahrscheinlich in gefährlicher Mission. Ziemlich sicher ist es irgendeine waghalsige Angelegenheit. Ich wünschte, ich wäre bei ihnen.«

»Vielleicht suchen sie nach Mari?«

Bei dem Gedanken lächelte Indris. »Sie können mir hier nicht weiterhelfen, Chaiya, aber es gibt ein paar Dinge, die ich selbst noch tun muss, bevor ich gehe. Ich ziehe weiter, sobald ich herausgefunden habe, weswegen ich hergekommen bin. Ich werde noch ein paar Tage warten, bis ich meine Pläne fertig ausgearbeitet habe.«

»Kann ich irgendetwas für dich tun?«

»Würdest du mir etwas vorsingen?«

»Natürlich, mein Freund.« Indris zählte die Herzschläge, bevor die leisen Chorstimmen der Toten in seinem Geist anschwollen, die komplizierten Instrumente der Seele, die über die endlose Weite der Seelenquelle zu ihm herüberdrangen.

»Danke dir, Chaiya«, sagte Indris und schloss die Augen.

Die Gründertiefe war in die Felsmauer am oberen Ende des Tals gebaut und blickte über die lange Ausdehnung von Amarqa-im-Schnee und die Gemeinde am Talausgang. Die Tiefe – ein Turm aus durchscheinendem Bergkristall – war beinahe so hell wie der Schnee, der sich in die zerklüfteten Spalten seiner Oberfläche schmiegte. Viele Treppen und glitzernde Brücken aus Serill im Zuckerbäckerstil verbanden die Tiefe mit den umliegenden Gebäuden, die hoch genug lagen, um die kalten Wasser des Anqoratflusses zu vermeiden, wenn auch nicht seine beißende Gischt. Knorrige Bäume klammerten sich an den Fels und sprenkelten den Bergkristall mit schwankenden Schatten.

Indris faltete die Hände in den Ärmeln seiner Robe, während er über eine von Raureif überzogene Brücke ging. Die Ilhen-Lampen, die die Brücke säumten, bildeten unbeständige Funken im hellen Licht des Herbstmorgens.

Entlang der Kammlinie Richtung Norden sah er die Umrisse ankernder Windschiffe, die wie Drachen in der Luft schwebten. Die Wachen, die bei ihnen standen, trugen Trachten, die Indris nicht kannte, und die Schiffe zeigten weder die Farben der Hohen Häuser oder der Hundert Familien noch eine der Farben des Konsortiums des Teshri. Es gab nur wenige, die freiwillig zu den Sēq nach Amarqa gekommen wären, und Indris fragte sich, wer verzweifelt genug war, um diese Reise zu unternehmen.

Am Eingang zur Gründertiefe standen zwei Iku-Wachen mit zerklüfteten Gesichtern und wachsamen runden Augen. Ihre Haut war mit bunten Wirbelmustern gefärbt, und sie hatten kurze schwarze Flügel. Ein zusammenklappbarer Fächer aus Federn und Stahlverstrebungen steckte in den Schärpen der Iku, und ihre klauenbewehrten Hände – die runzlig waren wie Hühnerfüße – ruhten auf den Griffen von brusthohen beschlagenen Keulen. Indris hatte schon erlebt, was diese Kanbōjé – die »fallenden Bäumchen«, wie die Waffen genannt wurden – in den Händen der richtigen Leute anrichten konnten. Der Legende nach hatten die Iku auf die Sēq gewartet, als diese zum ersten Mal das bewaldete Tal erreichten, und ihnen die verborgenen Hallen und die geheimen Wege der Festung gezeigt, die später unter dem Namen Amarqa-im-Schnee bekannt werden sollte.

Die beiden Wachen nickten respektvoll, als Indris sich näherte, und er erwiderte den Gruß mit einem Lächeln und einem Nicken seinerseits.

