Die Schiffbrüchigen des "Jonathan" - Jules Verne - E-Book

Die Schiffbrüchigen des "Jonathan" E-Book

Jules Verne.

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Beschreibung

An der einsamen Küste der Magellanstraße an der südlichen Spitze von Südamerika lebt in dem staatenlosen Magellanien der Anarchist Kaw-Djer. Dieses Wort aus der Sprache der südamerikanischen Eingeborenen bedeutet so viel wie: "Freund, Helfer oder Retter". Kaw-Djer fühlt sich nicht mehr der etablierten Gesellschaft zugehörig. Kaw-Djer ist ein von der Zivilisation enttäuschter und an anarchistischen Maximen glaubender Idealmensch. Ein offensichtlich führer- und steuerloses Schiff treibt auf die Klippen von Kap Hoorn zu. Kaw-Djer, Karroly und Halg sind gerade von ihrer Schaluppe Wel-Kiej an Land gegangen und stechen wieder in See, um dem Schiff zu Hilfe zu kommen. Es gelingt ihnen das fast mastlose Schiff an der Insel Hoste stranden zu lassen. Die Menschen an Bord sind gerettet. Die 19 Mann Besatzung und die 1179 Passagiere der Jonathan, denn so hieß das Schiff, werden zu Statisten einer Gesellschaftsutopie. Jules Verne (1828-1905) war ein französischer Schriftsteller.

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Jules Verne

Die Schiffbrüchigen des "Jonathan"

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-8079-0

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Zweiter Teil.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Dritter Teil.
Erstes Kapitel.
Zweites Kapitel.
Drittes Kapitel.
Viertes Kapitel.
Fünftes Kapitel.
Sechstes Kapitel.
Siebentes Kapitel.
Achtes Kapitel.
Neuntes Kapitel.
Zehntes Kapitel.
Elftes Kapitel.
Zwölftes Kapitel.
Dreizehntes Kapitel.
Vierzehntes Kapitel.
Fünfzehntes Kapitel.

Erster Teil.

Erstes Kapitel.

Das Guanako.

Inhaltsverzeichnis

Es war ein anmutiges Tier mit langem, sein gebogenem Hals, schön gerundetem Rücken, schlanken, jedoch kräftigen Beinen, zierlichen Flanken und kurzem, dichtbehaartem, buschigem Schwanz, das langsam aus dem schützenden Dunkel des Waldes heraustrat; die Farbe seines Haarkleides war ein fahles Rot mit weißen Flecken: – ein Guanako.

Auf große Entfernung hin gesehen, kann der Anblick dieser Wiederkäuer leicht zu einer Täuschung Anlaß geben: man glaubt, Pferde mit Reitern vor sich zu sehen und manch ein Reisender hat – durch den Schein irregeführt – eine am fernen Horizont hingaloppierende Herde dieser Tiere für einen Reitertrupp gehalten.

Das Guanako schien das einzig sichtbare Lebewesen in dieser ganz einsamen Gegend zu sein. Es war am Abhang eines Hügels stehen geblieben, der sich inmitten einer weitgedehnten Prärie erhob, wo hohe Schilfhalme in knisterndem Rascheln aneinanderstreiften und ihre scharfen Blattenden wie spitze Lanzen in das dichte Buschwerk stachlichter Gewächse bohrten.

Das Tier hielt das Haupt der Luftströmung zugewandt und atmete die Dünste ein, die eine leichte Brise von Osten herbeitrug. Mit wachsamen Blicken, die Ohren lauschend aufgerichtet, sorgsam Umschau haltend, stand es da, bereit, auf das erste verdächtige Geräusch hin die Flucht zu ergreifen.

Die Ebene zeigte keine einförmige, glatte Oberfläche, sondern war im Gegenteil von zahlreichen Vertiefungen durchfurcht – eine Folge der heftigen Gewitterregen, die den Boden aufgewühlt hatten. Durch einen dieser natürlichen Schutzwälle unsichtbar gemacht, kroch vorsichtig ein Eingeborner, ein Indianer, welchen das Guanako trotz der geringen Entfernung unmöglich bemerken konnte, auf den Hügel zu. Er war fast gänzlich unbekleidet – die zerrissenen Reste eines Tierfelles bildeten seine einzige Bedeckung – und kam langsam näher, indem er sich geräuschlos durch die Gräser schob, um das Wild, nach dem er Begehren trug, nicht zu erschrecken. Trotzdem schien dieses eine Ahnung der bevorstehenden Gefahr zu haben und gab Zeichen großer Unruhe.

Da sauste ein Lasso pfeifend durch die Luft und rollte sich bei dem Tiere ab; aber der lange Riemen erreichte sein Ziel nicht; er glitt vom Rücken desselben herunter und fiel zu Boden.

Der Anschlag war verfehlt; das Guanako aber entfloh mit Windeseile und war bereits hinter den Baumgruppen verschwunden, als der Indianer am Gipfel des Hügels ankam.

Das vom nahen Tode bedroht gewesene Tier war gerettet, nun sollte auch der Mensch seinen Anteil an Todesnot und -gefahr haben!

Nachdem er das mit dem einen Ende an seinem Gürtel befestigte Lasso an sich gezogen und aufgerollt hatte, wollte er eben den Hügel hinabsteigen, als sich in nächster Nähe ein grimmiges Brüllen hören ließ und fast im gleichen Augenblicke ein wildes Tier vor seine Füße sprang. Es war ein Jaguar von außergewöhnlicher Größe; sein graubraunes Fell war mit schwarzen Flecken gezeichnet, die mit ihren lichten Mittelpunkten der Pupille eines Auges nicht unähnlich sahen.

Der Eingeborne kannte die Wildheit dieses gefährlichen Tieres und wußte, daß es ihn leicht mit einem einzigen Schlag seiner gewaltigen Tatze, einer Bewegung seiner fürchterlichen Kiefer töten konnte, und machte einen großen Sprung nach rückwärts. Unglücklicherweise kam ein Stein unter seinen Fußen ins Rollen, er verlor das Gleichgewicht und fiel zu Boden. Mit hoch erhobener Hand suchte er sich mit Hilfe eines aus Seehundsknochen gefertigten, spitzen Messers zu verteidigen, das er aus seinem Gürtel gezogen hatte; einen Augenblick lang hoffte er sogar, sich erheben und eine günstigere Stellung einnehmen zu können, aber es sollte nicht sein. Das leicht verwundete Raubtier warf sich mit der Kraft der höchsten Wut auf ihn, riß ihn nieder und die scharfen Krallen zerfleischten die Brust des Wehrlosen – er war verloren.

In diesem Augenblicke größter Not erzitterte die Luft von einer lauten Detonation und der Jaguar, dem eine Karabinerkugel das Herz durchbohrt hatte, brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Kaum hundert Schritte vom Tatort schwebten leichte, weiße Rauchwölkchen über einer der Klippen; dort stand auf einem Felsblock, den Karabiner schußbereit erhoben, ein Mann.

Er war kein Stammesgenosse des Verwundeten, sondern zeigte den stark ausgeprägten arischen Typus. Obgleich von der Sonne sehr gebräunt, war er nicht von brauner Hautfarbe; sein Antlitz zeigte weder die (infolge der tiefliegenden Augenhöhlen) breite Nase, noch die hervortretenden Backenknochen, die niedrige Stirne und die kleinen Augen der indianischen Rasse. Im Gegenteil! Sein Gesichtsausdruck zeugte von bedeutender Intelligenz und die hohe, von unzähligen Falten durchfurchte Stirne verriet den Denker.

Seine Haare waren kurz geschnitten und grau wie der Bart. Sein Alter war unmöglich genau anzugeben doch mochte er vierzig bis fünfzig Jahre zählen.

Er war von großer Gestalt und schien sich der Kraft eines Athleten, einer eisernen Konstitution und unverwüstlicher Gesundheit zu erfreuen. Die Züge seines ernsten Antlitzes trugen den Stempel großer Energie und seine ganze Persönlichkeit atmete jenen Stolz, der wohl zu unterscheiden ist vom lächerlichen Hochmut eitler Dummköpfe; Haltung und Gebärden dieses Mannes zeugten von wahrem Adel.

Bald hatte der neue Ankömmling erkannt, daß ein nochmaliges Abfeuern seiner Waffe unnötig war; er senkte dieselbe, entlud sie, nahm sie unter den Arm und entfernte sich in südlicher Richtung.

Dort, am Fuße der Klippen, breitete sich unabsehbar weit das Meer aus. Der Mann beugte sich über die Steine und rief: »Karroly!« Dann fügte er noch einige Worte in einer rauhen, an gutturalen Lauten reichen Sprache hinzu.

Wenige Minuten später erschien in einem Felseneinschnitt ein Jüngling von ungefähr siebzehn Jahren, welchem ein Mann folgte, der die Vollkraft des Lebens bereits erreicht hatte. Auf den ersten Blick mußte man in ihnen Indianer erkennen, so verschieden waren sie von dem Manne, dessen Meisterschuß soeben den Beweis seiner großen Geschicklichkeit und Treffsicherheit geliefert hatte. Der ältere der Indianer, welcher sicher mehr als vierzig Jahre zählte, zeigte kräftig entwickelte Muskeln, breite Schultern und einen mächtigen Brustkorb, der große, eckige Kopf saß auf einem breiten Hals; er war von stattlicher Größe, hatte eine tiefdunkelbraune Hautfarbe, schwarze Haare und unter den dünnen Brauen blitzten verschmitzte Augen. In diesem Repräsentanten einer untergeordneten Rasse schienen die tierischen mit menschlichen Eigenschaften um die Oberherrschaft zu kämpfen; aber nicht die Kennzeichen eines wilden Tieres trug der Mann an sich, eher diejenigen eines zahmen, an Liebkosungen gewöhnten Geschöpfes. Man hätte ihn für einen guten, treuen Hund nehmen können, einen jener mutigen Neufundländer, welche so oft zum Gefährten, mehr noch, zum Freunde ihres Herrn werden. Und wie eines dieser ergebenen Tiere kam er herbeigelaufen, als er seinen Namen rufen hörte.

