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Eine süffige Piratengeschichte und ein Großklassiker der Abenteuerliteratur
Mit seiner «Schatzinsel» schrieb der Schotte Stevenson nicht nur einen Bestseller, sondern einen der bekanntesten Romane der Weltliteratur überhaupt. Ursprünglich zur Unterhaltung für Kinder gedacht und deshalb in einem «ganz einfachen Stil» verfasst, traf das Buch auf Anhieb einen Nerv. Die Abenteuergeschichte begeisterte seither Jung und Alt gleichermaßen und befeuerte die Fantasie vieler Generationen. Noch heute macht es Leser und Leserinnen zu willigen Komplizen von Jim Hawkins und Long John Silver.
Die Anleihen bei dieser süffigen Piratengeschichte sind übrigens so zahllos wie Sand am Meer – von Käpt’n Sharky über Käpt’n Iglo bis Fluch der Karibik – und haben sich tief in unser kollektives Bildergedächtnis eingegraben. Dass man sich Piraten am liebsten mit einem Papagei auf der Schulter und auf einem Holzbein hinkend vorstellen, haben wir Stevensons Klassiker zu verdanken, genauso dem Sehnsuchtsbild von palmenbestandenen Südseeinseln oder vergilben Schatzkarten, auf denen das X auf einen vergrabenen Schatz hinweist.
PENGUIN EDITION. Zeitlos, kultig, bunt. – Ausgezeichnet mit dem German Brand Award 2022
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Seitenzahl: 343
Große Emotionen, große Dramen, große Abenteuer – von Austen bis Fitzgerald, von Flaubert bis Zweig. Ein Bücherregal ohne Klassiker ist wie eine Welt ohne Farbe.
Robert Louis Stevenson (1850–1894), geboren in Edinburgh, studierte Jura und arbeitete anschließend für verschiedene Zeitschriften. Seinen ersten großen literarischen Erfolg feierte er 1883 mit seiner Abenteuergeschichte «Die Schatzinsel», weitere mit unheimlichen Geschichten in der Nachfolge Poes. Seine Einkünfte erlaubten dem gebürtigen Schotten lebenslanges Reisen auf der Suche nach einem Klima, das bekömmlicher war als das heimische. Er fand es auf Samoa, wo er im Alter von vierundvierzig Jahren starb.
«Von Kindheit an ist Robert Louis Stevenson für mich eine der Formen des Glücklichseins gewesen.»
Jorge Luis Borges
«Mit Stevenson hielten die stilistischen Forderungen der französischen Naturalisten, in den Zauber des Exotischen gehüllt, Einzug in die englische Literatur. Man kann sagen, dass hier die Anfänge der bedeutendsten Prosa unseres Jahrhunderts zu suchen sind.»
Cesare Pavese
Robert Louis Stevenson
DIE SCHATZINSEL
Roman
Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Fritz Güttinger
Mit Erklärungen des nautischen Vokabulars
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Die Originalausgabe des Romans erschien 1883
unter dem Titel «Treasure Island».
Copyright © 1971/2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Manesse Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Regg Media in Adaption der traditionellen Penguin Classics Triband-Optik aus England
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel GmbH, Köln
ISBN 978-3-641-29994-1V001
www.penguin-verlag.de
S. L. O.
einem Amerikaner, auf dessen maßgebenden Geschmack die nachfolgende Erzählung zugeschnitten ist, als Gegengeschenk für viele köstliche Stunden zugeeignet von seinem ergebenen, ihm alles Gute wünschenden Freund
R. L. S.
Dem zaudernden Käufer
Falls Seemannsmär und Seemannsschwank,
Falls Sturm und Wagnis, Frost und Brand,
Falls Treibgut und Schoner und Inselbank
Und vergrabenes Gold im Bukanierland,
Gar alte Geschichten im neuen Gewand
Samt dem bewährten romantischen Tand
Viel Klügere heute noch ebenso bannt,
wie dereinst es uns zu packen verstand:
– So sei es: Bedient Euch! Falls jedoch nicht,
Falls uns’re belesene Jugend dies flieht
Und verschmäht, auf Gestriges nicht mehr erpicht:
Auf Kingston, auf Ballantynes Heldenlied,
Voll Überdruss selbst auf Coopers Werk sieht,
So sei’s drum! Dann werd’ ich mich in die Wellen
Ins Grab, das man meinen Piraten beschied,
Gleich zu ihrem Vermächtnis gesellen.
Erster Teil
DER ALTE FREIBEUTER
Der alte Seebär im «Admiral Bettbow»
Gutsherr Trelawney, Dr. Livesey und die übrigen Gentlemen haben mich gebeten, alles, was mit der Schatzinsel zu tun hatte, ausführlich aufzuschreiben, vom Anfang bis zum Ende, ohne etwas auszulassen, außer der genauen geografischen Lage der Insel, und auch diese nur, weil es da noch ungehobene Schätze gibt. So greife ich denn im Jahre des Heils 17** zur Feder und versetze mich in die Zeit zurück, als mein Vater noch den Gasthof «Admiral Benbow» führte und der braun gebrannte alte Seebär mit der Säbelnarbe sich bei uns einquartierte.
Ich erinnere mich noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie er auf die Tür des Gasthofs zustapfte, während seine Seekiste auf einem Schubkarren hinterherkam – ein großer, stämmiger, braun gebrannte Mann mit einem verfilzten Zopf, der auf den schmuddligen blauen Rock herabhing; knorrige, verschrammte Hände mit schwarzen Fingernägeln hatte er und quer über die eine Wange diese bläuliche Säbelnarbe. Ich weiß noch, wie er in der Bucht Ausschau hielt und dabei vor sich hin pfiff, worauf er in das alte Seemannslied ausbrach, das wir in der Folge so oft von ihm hörten:
«Fünfzehn Mann auf Totmannkasten –
Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum!»
mit der zittrigen Fistelstimme, die offenbar am Gangspill geschult worden war. Dann bullerte er mit einem Stock, nicht unähnlich einer Handspake, an die Tür, und als mein Vater öffnete, verlangte er barsch ein Glas Rum. Dieses trank er daraufhin genießerisch in kleinen Schlucken, während er immer noch die Ufergegend und unser Aushängeschild musterte.
«Eine stille Bucht», sagte er schließlich, «und ein günstig gelegenes Lokal. Viel Betrieb hier, Kamerad?»