»General Indris«, trällerte eine der Iku. Sie sah sich mit zufriedener Miene um und nahm den Anblick des klaren Himmels, der umgebenden Berge, der Bäume und des Schnees in sich auf. »Ein schöner Tag.«

»Sind sie das nicht alle, Wakanhe?«

»Wohl wahr.«

»Glaubst du, es wird so bleiben?«

»Für ein Weilchen.«

Indris trat über die Schwelle aus Bergkristall. Durch die durchscheinenden Mauern der Gründertiefe drang ein kühles, mattes Leuchten. Die Feuersteine in den schwarzen Eisenbecken tauchten die fünf großen Galerien mit ihren arabesken schwarzen Marmorsäulen und -böden in warmes Licht.

Die Tiefe war ein weitläufiges Gebäude mit hohem Kuppeldach und kiesbestreutem Boden, das von einer großen, auf unheimliche Weise naturgetreuen Statue des Gründers Sedefke dominiert wurde.

Als er noch ein Neuling gewesen war, hatte Indris Femensetri einmal gefragt, ob die Statue denn tatsächlich eine präzise Wiedergabe sei. Sie hatte mit einem Ausdruck an ihr hochgesehen, den der jüngere Indris für Liebe gehalten hatte – obwohl der ältere Indris eher gesagt hätte, es war Obsession –, und geantwortet, es wäre, als würde der Mann leibhaftig vor einem stehen, ins Riesenhafte vergrößert durch die Ausmaße seines Körpers, seines Geistes, seiner Seele. Die Statue lächelte leicht, als würde Sedefke über einen Witz nachdenken, während er darauf wartete, dass der Rest des Raums ihn ebenfalls verstand. Er trug den Schnallenleibrock der Sēq, die Kapuze zurückgeworfen, mit einem Waffengürtel, der über der Schärpe um seine Taille befestigt war. An dem Gürtel hing eine Waffe, oder zumindest der Griff und der Knauf einer Waffe, die so lang war wie der Vorderarm des Mannes. Der Knauf war in die Form eines stilisierten Drachen gemeißelt, oder eines Raubvogels, und der Griff war von etwas bedeckt, das Federn hätten sein können. Oder auch Schuppen. Doch es war keine Klinge zu sehen. Nichts, was die Waffe zur Waffe gemacht hätte.

Der weise Mann trägt niemals eine Waffe, die gegen ihn selbst gerichtet werden kann. Das waren Sedefkes berühmte Worte, nachdem er und die Gelehrten Näsarat fa Dionwe geholfen hatten, das Blütenimperium zu stürzen. Und der weiseste Mann muss gar keine Waffe mehr tragen. Diese Bemerkung hatte zur Herstellung der ersten Psédari, der Seelenklinge, geführt. Der Legende nach hatte Sedefke die Technik noch weiter perfektioniert und die Kajari, die Geistklinge, geschaffen, eine Waffe, die die dreifache Natur des Seins reflektierte und nur als Manifestation des Willens ihres Besitzers existierte. Ihr Griff und Knauf stellte das Nayu dar. Die Form der Klinge wurde durch das Psé geschaffen, und die Klinge selbst erschien lediglich als Manifestation des Kaj – mit anderen Worten, es war eine Waffe, die nur mithilfe des Geistes, dem sie gehörte, zur Waffe wurde.

Am Fußende der Treppe standen Aumh, Ojin-mar und Er-Der-Sieht und warteten auf ihn. Da der Herbst unaufhaltsam voranschritt, flatterten keine Schmetterlinge mehr in Aumhs farnähnlichen Wedeln herum. Das üppige Grün, das auf ihrem Kopf und an ihren Schläfen spross, war kupferfarben geworden und mit Weiß bestäubt, da der Winter näher rückte. Die Blumen, die einst darauf gewachsen waren, waren verwelkt und hatten kleine braune Samenhülsen zurückgelassen. Er-Der-Sieht beobachtete still, wie Indris näher kam. Seine beinahe durchscheinenden Augen wirkten in dem dunklen Gesicht mit seinen Tätowierungen verstörend.

