Die schlaflose Welt - Stefan Zweig - E-Book

Die schlaflose Welt E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Stefan Zweig nutzte seine Ausdruckskraft, die Eindringlichkeit seiner Sprache, um vor allem mit seinem Geschichtswissen – über das augenfällig »dramatische« und psychologische Element hinaus – einem besseren Verständnis von Humanität zu dienen. Seine geschichtsphilosophischen Betrachtungen sind dabei immer auf seine Zeit bezogen und spiegeln einen Grundzug seines Wesens: die ständige Bereitschaft, anderen zu helfen, auch mit dem Wort. Die Umsetzung dieser Forderung an sich selbst in die Tat im Laufe seines Lebens zu verdeutlichen, ist Ziel dieser Auswahl.

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Stefan Zweig

Die schlaflose Welt

Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909-1941

Fischer e-books

Mit einem Nachwort von Knut Beck.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Das Land ohne Patriotismus

Immer wenn ich nach mehrmonatiger Abwesenheit vom Ausland nach Österreich zurückkehre, mischt sich mir dem wohligen Gefühl des Heimatlichen irgendein anderes bei, das kaum in ein einziges Wort zu fassen wäre. Mißbehagen wäre zu viel und Bedauern zu wenig, und doch beinahe körperlich empfinde ich’s, so stark dringt hier Eigenart der Stimmung von den Dingen ins Blut. Das Atmosphärische, spüre ich, hat sich verändert, man atmet gedrücktere, schwülere Luft, der Takt, der Rhythmus der Umwelt ist plötzlich verlangsamt, irgendeine Spannung, die den Körper befeuernd belebte, ist hingeschwunden an der seelischen Mattheit einer ganzen Bevölkerung. Auch hier schwingt in Wien, der Millionenstadt, das Rad der Zeit durch den Tag, aber langsamer, gehemmter und widerwilliger. Fragend sieht man sich um. Ein Blick in die Zeitungen, um zu sehen, was inzwischen geschehen ist, aber es ist immer noch das Gleiche wie damals: Plänkeleien, Spannungen zwischen den Nationen. Aus dem politischen Leben steigt statt des hinreißenden Stromes stärkerer Aktionen und Gegenaktionen nur der trübe Dunst kleiner politischer Gärungen, oft untermengt mit dem übelriechenden Atem von Korruption. Nirgends spürt man große einheitliche geschlos- Pläne, immer nur Vorschläge zu Flickwerk und Verbesserungen. Die Beamten, mit denen man zusammengerät, sind müde und verdrossen, die Künstler ironisch, und selbstbesorgt der Handwerker, der Arbeiter, das ganze Proletariat gedrückt von täglichen Sorgen. Ein tragischer Pessimismus erfüllt die geschäftliche Welt, Klagen, Unzufriedenheiten von allen Seiten. Nirgends schlägt in diesem Lande hell und schön die große befreiende Flamme der Freude und Zuversicht empor.

Irgend etwas fehlt hier, das spürt man. Irgend etwas, das die Menschen mehr zusammendrängte, das Nebeneinander vieler arbeitender Existenzen zusammenglühte in eine große Idee, eine edle, reine, über das einzelne Wesen strebende Hoffnung, die beschwingt, jenen gemeinsamen Stolz, der auch den Geringsten stählt, jene herrische Selbstfreude, die trunken macht. Zerbröckelt ist alles und vereinzelt und damit in beständigem Widerstreit. Es fehlt, und bald erkennt man’s als fehlend in allem jenes Erhabene, das ein Reich wirklich zur Nation macht, eine Menschenmasse zu einem Volk, der einheitliche Glaube – oder wenn man will: der Wahn – des Patriotismus, der unbedingten Heimatliebe. Es gibt hier in Österreich keinen österreichischen Patriotismus, keinen Nationalismus, wie es einen deutschen, wie es einen französischen, einen italienischen und englischen gibt, jene höchste Einheit aus Sprache, Rasse, Stolz und Überschwang gehämmert, die gleichsam das vom Einzelnen ins Allgemeine erhöhte Selbstbewußtsein schöpferisch verwirklicht.

Österreich ist heute die einzige Nation in ganz Europa, die nicht einheitlich nationalistisch ist, die sich nicht selbst überschätzt, und das ist ihr Unglück. Dostojewski hat einmal (ungefähr) gesagt, eine jede Nation, die wirken wolle und sich eine Zukunft erobern soll, müsse sich als die beste und die einzig notwendige im Weltall empfinden. Sie muß ungerecht sein, weil aus dieser Selbstüberschätzung Kräfte entwachsen, weil in jedem Chauvinismus eine Bindung liegt, eine Stärkung und ein Rausch. Und diese Sekunden des Rausches einer Millionenmasse, sind sie denn nicht auch die wundervollsten, die der Einzelne erleben kann, wirkliche Feste einer Zeit, in der das religiöse Empfinden schwächer geworden und durch das nationale fast entwertet worden ist? Sind sie nicht in unser aller Leben die schönsten Augenblicke, die der großen Gemeinsamkeit? Deutschland: ich erinnere mich an einen Tag auf den Türmen von Straßburg, als der Zeppelin-Ballon (es war der Tag seines Untergangs) zum ersten Mal seine große Fahrt unternahm. Eine ganze Stadt in Aufregung, Jubel von Hunderttausenden schwoll auf, durch ganz Deutschland ging ein knabenhaftes und doch wunderbar schönes Vertrauen, jetzt sei die Weltherrschaft gesichert, der große Traum erfüllt. Oder Italien: in Venedig an einem Abend, als die Blätter einen Sieg in Tripolis melden. In einem Nu der ganze Platz von den Zeitungen wie mit weißen Vögeln überflogen, Jubel und Gesang, aus allen Gassen Musik, Fanfaren und Überschwang. Und man wußte, so rauscht es in dieser Sekunde durch das ganze Land, so bebt eine ganze Nation von Sizilien hinauf bis zum Alpenrand in einem einzigen Gefühl. Paris: hier erlebt man’s fast jeden Tag, zu jeder Sekunde, wenn die Regimenter auf die Frühjahrsparade marschieren oder Blériot den Kanal überflogen hat; hier spürt man’s in jedem Moment, wenn irgendwo die Marseillaise gespielt wird und die Worte plötzlich Jubel und Gesang werden, keiner weiß es, wieso. In allen diesen Ländern ist ein einheitliches Gefühl in Millionen einzelner Herzen eingeschlossen, und eine einzige Sekunde läßt da oft die Milliarden Tropfen Eigengefühl zusammenströmen, und dann rauscht es hin in die Welt, in die Zeit, ein hinreißender Strom der Begeisterung.