Nein, erwiderte mein Vater, es gebe nur wenig Betrieb, leider.
«Dann ist das die richtige Bleibe für mich», erklärte der Fremde. «Du dort», rief er zu dem Mann, der den Schubkarren schob, «scher längsseits mit der Kiste und hilf sie rauftragen. Ich bleibe eine Zeit lang hier», setzte er hinzu. «Große Ansprüche stelle ich nicht; Rum und Speck mit Ei, das ist alles, was ich brauche, und diesen Felsen dort, um den Schiffsverkehr zu beobachten. Wie ich heiße? Nennt mich meinetwegen Käptn. Ach so, ich verstehe – da!», und er warf drei oder vier Goldstücke auf die Türschwelle. «Ihr könnt es mir sagen, wenn ich das durchgebracht habe», erklärte er in gebieterischem Ton.
Trotz seines unansehnlichen Aufzugs und des rüden Tons wirkte er tatsächlich nicht wie einer, der als Mann vorm Mast zur See geht; sein Auftreten war eher das eines Steuermanns oder Skippers, der gewohnt ist, Gehorsam vorzufinden oder mit Gewalt durchzusetzen. Der Mann mit dem Schubkarren teilte uns mit, der Fremde sei tags zuvor mit der Postkutsche angekommen und im «Royal George» abgestiegen; dort habe er sich nach den Gasthöfen längs der Küste erkundigt, und nachdem ihm der unsere als empfehlenswert, wenn auch abgelegen, geschildert worden war, hatte er sich für ihn entschieden. Und das war alles, was wir über unseren Gast erfuhren.
Er selber war sehr wortkarg. Den ganzen Tag hielt er sich mit einem Messingfernrohr draußen am Ufer der Bucht oder auf den Anhöhen auf, und am Abend saß er jeweils in einer Ecke der Gaststube in der Nähe des Kaminfeuers und trank Rum, fast unverdünnt. Wenn man ihn ansprach, gab er meistens keine Antwort, er schaute bloß grimmig auf und schnaubte wie ein Nebelhorn. Wir und die Leute, die bei uns aus und ein gingen, lernten bald, ihn in Frieden zu lassen. Jeden Tag, wenn er von seinem Rundgang zurückkehrte, fragte er, ob Seeleute vorbeigekommen seien. Zuerst glaubten wir, es sei der Mangel an Gesellschaft mit seinesgleichen, was ihn danach fragen ließ; mit der Zeit merkten wir jedoch, dass er ihnen aus dem Weg zu gehen trachtete. Wenn einmal ein Seemann, der auf der Küstenstraße nach Bristol unterwegs war, im «Admiral Benbow» übernachtete, dann musterte er ihn zunächst durch die verhängte Tür, ehe er in die Gaststube trat, und er verhielt sich immer mucksmäuschenstill, wenn einer anwesend war. Mich wunderte das nicht weiter, ich war gewissermaßen in seine Befürchtungen eingeweiht. Er hatte mich eines Tages beiseitegenommen und mir versprochen, ich solle am Ersten jedes Monats ein Vierpencestück erhalten, wenn ich «die Augen offenhalte nach einem einbeinigen Seemann» und es ihm melde, sobald ein solcher auftauche. Zwar kam es oft vor, wenn ich am Monatsersten meinen Lohn einfordern wollte, dass er nur ein Schnauben von sich gab und mich wortlos mit Blicken durchbohrte, bis ich mich trollte; doch besann er sich jeweils noch im Laufe der Woche eines Besseren, brachte mir mein Vierpencestück und schärfte mir abermals ein, nach dem «einbeinigen Seemann» Ausschau zu halten.
Wie dieser Einbeinige mich bis in meine Träume hinein verfolgte, brauche ich kaum zu erwähnen. In stürmischen Nächten, wenn der Wind überall am Haus rüttelte und die Brandung krachend ans Ufer schlug, sah ich ihn in tausendfacher Gestalt mit tausenderlei teuflischen Fratzen vor mir. Bald war das Bein am Knie amputiert, bald an der Hüfte, und manchmal war er eine Art Missgeburt und hatte immer nur ein Bein gehabt, nämlich in der Mitte des Körpers. Wie er mich dann verfolgte, indem er über Gräben und Hecken hinwegsetzte, das waren grässliche Angstträume. Mein monatliches Vierpencestück hatte ich mir damit redlich verdient.
Obwohl mich der Gedanke an den einbeinigen Seemann dermaßen ängstigte, hatte ich andererseits vor dem Käptn selber weitaus weniger Angst als alle andern, die ihn kannten. Es gab Abende, wo er mehr trank, als er vertragen konnte; dann saß er da und grölte seine lästerlichen alten Seemannslieder, ohne Rücksicht auf die Anwesenden. Bisweilen kam es aber vor, dass er eine Runde ausgab und die verängstigten Gäste nötigte, sich seine Geschichten anzuhören und in seinen Gesang mit einzustimmen. Oft habe ich dieses «Jo-ho-ho, ’ne Buddel voll Rum!» erschallen hören, dass das ganze Haus wackelte, weil alle in ihrer Todesangst aus Leibeskräften mitsangen, einer lauter als der andere, um bloß nicht aufzufallen. Wenn diese Anwandlungen über ihn kamen, duldete er nämlich keinen Widerspruch; er schlug dann mit der flachen Hand auf den Tisch, um Stillschweigen zu gebieten; wenn ihn einer etwas fragte, hatte das einen Wutausbruch zur Folge; manchmal brauste er auch auf, wenn keine Frage gestellt wurde, weil er daraus auf mangelnde Aufmerksamkeit schloss. Auch duldete er dann nicht, dass jemand die Gaststube verließ, ehe er sich selber schläfrig getrunken hatte und in seine Kammer torkelte.
Was die Leute aber am meisten ängstigte, das waren seine Geschichten. Grässliche Geschichten waren das; meistens handelten sie davon, wie einer gehängt wurde oder über die Planke springen musste oder im Sturm umkam, oder sonst von wildbewegten Geschehnissen auf den Inseln unter dem Wind im Karibischen Meer. Nach dem, was er selber sagte, musste er sein Leben unter den gottlosesten Menschen verbracht haben, die je die Weltmeere unsicher gemacht hatten; und die Sprache, die er dabei im Mund führte, entsetzte das biedere Landvolk fast ebenso sehr wie die Schandtaten, die er schilderte. Mein Vater meinte immer, der Fremde werde ihm noch die paar Stammgäste vertreiben; aber ich glaube, das Gegenteil war der Fall. Zwar erschauerten die Leute ein ums andere Mal, doch hinterher fanden sie, es sei doch eine willkommene Abwechslung in ihrem ereignislosen Dasein gewesen. Unter den jüngeren gab es sogar welche, die Bewunderung für ihn an den Tag legten, ihn einen «waschechten Seebären», eine «richtige alte Wasserratte» nannten und erklärten, er gehöre zu dem Schlag, der England zur Seemacht verholfen habe.