Der junge Mann war aller Wahrscheinlichkeit nach sein Sohn; sein geschmeidiger Körper war vollständig nackt; in geistiger Hinsicht schien erden Vater weit zu überragen. Aus seinen feurigen Augen sprach ein klarer Verstand und, was vielleicht noch wertvoller ist, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit!

Als die drei Männer beisammen standen, wechselten die beiden älteren einige Worte in der früher erwähnten indianischen Sprache, die durch eine kurze Atempause in der Mitte der meisten Wörter gekennzeichnet ist; dann eilten alle zu dem Verwundeten hin, welcher neben dem toten Jaguar im Grase lag.

Der Unglückliche hatte das Bewußtsein verloren. Das Blut strömte aus seiner Brust, die in ganz entsetzlicherweise von den Krallen des wilden Tieres bearbeitet worden war. Aber seine Lider hoben sich ein wenig, als er fühlte, daß eine Hand seine groben Kleidungsstücke beiseite schob.

Als er denjenigen erkannte, der ihm Beistand brachte, erhellte ein Strahl der Freude seinen erloschenen Blick und die bleichen Lippen murmelten einen Namen:

»Der Kaw-djer!«

Der Kaw-djer! – Dieses Wort bedeutet »Freund«, »Wohltäter«, »Retter« in der Sprache der Eingebornen; mit diesem schönen Namen war augenscheinlich der Weiße gemeint, denn er senkte bejahend das Haupt.

Während er dem Todwunden die ersten Hilfeleistungen zuteil werden ließ, war Karroly zu den Klippen hinabgestiegen und kam bald mit einer Jagdtasche wieder, in der sich ein chirurgisches Besteck und mehrere Fläschchen mit dem Safte gewisser heilkräftiger Pflanzen befanden. Während der Indianer das Haupt des Verwundeten auf seine Knie bettete, wusch der Kaw-djer die zerrissene Brust und suchte die Blutung zu stillen. Dann näherte er die Ränder der Wunden, bedeckte sie mit einem weichen Verbandstoff, der mit dem Inhalt eines der Fläschchen befeuchtet worden war, nahm seinen wollenen Gürtel ab und umschnürte damit die Brust des Indianers, um den Verband dort festzuhalten.

Konnte der Unglückliche mit dem Leben davonkommen? Der Kaw-djer glaubte es nicht. Es gab kein Mittel, das diese fürchterlichen Wunden, die tief bis in die Weichteile reichten, die Lungenflügel nicht verschont hatten, zur Vernarbung bringen konnte!

Karroly benützte einen lichten Moment des Verwundeten, welcher die Augen geöffnet hatte, zu einer Frage:

»Wo ist dein Stamm?

– Dort,... dort!... murmelte der Indianer und zeigte mit der Hand nach Osten.

– Das wird acht bis zehn Meilen von hier, am Ufer des Kanales sein, sagte der Kaw-djer; gestern Abend haben wir die Lagerfeuer gesehen.«

Karroly nickte beistimmend.

»Es ist erst vier Uhr, meinte der Kaw-djer, aber die Flut ist bald zu erwarten; wir werden erst bei Sonnenaufgang fort können!

– Ja, sagte Karroly und der Kaw-djer fuhr fort: Halg und du, ihr könnt ihn in das Boot tragen und dort niederlegen; mehr können wir jetzt für ihn nicht tun.«

Karroly und sein Sohn gehorchten sogleich. Sie hoben den Verwundeten auf und trugen ihn langsam und vorsichtig zum Strand hinunter; darauf kam der eine Indianer zurück, um den Jaguar zu holen, dessen Fell um teueres Geld an herumziehende Pelzhändler abgegeben werden sollte.

Während die zwei Gefährten den ihnen gewordenen Auftrag vollzogen, entfernte sich der Kaw-djer einige Schritte und erklomm eine der Felsenzacken der Klippe, von wo aus sein aufleuchtender Blick alle Punkte des Horizontes umfassen konnte. Zu seinen Füßen schlängelte sich die phantastisch geschnittene Uferlinie hin, die die Nordgrenze einer mehrere Meilen breiten Meeresstraße bildete. Die gegenüberliegende Küste, von tiefeinschneidenden Wasserarmen bis auf unabsehbare Entfernung hin zerrissen, war nur in vagen Umrissen sichtbar. Inseln und Inselchen waren ihr vorgelagert und erschienen dem fernen Beobachter wie bläulicher Wasserdunst.

Weder im Osten noch im Westen konnte man das Ende dieser Meeresstraße erblicken, die von hohen, drohenden Klippen umsäumt war.

Gegen Norden breiteten sich unendliche Prärien aus, die von zahlreichen Wasserläufen durchquert wurden, welche entweder als tosende Wildbäche oder in donnernden Wasserfällen ins Meer stürzten. Aus der Oberfläche dieser ungeheueren Ebenen erhoben sich stellenweise grüne Oasen, dichte Wälder, in deren Mitte man vergebens nach einem Dorfe gefahndet haben würde und deren Wipfel von den Strahlen der eben untergehenden Sonne in rotes Gold getaucht wurden. Noch weiter im Hintergrunde türmten sich schwere Bergmassen auf, mit glitzernden Kronen blendend weißer Gletscher geschmückt.

In östlicher Richtung war der bergige Charakter der Gegend fast noch mehr ausgeprägt. Als ob sie mit dem Binnenlande Schritt halten wollten, erhoben sich die Felsen terrassenförmig zu immer höheren Regionen und verloren sich schließlich als spitze Gipfel in den höchsten Himmelszonen.

Die Gegend schien gänzlich verlassen, verödet und dieselbe Einsamkeit brütete über dem Wasser: weit und breit war kein Fahrzeug zu sehen, nicht einmal ein gebrechliches Rindenkanoe oder ein primitives Segelboot! Und so weit der Blick reichen konnte, auf keiner der Inseln im Süden, an keiner Stelle der Küste, auf keinem erhöhten Punkte der Uferklippen stieg auch nur das leichteste Rauchwölkchen auf, das Kunde gegeben hätte von der Gegenwart menschlicher Lebewesen.

Der Tag neigte sich seinem Ende zu und über Land und Wasser schwebte jener Hauch von Melancholie, der stets der Dämmerstunde voranzugehen pflegt. Einige dunkle Punkte verfinsterten den Abendhimmel; es waren große Vögel, die langsam durch die Lüfte schwebten und Umschau hielten nach einem Zufluchtsort für die Nacht.

Mit gekreuzten Armen stand der Kaw-djer auf dem Felsblock, den er erklommen hatte, unbeweglich wie ein Steinbild. Sein Antlitz war verklärt, als hätte er eine Vision, seine Lider zitterten, seine Augen strahlten im Feuer heiliger Begeisterung, während er in die Betrachtung dieses wundervollen Schauspieles versunken war, das Wasser und Land bot, hier, an den äußersten Grenzen der Welt, auf diesen letzten, verstreuten Parzellen des Erdganzen, einer vergessenen Region, wo kein Mensch ein Eigentumsrecht geltend machen konnte und die sich nie unter das Joch eines Gesetzgebers gebeugt hatte.

Lange, lange stand er so da, vom sinkenden Licht wie von einer Strahlengloriole umwoben, von der leichten Brise liebkosend umfächelt, dann öffnete er weit die Arme, als wollte er die majestätische Unendlichkeit vor sich umfassen, festhalten, an sein Herz drücken und ein tiefer Seufzer hob seine Brust. Und während sein Blick mit stolzer Genugtuung das herrliche Land überflog und sich dann in kühner Herausforderung zu den Himmelshöhen erhob, brach von seinen Lippen ein Ruf, ein Ruf, der sich aus seinem tiefinnersten Sein losgelöst hatte und sein wildes Begehren verriet – nach Freiheit, nach absoluter, unbegrenzter Ungebundenheit.

Dieser Aufschrei, er war derjenige der Anarchisten aller Länder und Zeiten, jene berühmte und berüchtigte Formel, die so charakteristisch ist, daß sie als landläufiges Synonym für die ganze Verbrüderung gilt, die in vier kurzen Worten alles Wissen und Streben dieser gefürchteten Sekte kennzeichnet.

»Kein Gott! Kein Gebieter!« rief er mit Donnerstimme, während er sich von der Höhe seiner Klippe zu den tosenden Fluten unten niederbeugte und eine wilde, gebieterische Handbewegung machte, als ob er die unendliche Welt und alles auf ihr an sich reißen wollte.

Zweites Kapitel.

Eine geheimnisvolle Existenz.

Inhaltsverzeichnis

Die Geographen bezeichnen mit dem Namen »Magalhāes-Archipel« die Gesamtheit aller Inseln und Inselchen, die zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean um die Südspitze des amerikanischen Kontinentes gelagert sind. Die südlichsten Gegenden dieses Erdteiles sind die Ländergebiete Patagoniens, das in zwei langgestreckte Halbinseln endet, deren eine als äußersten Ausläufer das Kap Froward trägt. Dem Gebiete, das durch die Magalhāes-Straße von dem Festland getrennt ist, hat man – und mit Recht – in dankbarer Erinnerung an den berühmten Seefahrer des 16. Jahrhunderts – den Namen Magalhāes-Archipel beigelegt.

Die abgetrennte geographische Lage hatte zur Folge, daß dieser Teil der Neuen Welt bis zum Jahre 1881 noch keinem zivilisierten Staate einverleibt worden war, selbst nicht seinen nächstgelegenen Nachbarn Chile und der Republik Argentina, deren Interesse übrigens lange Zeit durch einen Streit um die Pampas Patagoniens gefesselt wurde. Der Magalhāes-Archipel gehörte niemandem, Niederlassungen konnten hier nach Belieben gegründet werden und erfreuten sich vollkommener Unabhängigkeit.