Nur hier in Österreich kennt man diesen Rausch nicht und diesen Jubel, weil wir keinen rechten Patriotismus haben, kein unbedingtes Gemeingefühl. Und das ist keines Schuld. Jedem einzelnen ist ja dadurch etwas genommen, eine reine Möglichkeit der Selbsthingabe an ein großes Ziel. Aber wir können nicht Einheitliches haben, weil unser Österreich durch eine merkwürdige Konstellation der Tatsachen ein Mehrfaches geworden ist und dies Land nicht bloß einen Patriotismus von uns fordert, sondern drei und vier. Wir sind erstlich Österreich-Ungarn. Wenn an der ungarischen Grenze ein Dorf, ein Landstrich bedroht ist, muß unser Gefühl sofort einschnappen, und wir müssen’s als Wunde am eigenen Fleisch fühlen. Aber wir müssen als Österreicher sofort umschalten können, wenn es sich um einen Zwist zwischen Österreich-Ungarn handelt, und Ungarn, dies unser Fleisch und Blut, in derselben Stunde wieder als Fremdkörper, als Feind empfinden können. Wir sollen also organisch verbunden sein und doch geteilt wie die Zwillinge aus Siam, die zwei Herzen haben und nur ein Blut. Dieser abgespaltene Österreicher muß sich aber nochmals teilen, er muß auch Deutscher sein, muß, wenn es die Sprache, das heiligste Gut der Nation gilt, sofort seinen eigenen Bruder, den Tschechen, den Kroaten, als den gefährlichen Gegner empfinden können. Dieses dreifache Patriotengefühl auf Umschaltung muß selbstverständlich jeder Spannkraft entbehren, und so schwankender Ideale der Sinnlichkeit. Österreich-Ungarn oder nur Österreich läßt sich historisch und auch politisch als Begriff erklären, sogar als Notwendigkeit, aber es erklärt sich nicht spontan im Gefühl. Und hier liegt einer der Hauptgründe, weshalb unsere Politik so mit Schwierigkeiten arbeitet, weil sie niemals das sinnliche Wort finden kann, das wie ein Funke in den Zunder fällt. Elsaß-Lothringen: für den Franzosen ist das keine Idee, nichts, was er bloß im Hirn fühlt, sondern eine Wunde im eigenen Fleisch, das Trentino eine Narbe für Italien, die gärt und schwärt. Albanien aber oder der Handelsweg nach Saloniki, das sind geistige Notwendigkeiten, die der politisch klare Kopf vielleicht mit gleicher Stärke begreift, wie der Franzose seine nationale Notwendigkeit, aber doch bloß der Kopf, und die Masse hört mit dem Herzen. Das Wort Elsaß-Lothringen in rechter Stunde gesagt, kann wirken wie ein Zündholz an der Reibfläche. In einer Sekunde springt die Flamme im Volke auf und Europa steht im Brand. Bei uns sind alle Argumente feucht von Gedanklichkeit und entzünden im Körper des Volkes keine Wärme. Wo keine Einheit ist, kann keine einheitliche Idee entstehen. Volksideen entstehen nur aus einem Gefühl, aus einer Sprache, nicht aus historischen Klitterungen und logischen Nötigungen.

Wir haben keinen Patriotismus: das will aber nicht sagen, daß wir keine Patrioten haben. Wir haben sogar zweierlei: jene Allerweltspatrioten natürlich, die die Österreicherei systematisch betreiben, bei allen Anlässen sich vordrängen, in Komitées und Vereinen ordenshungrig ihr Wesen treiben, aber unfähig sind eines wahrhaften Opfers. Nirgends ist ja der offizielle Patriotismus so dankbar als in einem Lande, wo er nicht ganz natürlich ist, nirgends sind die Auszeichnungen, die Adelsprädikate, die Kommerzialratsstellen darum so wohlfeil wie bei uns. Daneben gibt es aber vielfach auch einen echten Patriotismus, den der Tradition, den der Armee, aber es ist einer, der sich nicht so sehr auf das ganze Land, auf die österreichische Nationalidee bezieht, sondern auf nachbarliche, nicht aber identische Begriffe, auf den Kaiser, auf die Kriegsmacht oder auf einzelne Länder. Es gibt nationale Deutsche, nationale Tschechen, die Österreich als Notwendigkeit empfinden, aber nicht als eine absolute, in sich selbst beschlossene, sondern als Notwendigkeit zweiter Ordnung, als Vorteil ihres hohen Volksgedankens. Aber es gibt keine Österreicher, die nur Österreicher sind und nicht in erster Linie Deutsche oder Tschechen. Diese Ureinheit des Gefühls fehlt uns, wird uns ewig fehlen, und dies, das Fehlen des Einheitsgefühles ist im letzten das Unglück Österreichs.

Unverkennbar: an diesem Mangel krankt der Staat Österreich. Er ist wie ein gesunder starker Organismus mit allen Fähigkeiten, dem nur das geheimnisvollste Vitalitätsprinzip fehlt: die Seele. Und dieser Einheitslosigkeit entspringt alle jene hemmende quälende Verdrossenheit, ihr und einem andern noch: Österreich, der Staat, hat zu lange keine Freude gehabt. Seit hundert Jahren immer nur verkleinert, geschwächt, unter schlechtem Regime verbittert und verschuldet, ist er verdrossen geworden. Ein Sieg, ein militärischer, ein politischer, und das Blut hätte rascher gerollt in diesem uralten Körper. Man denke nur, wieviel Freude, lebendige Lebensfreude Deutschland und Italien dem Jahre 1870 danken, wie Frankreich noch heute aufbraust im Echo der napoleonischen Namen. Alle Länder, alle um uns, außer Spanien und der Türkei, den versumpfenden, absterbenden, haben irgendeine Wesensfreude im letzten Jahrhundert gehabt, nur wir nicht, und darum ist das österreichische Selbstgefühl verwelkt. Die Politik wiederum ist verzagt geworden, weil sie nicht jene prachtvolle Waffe der wilden einheitlichen nationalen Volksaufwallung in den Händen fühlt (die ärgsten Schmähungen haben bei uns in den letzten balkanischen Sorgen nur Nervosität erzeugt, nie gesunden Zorn). Die Kaufleute sind ihrerseits wieder gehemmt und geknebelt durch die politische Schwäche, und überdies unsere vormärzlichen Einzwängungen, die Beamtenschaft verbittert durch politischen Stellenschacher, die Armee degoutiert durch das ewige Zurückweichen, Verdrossenheit also allerorts und allerenden. Zuversicht, wie sie in Deutschland fast schon allzu laut klingt, hier ist sie stumm, und unbewußt fällt vom Mißtrauen der Masse Schatten in jedes Einzelnen Gefühl. Selbst die Dichter, die doch den Elan durch Heimatliebe aufreiben sollten, sie sind alle unpolitisch und unösterreichisch, ihr Patriotismus steckt sich engeres Ziel. Seit Grillparzer (der von einer deutschen Hegemonie in Österreich träumte) waren alle nur Heimatspoeten. Rosegger, Bartsch feiern die Steiermark, Schönherr Tirol, Schnitzler Wien, und selbst unser lieber Hermann Bahr, der so unentwegt seit zwanzig Jahren von einem österreichischen Gefühle träumt und seinen Traum werbend verkündet, auch er hat als Dichter in seinem begonnenen nationalen Epos, einer Reihe Romanen nur das Krankhafte im Organismus aufgedeckt und nicht das Fruchtbare. Das einzige Mal, da er ein Stück dieser Welt ganz bejahend gestaltete, im ›Franzl‹, da war es nur sein heimatliches Oberösterreich, dem er sich hingab in Liebe und Dienst, nicht das ganze Österreich, nicht Ganzösterreich, nicht Österreich-Ungarn.