In einer Hinsicht allerdings drohte er uns doch zugrunde zu richten; er blieb nämlich eine Woche um die andere und schließlich monatelang, sodass er sein Zehrgeld längst aufgebraucht hatte; dabei brachte es mein Vater nicht über sich, auf weiteren Zahlungen zu bestehen. Wenn er je darauf anspielte, schnaubte der Käptn so laut, dass uns angst und bange wurde, und durchbohrte meinen armen Vater mit Blicken, bis der sich wortlos davonmachte. Ich habe ihn nach einer solchen Schlappe verzweifelt die Hände ringen sehen; sicher haben Ärger und ausgestandene Angst seinen vorzeitigen Tod beschleunigt.
Solange er bei uns wohnte, wechselte der Käptn seine Kleidung überhaupt nie, außer dass er einmal einem Wanderkrämer Strümpfe abkaufte. Als sich an seinem Dreispitz auf einer Seite die Krempe löste, ließ er sie von da an hängen, obwohl es ihn bei windigem Wetter sehr störte. Ich erinnere mich noch gut, wie sein Rock aussah, den er selber in seiner Kammer droben flickte, bis das Ganze aus lauter Flicken bestand. Nie schrieb oder erhielt er einen Brief; auch redete er mit keinem Menschen, höchstens mit den Nachbarn, und auch mit diesen nur, wenn er zu viel Rum getrunken hatte. Die große Seekiste hatte niemand von uns je offen gesehen.
Nur einmal zog er den kürzeren, und das geschah erst spät, als mein armer Vater bereits dahinsiechte, dem Ende seiner Tage entgegen. Eines Abends kam Dr. Livesey den Kranken besuchen, ließ sich dann von meiner Mutter etwas zu essen geben und verfügte sich in die Gaststube, um dort eine Pfeife zu rauchen, bis ihm aus dem Ort sein Pferd gebracht werde; Stallungen waren bei uns nämlich keine vorhanden. Ich folgte ihm in die Gaststube und weiß noch gut, dass mir auffiel, wie der blitzsaubere Arzt mit seiner weiß gepuderten Perücke, dem lebhaften Blick und umgänglichen Wesen sich abhob von dem ungehobelten Landvolk, unter dem sich auch jener versoffene Kerl befand. Die Arme auf den Tisch gestützt, saß er da, und plötzlich fing er an, sein unvermeidliches Lied zu krähen:
«Fünfzehn Mann auf Totmannkasten –
Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum!
Zum Teufel sind die andern Gasten,
Jo-ho-ho, und ’ne Buddel voll Rum!»
Früher hatte ich geglaubt, mit dem «Totmannkasten» sei die mächtige Seekiste in seiner Kammer droben gemeint, und in meinen bösen Träumen hatte ich sie mit dem einbeinigen Seemann in Verbindung gebracht. Doch nahm es längst niemand mehr allzu genau mit diesem Lied; neu war es an dem betreffenden Abend nur für Dr. Livesey, der davon, wie ich bemerkte, unangenehm berührt war; er schaute einen Moment lang ungehalten auf, bevor er in seinem Gespräch mit Taylor, dem alten Gärtner, fortfuhr. Der Käptn war inzwischen ob seiner eigenen Musik munter geworden, und schließlich schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch, was bekanntlich nur eines bedeuten konnte – Silentium. Alle verstummten, alle außer Dr. Livesey; dieser fuhr fort, dem Gärtner in aller Ruhe ein neues Heilverfahren für das Zipperlein auseinanderzusetzen, wobei er von Zeit zu Zeit einen Zug aus der Pfeife tat. Der Käptn schaute sich das eine Weile an, schlug dann nochmals mit der Hand auf den Tisch, während sich seine Stirn bedrohlich umwölkte, und schließlich rief er mit einem unflätigen Fluch: «Ruhe dort Zwischendecks!»
«Galt das mir, Sir?», fragte der Doktor höflich, und als ihm der Rüpel das mit einem weiteren Fluch bestätigte, erwiderte der Doktor: «Ich habe Ihnen nur eines zu sagen, Sir – wenn Sie weiterhin Rum trinken, wird die Welt bald um einen ziemlich dreckigen Lumpen ärmer sein!»
Die Wut des alten Gesellen war furchtbar. Er sprang auf, zog ein Klappmesser hervor, das er öffnete und auf der flachen Hand wog, und drohte dann, den Arzt damit an die Wand zu nageln.
Dieser rührte sich nicht vom Fleck. Er sprach, wie zuvor, über die Schulter zurück und im selben ruhigen Ton, doch laut genug, dass die ganze Stube es hören konnte: «Wenn Sie das Messer nicht auf der Stelle wegstecken, gebe ich Ihnen mein Wort, Sie werden am nächsten Gerichtstag baumeln.»
Dann maßen sich die beiden mit Blicken; doch der Käptn gab rasch klein bei, steckte seine Waffe weg und setzte sich wieder hin, knurrend wie ein geprügelter Hund.
«Und jetzt, Sir», fuhr der Doktor fort, «nachdem ich nun weiß, dass es in meinem Bezirk einen solchen Gesellen gibt, können Sie sich darauf verlassen, dass ich Tag und Nacht ein Auge auf Sie haben werde. Ich bin nicht nur Arzt, ich bin auch Friedensrichter hier, und falls ich die geringste Klage über Sie höre, selbst wenn es sich nur um eine Rüpelhaftigkeit wie die von heute Abend handelt, werde ich dafür sorgen, dass Sie die längste Zeit hier gewesen sind. Merken Sie sich das.»
Bald darauf wurde Dr. Liveseys Pferd vorgeführt, und er ritt hinweg; doch der Käptn blieb den ganzen Abend recht kleinlaut, und noch manchen Abend danach.