Diese Inselwelt ist durchaus nicht von kleiner Ausdehnung, sie verfügt über einen Flächenraum von fünfzigtausend Quadratkilometern. Außer einer großen Anzahl kleiner Inseln geringer Bedeutung gehören zu demArchipel das Feuerland, das Desolations-Land, die Inseln Clarence, Hoste, Navarin, die Gruppe des Kap Hoorn, die sich wieder aus den Inseln Wollaston, Hermite, Herschel und anderen Inselchen und Klippen zusammensetzt; so löst sich der gewaltige amerikanische Kontinent langsam in kleine Erdschollen und Staub auf.

Von diesen Teilgebieten, die in ihrer Gesamtheit den Magalhāes-Archipel bilden, weist das Feuerland die größte Flächenentwicklung auf. Im Norden und Westen vom Vorgebirge Espiritu Santo bis zum Magdalenen-Sund ist die Küstenlinie wild zerrissen. Nach Westen springt eine schmale Halbinsel ins Meer vor, die den Berg Sarmiento (2070 m) trägt; im Südosten endigt die Insel in der Spitze San Diego; sie sieht einer zusammengekauerten Sphinx ähnlich, deren Schweif in die Wasser der Straße von Le Maire taucht.

Im Monat April 1880 haben sich auf eben dieser Insel die im vorigen Kapitel erwähnten Begebenheiten abgespielt. Die Meeresstraße, die der Kaw-djer während seiner fieberhaften Betrachtung vor Augen hatte, war der Beagle-Kanal, der das Feuerland im Süden begrenzt und dessen jenseitiges Ufer von den Inseln Gordon, Hoste, Navarin und Picton gebildet wird. Noch südlicher entfaltet sich die Inselwelt des Kap Hoorn.

Zehn Jahre vor dem Beginn dieser Erzählung war der Mann, dem die Indianer später den Namen Kaw-djer beigelegt hatten, zum ersten Male auf feuerländischem Boden aufgetaucht. Wie war er hergekommen? Ohne Zweifel an Bord eines der zahlreichen Segelschiffe oder Dampfer, die das Labyrinth von Wasserstraßen befahren, das sich innerhalb des Magalhāes-Archipels und jenen Inseln ausbreitet, die dessen Fortsetzung im Stillen Ozean bilden. Handelsbeziehungen verknüpfen sie mit den Eingebornen, deren Jagdbeute an Tierfellen (von Guanakos, Vikunas und Seewölfen) sie sehr zu schätzen wissen. Die Gegenwart dieses Fremden ließ sich auf die Weise leicht erklären; auf andere Fragen, seinen Namen, seine Nationalität betreffend, war die Antwort schwerer zu finden; man ahnte nicht einmal, ob er der Alten oder Neuen Welt entstamme.

Man wußte gar nichts von ihm. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß gesagt werden, daß von niemandem der Versuch gemacht worden war, Klarheit in diese Angelegenheit zu bringen. Welches wäre auch die Persönlichkeit gewesen, die in diesem Lande, das keine Autorität anerkannte, ein Recht gehabt hätte, ihn auszufragen? Er lebte ja nicht in einem gesetzlich geordneten Staate, wo die Polizei der Vergangenheit jedes einzelnen nachforscht, wo es unmöglich ist, längere Zeit unerkannt zu bleiben.

Hier war niemand mit irgendwelchen Machtvollkommenheiten versehen, hier lebte man außerhalb des Bannkreises feststehender Gebräuche und Gesetze, kleinlicher Vorschriften, hier war das Land der Freiheit!

Während der ersten zwei Jahre seiner Anwesenheit auf dem Feuerlande hatte der Kaw-djer keinen bestimmten Ort zum bleibenden Wohnsitzegewählt. Er war bald hier, bald dort zu finden, durchkreuzte die ganze Gegend in abenteuerlichen Fahrten und schloß Freundschaft mit den Eingebornen; niemals aber berührte er die wenigen, von Ansiedlern der weißen Rasse bewohnten Niederlassungen. Wenn er jemals mit einem der Schiffe in direkte Verbindung trat, die irgendeinen Punkt des Archipels anliefen, so geschah dies nur, wenn er für einen Feuerländer den Zwischenhändler abgab oder sich mit Munition und Arzneien neu versehen mußte. Diese Einkäufe bezahlte er entweder mit Tauschobjekten oder in spanischem oder englischem Gelde, mit dem er reichlich versehen zu sein schien.

Sonst war er auf steter Wanderung von Stamm zu Stamm, von Lagerplatz zu Lagerplatz begriffen. Er lebte, wie die Eingebornen, vom Ertrage der Jagd und des Fischfanges; hielt sich bald bei den Bewohnern der Küstengegenden, bald bei den Völkerschaften im Inneren des Landes auf, wohnte in ihren Zelten, pflegte und heilte die Kranken, unterstützte die Witwen und Waisen und war bald der Gegenstand dankbarster Verehrung dieser armen Leute, die ihm den glorreichen Namen beilegten, unter dem er von einem Ende des Archipels zum anderen bekannt und geliebt war.

Es konnte kein Zweifel darüber herrschen, daß der Kaw-djer ein sehr unterrichteter, gebildeter Mann war, besonders in den Heilswissenschaften mußte er eingehende Studien gemacht haben. Er sprach auch geläufig mehrere Sprachen: Franzosen, Engländer, Deutsche, Spanier und Norweger hätten ihn getrost für einen Sohn ihres Landes ansehen können. Diesen polyglotten Kenntnissen hatte diese rätselhafte Persönlichkeit natürlich sehr bald die Landessprache hinzugefügt, den yacanischen Dialekt. Dieses Idiom, das im ganzen Magalhāes-Archipel gesprochen wird und das auch die Missionäre zu ihren Bibelübersetzungen benützen, beherrschte er fließend.

Der Magalhāes-Archipel, wo der Kaw-djer sein Leben zuzubringen gedachte, ist durchaus keine unbewohnbare Gegend, wie man gewöhnlich annimmt, wenn man es nach dem Rufe beurteilt, den ihm die Berichte der ersten Erforscher geschaffen haben. Allerdings wäre es übertrieben, der Gegend den Namen eines irdischen Paradieses beizulegen und es wäre lächerlich, leugnen zu wollen, daß sein äußerstes Vorgebirge, das Kap Hoorn, von den fürchterlichsten Stürmen heimgesucht wird, die an Heftigkeit und häufigem Auftreten ihresgleichen suchen. Und doch gibt es viele Länder, selbst in Europa, die eine zahlreiche Bevölkerung zu ernähren haben und wo dieExistenzbedingungen noch härter sind als hier. Wenn auch das Klima naturgemäß ein sehr feuchtes ist, so verdankt anderseits der Archipel den umgebenden Wassern eine sehr geregelte, gleichmäßige Temperatur, die eisigen Winter des nördlichen Rußlands, Schwedens und Norwegens sind ihm unbekannt. Die mittlere Temperatur fällt im Winter nie unter 5 Grad Celsius und steigt im Sommer zur Zeit der größten Hitze nie über 15 Grad.

Trotz der gänzlich fehlenden meteorologischen Beobachtungen genügt der bloße Anblick dieser Inseln, um alle Äußerungen eines übertriebenen Pessimismus zum Schweigen zu bringen. Die Vegetation erreicht hier eine Üppigkeit, die ihr in der kalten Zone versagt sein würde. Die herrlichsten Weideplätze von ungeheuerer Ausdehnung finden sich hier, die zahllosen Herden Nahrung in Überfluß bieten könnten, und endlose Waldungen, in denen die Buche, die Birke, der Sauerdorn und der Zimtbaum herrlich gedeihen. Gewiß würden sich auch unsere Gemüsepflanzen und Hülsenfrüchte leicht akklimatisieren; selbst die Getreidearten, der Weizen mitgerechnet, könnten hier ein leichtes Fortkommen finden.

Unbewohnbar ist dieser Landstrich nicht, aber fast unbewohnt. Seine Bevölkerung besteht in einer kleinen Anzahl von Indianern, welche man unter dem Namen »Feuerländer« oder »Yacanas« kennt, wirklichen Wilden, welche auf der allertiefsten Stufe der menschlichen Gesellschaft stehen und in diesen einsamen Ebenen ein elendes Wanderleben führen. –

Lange vor dem Zeitpunkt, mit dem diese Geschichte einsetzt, hatte Chile an der Magalhāes-Straße die Station Punta-Arenas gegründet, dabei wurde vorübergehend seine Aufmerksamkeit auf jene unbekannten Gegenden gelenkt. Aber weiter ging das Interesse nicht und trotz des Aufblühens der neugegründeten Niederlassung wurde kein Versuch gemacht, auf dem Magalhāes-Archipel festen Fuß zu fassen.

Welche Kette von Ereignissen hatte wohl den Kaw-djer in diese der Mehrzahl der Menschen unbekannte Region geführt? Auch das war Geheimnis; aber dieses Mysterium war doch vielleicht zu ergründen.

Der stolze Ruf, der von der Höhe der Klippe wie eine Herausforderung des Himmels, ein leidenschaftlicher Dank an die herrliche, freie Natur erklungen war, ließ manches erraten.

»Kein Gott! Kein Gebieter!« So lautet der Wahlspruch der Anarchisten. Die Vermutung mußte naheliegen, daß der Kaw-djer dieser Verbindung angehörte, die sich aus den heteroklitesten Elementen zusammensetzt, aus einer bunt untereinandergewürfelten Menge von Verbrechern und Dunkelmännern besteht und nur wenige erleuchtete Köpfe zählt. Jene sind neid- und haßerfüllte Egoisten, immer zu Raub und Mord und jeder Gewalttat bereit; diese Idealisten, Dichter, welche von einer neuen Menschheit träumen, die über den Trümmern der bestehenden Ordnung erstehen soll; einer Menschheit, der alle Schlechtigkeit fremd ist und die zum Leben erweckt wird nach Aufheben jener Gesetzesparagraphen, die der Menschengeist erfunden hat, um das Böse in möglichst enge Grenzen zu bannen.

Welcher dieser beiden Klassen gehörte der Kaw-djer an? War er einer jener verbitterten Freiheitsdurstigen, jener Apologeten der schnellen Tat? Vielleicht hatte er für seine Überzeugung Propaganda zu machen gesucht, war aus allen zivilisierten Staaten ausgewiesen worden und mußte froh sein, in diesem versteckten Winkel der bewohnten Erde ein Unterkommen zu finden!?