Diese Tragödie einer entbehrten einheitlichen Idee ist nicht von heute und nicht von gestern. Generationen bei uns ersehnten schon diesen kostbaren Besitz, den Patriotismus, und die Geschichte aller politischen Parteien aus diesem Jahrhundert ist im letzten die des Versuches, den zusammengeheirateten Staat durch gedankliche Beseelung in einen Organismus, das Vorhandene in eine Notwendigkeit zu verwandeln, die Einheit zu schaffen aus der Vielheit. Nach Achtundvierzig, als Österreich in Trümmer zu gehen drohte, hat eine Partei, die liberale, den wahrhaft österreichischen Staat, nicht bloß das Habsburgerland zu verwirklichen gesucht durch die große Einheitsidee der deutschen Sprache, die Hegemonie des Germanentums und der deutschen Kultur als Binderin aller slawisch-romanischen Gegensätze. Aber dieser Gedanke, schon einmal unter Joseph II. zerbrochen, ist endgiltig zerschmettert worden von den preußischen Bajonetten, bei Königgrätz. Die sozialistische Bewegung der neunziger Jahre suchte dann später die feindlichen Völker enger zu binden, indem sie den nationalen Gedanken dem sozialen unterordnete. Aber auch diese Idee wurde aufgelockert von der nationalen Sturmflut, und selbst die Sozialisten müssen sich bei uns heute schon teilen in eine deutsche und eine tschechische Partei. Die Christlich-Sozialen schließlich versuchten jene letztstärkste Bindung durch die einzige Einheit Österreichs, den Katholizismus, zu erzielen, eine Einheit, die als Ganzes wirksam sein mag gegen den Osten und den Norden, gegen die Orthodoxie und den Protestantismus, aber ohne Argument bleibt gegen die Ansprüche Italiens und die Nachbarschaft Süddeutschlands. Noch immer ist die Einheit nicht gefunden, und die Ungeduld ist ins Unendliche gewachsen.

Wie stark diese Sehnsucht, diese Glut nach der Einheitsidee aber in den Herzen geblieben ist, beweist nichts stärker als die Liebe, die im ganzen Reiche die letzte Einheit umfaßt, die das Schicksal über die vereinzelten Völker gestellt hat, die Persönlichkeit des Kaisers. Franz Josef ist die stärkste Bindung, die heute alle Nationen hier zusammenhält, und an ihn wendet sich das ganze Begeisterungsbedürfnis all dieser Völker, wendet sich statt an die Nation an eine Person und verwandelt sie in ihre Sache. Seit mehr als sechzig Jahren Kaiser, gleichsam legendarisch, so daß selbst die Ältesten sich nicht mehr einer andern Gestalt erinnern können, hat er gewissermaßen eine mythische Macht über das Gefühl gewonnen. Er ist Österreich-Ungarn, Österreich, Deutschösterreich in einem und sein Schicksal vielleicht auch das der ganzen Nation. Alle nationalen Feiern in Österreich, die wenigen wahrhaft gelungenen, sind in den letzten Jahren immer nur Huldigungen seiner Person gewesen, und gerade an diesem begeisterten Bedürfnis spürte man die Notwendigkeit der Einheit. Man spürte sie im Jubel, spürte sie aber auch in der Angst, wie bei der leichtesten Erkrankung das ganze Volk auf seinen Atem lauscht. Der Pulsschlag aller dieser Nationen folgt gewissermaßen dem seinen. Geht er langsamer, vermindert sich die Heiterkeit und Unbesorgtheit aller dieser Menschen, beflügelt er sich wieder, so flattert die Hoffnung in allen Ländern auf. Patriotismus ist hier Liebe zum Kaiser. Tragisch ist nur an dem seltsam schönen Schauspiel, daß diese Einheit eine Vergangenheit als Lebenssinn feiert und bar ist aller Zukunftsträchtigkeit. Wir müssen uns zurückwenden, nicht nach vorwärts wie die andern Völker, um Begeisterung in uns zu finden. Und das ist ein gefährliches Symbol.