Der schwarze Hund kommt und geht
Wenig später trug sich das erste der geheimnisvollen Ereignisse zu, die uns schließlich den Käptn vom Hals schaffen sollten, nicht aber, wie sich zeigen wird, seine Angelegenheiten. Es war ein strenger Winter, bitterkalt, mit viel Frost und schweren Stürmen, und von Anfang an war unverkennbar, dass mein armer Vater den Frühling kaum mehr erleben würde. Seine Kräfte schwanden täglich mehr, sodass meine Mutter und ich alle Hände voll zu tun hatten, ohne uns allzu sehr um unseren unerwünschten Gast zu kümmern.
Es war eines Morgens früh im Januar, bittere Kälte herrschte, in der Bucht war alles mit Raureif überzogen, sachte plätscherten die Wellen gegen das Gestein, die Sonne stand noch hinter den Hügeln, deren Saum zu erglühen begann. Der Käptn war früher als sonst aufgestanden und hatte sich auf den Weg zum Strand gemacht; unter den breiten Schößen seines alten blauen Rocks baumelte das Entermesser, das Messingfernrohr trug er unter den Arm geklemmt, den Hut ins Genick geschoben. Ich weiß noch, wie hinter ihm seine Atemwolken wie Rauch in der Luft hingen, als er davonstapfte, und das Letzte, was ich von ihm hörte, als er um den Felsen bog, war ein lautes, entrüstetes Schnauben, als sei er in Gedanken noch immer mit Dr. Livesey beschäftigt.
Nun, die Mutter befand sich oben bei meinem Vater, und ich war gerade dabei, auf die Rückkehr des Käptns hin den Frühstückstisch zu decken, als die Tür aufging und ein Mann in die Gaststube trat, den ich noch nie gesehen hatte – ein Mensch mit wächsernem Gesicht, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten, und obwohl er ein Entermesser trug, sah er gar nicht nach einem Haudegen aus. Ich war immer auf Seeleute gefasst, ob mit einem Bein oder zwei, aber dieser Mensch war mir ein Rätsel. Er wirkte nicht wie ein Matrose, und doch war etwas wie ein Anflug von Meeresluft um ihn.
Ich fragte ihn, was zu Diensten stehe, worauf er Rum bestellte, doch als ich diesen holen wollte, ließ er sich auf eine Tischkante nieder und winkte mich zu sich heran. Ich blieb stehen, wo ich war, mit dem Serviertuch in der Hand.
«Komm her, Kleiner», sagte er. «Komm ein bisschen näher.»
Ich trat einen Schritt heran.
«Ist der Tisch hier für meinen Kameraden Bill?», fragte er mit scheelem Blick.
Ich antwortete, sein Freund Bill sei mir nicht bekannt; der Tisch sei für einen Kostgänger gedeckt, genannt «der Käptn».
«Nun», meinte er, «das passt auf meinen Freund Bill. Er trägt eine Narbe im Gesicht und hat etwas Unwiderstehliches, mein Freund Bill, besonders in angeheitertem Zustand. Nehmen wir einmal an, dein Käptn habe eine Narbe im Gesicht, und zwar, sagen wir, quer über die rechte Backe. Aha, hab’ ich mir’s doch gedacht! Nun, hält sich mein Freund Bill hier im Haus auf?»
Ich sagte ihm, er sei ausgegangen.
«In welche Richtung, mein Kleiner? In welche Richtung ist er gegangen?»
Und als ich es ihm gezeigt und ihm gesagt hatte, der Käptn werde wohl bald zurückkommen, und noch ein paar andere Fragen beantwortet hatte, meinte er: «So, das wird meinem Freund Bill in der Seele wohltun.»
Die Miene, die er dabei machte, war alles andere als wohltuend, und ich hatte meine Gründe, daran zu zweifeln, selbst wenn er es wörtlich gemeint hatte. Aber das ging mich schließlich nichts an, dachte ich, und außerdem wusste ich nicht recht, wie ich mich verhalten sollte. Der Unbekannte hielt sich ständig in der Nähe des Hauseingangs auf, wie eine Katze, die einer Maus auflauert. Einmal trat ich selber auf die Straße hinaus, wurde aber sogleich zurückgerufen, und als ich ihm offenbar nicht rasch genug gehorchte, vollzog sich in seinem wächsernen Gesicht eine schreckenerregende Veränderung; er stieß einen Fluch aus, der mich zusammenfahren ließ, und hieß mich schleunigst hereinkommen. Sowie ich drin war, nahm er wieder sein vorheriges Wesen an, halb verbindlich, halb verächtlich; er klopfte mir auf die Schulter und bemerkte, ich sei ein braver Junge, solche sehe er gern. «Ich hab’ selber einen Sohn», setzte er hinzu, «der dir ganz ähnlich sieht und auf den ich mächtig stolz bin. Aber die Hauptsache bei Jungs ist Gehorsam, mein Kleiner – Gehorsam. Wenn du jemals mit Bill zur See gefahr’n wärst, hättest du dich nicht zweimal rufen lassen – du nicht. Das war bei Bill nicht üblich, und auch nicht bei denen, die mit ihm fuhren. Ach, da kommt ja mein Freund Bill, mit einem Fernrohr unter dem Arm – der wird Augen machen! Du und ich, wir gehen jetzt wieder in die Gaststube und warten dort hinter der Tür. Wir wollen Bill eine kleine Überraschung bereiten – der wird Augen machen, sag’ ich dir.»
Währenddessen schob er mich in die Gaststube hinein, hinter sich in die Ecke, sodass wir beide hinter der Tür verborgen standen. Mir war nicht recht geheuer dabei, wie man sich denken kann, umso mehr, als der Fremde unverkennbar selber Angst hatte. Er machte sein Entermesser griffbereit, indem er es etwas in der Scheide lockerte, und während wir da auf der Lauer lagen, musste er ständig schlucken, als würge ihn etwas in der Kehle.
Endlich kam der Käptn hereingestiefelt, knallte die Tür hinter sich zu und schritt, ohne nach rechts oder links zu schauen, auf den Tisch zu, der für ihn gedeckt war.
«Bill», sagte der Unbekannte in einem Ton, der tollkühn klingen sollte.
Der Käptn drehte sich auf dem Absatz um und stand uns gegenüber; die Farbe war völlig aus seinem Gesicht gewichen, sogar seine Nase wurde bläulich; er sah aus wie einer, der ein Gespenst erblickt, oder den Gottseibeiuns oder noch Schlimmeres, falls es das gibt; er tat mir, weiß der Himmel, leid, so alt und gebrechlich sah er mit einem Male aus.