Indris wurde in einen kleinen Vorraum mit einer einzelnen Tür gebracht, die in die Meisterrunde führte. Durch die offene Tür konnte er die versammelten Meister in ihren schwarzen Soutanen sehen, die mit Knöpfen aus Edelmetallen und Juwelen verziert waren. Die Meister nahmen gerade auf Sitzen Platz, die sich in stufenweise ansteigenden runden Reihen von der Arena nach oben zogen.

»Was soll das?«, fragte Indris Ojin-mar. »Ich dachte, ich würde hierherkommen, damit man mir ein paar Fragen beantwortet?«

»In gewisser Weise, ja«, erklärte Aumh gelassen. Die kleine Y’arrow-Frau steckte den Kopf durch die Tür, dann gab sie ihren Begleitern ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie wandte sich an Indris. »Zieh deine Kapuze über, und pass auf, dass unsere Gäste dich nicht sehen. Beobachte, hör zu und lerne. Aber unter gar keinen Umständen darfst du dich zu erkennen geben. Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Vollkommen klar.«

»Hmm«, murmelte Aumh. Sie machte Ojin-mar ein Zeichen, Indris zu Sitzen in einer ruhigeren Ecke zu führen, wo er nicht bemerkt werden würde.

Die Arena der Meister war eine abgestufte Senke aus schwarzem Marmor; jede der Stufen war mit hochlehnigen mitternachtsschwarzen Holzstühlen bestückt. Die gewölbte Decke zeigte ein Mosaik aus Blättern und Weinreben. Eine riesige Ilhen-Lampe in Form einer hängenden Stufenpyramide in Orange und Gelb war dort angebracht. Unter den versammelten Meistern erkannte Indris einige Gesichter, doch die meisten waren ihm fremd.

Auf der ersten Stufe der Runde befanden sich zehn Stühle mit schwarzen Seidenkissen auf den Sitzen. Von den neun Meistern, die dort saßen, erkannte Indris Femensetri, Aumh und Er-Der-Sieht. Der zehnte Stuhl war für Kemenchromis freigelassen worden, dem Erzgelehrten und Magnaten des Sēqordens, der bei der Schattenherrscherin in Pashrea weilte.

»Wo ist Zadjinn?«, fragte Indris. »Ich hatte erwartet, dass er an mir hängen würde wie irgendein billiges Kleidungsstück, aber ich habe ihn noch nicht gesehen.«

»Zadjinn und die Dhar Gsenni, die uns bekannt sind, sind nicht mitgekommen nach Amarqa, als der Orden ins Exil geschickt wurde«, erwiderte Ojin-mar. »Ich habe den Verdacht, dass sie in genau dem Moment auftauchen werden, wenn es am ungünstigsten für uns ist. Sie waren schon immer die weltlichste Fraktion innerhalb der Sēq, und unsere Isolation deckt sich nicht mit ihren Interessen.«

»Sie mögen ja fort sein, aber wer ist das?« Indris nickte in Richtung einer seltsamen Gestalt, die etwas abseits von der Versammlung stand. Nach allem, was Indris unter dem schillernden Mantel erkennen konnte, dessen Falten flügelgleich hinter ihm zu Boden hingen, war die Gestalt breitschultrig, aber hager. Sie trug eine kunstvolle Rüstung aus geflochtenen Bändern und scharf aussehenden Schuppen. Weder unter der Rüstung noch unter dem weiten Mantel oder der gehörnten und verspiegelten Maske, die sein Gesicht bedeckte, war auch nur ein Stück Haut zu erkennen.