Diese eine Einheit, diese an irdische Dauer gebundene, ersetzt für die gegenwärtige Stunde einem Volk von fast sechzig Millionen den Glauben an seine innere Kraft, und sie ist bloß eine einmalige, eine persönliche, eine die sich mit dem Kronreich nicht vererbt. Eine andere Einheit wäre suchendem Gefühl vielleicht noch zu finden, um die Existenz dieses seltsamsten aller europäischen Reiche als Notwendigkeit zu begründen, aber es ist eine, die leider nicht zählt in unserer Welt. Es ist die Schönheit dieses Landes. In keinem Reiche Europas und wohl auch der Welt sind so viele Gegensätze der Natur und Menschheit so harmonisch gebunden, prachtvollstes Alpenland und glühende südliche Küste, Fruchtbarkeit des Feldes und schöpferisch technische Kraft. Die Wunder von Salzburg, dieser italienischen Stadt im Herzen des Gebirges, der mythische Zauber von Prag, die einzige Schönheit Wiens, die zarten Reize des Wienerwalds, die finsteren Schroffen von Cattaro, die unendlichen Ebenen Ungarns, die Schneefelder Galiziens, die wilden Wälder der Bukowina – nirgends sind so viele Elemente des Landschaftlichen, nirgends so viele Rassen und Begabungen in eine äußerliche Einheit zusammengedrängt, in eine unwiederbringliche, wenn sie verlorengehen sollte durch den politischen Ehrgeiz der andern Nationen, in eine unzerstörbare, wenn sie ein neuer Wille und ein neuer Glaube zusammenhalten könnte. Schönheit ist dieses Staates bester Sinn. Alles spricht in diesem Lande gegen seine Existenz, außer dieser letzte höchste Wert. Und gilt unserer Zeit Schönheit noch als ein Recht, dann kann dieser Staat dennoch seinen Bestand ungemindert behaupten gegen alle Logik der Tatsachen, den Widersinn seiner Verwaltung und die Müdigkeit seiner eigenen Menschen.

Politische Eindrücke von einer mexikanischen Reise

Die imperialistische Politik Amerikas Von einem Österreicher

›Porfirio Diaz, der Herr von Mexiko‹, so stolz klingt der Titel eines englischen dickleibigen Werkes, das die Biographie dieses merkwürdigen Staatsmannes und damit gleichzeitig die Geschichte der Republik Mexiko schreibt. Vor knapp zwei Monaten erst erschienen, ist das Buch plötzlich durch die Ereignisse überholt worden: Porfirio Diaz ist noch Präsident, aber nicht mehr Herr über sein Land, und all die schwungvollen Konklusionen des gelehrten Autors, wie Diaz den Frieden des Landes gefestigt, ihm durch kluge Staatskunst internationalen Respekt gesichert habe, sind heute durch die Kugeln der Revolutionäre durchlöchert. Wie immer der Kampf sich entscheiden möge, eines ist sicher, daß Porfirio Diaz – der heute ein Greis ist, aber eine der gebieterischesten Gestalten in unserem Weltbilde – die heiß errungene, mit Kraft und Klugheit bewahrte Macht aus den starren Händen wird lassen müssen. Seine Biographie aber wird bleiben, schon um der aufregenden, an die Flucht berühmter Abenteurer wie Casanova und Rochefort erinnernden Episoden willen, wie Diaz, gegen Kaiser Maximilian kämpfend, gefangen wird, zum Tode verurteilt und im letzten Augenblicke aus der Festung entflieht, wie er später, selber ein Revolutionär, gegen den rechtmäßigen Präsidenten marschiert und nur der plötzliche Tod seines Gegners blutige Kämpfe abwendet. All das wird in Mexiko unvergessen bleiben: aber die Geschichte seines Landes will nun zum erstenmal seit Jahrzehnten nicht mehr mit seinen Schicksalen identisch bleiben, und der die aufregende, aufreibende Lust des Herrschens mit voller Lebenskraft ausgekostet, wird nun die Bitterkeit des Resignierens, das Leben im Schatten lernen müssen. Und es scheint, daß dieser letzte grandiose Widerstand des Greises gegen sein Schicksal nichts ist als das stolze Ringen um einen schönen Abgang. Porfirio Diaz will nicht von einem Madero, irgendeinem jungen, unbedeutenden Emporkömmling, vom Sitze der Herrschaft gestoßen werden: heute kämpft er, der kluge Recke, wohl nur mehr um den Schein eines freiwilligen Abganges.

Diese Revolution in Mexiko gehört zu den merkwürdigsten und vielleicht weittragendsten Erscheinungen unserer Zeit, und unser europäisches Interesse, das so rasch lahm wird, wenn Dinge sich nicht in unserem eigenen engen Erdteil abspielen, ist im Unrecht, wenn es sich hier nicht rege und wachsam beteiligt. Revolutionen dort drüben in Zentralamerika gehören zwar im allgemeinen nicht zu den seltenen und noch weniger zu den seriösen Erscheinungen. Es gärt konstant in diesen Staaten, die, eigentlich unreif zu Republiken, schlecht organisiert und ohne wirkliches Verständnis für Autorität, durch die privaten Ambitionen einzelner ehrgeiziger Abenteurer bis in die Grundfesten aufgewühlt werden können. Beständig in Geldverlegenheit, ohne disziplinierte verläßliche Armee, ist dort die staatliche Gewalt schon von einer rasch zusammengerafften Bande ernstlich bedroht, und was dann in offiziellen Bulletins als »Schlachten« ausgegeben wird, stellt kaum mehr als ein Scharmützel zwischen zwei schlechtbewaffneten Soldatenbanden dar. Mit einem Verlust von zweihundert Menschen kann dort noch ein Reich erobert werden. In manchen dieser Staaten ist die Revolution sozusagen in Permanenz und – was das merkwürdigste ist – man merkt es kaum im Lande. Der schöne vollklingende Name Revolution, mit dem die französische Nation die Freiheit des Individuums für Europa und für die Welt gewinnen wollte, ist zu gut, zu edel für die oft possenhaften Allüren dieser beständigen Putsche.

Auch die Revolution in Mexiko hat so eingesetzt. Zuerst sprunghaft, mit dem Auftreten einzelner Horden, aufflackernd, wieder verlöschend, eigentlich ungefährlich. Dann wurde sie allmählich organisierter, geschlossener: eine unsichtbare Hand schien sie zu lenken, von irgendwo tropfte immer wieder Öl ins Feuer, wenn sie zu erlöschen drohte. Plötzlich tauchten gutbewaffnete Banden auf, die von jemandem – demselben irgend jemand – regelmäßigen Sold erhielten, und Gewehre neuesten Systems, Ingenieure und Offiziere stellten sich ein, die Unterricht gaben, wie man Eisenbahnbrücken in die Luft sprengen, den Verkehr unterbinden, die Städte isolieren könnte. Porfirio Diaz sandte Truppen, die Revolutionäre stellten sich ihnen entgegen, falls sie stark genug waren, oder verschwanden über die amerikanische Grenze, um von dort mit neuen Verstärkungen wiederzukehren. Die Guerillabanden wurden allmählich zu einer Armee, der Aufstand ein Krieg.