«Komm schon, Bill, du kennst mich doch; du wirst doch einen alten Kameraden wiedererkennen, Bill», sagte der Unbekannte.
Der Käptn schnappte nach Luft. «Der Schwarze Hund!», stieß er hervor.
«Wer denn sonst?», erwiderte der andere, sichtlich erleichtert. «Na freilich, der Schwarze Hund, der seinen alten Kameraden im ‹Admiral Benbow› aufsucht. Ach, Bill, Bill, wir haben mancherlei erlebt, wir zwei, seit ich die beiden Klauen verlor», dabei hielt er die verstümmelte Hand empor.
«Lassen wir das», winkte der Käptn ab. «Du hast mich aufgespürt; hier bin ich; also, heraus mit der Sprache, worum handelt es sich?»
«Um dich, Bill», erklärte der Schwarze Hund, «schlechterdings um dich, Billy. Der Kleine hier, mit dem ich mich gut verstehe, bringt mir jetzt ein Glas Rum, und wir setzen uns hin, mit Verlaub, und sprechen uns in aller Freundschaft aus.»
Als ich mit dem Rum zurückkehrte, saßen sie sich bereits am Frühstückstisch des Käptns gegenüber – der Schwarze Hund auf der Seite gegen die Tür zu und rittlings auf dem Stuhl, sodass er sowohl den Käptn als auch, wie mir schien, seinen Fluchtweg im Auge behielt.
Er hieß mich gehen und die Tür weit offen lassen. «Damit du mir nicht am Schlüsselloch horchst, mein Kleiner», sagte er. So ließ ich sie denn allein und zog mich in den Schankraum zurück.
Obwohl ich die Ohren spitzte, vermochte ich lange Zeit nichts als leise Unterhaltung zu hören; doch dann wurden die Stimmen allmählich lauter, und ich konnte ab und zu ein Wort – meistens einen Kraftausdruck – des Käptns verstehen.
«Nein, nein, nein, nein, und damit basta!», rief er einmal, und alsdann, «wenn wir schon vom Baumeln reden, sollen alle baumeln, sage ich.»
Da brach plötzlich ein furchtbares Donnergepolter los – Stuhl und Tisch stürzten um, man hörte Stahl klirren, dann einen Schmerzensschrei, und gleich danach sah ich den Schwarzen Hund in wilder Flucht, den Käptn hinterher, beide mit blankem Entermesser, und dem Schwarzen Hund quoll Blut aus der linken Schulter. Unter der Tür holte der Käptn nochmals mächtig aus und hätte dem andern bestimmt den Schädel gespalten, wenn nicht der Hieb von unserem großen Wirtshausschild vereitelt worden wäre. Man kann die Kerbe unten am Rahmen noch heute sehen.
Zu einem weiteren Hieb kam es nicht mehr. Einmal auf der Straße draußen, erwies sich der Schwarze Hund nämlich trotz seiner Verwundung als wieselflink und war im Handumdrehn über dem Hügelkamm verschwunden. Der Käptn seinerseits stand da und schaute verdattert das Wirtshausschild an. Dann fuhr er sich mehrmals mit der Hand über die Augen und begab sich schließlich wieder ins Haus zurück.
«Jim», sagte er, «Rum», und dabei schwankte er ein wenig und musste sich mit der einen Hand gegen die Wand stützen.
«Sind Sie verletzt?», rief ich.
«Rum», wiederholte er. «Ich muss hier weg. Rum, Rum!»
Ich lief, ihn zu holen, war aber durch das eben Vorgefallene ganz verstört. Zuerst zerbrach ich ein Glas, dann kam ich mit dem Hahn nicht zurecht, und während ich mich noch abmühte, hörte ich in der Gaststube einen lauten Sturz, und als ich hineineilte, sah ich den Käptn auf dem Boden liegen. Da kam auch meine Mutter, durch den Lärm und das Getümmel aufgeschreckt, heruntergelaufen, um mir beizustehen. Gemeinsam gelang es uns, seinen Kopf hochzulagern. Er atmete vernehmlich, hielt aber die Augen geschlossen, und sein Gesicht war furchtbar verfärbt.
«Du meine Güte», rief meine Mutter, «so etwas muss bei uns im Haus passieren, noch dazu, wo dein armer Vater krank darniederliegt.»
Wir hatten keine Ahnung, was wir mit dem Käptn anfangen sollten, glaubten wir doch, er sei bei dem Handgemenge tödlich verwundet worden. Ich holte zwar den Rum und suchte ihm etwas davon einzuflößen, doch er hielt die Zähne fest zusammengebissen, da ließ sich nichts machen. Zu unserer freudigen Erleichterung ging nach einer Weile die Tür auf, und Dr. Livesey trat herein, um nach meinem Vater zu sehen.
«Ach, Herr Doktor», riefen wir, «was sollen wir bloß anfangen? Unter welcher Verwundung leidet er denn?»
«Verwundung? Pappenstiel», sagte der Arzt. «Ebenso wenig verwundet wie ihr oder ich. Der Mann hat einen Schlaganfall erlitten, wie ich ihm vorausgesagt habe. Gehen Sie ruhig nach oben zu Ihrem Gatten, Mrs. Hawkins, und am besten, Sie sagen ihm gar nichts davon. Ich meinerseits muss sehen, wie ich dieses keineswegs rettenswerte Leben hier rette; und Jim wird mir ein Becken holen.»
Als ich mit dem Becken zurückkam, hatte der Doktor dem Käptn bereits einen Ärmel aufgetrennt und den sehnigen Arm entblößt, der verschiedene Tätowierungen aufwies. «Glückauf», «Raumer Wind» und «Billy Bones sein Vogel» stand da auf dem Unterarm fein säuberlich eingraviert, und weiter oben gegen die Schulter zu war ein Galgen zu sehen, an dem einer baumelte – sehr anschaulich ausgeführt, wie mir schien.
«Prophetisch», meinte der Doktor und tippte auf das Bild. «Und nun, Master Billy Bones, falls das dein Name ist, wollen wir uns doch einmal die Farbe deines Blutes ansehen. Jim», sagte er, «fürchtest du dich davor, Blut zu sehen?»
Ich verneinte.
«Also», sagte er, «dann halt mal das Becken», und damit griff er nach seiner Lanzette und schnitt eine Ader auf.