Eine derartige Voraussetzung wäre in direktem Widerspruch mit seiner Lebensführung gestanden, die, seitdem er die Inseln bewohnte, nur Züge von Güte und Menschenfreundlichkeit aufzuweisen hatte. Wer so oft und ohne Bedenken sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um einige armselige menschliche Existenzen vom Tode zu erretten, konnte sich unmöglich mit Gedanken der Zerstörung, der Vernichtung getragen haben. Möge er Anarchist sein! Und er war es! Hatte ihn sein Ausruf doch verraten! Aber dann gehörte er der Kategorie der Träumer an und nicht den mit Messern und Bomben hantierenden Mitgliedern.

War dem so, dann mußte sein Exil ein freiwilliges sein, der logische Ausgang eines in seinem Inneren abgespielten Dramas und nicht eine durch einen fremden Willen diktierte Strafe. Durch seine Träume verblendet, waren ihm die ehernen Gesetze, die im zivilisierten Weltall den Menschen von der Wiege bis zum Grabe wie an einem Zügel führen, unleidlich, unerträglich geworden und es kam ein Augenblick, wo ihm die Luft zum Atmen erstickend dünkte in diesem Urwald von unzähligen Vorschriften, durch welche sich die Staatsbürger um den Preis ihrer Unabhängigkeit einen gewissen Wohlstand und Sicherheit erkaufen. Seine Charakteranlage verbot ihm, seine freiheitlichen Ideen, seinen Widerwillen gegen die bestehenden Einrichtungen auf dem Wege der Gewalt zu verbreiten, somit blieb ihm kein anderer Weg offen, als zu fliehen und auf die Suche nach einem Lande zu gehen, in dem niemand Sklavenketten trug, und so war er schließlich im Magalhāes-Archipel gelandet, der einzigen Gegend auf der ganzen Erdoberfläche, wo noch unbeschränkte Freiheit herrschte.

Während der ersten Zeit seines Aufenthaltes daselbst, zwei volle Jahre hindurch, verließ der Kaw-djer niemals die große Insel, wo er sich ausgeschifft hatte.

Das Vertrauen, das er den Eingebornen einzuflößen wußte, das Ansehen, das er sich bei allen Stämmen erworben hatte, wurde immer größer. Von den anderen Inseln kamen die Canoe- oder Pirogen-Indianer seinen Rat erbitten, welche einer anderen Rasse angehören als die Yacanas, die das Feuerland bewohnen. Diese armen Fischervölker, welche, wie ihre Stammesgenossen, von ihrer Jagdbeute und dem Ertrag des Fischfanges lebten, suchten den »Wohltäter« auf, wenn er sich an der Küste des Beagle-Kanales aufhielt. Niemand ging jemals ohne Rat und Hilfe von ihm. In besonders bösen Zeitläufen, wenn eine verheerende Krankheit ausbrach und unter der Bevölkerung wütete, hatte er dieselbe mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen gesucht, ohne die geringste Rücksicht auf sein gefährdetes Leben zu nehmen. Bald verbreitete sich der Ruf seiner Taten über die ganze Gegend. Er überflog die Magalhāes-Straße, man erfuhr, daß ein Fremder, dem die dankbaren Eingebornen den Titel eines Kawdjer gegeben hatten, auf dem Feuerlande lebte, und er wurde zu wiederholten Malen aufgefordert, nach Punta-Arenas zu kommen. Stets hatte er nur eine abschlägige Antwort darauf. Keine Macht der Welt hätte ihn zu diesem Besuche bewegen können. Sein Fuß sollte unfreies Land nie mehr berühren.

Am Ende des zweiten Jahres seiner selbstgewählten Verbannung ereignete sich ein Zwischenfall, der nicht ohne Einfluß auf sein späteres Leben bleiben sollte.

Wenn auch der Kaw-djer sich standhaft weigerte, die chilenische Niederlassung auf patagonischem Boden zu betreten, so hinderte dies die Patagonier keineswegs, in das Gebiet des Magalhāes-Archipels gewaltsam einzudringen. In wenigen Stunden konnten sie mit ihren Pferden am Südufer der Magalhāes-Straße anlangen, von wo aus sie ausgedehnte Streifzüge (man gibt ihnen in Amerika die Bezeichnung »raids«) von einem Ende der Feuerlandsinsel zum anderen unternahmen, dabei die Eingebornen angriffen, Lösegeld von ihnen erpreßten und deren Kinder als Sklaven in ihre patagonische Heimat führten.

Zwischen den Patagoniern oder Tehuel-Che-Indianern und den Feuerländern bestehen ziemlich ausgesprochene ethnographische Verschiedenheiten bezüglich der Rasse und der Sitten; die ersteren sind viel mehr zu fürchten als die letzteren. Diese leben hauptsächlich vom Fischfang und vereinigen sich in Familien, während jene vor allem Jäger sind und vielköpfige Stämme unter Anführung von Häuptlingen bilden. Außerdem sind die Feuerländer von kleinerer Gestalt als ihre das Festland bewohnenden Nachbarn. Ihre charakteristischen Kennzeichen sind der große, viereckige Kopf mit stark vorspringenden Backenknochen im Antlitz, dünnbesäeten Augenbrauen und niedriger Stirne. Im allgemeinen hält man sie für tiefstehende Geschöpfe, deren Rasse aber noch lange nicht erlöschen wird, da sie sich einer zahlreichen Nachkommenschaft erfreuen, fast so zahlreich, könnte man sagen, wie die der Hunde, die den Lagerplatz umstreifen.

Die Patagonier machen einen ganz anderen Eindruck; es sind große Leute, kräftig gebaut und gut proportioniert. Sie sind bartlos und lassen ihre langen, schwarzen Haare offen über den Rücken herabwallen; auf der Stirne sind dieselben durch ein Band zusammengehalten. Ihr olivenbraunes Gesicht ist in der Gegend der Kiefer breiter als an den Schläfen, die Augen zeigen den Typus der mongolischen Rasse und beiderseits der breiten Stulpnase blitzen tiefliegende, kleine Augen. Sie sind kühne und unermüdliche Reiter, die auf ihren ausdauernden Tieren die weiten Ebenen durchschweifen; unermeßlich groß ist ihr Jagdgebiet, wo sie das Guanako, Vikuna und den Nandu verfolgen; ihre Pferde finden auf den ausgedehnten Weideflächen Nahrung im Überfluß.

Mehr als einmal schon hatte sie der Kaw-djer auf ihren Plünderungszügen durch das Feuerland begegnet, aber er war nie in nähere Berührung mit den wilden Räubern gekommen, welche Chile und Argentina nicht im Zaume zu halten vermögen.

Es war im November 1872, als der Wandertrieb den Kaw-djer bis an die Westküste Feuerlands geführt hatte, wo er an der Magalhães-Straße zum ersten Male Gelegenheit hatte, im Interesse der die Useleß-Bai bewohnenden Yacanas mit den Eindringlingen in nähere Berührung zu kommen.

Diese Bucht ist im Norden von Sümpfen begrenzt und bildet einen tiefen Einschnitt in der Westküste Feuerlands, ungefähr gegenüber der Stelle, wo Sarmiento seine Kolonie Port-Famine traurigen Gedenkens errichtet hat.

Ein Trupp Patagonier war an der Südküste der Bai gelandet und hatte einen Lagerplatz der Feuerlands-Insulaner angegriffen, der ungefähr zwanzig Familien Obdach bot. Die Angreifer waren im Vorteil, denn sie waren den Yacanas an Zahl überlegen, stärker und besser bewaffnet.

Trotzdem versuchten diese, dem Feinde Widerstand zu leisten; ihr Anführer war ein Canoe-Indianer, welcher auf seiner Piroge zum Lager gekommen war.

Dieser Mann war Karroly. Er versah den Dienst eines Lotsen und führte die Küstenfahrzeuge, die sich in den Beagle-Kanal und in die Meeresstraßen der Inselgruppe des Kap Hoorn wagten. Soeben hatte er ein Schiff nach Punta-Arenas gebracht und war bei der Rückfahrt in der Useleß-Bai ans Land gestiegen.

Karroly tat sein Möglichstes, energischen Widerstand zu leisten und die Räuber zurückzuschlagen, aber die Kräfteverteilung war eine zu ungleiche, die Feuerländer in ihrer absoluten Minderheit waren bald überwunden, das Lager wurde erobert, die Zelte niedergerissen, es floß Blut, und was nicht getötet worden war, suchte sein Heil in rascher Flucht.

Während des Kampfes war Halg, der damals neunjährige Sohn Karrolys, in der Piroge geblieben und wartete auf die Rückkehr seines Vaters. Plötzlich sah er zwei beutegierige Patagonier auf sich zustürzen.

Es wäre dem Knaben ein Leichtes gewesen, sich mit wenigen Ruderschlägen zu entfernen und in Sicherheit zu bringen, aber dieses Vorgehen würde seinem Vater jede Möglichkeit einer Rettung durch die Flucht vereitelt haben.

Schon sprang der eine der Räuber in die Barke und packte das Kind beim Arme, um es mit sich fortzuschleppen. Gerade im rechten Augenblick erschien Karroly, der aus dem unrettbar in den Händen der Feinde befindlichen Lager entflohen war, um seinem Sohne Hilfe zu bringen. Ein Pfeil, von dem zweiten Patagonier abgeschnellt, schwirrte an seinem Ohre vorbei, ohne ihn zu berühren.

Ehe noch dieser Versuch, diesmal vielleicht mit glücklicherem Erfolge, hätte wiederholt werden können, ertönte der scharfe Knall einer Feuerwaffe.

Der Räuber fiel tödlich getroffen zur Erde, während sein Gefährte die Flucht ergriff.

Der Schuß war von einem Manne der weißen Rasse abgegeben worden, den der Zufall auf den Kampfplatz geführt hatte. Es war der Kaw-djer. Es war keine Zeit zu verlieren. Die Piroge wurde eiligst angeholt, der Kaw-djer, Karroly und der Knabe sprangen hinein und segelten davon.