Ojin-mar runzelte die Stirn. »Jemand, den du nicht hättest sehen sollen und besser gleich wieder vergisst, wenn du weißt, was gut für dich ist.«

»Ich kann nicht fassen, dass Ihr das gerade wirklich gesagt habt«, murmelte Indris. »Nehmen wir nun einfach mal zu Euren Gunsten an, ich habe mich verhört. Also, fangen wir noch einmal von vorn an …«

»Es überrascht mich, dass Femensetri nicht der Schlag getroffen hat, als sie deine Sahai war!« Ojin-mar verdrehte die Augen, als er Indris’ Gesichtsausdruck sah. »Wir haben dir Unrecht getan, ich weiß. Aber sollte es jemals ans Licht kommen, dann hast du es nicht von mir gehört, ist das klar? Dieses … was auch immer es ist, nennt sich selbst der Herold. Dieses Wesen ist mit ein paar anderen vor beinahe sieben Jahren hierhergekommen. Es sagt nicht viel, aber wenn es spricht, dann hört ihm der Suret zu.«

»Der Herold von was?«

»Das ist eine verflucht gute Frage.«

Ein leiser Glockenschlag ertönte, und die Meister, die alles in allem etwa siebzig zählten – es gab noch immer ungefähr genauso viele leere Plätze –, verstummten. Die Doppeltüren aus Serill und Jade öffneten sich, und vier Sēqritter und ebenso viele Iku in Rüstung traten ein. Sie flankierten eine kleinere Gruppe von Shrīanern in seidenen Roben. Sie hatten ihre Kapuzen übergestreift, aber Indris konnte sehen, wie sich ihre Köpfe nach links und rechts drehten, nach oben und unten. Die Besucher wurden in die Mitte der Runde eskortiert, dann zogen sich die Wachen zurück.

Indris erkannte die Rahns und runzelte die Stirn. Was machten sie hier?

Ein Meister des Suret mit dem Gesicht eines Aasgeiers neigte den Kopf, um die Besucher zu begrüßen, und streckte die Hand aus. »Ich bin Sēqmagnat Bodekian. Ihr habt Euer Fasten unterbrochen und von unserem Wasser getrunken und seid daher sicher nach den Regeln und Gesetzen des Sende, solange Ihr in Amarqa-im-Schnee verweilt.«

»Sagt uns«, fragte ein korpulenter älterer Mann, »warum seid Ihr so weit gereist, um mit uns zu sprechen? Seit wir aus Shrīan verbannt wurden, haben wir kein Interesse mehr an Euren Angelegenheiten gezeigt.«

Einer der Besucher zog die Kapuze zurück, und ein kantiger Kiefer und hohe Wangenknochen kamen zum Vorschein. Rosha war dünner, als Indris sie in Erinnerung hatte, beinahe hager. Ihre Haut wirkte aschfahl. Sie machte ihren Gefährten ein Zeichen, und Nazarafine und Siamak, die ebenso erschöpft wirkten, nahmen die Kapuzen ab.

»Meister des Gelehrtenordens der Sēq«, begann Rosha mit rauer Stimme, »wir, die föderalistischen Rahns, sind zu Euch gekommen, weil wir Eure Hilfe brauchen.«

»Pah!«, rief Femensetri scharf. »Der Asrahn und der Teshri haben sehr deutlich gemacht, dass die Sēq in der Shrīanischen Föderation nicht mehr willkommen sind. Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr Euch für uns eingesetzt habt, damit sie ihre Meinung ändern, Mädchen!«

»Die Rahns sind unbedeutend«, sagte der Herold. Er sprach mit einer Stimme, die wie eine Vielzahl unterschiedlicher Stimmen klang, jede das Echo einer anderen.

»Nur die Mahj und die Mahjirahns sind von Bedeutung.« Die düsteren Stimmen jagten Indris einen Schauer über den Rücken.

Rosha verzog den Mund, aber Nazarafine trat vor, bevor sie antworten konnte.