Eine Menge Blut wurde ihm abgezapft, bevor der Käptn die Augen aufmachte und mit umflortem Blick umherschaute. Zuerst erkannte er den Arzt, was ihn die Stirn runzeln ließ; dann fiel sein Blick auf mich, und er schien erleichtert. Doch plötzlich verfärbte er sich und suchte vom Boden hochzukommen, wobei er rief: «Wo ist der Schwarze Hund?»
«Hier ist kein schwarzer Hund», sagte der Doktor. «Sie haben Rum getrunken; Sie haben einen Schlaganfall gehabt, genau wie ich Ihnen sagte; und ich habe Ihnen soeben, ganz gegen meine Überzeugung, aus dem Grab herausgeholfen. Und nun, Mr. Bones –»
«Das ist nicht mein Name», protestierte der.
«Einerlei», sagte der Doktor. «Es ist der Name eines Seeräubers, den ich kenne, und ich verwende ihn der Einfachheit halber auch für Sie, und was ich Ihnen zu sagen habe, ist Folgendes: Ein Glas Rum wird Sie nicht umbringen, aber wenn Sie eines trinken, dann trinken Sie noch eins und noch eins, und ich verwette meine Perücke, wenn Sie nicht sofort damit aufhören, dann sind Sie bald tot – verstehen Sie? – tot, und dann kommen Sie dorthin, wo Sie hingehören. Also, reißen Sie sich zusammen. Ich helfe Ihnen diesmal noch in Ihre Kammer.»
Mit vereinten Kräften gelang es uns, ihn nach oben zu schaffen und auf sein Bett zu legen, wo ihm der Kopf aufs Kissen sank, als sei er einer Ohnmacht nahe.
«Also, lassen Sie sich’s gesagt sein», sagte der Doktor, «Rum bedeutet für Sie den Tod.» Und damit entfernte er sich, um nach meinem Vater zu sehen. Mich zog er am Arm mit hinaus.
«Schon gut», sagte er, sobald er die Tür hinter sich zugemacht hatte. «Ich habe ihm genügend Blut abgezapft, dass er sich eine Weile ruhig verhält. Vermutlich wird er eine Woche lang liegen bleiben – das ist am besten für ihn und für euch, aber einen zweiten Schlaganfall würde er nicht überleben.»
Der schwarze Fleck
Um die Mittagszeit klopfte ich beim Käptn, um ihm seine Medizin und etwas zu trinken zu bringen. Er lag noch immer da, wie wir ihn gebettet hatten, nur etwas höher, und schien zugleich schwach und aufgeregt.
«Jim», sagte er, «du bist der Einzige hier, der etwas taugt; und du weißt, ich bin immer gut zu dir gewesen. Kein Monat ist vergangen, ohne dass ich dir ein Vierpencestück gegeben hätte. Wie du siehst, mein Freund, bin ich jetzt ziemlich unten durch und mutterseelenallein; und Jim, du bringst mir doch ein Gläschen Rum, nicht? Nur eins.»
«Der Arzt –», begann ich gerade.
Er fiel mir ins Wort, indem er anfing, auf die Ärzte zu schimpfen. «Diese Landratten», sagte er mit schwacher Stimme, aber doch herzhaft, «was verstehen die von uns Seeleuten? Ich bin in Ländern gewesen, heiß wie die Hölle, und ringsum fällte das Gelbfieber die Kameraden, und der Boden wogte unter den Füßen vom Erdbeben – was weiß dieser Arzt von dergleichen? –, und derweilen habe ich von Rum gelebt, kann ich dir sagen. Rum war für mich Speis und Trank, Freund und Frau, und wenn ich jetzt keinen kriege, bin ich ein altes Wrack an ’ner Leeküste, dann habt ihr mich auf dem Gewissen, Jim, du und diese Landratte von einem Arzt», und er erging sich wiederum in Verwünschungen. «Schau her, Jim, wie meine Hand zittert», fuhr er in flehentlichem Ton fort. «Ich kann sie nicht stillhalten. Noch keinen Tropfen hab’ ich heute gehabt. Dieser Arzt ist ein Schwachkopf, sag’ ich dir. Wenn ich nicht etwas Rum kriege, Jim, dann seh’ ich Gespenster. Eines habe ich bereits gesehen – den alten Flint dort in der Ecke, hinter dir; ganz deutlich habe ich ihn gesehen. Und wenn ich das kalte Grausen krieg’ – ich hab’ ein raues Leben geführt –, dann schlag’ ich Krach. Der Arzt hat ja selber gesagt, ein einzelnes Glas wird mir nicht schaden. Ich geb’ dir ein Goldstück, wenn du mir ein Gläschen bringst, Jim.»
Er wurde immer lauter, was mir meines Vaters wegen nicht recht war, der damals gerade sehr leidend und ruhebedürftig war; außerdem wirkten die Worte des Arztes, die er anführte, beschwichtigend auf mich, während ich den Bestechungsversuch eher als Kränkung empfand.
«Behalten Sie Ihr Geld», sagte ich, «außer was Sie meinem Vater schulden. Ich bringe Ihnen ein Glas, aber nur eins.»
Als ich es ihm brachte, griff er gierig danach und trank es aus. «Jawohl», sagte er, «das tut gut. Und nun, mein Freund, hat der Arzt gesagt, wie lange ich hier in der schäbigen Koje liegen muss?»
«Mindestens eine Woche.»
«Donnerschlag!», rief er aus. «Eine ganze Woche! Das geht nicht, die verpassen mir sonst den schwarzen Fleck. Schon jetzt sind die Kerle dabei, mir den Wind abzufangen; die Kerle, die nicht festhalten konnten, was sie bekamen, und sich nun unter’n Nagel reißen wollen, was ’nem andern gehört. Ist das die Art, wie ein Seemann sich benimmt? Ich dagegen hab’ mein Geld auf die hohe Kante gelegt, ich hab’ es nicht verschleudert, und ich schlag’ denen abermals ’n Schnippchen. Die machen mir keine Angst. Ich steck’ abermals ein Reff aus, Freundchen, und dann haben die mich gesehen.»