Ein Krieg en miniature natürlich. Ein pittoresker, possierlicher Krieg. So schien es zumindest den Amerikanern, die in Scharen mit ihren Kodaks kamen, um einmal einem Krieg zuzuschauen. In Los Angeles, in El Paso, in allen nahen Städten wurden Automobile zur Vermietung angeboten »zum Kriegsschauplatz«, die Eisenbahnzüge brachten ganze Waggons solcher Vergnügungsreisender, die Aviatiker fuhren über den Gefechten auf und ab; man gab bei dem Kommandanten der Revolutionäre oder den mexikanischen Offizieren seine Karte ab und lud sie zum Frühstück ein. Es schien ein sehr gemütlicher, kleiner, man möchte fast sagen handlicher Krieg werden zu wollen, ein rechter Operettenkrieg.

Da plötzlich im März, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kam die Ordre an die amerikanische Armee, 20 000 Mann sofort an der Grenze, in San Antonio, mobil zu machen. Die Gelegenheit würde gleichzeitig zu einer Probemobilisierung benützt (die, wie Eingeweihte versichern, erbärmlich schlecht ausgefallen sein soll), in paar Tagen sollte die ganze Armee unten gefechtsbereit sein. In den Städten Amerikas sah man plötzlich Truppen marschieren – dort ist’s ein Seltenes – in den Häfen wurde emsig verladen, die Geschwader dampften zum mexikanischen Golf; eine Aufregung flog durch das ganze Land, eine einzige Frage: »Was ist geschehen?« Warum wollte Amerika intervenieren? Am nächsten Tag erklärten es die Zeitungen; Deutschland und England hätten den Schutz ihrer Untertanen verlangt. Am Abend noch mußten sie es dementieren. Sofort fand man neue Gründe: »Die Japaner hätten einen Kriegshafen gepachtet« (die »Japs« sind für Amerika, was die Deutschen für England, Prügelknabe, Nachtmahr und Sündenbock zugleich). Aber am Abend dementierte es die japanische Gesandtschaft. Neue Ratlosigkeit! Es war kein Grund zu finden.

Der Grund war (in Nordamerika) nicht zu finden, weil man ihn nicht finden wollte. Es ist ein offenes Geheimnis, daß die ganze Revolution in Mexiko von Amerika aus – nicht vom offiziellen, aber jedenfalls von amerikanischen Bürgern – unterstützt, wenn nicht gar inszeniert wurde. Denn was ist der eigentliche Grund der Revolution? Madero, der revolutionäre Führer, behauptet, der Absolutismus, das unerträgliche System Porfirio Diaz’ treibe die freien Mexikaner in den Aufstand. Aber wie seltsam ist es doch, daß gerade die Aufständischen keine Mexikaner sind. Sie sind zusammengesetzt aus nordamerikanischen Freiwilligen, darunter Studenten und ehemalige Soldaten, dann aus angeworbenen Söldlingen der kleinen südamerikanischen Staaten, meist verkommenen, ratlosen Existenzen, Rastaqouères und unbeschäftigten Arbeitern. Der Mittelpunkt der Anwerbung ist Newyork, wo die Brüder Maderos emsig Menschen anwerben, die in ihrem eigenen Vaterland die Brücken in die Luft sprengen und Städte zerstören. Diese Maderos aber – reiche Mexikaner, die durch ihre Gründungen eng liiert sind mit den amerikanischen Finanzdynastien – wären noch immer nicht reich genug, um das Geld für diesen Aufstand herzugeben. Immer und immer wieder deuten alle Spuren nach Nordamerika hinauf. Von dort kommen die Truppen, das Geld, die Organisatoren, die Kanonen, die Maschinengewehre – und all dies so am lichten Tag, daß es wohl nicht gut angehen kann, diese Revolution als eine national-mexikanische zu bezeichnen. Kein Einsichtiger kann leugnen, daß dieser Aufruhr wenn schon nicht angezettelt, so doch von Nordamerika unterstützt wird.

Von Nordamerika. Man darf nicht sagen, von der Regierung der Vereinigten Staaten, die ja in zahlreichen Kundgebungen versichert hat, sie hoffe, daß Porfirio Diaz die Revolution niederschlagen würde (indes die Bahnen täglich Ladungen neuer Revolutionstruppen und Gewehre über die Grenze befördern). Aber die Kriege von heute entstehen oft nicht aus dem Willen der Völker, sondern durch die treibende Kraft einzelner mächtiger Kapitalsgruppen. Und die Situation ist in Mexiko fast identisch mit jener anderen tragischen der beiden südafrikanischen Republiken vor dem Boerskrieg. Hier wie dort ein überlegener Nachbar, der über die Grenze schielt, die ungehobene Schätze birgt. Im Transvaal waren es die Diamantenlager, in Mexiko die ungeheuren, nur teilweise erschlossenen Minen, die Schätze an Gold, Kupfer, Silber und anderen ergiebigen Erzen. Amerikanische Gesellschaften haben sie erschlossen, mehr als eine Milliarde Dollars in Mexiko investiert. Aber die mexikanische Regierung, die Gefahr sehend, in die gänzliche finanzielle Abhängigkeit von dem starken Nachbarn zu kommen, nur eine finanzielle Provinz der Vereinigten Staaten zu werden, machte in letzter Zeit die Gründungen nicht allzu leicht, hemmte durch unwillkommene Steuern die allzu rasche amerikanische Expansion. Das Volk selbst, zum weitaus größten Teil dank seiner Gleichgiltigkeit und Schlaffheit in bitterster Armut lebend, sah mit demselben Unmut die kommerziellen Konquistadoren vom Norden, wie vor fünfhundert Jahren die Urmexikaner die Heere des Cortes begrüßt haben mögen. Die amerikanischen Unternehmer fanden Schwierigkeiten, die sie nun mit Gewalt beseitigen möchten. Und sie, die zuerst die Hilfe der amerikanischen Regierung gegen die Unruhen anriefen, die ihre Interessen bedrohten, sie und niemand anderer sind es, die diese Unruhen selbst nähren und provozieren, in der Hoffnung, eine bewaffnete Intervention oder womöglich die Annexion herbeiführen zu können. Amerikanische Unternehmer sind nicht wählerisch in der Wahl ihrer Mittel.