»Die Sayfs der Imperialisten kontrollieren das Unterhaus des Teshri.« Ihre Stimme war heiser. »Aber selbst sie beginnen sich zu fragen, ob es weise ist, blind einem Mann zu folgen, der alles verspricht, aber nur das liefert, was er möchte. Der Asrahn sollte der Hüter seines Volkes sein, statt sie auszunutzen, als wären sie Lasttiere. Es gibt Entführungen, Drohungen und Gewalt in unseren Städten. Cesare, der Volkssprecher, wurde umgebracht. Eure Abwesenheit hat zu einer großen Kluft geführt. Und was die Hexer …«

»Das ist nicht unsere Angelegenheit«, erklärte Sēqmagnat Bodekian.

»Könnte es aber wieder sein, wenn Ihr beschließt, sie zu Eurer zu machen.« Rosha starrte den alten Sēqmeister an. Dann krümmte sie sich unter einem heftigen Hustenanfall zusammen. Indris erhob sich leicht aus seinem Stuhl, wurde jedoch von Ojin-mar zurückgehalten, der den Kopf schüttelte.

»Wie das?«, fragte Femensetri und beugte sich vor wie ein Raubvogel, mit aufmerksamem Blick. »Und warum sollten wir uns um die Nöte einer undankbaren Nation kümmern?«

Indris’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Weil ihr eure Rolle als Puppenspieler vermisst und es gar nicht erwarten könnt, wieder die Fäden zu ziehen.

»Corajidin und seine Gefolgsleute führen keinen konventionellen Krieg«, erklärte Siamak. »Dies sind die Vorboten eines Ajamensût, und wir alle wissen es. Aber statt eines Krieges Haus gegen Haus oder Familie gegen Familie wird es ein Bürgerkrieg unter Meuchelmördern werden, wie es ihn seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben hat! Und da sind … Wesen in seinen Reihen, die uns verblüffen. Die Hexer haben seltsame, beunruhigende Verbündete mitgebracht. Corajidins Streitkräfte durchstreifen die Rōmarq, sie graben nach Waffen und verbotenem Wissen! Er hat meine Präfektur besetzt und ignoriert jede meiner Aufforderungen, sie wieder zu verlassen. Er versucht, eine gewalttätige Reaktion zu provozieren.«

»Wir werden von allen Seiten bedrängt, und wir sind in der Unterzahl.« Nazarafines einst so rötliche Gesichtshaut wirkte aschfahl, die runden Wangen waren eingefallen. »Jeden Tag verschwinden Mitglieder der Hohen Häuser und der Hundert Familien. Die Einschüchterung ist zur Regel geworden. Und in Eurer Abwesenheit haben eigennützige Gruppen das Land überschwemmt, wie die Alchemisten und die Erfinder. Diese Gruppierungen sind vom Bankiershaus gegründet und von der Händlergilde organisiert worden.«

»Ihr werdet schon noch von irgendwoher Eure Kraft beziehen.« Bodekian schob ihre Proteste mit einer wegwerfenden Geste beiseite. »All das haben wir in der Vergangenheit schon erlebt.«

»Nichts in dieser Art«, sagte der Herold. »Ihr seid nicht darauf vorbereitet.«

»Corajidin hat seine Verbrechen noch nie so offen begangen«, erwiderte Siamak und sah den Herold nervös an. »Der Asrahn hat seine Laken zurückgeschlagen und lädt jeden ein, zu ihm ins Bett zu steigen, der seine Forderungen erfüllt.«

»Und nun«, fügte Rosha hinzu, »bieten wir Euch an, einen womöglich schwerwiegenden Fehler wiedergutzumachen.«

»Fahrt fort«, drängte Er-Der-Sieht.

»Sayf Ajomandyan, der Himmelslord, ist bereit, ein Misstrauensvotum gegen den Asrahn zu stellen. Der Kanzleimarschall und der Wächter des Wandels sind beide einverstanden. Die Unzufriedenheit im Teshri wächst, und immer neue politische Parteien werden gegründet, die vielleicht eines Tages die Autorität unserer traditionellen Herrschaft infrage stellen.«

»Aber in all dem steckt kein bisschen Eigennutz, was, Mädchen?«

Femensetri saß mit weit gespreizten Beinen in ihrem Stuhl. Sie hatte die Ellbogen auf die Knie gestemmt, und ihr Kinn ruhte auf ihrer Faust.