Als sie ungefähr eine Kabellänge von der Küste entfernt waren, sandten die Tehuel-Che-Indianer dem fliehenden Fahrzeug ein Wolke von Pfeilen nach, deren einer Halg an der Schulter verwundete.

Die Wunde war nicht ungefährlich und der Kaw-djer wollte seine Gefährten nicht verlassen, so lange seine Hilfe nötig und der Knabe nicht außer Gefahr war. So blieb er denn bei ihnen in der Piroge, die das Feuerland umschiffte, in den Beagle-Kanal einfuhr und schließlich in einer kleinen, wohlgeschützten Bucht der Neuen Insel landete, in deren Nähe Karrolys Felsenhöhle lag. Jetzt war für das Leben des Kindes nichts mehr zu fürchten, die Wunde war in schönster Heilung begriffen und Karroly wußte nicht, wie er seinen überströmenden Dankbarkeitsgefühlen Ausdruck geben sollte. Als die Piroge wohlverankert in der Bucht lag, sprang Karroly ans Land und bat den Kaw-djer, ihm zu folgen.

»Hier ist mein Haus, sagte er, hier lebe ich mit meinem Sohne. Wenn du nur einige Tage rasten willst, bist du mir willkommen und mein Boot wird dich dann wieder an das andere Ufer des Kanales bringen. Willst du aber immer hier bleiben, so sieh mein Haus als das deinige an und ich will dein Diener sein.« –

Von diesem Tage an hatte der Kaw-djer die Neue Insel, Karroly und dessen Kind nicht mehr verlassen. Dank seiner Bemühungen wurde die Behausung des Canoe-Indianers bald wohnlicher, bequemer und Karroly war instand gesetzt, seinen Lotsendiensten unter günstigeren Bedingungen nachzugehen.

Die gebrechliche Piroge hatte einer wohlkonstruierten Schaluppe, der Wel-kiej, Platz gemacht; es war dieselbe, in welcher der durch den Jaguar verwundete Indianer transportiert worden war. Man hatte sie nach der Strandung eines norwegischen Schiffes käuflich erworben.

Aber diese neue Existenz hielt den Kaw-djer nicht ab, sein menschenfreundliches Werk fortzuführen. Seine Besuche bei den Familien der Indianer erlitten keine Unterbrechung und er war stets dort zu finden, wo es galt, einen Dienst zu erweisen, Hilfe zu leisten oder Schmerzen zu stillen.

Mehrere Jahre waren auf diese Art verstrichen und man hätte meinen können, daß der Kaw-djer gewillt war, bis zu seinem Tode das ungebundene Leben in diesem freien Lande weiterzuführen – als ein unvorhergesehenes Ereignis seine Pläne gewaltsam durchkreuzte.

Drittes Kapitel.

Das Ende eines freien Landes.

Inhaltsverzeichnis

Die Neue Insel bewacht das östliche Ende des Beagle-Kanales. Sie hat ungefähr die Gestalt eines unregelmäßigen Fünfeckes und ist bei vier Kilometer Breitenausdehnung acht Kilometer lang. Bäume gibt es hier im Überfluß, besonders zahlreich vertreten ist die Buche, die Esche, einige Myrtenarten und Zypressen mittlerer Größe. Auf den Prärien gedeihen die Stechpalme, Berberitzen und niedere Farrenkräuter. An besonders geschützten Stellen findet sich auch fruchtbare Erde, anbaufähiger Boden, der sich für Gemüsekulturen eignet. Und wo der Humus in ungenügender Menge vorhanden ist, wie unten am sandigen Strand, hat die Natur selbst einen Teppich von Flechten, Moosen und Bärlapp hingelegt.

Auf dieser Insel, im Schutze eines hohen Felsblockes, mit freiem Ausblicke auf das Meer, hatte der Indianer Karroly seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Er hätte schwerlich eine günstigere Stelle ausfindig machen können. Alle Schiffe, die die Straße Le Maire passiert haben, kommen in nächster Nähe der Insel vorüber. Wenn sie das Kap Hoorn umschiffen, um den Stillen Ozean zu durchqueren, brauchen sie niemand an Bord; werden sie aber durch Handelsinteressen veranlaßt, dem Inneren dieses entlegenen Archipels einen Besuch abzustatten, können sie beim Durchkreuzen der verschiedenen kleinen Meeresstraßen ohne die Führung eines Lotsen unmöglich weiterkommen. Aber solche Handelsschiffe verirrten sich verhältnismäßig selten in diese Inselwelt, ihre Zahl wäre ungenügend gewesen, um Karroly und seinem Sohn den Lebensunterhalt zu sichern. So beschäftigte er sich denn mit Jagd und Fischfang und setzte sich auf diese Weise in den Besitz von Tauschobjekten, für die er dann die für seine Existenz notwendigsten Dinge erhielt.

Infolge ihrer beschränkten Ausdehnung hatte die Insel nur eine geringe Anzahl Guanakos und Vikunas aufzuweisen, deren Felle sehr geschätzt werden; aber in nächster Nähe sind ja andere, bedeutend größere Inseln: Navarin, Hoste, Wollaston, Dawson und vor allem das Feuerland mit ausgedehnten Ebenen und dichten Wäldern, wo diese Wiederkäuer und auch Raubtiere in großer Menge leben.

Lange Zeit hatte Karroly eine natürliche Felsengrotte als Wohnstätte, die übrigens in vieler Hinsicht einer gebrechlichen Hütte vorzuziehen war. Nach dem Erscheinen des Kaw-djer auf der Insel war die Höhle im Granitfelsen verlassen worden und der Indianer hatte ein Haus bezogen. Die Wälder hatten das Bauholz dazu geliefert, von den Felsen der Küste wurden die nötigen Steine gebrochen und die Myriaden kleiner Muscheln, die am Strande vorkommen, mußten zur Kalkbereitung herhalten.

Das Haus bestand aus drei Zimmern: in der Mitte lag der gemeinsame Wohnraum mit einem großen Herd, rechts davon befand sich ein Zimmer, in dem Karroly und sein Sohn hausten und in dem links vom Mittelraum gelegenen Gemache wohnte der Kaw-djer; hier lagen, in Wandregalen wohl geordnet, seine Schriften und Bücher, teils medizinische Werke, teils Abhandlungen über Nationalökonomie und Soziologie. Ein Schrank enthielt eine Auswahl von Fläschchen und chirurgischen Instrumenten.

In dieses Haus kam der Kaw-djer mit beiden Gefährten nach seinem Ausflug ins Feuerland zurück, wo sich die Ereignisse abgespielt hatten, die zu Beginn dieser Erzählung erwähnt worden sind.

Zunächst hatten sie aber den Lauf der Wel-kiej nach der Niederlassung des verwundeten Indianers gerichtet; diese war an der Ostseite des Beagle-Kanales gelegen. Um die am Ufer eines Baches regellos daliegenden Hütten sprangen unzählige Hunde, deren lautes Gebell die Ankunft der Schaluppe verkündete. Auf der nahen Wiese weideten zwei Pferde schwächlichen Aussehens und aus dem Dache einiger Hütten stiegen dünne Rauchsäulen zum Himmel.

Kaum war die Annäherung der Wel-kiej bekannt geworden, als ungefähr sechzig Männer und Frauen erschienen, welche in großer Hast zum Strand hinabeilten; eine Menge nackter Kinder folgte ihnen.

Als der Kaw-djer ans Land sprang, drängte sich alt und jung an ihn heran; jeder wollte ihm als erster die Hand drücken. Diese freudige Begrüßung seitens der armen Eingebornen gab Zeugnis von der lebhaften Dankbarkeit, die sie für den Mann empfanden, von welchem sie unzählige Liebesdienste, Rat und Hilfe empfangen hatten. Geduldig hörte er alle an, den Bericht ihrer Erlebnisse, ihre kleinen Leiden und Freuden; Mütter brachten ihm ihre kranken Kinder und geizten nicht mit Beweisen lebhafter Dankbarkeit; seine bloße Gegenwart wirkte Wunder, tröstete, beruhigte und heilte. Endlich konnte er in eine der Hütten eintreten, um gleich darauf, von zwei Frauen, einer älteren und einer ganz jungen gefolgt, wieder zu erscheinen. Letztere hielt ein Knäblein an der Hand. Es waren die Mutter, das Weib und der Sohn des vom Jaguar angefallenen Indianers, welcher trotz aller Bemühungen des Kaw-djer während der Überfahrt gestorben war.

Der Leichnam wurde am Strand niedergelegt und von den Bewohnern des Lagers umringt; und nun erzählte ihnen der Kaw-djer die näheren Umstände seines Todes; dann ging er wieder unter Segel, nachdem er großmütig der trostlosen Witwe den toten Jaguar geschenkt hatte, dessen Fell für diese armen, enterbten Wesen einen ungeheueren Wert repräsentierte. –

Das Winterhalbjahr hatte begonnen und in dem Hause auf der Neuen Insel nahm das Leben seinen gewöhnlichen Gang. Einige falkländische Küstenfahrer legten an der Insel an, um Tierfelle einzukaufen, ehe die Schneemengen die Schiffahrt in diesen Gewässern unmöglich machten.

Die verlangten Häute wurden günstig verkauft oder gegen Mundvorräte und Munition eingetauscht, denn es galt, sich mit allem Nötigen zu versehen vor Eintritt der rauhen Jahreszeit, die vom Juni bis September dauerte.

In der letzten Woche des Monates Mai hatte eines dieser Fahrzeuge die Hilfe Karrolys in Anspruch genommen, und Halg und der Kaw-djer blieben allein auf der Neuen Insel.

Der junge Mann, welcher soeben das siebzehnte Lebensjahr erreicht hatte, brachte dem Kaw-djer die Liebe eines Sohnes entgegen, während dieser für den Jüngling die zärtlichen Gefühle eines Vaters empfand. Er hatte sich bemüht, auf den Verstand des Knaben einzuwirken, denselben zu wecken, zu beleben, zu erweitern, und es war ihm in der Tat gelungen, aus dem wilden Urmenschen ein neues Wesen zu schaffen, welches ganz verschieden war von seinen übrigen Stammesgenossen, welche so ganz außerhalb des Bereiches der Zivilisation lagen.

Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß der Kaw-djer seinem jungen Schützling Halg jene Vorstellungen einimpfte, die ihm selbst über alles teuer waren: Ideen über Freiheit, Unabhängigkeit. Keinen Herrn, kein höher stehendes Wesen sollten Karroly und sein Sohn in ihm sehen, sondern den Gleichgestellten, den Gefährten. Es gibt keinen Herrn, kann keinen geben für einen Menschen, wenn er dieses Namens würdig sein soll! Man soll nur einen Gebieter anerkennen: sich selbst. Sonst braucht man keinen Herrn, weder im Himmel noch auf Erden!

Der ausgestreute Same fiel auf ein Erdreich, das sich wunderbar zur Aufnahme eignete. Die Feuerländer haben einen angebornen Freiheitsdrang, einen unstillbaren Trieb nach Ungebundenheit. Für die Freiheit opfern sie alles, um ihretwillen verzichten sie auf die Vorteile, die ein seßhaftes Leben ihnen verschaffen würde. Man kann ihnen ein sorgenfreies Dasein bieten, sie mit einem gewissen Wohlstand umgeben, für ihr sicheres Auskommen in jeder Weise sorgen – nichts kann sie halten; bei der ersten Gelegenheit entfliehen sie, um ihr gewohntes Abenteurerleben mit seinen Mühen und Entbehrungen wieder aufzunehmen; oft sind sie dem Verhungern nahe, führen ein elendes Dasein, aber – sie leben in Freiheit!

Anfangs Juni setzte der Winter im Magalhães-Ar chipel in voller Strenge ein; die Kälte erreichte zwar keinen übermäßig hohen Grad, aber eisige Stürme tobten und fürchterliche Unwetter gingen in diesen Breiten nieder, die Neue Insel verschwand fast unter den stetig anwachsenden Schneemassen.

Und so blieb es während der Monate Juni, Juli und August. In der ersten Hälfte des September wurde die Temperatur bedeutend milder und die falkländischen Küstenfahrzeuge zeigten sich wieder in diesen Gewässern. Am 19. September verließ Karroly an Bord eines amerikanischen Dampfers, der in den Beagle-Kanal eingelaufen war und die Lotsenflagge gehißt hatte, die Neue Insel; seine Abwesenheit war auf acht Tage berechnet; Halg und der Kaw-djer blieben allein zurück. Als die Schaluppe den Indianer heimgebracht hatte, erkundigte sich der Kaw-djer seiner Gewohnheit gemäß nach den Einzelheiten der Reise.

»Es ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen, antwortete Karroly; mir hatten ruhiges Meer und günstigen Wind.

– Wo hast du das Schiff verlassen?

– Am Darwin-Sund, an der äußersten Spitze der Stewart-Insel; dort kreuzten wir einen Avisodampfer, der uns entgegenkam.

– Wohin fuhr er?

– Nach dem Feuerland. Auf dem Heimweg sah ich ihn wieder; er hatte in einer Bucht Anker geworfen und schiffte Soldaten aus.

– Soldaten? rief der Kaw-djer im höchsten Erstaunen. Welcher Nation gehören sie an?

– Sie sind aus Chile und Argentina.

– Was machen sie?

– Nach ihrer Aussage waren sie zum Schutze zweier Kommissäre beordert, welche das Feuerland und die Nachbarinseln durchforschen sollen.

– Woher kommen die Kommissäre?

– Von Punta-Arenas; der Gouverneur hat ihnen das Avisoschiff zur Verfügung gestellt.«

Der Kaw-djer fragte nicht weiter; er blieb nachdenklich. Was bedeutete die Ankunft der Kommissäre? Was war der eigentliche Zweck ihrer Anwesenheit im Magalhães-Archipel. Handelte es sich um das oro- oder hydrographische Studium des Landes oder war das Ziel ihrer Tätigkeit die Feststellung der Küstenlinie, eine genaue Aufnahme der Meeresstraßen im Interesse der Schiffahrt?

Der Kaw-djer war tief in Gedanken versunken. Er konnte sich eines unbestimmten Gefühles der Unruhe nicht erwehren. Vielleicht sollte sich diese Rekognoszierung auf die ganze Inselgruppe erstrecken; möglicherweise würde der Avisodampfer auch in den Gewässern der Neuen Insel Anker werfen!

Was ihn veranlaßte, der Sache eine gewisse Wichtigkeit beizumessen, war der Umstand, daß die Expedition durch die Regierungen von Chile und Argentina ausgesendet worden war. Herrschte denn Eintracht zwischen den beiden Republiken, welche bis zu diesem Tage die drohende Streitfrage nicht beigelegt hatten: welchem Staate diese Länder einer weltentlegenen Region, nach denen beide Verlangen trugen, deren Besitz sie – mit Unrecht – beanspruchten, zufallen sollten.

Während dieser kurzen Fragen und Antworten hatte der Kaw-djer die Höhe des Hügels erreicht, an dessem, Fuße das Häuschen erbaut war.

Von hier aus hatte er einen weiten Ausblick auf das Meer, und unwillkürlich schweiften seine Blicke nach Süden, wo die letzten Gipfel des amerikanischen Kontinentes aus dem Wasser ragten und die Inselgruppe des Kap Hoorn bildeten. Soll er dorthin gehen, um ein Stück freies Land zu finden?... Soll er noch weiter wandern?... Im Geiste übersetzte er den Polarkreis und verlor sich in den schneeigen Regionen der antarktischen Welt, die, von den Schleiern eines undurchdringlichen Geheimnisses verhüllt, auch dem kühnsten Forscher ein versagendes »Nein« entgegenruft....

Groß wäre der Schmerz des Kaw-djer gewesen, hätte er geahnt, wie gerechtfertigt seine schlimmsten Befürchtungen waren!

Der »Grazias a Dios«, der Avisodampfer der chilenischen Regierung, führte in der Tat zwei Kommissäre an Bord: Herrn Idiaste aus Chile und Herrn Herrera als Vertreter der Republik Argentina, deren jeder von seiner Regierung beauftragt worden war, die Teilung des Magalhães-Archipels vorzubereiten, der Zankapfel sollte halbiert werden und jeder Staat wollte sich mit einem Stück des Landes begnügen, dessen ganzen Besitz er angestrebt hatte.

Diese Streitfrage hatte schon seit einer Reihe von Jahren zu endlosen Auseinandersetzungen Anlaß gegeben, und es war bis jetzt nicht gelungen, einen beide Teile befriedigenden Ausgleich zu finden. Solch eine gespannte Situation konnte aber bei längerer Dauer leicht zu ernsteren Konflikten führen. Vom kommerziellen Standpunkt sowohl als auch vom politischen war es ein Gebot der Notwendigkeit, die Zwistigkeiten beizulegen, um so mehr, als das alles verschlingende England in bedrohlicher Nähe war. Von den Falklandsinseln aus mochte es nicht allzu schwer sein, die Inseln des Magalhães-Archipels in inniger Umarmung an sich zu ziehen! Die britischen Küstenfahrer waren gar häufig in diesen Gewässern zu sehen und die englischen Missionäre taten ihr Möglichstes, um bei den Feuerländern immer mehr Macht und Ansehen zu erringen. Es war sehr zu fürchten, daß eines schönen Tages an irgendeinem Punkte der Insel die britische Flagge gehißt würde, und nichts ist schwerer zu Fall zu bringen als das Banner Großbritanniens. Es war höchste Zeit, diesem bedenklichen Zustande ein Ende zu machen!

Nachdem die beiden Herren, Idiaste und Herrera, sich ihres Auftrages entledigt, die Kundschaftsreise beendet hatten, kehrten sie in ihre Heimat zurück; der eine nach Santiago, der andere nach Buenos-Aires. Einen Monat später, am 17. Januar 1881, wurde in der letztgenannten Stadt ein Teilungsvertrag von beiden Republiken unterzeichnet, welcher das bisher ungelöste Problem, das beiderseits so viel Bitterkeit wachgerufen hatte, zu einem befriedigenden Abschluß brachte.

Die Vertragsbedingungen bestimmten, daß Patagonien von der Republik Argentina annektiert werden sollte, mit Ausnahme des Territoriums, das durch den 52. Breitengrad und den 70. Meridian westlich von Greenwich begrenzt ist; dieses wurde Chile zugesprochen. Dafür verzichtete letzteres auf die Staaten-Insel und auf den östlich des 68. Längengrades gelegenen Teil des Feuerlandes. Alle anderen Inseln gehörten ausnahmslos zu Chile.

Dieser Ausgleich, der die Rechte der beiden Staaten feststellte, hatte den Magalhães-Archipel seiner Unabhängigkeit beraubt. Welche Gefühle werden das stolze Herz des Kaw-djer bewegen, wenn sein Fuß nicht mehr auf freier Erde wandern kann, sondern chilenischen Boden betreten muß?

Am 25. Februar gelangte der Vertrag zur Kenntnis auf der Neuen Insel; Karroly hatte die Botschaft mitgebracht, als er von einer Lotsenfahrt zurückkam.

Der Kaw-djer konnte eine Bewegung der Entrüstung nicht zurückhalten; er sprach kein Wort, aber in seinen Augen flammte es zornig auf und grimmiger Haß war in dem Blicke zu lesen, den er nach Norden richtete, während seine geballte Faust sich drohend erhob.

Unfähig, den inneren Aufruhr zu dämpfen und seiner Bewegung Herr zu werden, schritt er unruhig auf und ab; dabei war ihm, als entschwände der Boden unter seinen Tritten, als böte er ihm nicht mehr die frühere feste Stütze.

Endlich war es ihm gelungen, den Sturm der Leidenschaften zu beherrschen, der in seinem Inneren tobte; seine eben noch ingrimmig verzerrten Züge glätteten sich und nahmen den ihnen gewöhnlichen Ausdruck gleichgültiger Kälte an. Er trat auf Karroly zu und fragte in ruhigem Tone:

»Ist die Nachricht sicher wahr?