Die Annexion Mexikos, die selbstverständlich offiziell als undenkbar bezeichnet wird, gehört sicherlich in das geheime Zukunftsprogramm der Vereinigten Staaten. Seit der Panamakanal gewissermaßen die äußerste Grenze der Entwicklung der angloamerikanischen Welt angedeutet hat und mit seinen neuen Möglichkeiten die Blicke der Unternehmer auf sich zieht, hat sich der Schwerpunkt der amerikanischen Expansion verschoben. Ursprünglich von Osten nach Westen vordringend, durch Kriege und Verträge die Erwerbung Floridas und Kaliforniens, die Herrschaft beider Meere sich sichernd, brauchte Amerika noch den Abschluß, die Vereinigung der beiden Küsten. Vor Jahren schuf die Pacific-Eisenbahn die Vereinigung, eine rein kommerzielle, der Panamakanal sichert nun auch noch die militärische. Aber der Panamakanal, der Stolz und die kriegerische Hoffnung der Vereinigten Staaten (vor allem in dem Nachtmahrgedanken des japanischen Krieges), ist isoliert in fremdem Gebiet. Nur fünf Meilen rechts und links vom Kanal sind Eigentum der Vereinigten Staaten, wehrlos (und selbst mit Festungen wehrlos) liegt er im fremden Land, getrennt vom Mutterlande, vor allem durch Mexiko, dasselbe Mexiko, dessen integre Erhaltung der amerikanischen Regierung angeblich so sehr am Herzen liegt. Ein Blick auf die Landkarte spricht hier mehr die Wahrheit, als alle Akten und diplomatischen Noten. Sie zeigt, daß nur der Kanal der notwendige Abschluß Panamerikas sein könnte, und drückt bildlich den Gedanken der ganzen ehrgeizigen Nation aus.

Heute ist der Augenblick noch nicht reif. Aber es hatte mitunter den Anschein, als sei er gesucht worden. Denn es ist immer bedenklich, ein Pulverfaß in die Nähe eines Feuers zu stellen. An Anlässen hätte es nicht gefehlt, wäre bisher nicht die mexikanische Regierung mit so außerordentlicher Sorgfalt vorgegangen. Amerikaner wurden gefangen, die Brücken gesprengt hatten, fremdes Staatseigentum beschädigt. Darauf steht in Kriegszeiten selbstverständlich Todesstrafe. Sie wurden gefangengenommen, schon meldete die gelbe Presse die Hinrichtung amerikanischer Staatsbürger. Unruhe flackerte auf. Aber die mexikanische Regierung war vorsichtig, sperrte die Amerikaner nur ein. Weitere Provokationen folgten. Dem Rat der geheimen Drahtzieher gemäß schoben die Insurgenten den Kampf hart an die Grenze, wo die Möglichkeit eines Irrtums oder Mißgriffes leichter möglich war. Tatsächlich konnten die amerikanischen Blätter melden, amerikanische Bürger seien auf amerikanischem Gebiet verletzt worden. Wiederum Erregung, künstlich genährte Erregung. Aber die mexikanische Regierung dementierte: es waren die Insurgenten gewesen, die den alten Polizeikniff angewendet hatten. So ließ Cortez einen Pfeil abschießen, um zur Attacke einen Anschein zu haben: selbst in Mexiko war das Vorgehen nicht mehr neu. Es ist bisher unmöglich gewesen (durch das geschickte Verhalten des klugen Porfirio Diaz und seiner Regierung) eine wirkliche Volkserregung in den Vereinigten Staaten zu erzeugen. Wohl aber wächst langsam und sicher, genährt von den spanischen Priestern, in Mexiko das Bewußtsein der Gefahr heran, und selbst die Maderos scheinen zu erkennen, daß sie niemals auf Popularität rechnen können, wenn sie mit amerikanischen Truppen in Mexiko einziehen. Porfirio Diaz wiederum ist bereit, zu resignieren, will augenscheinlich nur den Schein des freien Willens wahren. Der Schatten der amerikanischen Invasion, der vielleicht zu früh, zu plump heraufbeschworen war, dürfte im Volke etwas wie Nationalgefühl erweckt haben. Und es scheint, daß Mexiko für diesmal sich selbst politisch erhalten bleibt: finanziell ist es Europa und sich selbst längst verloren. Von Kanada bis zum Kap Horn hat heute nur mehr eine Münze vollen Klang: der amerikanische Dollar. Kuba, Westindien sind ihm schon untertan, aber die Expansion dieses Landes, dieses Volkes, das seit hundertfünfzig Jahren gewohnt ist, nur im Unermessenen zu schalten, ist noch lange nicht erschöpft, und nun, da im eigenen Lande die wichtigsten Bahnen gebaut, der Boden besiedelt, die Erze entdeckt, die Wälder abgeholzt sind, drängt sich mit doppelter Wucht die gestaute Kraft der jüngsten Nation gegen Süden, Osten und Westen. Mexiko ist der erste große Staat, der den Ansturm zu fühlen hatte, und zu schwach, ihn mit Waffen zu bestehen, hat es diesmal nur die Probe zu leisten, ob es geschickt und glücklich genug ist, ihm auszuweichen und wenn nicht die volle Unabhängigkeit, so doch ihren Schein zu bewahren.

Heimfahrt nach Österreich

Ostende, der Strand und das Meer: gegen den weißen Villenrand schmiegt sich unendliches Blau, Welle und Himmel. Dazwischen bunt ein gemächlicher Wirbel gelassener Menschen, auf und nieder, auf und nieder, sich zu sehen, sich zu fühlen in der klaren, durchleuchtenden Luft, alles zu genießen, den Himmel und das Meer, den Luxus und die Schönheit, den Reichtum und die Rast. Aber seit Tagen kann man nicht mehr mit. Der ganze Tag ist plötzlich fiebrig geworden, man wartet nur, wartet, bis mittags die Zeitungen kommen, die Nachrichten aus Paris, aus der Welt. Dieser Schrei, zuerst fern, dann nah aus den Gassen: ›Le Matin‹, ›Le Journal‹, ›L’Echo de Paris‹, wie man ihm entgegenstürmt! Einer reißt dem andern die Blätter weg, und schon stürmt er weiter, der Schrei, die Dique entlang, und verlischt schließlich im Anbrausen der Wellen, im Rauschen der Stadt.