»Doch, natürlich«, stimmte Rosha zu. »Trotzdem sollten wir Corajidin seine Macht so schnell wie möglich aberkennen. Ich will nicht zusehen, wie wir in einen Krieg schlittern, Femensetri.«

»Und wer würde Corajidin ersetzen?«, fragte Bodekian.

»Ich bin die Anführerin der Föderalistischen Partei«, erwiderte Rosha und verzichtete auf jeden Versuch von falscher Bescheidenheit. »Und ich würde die Sēq respektieren, so wie meine Vorfahren es getan haben. Waren nicht auch einst Näsarat in Euren Reihen? Mein Cousin, Indris – möge er Frieden finden bei der Seelenquelle –, war ein Held des Ordens, der für sein Volk gestorben ist. Können wir keine gemeinsame Basis finden?«

Indris wollte sich schon erheben, aber Ojin-mar packte ihn am Arm.

Femensetri lachte bellend, und Er-Der-Sieht warf ihr einen irritierten Blick zu. Die Meister begannen, sich leise zu beraten. Indris zog sich in den Schatten seiner Kapuze zurück, als er den gierigen Ausdruck auf den Gesichtern einiger Sēqmeister sah. Die Unterhaltungen in seiner Nähe wandten sich wieder den vertrauten Themen von Macht und Einfluss zu, wobei man sich kaum um die Konsequenzen kümmerte.

Indris wandte sich zu Ojin-mar, der besorgt dreinblickte.

»Wann sind wir vom Weg abgekommen?«, flüsterte Ojin-mar.

»Ich kenne sie gar nicht anders.« Indris zuckte die Schultern. »Für einen Orden, der eigentlich dienen, erziehen und beschützen sollte, sind ganz schön viele Eurer Kollegen eher daran interessiert, zu führen, zu kontrollieren und zu manipulieren.«

Rosha hustete erneut. Ihre Arme verkrampften sich vor ihrem Unterleib, und sie spuckte eine Mischung aus Blut und Schleim auf den Boden. Als sie endlich wieder sicher auf den Beinen stand, war die Runde still geworden.

»Aber das ist noch nicht alles, oder, Mädchen?« Femensetri schritt mit flatternder Soutane nach unten. Die Sturmbringerin umfasste Roshas Kinn und starrte ihr in die Augen. Sie drehte Roshas Kopf erst in die eine Richtung, dann in die andere und fühlte ihren Puls. Indris sah den Hautausschlag, als Femensetri Roshas Ärmel hochkrempelte. Der Seelenstein der alten Gelehrten brannte dunkel und wurde zu einem Wirbel, der Schatten auf Roshas Haut warf. »Du und die anderen, ihr seid am Sterben.«

»Ja«, sagte Rosha schlicht. Sie wies auf Siamak und Nazarafine.

»Wir alle wurden vor etwa einem Monat krank. Und es wird immer schlimmer. Wir brauchen Eure Hilfe, Gelehrtenmarschallin.«

Die Unterhaltungen brandeten wieder auf, als Femensetri den Sēqrittern und den Iku ein Zeichen machte, die Rahns in die Thaumaturgenhalle zu bringen, wo sie untersucht und behandelt werden konnten.

Die Meister fuhren fort, ihre Rolle in dem neuen Regime zu diskutieren, und klammerten sich an den Strohhalm, den Rosha ihnen hingehalten hatte. Selbst im Exil hielten die Sēq das Schicksal der Nation in den Händen, und Indris wusste nur zu gut, dass die Sēq nichts so leicht wieder losließen, was sie in ihren Klauen hatten.