– Ja, antwortete der Indianer. Ich habe sie in Punta-Arenas vernommen. Zwei Flaggen sollen am Eingange der Meerenge vor dem Feuerland gehißt sein, die argentinische am Kap Espiritu Santo und die Flagge von Chile am Kap Orange.

– Und alle Inseln südlich vom Beagle-Kanal, erkundigte sich der Kaw-djer, gehören jetzt zu Chile?

– Alle.

– Auch die Neue Insel!

– Ja.

– Es mußte wohl so kommen,« sagte der Kaw-djer leise und seine Stimme zitterte unter der heftigen inneren Erregung. Dann eilte er dem Hause zu und schloß sich in sein Gemach ein.

Wer war eigentlich dieser Mann? Welche zwingenden Gründe mochten ihn veranlaßt haben, den einen oder anderen Kontinent zu verlassen und sich in der Einsamkeit des Magalhães-Archipels lebendig zu begraben? Warum verachtete er die gesamte Menschheit und warum widmete er seine ganze Lebenskraft diesen Feuerländern, verschwendete er an die wenigen Stämme armer Eingeborner die reichen Schätze seines aufopferungsfähigen Herzens?

Der erste dunkle Punkt wird durch das Abwickeln jener Ereignisse erhellt werden, die den Inhalt dieser Erzählung bilden sollen. Die anderen Fragen finden ihre Erklärung, wenn man das Vorleben des Kaw-djer betrachtet.

Er war ein Mann von tiefem Wissen und hatte sich mit gleichem Ernste und gleicher Gründlichkeit sowohl auf sozialpolitische als auch naturwissenschaftliche Studien geworfen; er war ein Mann der Tat, voll Kraft und Ausdauer; aber – wie viele andere Gelehrte – verfiel er in den doppelten großen Fehler: Grundsätze für unfehlbar zu halten und als unumstößlich sicher aufzustellen, die schließlich nur ein Anrecht auf die Bezeichnung »Hypothese« hatten, und diese Grundsätze in die Tat umwandeln, rücksichtslos durchführen zu wollen bis zu den äußersten Grenzen der Möglichkeit. Die Namen einiger dieser berühmten, gefürchteten Reformatoren sind ja in aller Gedächtnis!

Der Sozialismus, dessen Bestreben kein geringeres Ziel ins Auge faßt als eine gründliche Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, der bestehenden Zustände, ist keine Erfindung der allerneuesten Zeit. Nach einer bedeutenden Anzahl im Dunkel der Vergangenheit verschwindender Namen tauchen Saint-Simon, Fourrier, Proudhon und andere als Vorläufer des Kollektivismus auf. Andere, einer neuen Epoche angehörende Ideologen, wie Lassalle und Karl Marx, haben die alten Ideen wieder aufgegriffen, sie mehr oder weniger abgeändert und schärfer begrenzt; als Basis aber und Ausgangspunkte aller Operationen wurde eine Reihe hochtönender Schlagwörter aufgestellt, wie: Sozialisation aller Erzeugnisse, Abschaffung des Kapitals, Vernichtung der Konkurrenz, Substitution des persönlichen zugunsten des gemeinsamen Besitzes.

Keiner von ihnen rechnet aber mit den Notwendigkeiten und Zufälligkeiten des Lebens. Ihre Lehre verlangt gebieterisch die augenblickliche und durchgreifende Ausführung. Sie fordern allgemeine Besitzentäußerung und universellen Kommunismus.

Möge man diese Anschauung loben oder tadeln, eines muß man anerkennen: sie ist kühn! Aber in noch höherem Grade verdient diese Bezeichnung – die Theorie der Anarchisten.

Diese verwerfen vor allem die tyrannischen Bestimmungen, Statuten, die die Verwaltung und Leitung eines kollektivistischen Gesellschaftslebens als Gebot der Notwendigkeit vorschreiben muß; sie sanktionieren nur den absoluten, ungeschmälerten, unantastbaren Individualismus. Ihr Streben ist auf die Abschaffung jeder Autorität, die Zerstörung aller gesellschaftlichen Bande gerichtet.

Dieser letzterwähnten Menschenklasse gehörte der Kaw-djer an. Seine wilde, ungezügelte und unversöhnliche Seele war unfähig, sich einem anderen Willen zu beugen, die Fesseln des Gehorsams zu tragen und bäumte sich gegen den Zwang der Gesetze auf, dieser Vorschriften, durch welche man die gegenseitigen Beziehungen der Menschen zu regeln und zu sichern versucht und die ja unleugbar mancherlei Unvollkommenheiten aufzuweisen haben.

Der Kaw-djer war zwar niemals in den Scharen derjenigen anzutreffen gewesen die in rücksichtsloser Heftigkeit ihre Überzeugung propagieren wollten; weder in Frankreich noch in Deutschland, England oder den Vereinigten Staaten war er Landes verwiesen worden; aber die angebliche Zivilisation dieser Länder hatte ihn mit tiefem Abscheu erfüllt und nur der eine Wunsch fand in seiner Seele Raum: um jeden Preis die Last einer jeden Autorität von sich abzuschütteln; und nun machte er sich auf die Suche nach einem Fleckchen Erde, wo es dem Menschen noch vergönnt war, in vollkommener Unabhängigkeit zu leben.

Er glaubte den gesuchten Ort inmitten dieses entlegenen Archipels gefunden zu haben, an der Grenze der bewohnten Welt. Das erträumte Glück schrankenloser Freiheit, er hoffte es an der äußersten Spitze Südamerikas, im Magalhães-Archipel, zu finden!

Aber durch den zwischen Chile und der Republik Argentina unterzeichneten Vertrag verlor auch diese Region die Unabhängigkeit, deren sie sich bis jetzt erfreut hatte: alles Territorium, das südlich des Beagle-Kanales lag, sollte den Statuten des Vertrages zufolge die chilenische Herrschaft anerkennen; kein Ort des Archipels konnte sich der Autorität des Gouverneurs, welcher in Punta-Arenas seine Residenz aufgeschlagen hatte, entziehen, auch nicht die Neue Insel, auf der der Kaw-djer nach langem Umherirren ein stilles Asyl gefunden hatte.

Es war wohl ein harter Schlag für ihn: so weit war er geflohen, nach so vielen Mühen und Anstrengungen hatte er sich ein Heim erkämpft, mit einer mehr als einfachen Lebensführung zufriedengegeben – und nun dieses Resultat!

Der Kaw-djer brauchte lange Zeit, um sein inneres Gleichgewicht wieder zu erlangen; die Wirkung der letzten Ereignisse auf ihn war mit dem Blitzstrahl zu vergleichen, der den in voller Kraft dastehenden Baum ins innerste Mark trifft und bis in die zartesten Wurzelfasern hinein erbeben macht. Seine Gedanken suchten die Zukunft, eine Zukunft, die ihm für seine Ruhe und Sicherheit nicht Gewähr leisten konnte. Beamte würden in der Gegend erscheinen und ihn auszuforschen suchen. Man wußte bereits, daß er diese Insel zu seinem Aufenthaltsorte erwählt hatte; es war ihm auch nicht unbekannt, daß zu öfteren Malen schon seine Gegenwart – die eines Fremden – auf dem Magalhães Archipel, seine Beziehungen zu den Eingebornen, das Ansehen, in dem er bei den Wilden stand, der Regierung zu ernsten Besorgnissen Grund gegeben hatte. Der Gouverneur von Chile hatte versucht, ihn zum Sprechen zu bewegen, seine Herkunft, seinen Namen, seine Absichten in Erfahrung zu bringen... Nun würde das alte Spiel wieder anheben; man wird seinem Leben, seinen Gewohnheiten nachgehen, ihn vielleicht zwingen, das Inkognito zu lüften, an dem er unter allen Umständen festhalten wollte. –

Einige Tage waren verflossen. Der Kaw-djer hatte kein Wort mehr fallen lassen über den Wechsel der Verhältnisse, die der Teilungsvertrag mit sich gebracht hatte, aber er war finster in sich gekehrt und verschlossener als früher. Was grübelte er? Dachte er daran, die Neue Insel auf immer zu verlassen, sich von seinem treuen Indianer, dem Knaben, für den er eine so innige Zuneigung empfand, zu trennen?

Wohin sollte er denn gehen? Wo war jener Winkel der Erde, wo er seine Unabhängigkeit wiederfand, ohne die er nicht leben zu können glaubte? Wenn er auch bis zu den allerletzten Felsblöcken des Archipels zurückwich, auf das Inselchen, welches das Kap Hoorn bildete, würde er sich dadurch der Autorität Chiles entziehen können?

Der Monat März war inzwischen herangekommen. Die schöne Jahreszeit dauerte noch einen Monat; gewöhnlich wurde sie vom Kaw-djer dazu benützt, allen Lagerplätzen der Feuerländer einen Besuch abzustatten, denn im Winter waren Reisen zu Wasser ein Ding der Unmöglichkeit. Diesmal aber traf er keinerlei Vorbereitungen, die Schaluppe instandzusetzen. Die Wel-kiej blieb ganz abgetakelt ruhig in ihrem geschützten Hafenplatz liegen. Am Nachmittag des 7. März sagte der Kaw-djer plötzlich zu Karroly:

»Halte für die ersten Morgenstunden die Schaluppe segelbereit!

– Soll es für eine mehrtägige Reise sein?

– Ja.«

Hatte sich der Kaw-djer dennoch zu seiner gewöhnlichen Rundfahrt zu den Stämmen der Feuerländer entschlossen? Wollte er doch wieder dieses halb chilenisch, halb argentinisch gewordene Feuerland betreten?...

»Soll uns Halg begleiten? fragte Karroly.

– Ja.

– Und der Hund?

– Zol soll auch mitkommen!«

Beim Morgengrauen war die Wel-kiej reisefertig. Es herrschte Ostwind. Eine heftige Brandung peitschte die Klippen am Fuße des Hügels und das offene Meer im Norden warf hohe Wellen.