Man faßt die Zeitungen, blättert sie auf, die widerstrebenden, gegen den Wind, um die Nachrichten zu fassen. Nur die Nachrichten! Denn das andere kann man nicht lesen in diesen französischen Blättern: es tut zu weh, es reizt auf, es erbittert. Man kann es nicht mehr lesen, Österreich wolle die slawische Welt vergewaltigen, und Deutschland, das brutale, sei hungrig nach Krieg. Hundertmal hat man gelächelt, über die Rodomontaden in Paris, in der Welt, aber heute, in der Stunde der Entscheidung, werden sie plötzlich glühheiß und verbrennen einem die Lippen, die nicht antworten können auf das geschriebene Wort. Französisch, die Sprache, der man durch Jahre in Liebe und Neigung gedient, mit einem Male klingt sie feindlich. Man fühlt sich umstellt, umlauert, in einem Netz von Unwahrheit und Gehässigkeit gefangen, und fühlt, nur eines kann einen jetzt frei machen, Flucht, die Heimkehr nach Österreich. Ohne Zwang auch spürt man, jetzt müsse jeder nahe sein, all dies, was ein Land bewegt, nicht außen fühlen an den letzten erkaltenden Nervenfasern, sondern heiß mitten innen im Blut, im Herzen, in der Hauptstadt.

Fühlen’s die andern auch? Ist der Ruf allen so stark in dieser Stunde? Zwingt sie alle jetzt so übermächtig die Schwerkraft der Gefahr, die Wucht der Gemeinsamkeit? Es scheint so zu sein, denn in zwei, in drei Tagen entvölkert sich der Strand. Im Bureau der Schlafwagen ist ein Wirbel von Menschen, dazwischen klingelt das Telephon, fliegen die Telegramme. Und auf dem Bahnhof, den man froh erreicht, türmen sich die Gepäckstücke zu hohen Barrikaden. Wagen auf Wagen saust heran, alles will nach Deutschland, nach Österreich, eine lärmende, unruhige Masse ergießt sich gegen den Bahnhof, es ist, als wollte sich die ganze Stadt mit einem Male schwarz ausschütten in diese zwanzig, dreißig Waggons. Die Speisewagen, die Gänge, alles ist umstellt und besetzt, immer aber kommen noch andere: selbst hier im unparteiischen, friedlichen Land hat man plötzlich eine Vision der tragischen Leidenschaft, die morgen und übermorgen vielleicht durch zehntausend Städte der Alten und Neuen Welt zittern wird.

Endlich fährt der Zug. Aber die Unrast ist mit. Ein Fieber ist in allen Reisenden. Wie im Käfig die Tiere, so gehen sie auf und nieder durch die Gänge, niemals habe ich so viel Bewegung gesehen in einem Zug. Fremde sprechen sich an: jeder hat das Bedürfnis nach dem Wort, nach der Entladung des Gefühls, jeder ist dem anderen gefällig aus unbewußter Brüderlichkeit des Empfindens. Wie langsam doch die Stationen sich zu folgen scheinen im fliegenden Zug: von jeder erwartet man Nachricht, Zeitungen, Telegramme. Bei jeder Stadt springen ein paar Eilige vor, Nachricht zu erhaschen, Gerüchte schwirren auf – niemand weiß, wie sie Einlaß fanden in die sausenden Wagen – Rußland habe den Krieg erklärt. Und im nächsten Augenblick ist es wieder nicht wahr, aber das Fieber brennt und brennt und brennt, jedem ist das Datum der Zeit mit feurigen Lettern ins Blut geschrieben.

Endlich Herbesthal, die deutsche Grenze. Der Zug hält vor der Station in der tiefen Nacht, die viele rote Lichter unruhig durchfunkeln, hält eine Viertel-, eine halbe Stunde. Und schon so geringfügige Begebenheit zeugt tausend Vermutungen, von deutscher Mobilisierung, von verlegten Strecken. Das Gehirn ist so voll von all diesen Vorstellungen, daß flüchtigster Anreiz genügt, sie bildkräftig zu machen, es ist so vollgeschürt von bösen Träumen, daß ein Anhauch der Wirklichkeit genügt, sie aufflackern zu lassen und das Blut zu entzünden.

Aber dann fährt der Zug ein, still und friedlich. Man fühlt Deutschland und damit eine tiefe Entspannung. Nun kann man schlafen gehen, ruhen, alle diese Fragen zu vergessen suchen, auf die erst in Tagen das Geschick seine Antwort hat; man kann ruhen: man ist in Deutschland. Und doch: es ist nur der Gedanke wieder, der einen morgens so früh aufschreckt. Nachrichten, wo sind Nachrichten? Es ist lächerlich, man weiß es, Neues haben zu wollen und Wahrhaftiges von jeder Stunde, aber man will jetzt etwas lesen, Beruhigung oder Aufpeitschung, aber nur lesen, etwas schwarz vor den Augen in Lettern flimmern sehen, neue Nahrung haben für seine Unrast, Kohle für die Glut. Wenn nur eine Station käme mit Menschen, mit Worten, mit irgendeinem Gift gegen diese Unsicherheit, gegen diese höchste Unsicherheit, die wir alle in allen unseren Jahren erlebt haben, ob er, der größte Krieg, ausbricht, den die Neuzeit kannte. Nein, man schämt sich nicht mehr dieser Ungeduld, nie war sie, jetzt weiß man es, an größeres Ziel gewandt als dieses Mal, und der Mensch wäre einfältig und verächtlich, der in diesen Stunden, in diesen Tagen – die feurigen Lettern der Weltgeschichte vielleicht sein werden – nicht bebte bis zur untersten Wurzel seines Wesens.

Endlich Nürnberg: in der Einfahrt schon grüßt man die uralte Stadt, die unerschütterliche Warte deutscher Art. Und wie man jetzt die Häuser blinken sieht, hell, stark und rein, die Fabriken in stolzer Geschäftigkeit, die sichere Regelung in Gleis und Haus, da überkommt einen wieder freudig – wie so oft – die Ahnung deutscher Kraft. Und man fühlt in dieser einen alle deutschen Städte, das ganze, weite, fruchtbare Land, die Stärke und Entschlossenheit der Nation, und atmet Beruhigung. Denn dies, man weiß es gewiß, ist unzerstörbar und unbesieglich, nichts kann die Festigkeit brechen, die in solchem ehernen Gefüge ruht.

Aber doch: man ist schon unruhig, zur letzten Grenze zu kommen, nach Österreich. Regensburg fliegt vorbei – zu langsam für unseren Wunsch – endlich grüßt Passau, das von Inn und Donau, den Flüssen Österreichs, so schön umschlossene. Nichts deutet auf Krieg, und fast hebt sich das Herz, um Freude zu haben an der lieblichen Landschaft. Dann Wels – ein Kondukteur bringt die Botschaft, die allgemeine Mobilisierung sei angeordnet, und in Linz sehen wir schon die ersten Reservisten, ernst und gelassen. Immer langsamer scheint der Zug zu werden, der doch hinfliegt auf den heißen Rädern, man möchte schon Wien sehen, die Hauptstadt, und ihr Herz hören in dieser Stunde. Draußen liegt lieblich das Land. Zutraulich beugen sich die Wälder von ihren Hügeln bis an die Bahn heran und auf den Feldern weisen die gehäuften Garben tätigen Fleiß; Ruhe aber liegt über allem und ein sonntäglicher Glanz, und hier, hinter der berußten Scheibe, ahnt man nichts von der ernsten Sorge des Landes und fühlt nur seine Anmut, die unvergängliche, die Schönheit der Welt um Wien.