Kapitel 2

»Geduld ist kein Zeichen von Schwäche. Für alles gibt es den richtigen Zeitpunkt. Beobachten, zuhören und lernen zu können, wenn die Zeit gekommen ist, gründet sich auf Stärke und Weisheit.«

Bensaharēn, Dichtermeister der Wehklage (493. Jahr der Shrīanischen Föderation)

53. Tag im 496. Jahr der Shrīanischen Föderation

»Bei Erebus’ Zähnen!«, zischte Mari, als Qesha-rē die frisch zusammengefügten Knochen in Maris linker Hand prüfte. So wenig Mari es mochte, das Krankenzimmer aufzusuchen, so erleichtert war sie, dass die in Harz getränkten Verbände endlich entfernt wurden, die ihre Hand bewegungsunfähig gemacht hatten. Die Untersuchung durch die Wundärztin, eine alte Frau mit scharfen Gesichtszügen, war allerdings weniger erfreulich. »Zum … Versuchst du, mich mit deinen spitzen Fingern zu erdolchen? Versteht man das unter Ärztekunst, da, wo du herkommst?«

»Nein«, entgegnete die Wundärztin ruhig und ignorierte Maris Flüche, während sie deren Finger erst in die eine, dann in die andere Richtung bog, ihre Nägel untersuchte und sich mithilfe einer Nadel vergewisserte, dass Maris Fingerspitzen ihre Empfindsamkeit nicht verloren hatten. Qesha-rēs dünne Lippen verzogen sich leicht, während sie Maris Hand massierte.

»Warum glaubst du wohl, dass ich Pashrea verlassen habe? Viele der Pashreaner sind Nomaden, und ihr Zustand liegt bereits jenseits der Heilermöglichkeiten, selbst für einen Wundarzt der Nilvedic. Du dagegen bist jemand, den ich gut behandeln kann, und Tamerlan ist ein derartig widerwärtiger und gewalttätiger Ort, dass mir die Arbeit niemals ausgeht. Ich wage zu behaupten, dass du mich auch in Zukunft noch beschäftigt halten wirst. Natürlich nur solange Nadir, Jhem oder die Asrahnwitwe nicht beschließen, dich ins Meer zu werfen.«

»Die Asrahnwitwe«, schnaubte Mari. Sie zog die Hand zurück und schüttelte sie, machte eine Faust und öffnete sie wieder und wieder. Die Finger waren steif und schmerzten noch ganz leicht. Beides würde vorübergehen. Die Blutergüsse waren nicht mehr zu sehen, doch die Hand war noch bleich und dünn, verglichen mit ihrem Gegenstück. »Dieser alte Hai lebt vom Ruhm vergangener Zeiten. Ich weiß nicht, warum mein Vater derart viel Rücksicht auf dieses bösartige alte Weib nimmt.«

Die Ärztin zog eine Braue in die Höhe. »Das mag sein, wie es will, meine Liebe. Aber dieser alte Haifisch hat seine Zähne in alles und jeden in Tamerlan geschlagen, und das solltest du besser nicht vergessen.«

»Vahineh mit eingeschlossen.« Vor allem Vahineh. »Ich vermute, sie ist immer noch in deiner Obhut?«

»Wenn du damit meinst: Ist sie immer noch in Tamerlan, und ist sie immer noch am Leben, dann lautet die Antwort Ja. Körperlich geht es ihr besser, aber so leid es mir tut, ich bezweifle, dass sie geistig jemals wiederhergestellt sein wird.«

»Kannst du mich zu …«

»Nein.«

»Bitte, nur …«

»Hör auf zu fragen«, sagte Qesha-rē rundheraus. »Die Asrahnwitwe hat sehr deutlich gemacht, dass niemand außer Jhem, Nadir oder diejenigen, die für sie arbeiten, Vahineh sehen darf. Ich habe nur die Erlaubnis, dafür zu sorgen, dass sie am Leben bleibt. Weißt du, was sie mit ihr anstellen?«

ENDE DER LESEPROBE