Wäre es die Absicht des Kaw-djer gewesen, seinen Kurs auf das Feuerland zu richten, dann hätte die Schaluppe eine sehr böse Fahrt gehabt, denn die Heftigkeit der Brise wuchs mit dem höheren Sonnenstand. Aber nein!

Nachdem die Neue Insel umschifft war, befahl der Kaw-djer, auf Navarin zuzusteuern, deren Doppelgipfel sich in verschwommenen Umrissen aus den westlichen Morgennebeln erhoben. Es ist dies eine der mittelgroßen Inseln des Magalhães-Archipels, an deren Südspitze die Wel-kiej bei Sonnenuntergang haltmachte, um in einer geschützten kleinen Bucht mit steil abfallenden Ufern die Nacht zu verbringen.

Am nächsten Morgen durchschnitt das Boot die Bucht in schiefer Richtung und suchte sich am Abend einen sicheren Ankerplatz nahe der Insel Wollaston.

Das Wetter verschlechterte sich, der Wind blies immer kräftiger und sprang nach Nordost um, dichte Wolken häuften sich am Horizont: der Ausbruch des Ungewitters konnte nicht mehr ferne sein. Die Befehle des Kaw-djer lauteten auf Beibehaltung der Südrichtung. Nun galt es, mit Umsicht jene Wasserstraßen zu wählen, wo das Meer weniger aufgeregt tobte. Dies tat Karroly, indem er beim Verlassen der Insel Wollaston deren Ostseite entlang fuhr und dann in den Kanal einbog, der die Inseln Hermite und Herschel trennt.

Welchem Ziele steuerte der Kaw-djer zu? Wenn er den letzten Ausläufer des Festlandes, das Kap Hoorn, erreicht und vor sich den unendlichen Ozean haben wird – was wird er dann tun?...

Am 15. März, nachmittags, erreichte die Schaluppe glücklich die äußerste Spitze dieser Inselwelt, nachdem sie harte und gefährliche Kämpfe mit dem empörten Elemente tapfer ausgehalten hatte. Der Kaw-djer sprang sogleich ans Land. Ohne von seinen Absichten eine Silbe verlauten zu lassen, schickte er den Hund zurück, der ihm gefolgt war, ließ Karroly und Halg am Ufer und richtete seine Schritte nach dem Kap.

Die Insel Hoorn ist nichts anderes als eine chaotische Anhäufung riesiger Felsblöcke, an deren Fuß mächtige, durch die Meeresströmung angeschwemmte Hölzer und gigantische Algen sich häufen.

Auf der einen Seite tost die Brandung und die spitz vorspringenden Klippen nehmen sich wie schwarze Punkte in der schneeigen Weiße der schäumenden Wasser aus.

Der Aufstieg zur Spitze des nicht allzu hohen Vorgebirges ist von der Nordseite aus nicht sehr anstrengend; dort findet man sanft verlaufende Abhänge, auf denen sogar streckenweise anbaufähiges Erdreich anzutreffen ist.

Der Kaw-djer stieg langsam aufwärts. Zu welchem Zweck? Was konnte er, auf dem höchsten Punkt angelangt, zu erblicken hoffen, außer der in die Unendlichkeit sich dehnenden Fläche des ewigen Weltmeeres?

Der Orkan hatte jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Je höher der Kaw-djer stieg, desto schwerer wurde ihm das Ankämpfen gegen das wütende Toben der entfesselten Luftströmungen. Ost mußte er sich an die Felsen anklammern, um nicht fortgerissen zu werden und der mit Heftigkeit emporgeschleuderte Wellenstaub peitschte sein Gesicht. Karroly und Halg verfolgten von unten seine immer kleiner werdende Gestalt, sahen, wie er gegen Sturm und Wasser ankämpfen mußte.

Fast eine Stunde hatte er zu diesem beschwerlichen und gefährlichen Aufstieg gebraucht; nun war der Kulminationspunkt erreicht; am äußersten Rand des Felsens blieb der Kaw-djer stehen, furchtlos, regungslos, den Blick nach Süden gerichtet.

Schon bedeckte die aufsteigende Nacht den östlichen Himmel mit ihren Schatten, aber der westliche Horizont war noch hell, durchleuchtet von den letzten Strahlen des Tagesgestirnes. Mächtige, vom Orkan zerrissene Wolkenmassen und über den hochgehenden Wogen schwebende Nebelschwaden rasten vom Sturme gejagt, über den Abendhimmel dahin, und nichts war zu sehen, wohin das Auge reichte, als das Meer.

Was wollte der Mann, dessen Seele von so schmerzlichen Empfindungen zerwühlt war? Leitete ihn ein Ziel, eine Hoffnung?... Oder hatte ihn – nach dem Scheitern seiner Pläne, nachdem er die Unmöglichkeit einer Erfüllung seiner Bestrebungen eingesehen – das Sehnen nach der ewigen, ungestörten Ruhe des Todes hierher an das Ende der Welt geführt?...

Die Zeit verstrich, Minute um Minute verrann; eine bleierne Dunkelheit senkte sich immer tiefer herab. Der Blick konnte nichts mehr unterscheiden, denn die undurchdringliche Finsternis verschlang alles...

Und es war Nacht...

Plötzlich erhellte ein schwacher Blitz die schwarzen Himmelswände und ein im Sausen des Orkans ersterbender Donner verkündete, daß ein Kanonenschuß abgefeuert worden war.

Es war der Hilferuf eines Schiffes in höchster Not.

Viertes Kapitel.

An der Küste.

Inhaltsverzeichnis

Es war acht Uhr abends. Der Sturm blies jetzt aus Südwesten und schleuderte die Wogen mit solch unwiderstehlicher Gewalt an die Küste, daß sich kein Schiff dem äußersten Vorgebirge Amerikas nähern konnte, ohne dem gewissen Tode entgegenzueilen.

Diese Gefahr erkannte und fürchtete das Fahrzeug, das durch die Lösung eines Notschusses seine Gegenwart verraten hatte. Inmitten der furchtbaren Windstöße war es in der Unmöglichkeit, genug Segel zu setzen, um das Kap zu passieren und wurde langsam und stetig dem sicheren Verderben, den drohenden Klippen nähergetrieben, ein hilfloser Spielball unwiderstehlicher Naturgewalten.

Eine halbe Stunde später stand der Kaw-djer nicht mehr allein auf der Höhe des Felsens. Kaum war der Hall der Detonation verklungen, als Karroly und sein Sohn auf steilen Abkürzungswegen den Gipfel erklommen, indem sie sich an dem zackigen Gestein anklammerten und die aus den Spalten wuchernden Grasbüschel als Anhaltspunkte benützten.

Und ein zweiter Kanonenschuß machte die Luft erzittern. Welchen Beistand erhoffte das unglückliche, dem Untergang geweihte Schiff in diesen verlassenen Breiten, bei dem Wüten der entfesselten Elemente?

»Es kommt aus Westen, sagte Karroly, dessen scharfes Ohr die Richtung, aus der der Notschuß abgegeben worden war, erkannt hatte.

– Und es nähert sich mit beängstigender Schnelligkeit, stimmte ihm der Kaw-djer bei; der zweite Schuß kommt aus bedeutend geringerer Entfernung!

– Es kann nicht am Kap vorüber, erklärte Karroly mit Bestimmtheit.

– Nein, bestätigte der Kaw-djer; die Wellen gehen zu hoch... Aber warum trachtet es nicht, das offene Meer zu gewinnen?

– Es wird nicht können!

– Möglich! Aber es wäre auch möglich, daß es die Nähe des Landes nicht ahnt.... Wir müssen ihm ein Zeichen geben!... Ein Feuersignal! Zünden wir rasch ein Feuer an,« rief der Kaw-djer.

In fieberhafter Eile rissen sie einige Armvoll trockener Aste von dem spärlichen Gestrüppe, das am Abhang des Vorgebirges ein kümmerliches Dasein fristete, sammelten dürres Gras und Seetang, der sich in Unebenheiten des Felsens angehäuft hatte und errichteten mit diesen mühsam erworbenen Brennmaterialien einen hohen Scheiterhaufen auf dem höchsten Punkte des Kaps.

Der Kaw-djer schlug Feuer, der Funke sprang auf den Zunder über, entflammte zunächst die dünnsten Reiser, die unter Mitwirkung des Windes bald den ganzen Holzhausen in einen weithin sichtbaren Feuerherd verwandelten. In wenigen Sekunden schoß eine Flammensäule von der Anhöhe zum Himmel empor, drehte und wand sich, vom Winde gepeitscht, hin und her und verbreitete Tageshelle, während der Rauch in dicken, schwarzen Flocken nach Norden abzog. In das Heulen des Orkans mischte sich das Prasseln des Holzes, dessen knotige Stücke mit bombenähnlichem Knall zerbarsten.

Das Kap Hoorn hat schon von Natur aus die Bestimmung bekommen, einen Leuchtturm zu tragen, der als Wahrzeichen die Grenze zweier Ozeane zu bewachen hat. Die Sicherheit der Navigation erforderte es und gewiß würde die Zahl der in diesen Breiten so häufigen Schiffskatastrophen dadurch um ein Bedeutendes verringert werden.

Ohne Zweifel vertrat das von der Hand des Kaw-djer entzündete Feuer im Notfalle den fehlenden Leuchtturm. Der Kapitän des Schiffes mußte wissen, daß er sich in nächster Nähe des Kaps befand. Das Feuerzeichen zeigte ihm dessen genaue Lage an, jetzt war es ihm möglich, sich zu orientieren, und vielleicht gelang es ihm, den durch die Insel Hoorn vom Sturm etwas geschützten Meeresteil zu erreichen.

Aber welch unberechenbaren Gefahren setzte man sich durch ein derartiges Manöver in dieser undurchdringlichen Finsternis aus! Die Möglichkeit einer Rettung zwischen den Klippen war sehr klein!

Das Feuer brannte weiter und warf seinen hellen Schein in die dunkle Nacht hinaus. Halg und Karroly brachten ihm immer neue Nahrung; an Brennstoff war kein Mangel, die Flamme konnte, wenn nötig, bis zum Morgen lebenskräftig erhalten werden.