Bei diesen Worten hatte er sich mit Ach und Krach aufgerichtet, indem er sich mit einem Griff, der mich beinahe aufschreien ließ, an meiner Schulter festklammerte und die Beine wie gelähmt über die Bettkante schob. Was er sagte, stand in einem betrüblichen Kontrast zu seiner schwachen Stimme. Als er auf der Bettkante saß, hielt er inne. «Dieser Arzt hat es mir gründlich gegeben», murmelte er. «Ich habe ein Sausen in den Ohren. Leg mich wieder hin.»
Ehe ich viel ausrichten konnte, war er wieder aufs Bett zurückgefallen und lag dann eine Weile wortlos da.
«Jim», sagte er schließlich, «du hast doch diesen Seemann heute gesehen?»
«Den Schwarzen Hund?»
«Ja», sagte er, «das ist ’n krummer Hund; aber diejenigen, die hinter ihm stecken, sind noch schlimmer. Wenn ich nun schlechterdings nicht weg kann von hier und die mir den schwarzen Fleck verpassen, weißt du, hinter meiner Seekiste sind sie her – dann steigst du auf ein Pferd –, du kannst doch reiten, nicht? Also gut, du steigst auf ein Pferd und reitest zu – doch, sicher – zu dieser Landratte von einem Arzt und sagst ihm, er soll alles an Männern aufbieten – Landjäger, Büttel und was weiß ich – und er kann sie im ‹Admiral Benbow› abholen – die ganze Mannschaft des alten Flint, alle, heißt das, die noch am Leben sind. Ich war sein Erster Steuermann, jawohl, Flints Erster war ich, und ich bin der Einzige, der den Ort kennt. Er hat es mir in Savannah anvertraut, als er auf dem Totenbett lag, gewissermaßen wie ich jetzt. Aber du wirst es nicht ausplaudern, außer wenn die mir den schwarzen Fleck verpassen oder wenn du den Schwarzen Hund siehst, oder einen Seemann, der nur ein Bein hat, Jim – den vor allem.»
«Was hat es denn mit dem schwarzen Fleck auf sich, Käptn?», fragte ich.
«Das ist ein Aufgebot, mein Freund. Ich sag’s dir, wenn es so weit ist. Halt unterdessen die Klüsen offen, Jim, und ich mach’ halbe-halbe mit dir, auf Ehrenwort.»
Er faselte noch eine Weile weiter, wobei seine Stimme immer schwächer wurde. Seine Medizin nahm er brav wie ein Kind ein, mit der Bemerkung: «Wenn je einer Betäubungsmittel brauchte, dann bin ich es.» Bald danach schwanden ihm die Sinne, und er fiel in einen tiefen Schlaf, worauf ich ihn verließ. Was ich getan hätte, wenn alles gut abgelaufen wäre, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich Dr. Livesey die ganze Geschichte erzählt; ich stand nämlich eine Todesangst aus, der Käptn könnte seine Beichte bereuen und mir den Garaus machen. Es fügte sich indessen, dass mein armer Vater an jenem Abend ganz unvermittelt verstarb, was alles andere aus meinen Gedanken verbannte. Unsere Bestürzung, die Besuche der Nachbarn, die Vorkehrungen zum Begräbnis und daneben noch das, was im Gasthof zu tun war, all das hielt mich so auf Trab, dass ich kaum Zeit hatte, an den Käptn zu denken, geschweige denn, mich vor ihm zu fürchten.
Er kam zwar am nächsten Morgen herunter und nahm wie immer seine Mahlzeiten ein, obwohl er nur wenig aß, dafür aber umso mehr dem Rum zusprach, den er sich selber aus dem Schankraum holte, mit so finsterer Miene und lautem Geschnaube, dass niemand ihm entgegenzutreten wagte. Am Abend vor dem Begräbnis war er so betrunken wie nur je, und es war entsetzlich, ihn in dem Haus der Trauer krakeelen zu hören; doch, geschwächt wie er war, fürchteten wir alle, es könnte ihm etwas zustoßen, und der Arzt hatte zufällig meilenweit entfernt mit einem Fall zu tun und war nach dem Tode meines Vaters nie in der Gegend. Der Käptn war, wie gesagt, immer noch schwach; ja, es ging mit ihm tatsächlich eher bergab. Er musste sich gegen die Wand stützen, wenn er von der Gaststube in den Schankraum oder in seine Kammer hinaufging, und nur selten streckte er die Nase bei der Tür hinaus, um etwas Seeluft zu schnuppern. Sein Ton mir gegenüber war der gewohnte; ich bin überzeugt, er hatte unser vertrauliches Gespräch so gut wie vergessen. Doch war er womöglich aufbrausender und, wenn man seinen Zustand in Anschlag brachte, heftiger denn je. Er hatte neuerdings eine beängstigende Angewohnheit, wenn er betrunken war, sein Entermesser blank vor sich auf den Tisch zu legen. Immerhin, die Leute fochten ihn weniger an als früher, im Gegenteil, er schien zerstreut und in sich versunken. So stimmte er einmal zu unserer Verwunderung eine ganz andere Melodie an, eine Art Liebeslied, wie man es auf dem Lande hört, offenbar eines, das er in seiner Jugend gelernt hatte, ehe er zur See gegangen war.
So nahmen die Dinge ihren Lauf. Am Tag nach dem Begräbnis – es war bitterkalt und neblig – stand ich ungefähr um drei Uhr nachmittags einen Augenblick unter der Haustür und trauerte meinem Vater nach, als ich auf der Straße jemanden langsam herankommen sah. Es war offenbar ein Blinder, er tastete nämlich mit einem Stock vor sich her und trug einen grünen Augenschirm; auch ging er gebückt, wie vor Alter oder Schwäche, und hatte eine mächtige, zerschlissene Pelerine mit einer Kapuze an, die ihm etwas Unförmiges gab. Ich habe zeitlebens nie eine abstoßendere Gestalt gesehen. Unweit des Gasthofs blieb er stehen und begann, ins Blaue hinein, einen merkwürdigen Singsang herunterzuleiern: «Will jemand einem armen Blinden, der sein Augenlicht im Dienste seines Vaterlands und König Georges, Gott segne ihn, verloren hat, gütigst Auskunft geben, wo und in welcher Gegend dieses Landes er sich befindet?»
«Sie befinden sich beim ‹Admiral Benbow›, Schwarzhügelbucht, guter Mann», sagte ich.
«Ich höre eine Stimme – eine junge Stimme. Reich mir bitte die Hand, lieber junger Freund, und führe mich hinein.»
Ich streckte eine Hand aus, und die schreckliche, blicklose Gestalt mit der sanften Stimme packte sie mit eisernem Griff. Ich war so verdutzt, dass ich mich loszureißen suchte; doch der Blinde zog mich mühelos zu sich heran. «Und nun, Junge», sagte er, «bring mich zum Käptn rein.»
«Nein, Sir», rief ich, «das wage ich nicht.»
«Ach so», höhnte er, «so steht’s! Bring mich auf der Stelle rein, sonst brech’ ich dir den Arm.» Dabei verdrehte er mir den Arm, dass ich einen Schrei ausstieß.
«Es ist Euretwegen, Sir», sagte ich. «Der Käptn ist nicht mehr, was er früher war. Er sitzt mit blankem Entermesser da. Ein andrer Gentleman –»
«Vorwärts, los», fiel er mir ins Wort, und ich habe nie etwas in einem so grausamen, eiskalten, bösartigen Ton gehört wie von diesem Blinden. Der Tonfall seiner Stimme machte mich gefügiger als der Schmerz, und ich gehorchte ihm umgehend, trat in den Hauseingang und auf die Tür zur Gaststube zu, wo unser kranker Seebär im Dämmerzustand dasaß. Der Blinde hielt sich dicht bei mir, ohne seinen eisernen Griff zu lockern, und stützte sich so schwer auf mich, dass ich fast einknickte.
«Führe mich schnurstracks zu ihm hin, und wenn er mich sehen kann, rufst du: ‹Besuch von einem Freund, Bill.› Sonst geht es dir so –», und er verdrehte mir abermals den Arm, dass mir fast schwarz vor Augen wurde. Ich war nachgerade so verängstigt, dass ich meine Furcht vor dem Käptn vergaß und, als ich die Tür zur Gaststube aufstieß, mit bebender Stimme die Worte rief, die der Blinde mir aufgetragen hatte.
Der arme Käptn schaute auf und war mit einem Mal ernüchtert. Es war nicht so sehr ein Erschrecken, was seine Miene verriet, er machte vielmehr den Eindruck, ihm sei sterbensübel. Er machte eine Bewegung, als wolle er aufstehen, aber ich glaube nicht, dass er noch über die Kraft dazu verfügte.
«Bleib, wo du bist, Bill», sagte der Bettler. «Wenn ich auch nicht sehen kann, so höre ich doch alles, auch wenn du nur einen Finger rührst. Was sein muss, muss sein. Strecke deine rechte Hand aus. Junge, fass seine Rechte am Handgelenk und bring sie zu meiner Rechten hin.»
Beide gehorchten wir ihm aufs Wort, und ich sah, wie er mit der Hand, die den Stock hielt, dem andern etwas in die hohle Hand drückte, die sich sofort darüber schloss.
«Das wäre erledigt», sagte der Blinde, und bei diesen Worten ließ er mich plötzlich los und eilte mit unglaublicher Behändigkeit aus der Gaststube und auf die Straße hinaus, während ich wie angewurzelt stehen blieb und bloß hörte, wie das Tapp-tapp-tapp des Blindenstocks sich in der Ferne verlor.
Es dauerte eine Weile, bis ich und der Käptn die Fassung wiedererlangten, was dann fast gleichzeitig geschah. Ich ließ sein Handgelenk los, das ich noch festgehalten hatte, und er zog die hohle Hand zurück und warf rasch einen Blick hinein. «Zehn Uhr!», rief er. «Sechs Stunden. Wir schaffen’s noch», und damit sprang er auf.
Im gleichen Moment begann er zu taumeln, fuhr sich mit der Hand an die Kehle, stand schwankend da und stürzte sodann mit einem eigentümlichen Laut der Länge nach zu Boden, aufs Gesicht.
Ich lief sofort zu ihm hin, wobei ich gleichzeitig nach meiner Mutter rief. Doch alle Eile war vergebens. Der Käptn, vom Schlag getroffen, war tot. Es ist merkwürdig, schließlich hatte ich für den Mann nie etwas übriggehabt, höchstens in letzter Zeit etwas Mitleid, aber sobald ich sah, dass er tot war, brach ich in Tränen aus. Es war der zweite Todesfall, den ich erlebte, und der erste wirkte mit seinem Kummer noch nach.
Die Seekiste
Selbstverständlich erzählte ich meiner Mutter nun ohne Umschweife alles, was ich wusste und ihr vielleicht schon längst hätte erzählen sollen. Wir erkannten sogleich, in welch schwieriger und gefährlicher Lage wir uns befanden. Ein Teil des Geldes, falls der Mann überhaupt welches besaß, stand uns zweifellos zu; es war aber höchst unwahrscheinlich, dass die Bekannten des Käptns, besonders die beiden, die aufgetaucht waren – der Schwarze Hund und der Blinde –, sich bereitfinden würden, die Schulden des Verstorbenen zu bezahlen, wenn sie seiner Hinterlassenschaft habhaft wurden. Sogleich zu Dr. Livesey zu reiten, wie der Käptn mir aufgetragen hatte, würde bedeutet haben, meine Mutter allein und unbeschützt zurückzulassen, was gar nicht infrage kam. Es war uns ohnehin allen beiden nicht mehr geheuer im Haus; schon ein Knacken im Kaminfeuer, ja sogar das Ticken der Standuhr kam uns unheimlich vor. Dauernd glaubten wir zu hören, wie sich Schritte dem Haus näherten, und wenn ich an die Leiche auf dem Stubenboden und an den abscheulichen Blinden dachte, der sich bestimmt noch in der Nähe herumtrieb, war mir entschieden nicht wohl in meiner Haut. Etwas musste geschehen, und zwar rasch; so verfielen wir denn schließlich darauf, miteinander im benachbarten Ort Hilfe zu holen. Wie wir waren, liefen wir hinaus in Dämmerung und neblige Kälte.
Der Ort lag nicht weit entfernt, wenn auch außer Sicht, auf der andern Seite der Bucht, und zwar, was mir günstig schien, nicht in der Richtung, aus welcher der Blinde aufgetaucht war und wohin er sich vermutlich wieder gewandt hatte, sondern nach der andern Seite hin. Wir waren keinesfalls lange unterwegs, obwohl wir manchmal stillstanden, um uns aneinanderzuschmiegen und zu lauschen. Es ließ sich aber nichts Außergewöhnliches hören – nichts als das leise Plätschern am Ufer und das Krächzen der Krähen im Wald.