Und dann noch die letzten Namen, Purkersdorf, Weidlingau – man kann sie nicht lesen, so rasch rattert der Zug vorbei, aber man kennt sie an Baum und Strauch. Endlich der Bahnhof – ein paar Leute, die warten, und dann endlich mit dem Wagen durch die Gassen. An jeder Ecke sieht man um die weißen Plakate der Mobilisierung kleine Gruppen, die ernst die ernste Mahnung lesen. Nichts scheint verändert, nur eine seltene Bedachtsamkeit in allen Zügen, eine tiefe Stille im Wesen aller, die einem begegnen: man spürt, daß heute keiner von den vielen Tausenden lässig oder heiter hinschreitet, sondern zu jedem die ernste Stunde sein Wort gesprochen hat. Es ist nicht das sorglose, genießerische Wien von sonst und jene spielerische Heiterkeit und ewige Drahrerstimmung, die alle Fremden so lieben und die einem durch ihre unerschütterliche Leichtsinnigkeit oft zu Überdruß wird, sie ist hingeschwunden. Das Lächeln ist fort von dem Antlitz und in ihren ernsten Zügen liest man Ergriffenheit und eine fast feierliche Weihe. Manifestationen bekunden laut festliche Entschlossenheit, und aus vielfältigem stillen Gespräch fühlt man, wie sehr ein jeder diesmal bewußt ist, daß es ums Ganze geht und um das Notwendige. Ich möchte es in meinem Leben nicht missen, diese sonst so frohberühmte Stadt gesehen zu haben, wie sie in ernster Stunde sich eine edle und neue Würde fand, eine Stille, die schöner tönte als sonst ihre Musik, und eine sinnende Ruhe, die mir wertvoller dünkte, als sonst ihre heitere Bewegtheit. Nie ist sie mir liebenswerter erschienen, und ich freue mich, gerade in dieser Stunde den Weg zu ihr gefunden zu haben.

Ein Wort von Deutschland

Mit beiden Fäusten, nach rechts und links, muß Deutschland jetzt zuschlagen, der doppelten Umklammerung seiner Gegner sich zu entwinden. Jeder Muskel seiner herrlichen Volkskraft ist angespannt bis zum Äußersten, jeder Nerv seines Willens bebt von Mut und Zuversicht. Erstarkt in mehr als vierzig fruchtbaren Friedensjahren und doch keineswegs verweichlicht in ihnen, ehern gerüstet durch das stete Bewußtsein reger Feindesnähe und in all diesen Friedensjahren in jeder Minute zum Krieg bereitet durch jenen besonnenen Ernst der Voraussicht, der wertvollstes Merkmal deutschen Wesens bildet, tritt es an unsere Seite zur Schwertbruderschaft. Aus freundschaftlicher Nachbarschaft ist Einheit geworden, Deutschlands Los ist mit dem unseren unlösbar zusammengeschweißt von dieser heißen Stunde. Und jeder Gedanke in Österreich, der jetzt in Sorge oder Hoffnung nur unser Geschick bedächte und nicht auch das deutsche, wäre Untreue gegen eine große Treue und von gefährlicher Eigensucht.

Und es gibt kein anderes Gedenken an Deutschland als das der vollen, bedingungslosen Zuversicht. Eben an der Dunkelheit dieser Stunde wird sich besser als je das Geheimnis der deutschen Stärke vor den Blicken der Welt abzeichnen: die Meisterschaft seiner Organisation. Organisation, das ist geordnete Kraft, sinnvolle Verteilung aller Komponenten der Leistung zu einem höchstmöglichen Resultat. Und es ist Ruhm und Größe der deutschen Nation, daß sie wie keine andere ihre eigene Kraft zu meistern und zu nutzen weiß. Sie ist das Musterbeispiel einer Präzisionsberechnung im lebendigen Material, einer Vereinheitlichung des Lebenswillens in nationale Größe. So wie Deutschland aus seinem Ackerboden unter allen Ländern die höchste Quantität des fruchtbaren Ertrages durch geistig geregelte körperliche Leistung erzwingt, so gestaltet es auch aus seiner Millionenmasse das Höchste an moralischer Tatkräftigkeit und sittlicher Energie. Dieser ganze ungeheure Organismus verwandelt sich bei Angriff oder Abwehr in einen prachtvollen Mechanismus, in dem jeder einzelne Wille funktioniert wie die Feder im Uhrwerk, kein Atom der Volkskraft wird in der Stunde der Not brach liegen oder durch Nachlässigkeit verschwendet sein. Durch diese einzige Konzentrierung der Kraft darf es Deutschland beruhigt wagen, gleich großen und vielleicht größeren, bei weitem aber nicht so organisierten Kräften sich unbesorgt entgegenzustellen und seiner Stoßgewalt im Kriege zu vertrauen.

Und doch, diese deutsche Organisation, die Bewunderung der ganzen kultivierten Welt, sie bliebe ohnmächtig, wäre sie nur Produkt einer klugen Politik, einer staatlichen Leistung ein äußeres Schema, der Masse eingedrillt als ein Fremdes und Künstliches. Aber diese musterhafte Organisation ist doppelt wirksam, weil sie von innen, aus dem Willen der Rasse, aus der Zucht jedes Charakters geschaffen ist, weil hier der Gesamtwille im steten rhythmischen Einklang ist mit dem inneren Einzelwillen. Jeder einzelne ist dort so geordnet, daß alle seine Willenskräfte einheitlich wirkend gruppiert sind um einen innern Kern, um das Wertvollste des moralischen Bestandes, um das Pflichtgefühl, das seit Jahrhunderten zur Norm und Lebensform jedes Individuums sich gehärtet hat. In Deutschland ist die Religion entstanden, die alle wichtigen Entschließungen und die letzten Entscheidungen der Moral einzig der innern Pflicht anheimgibt, in Deutschland die Philosophie, die den Pflichtgedanken zum kategorischen Imperativ aller Tätigkeit erhebt. Restlose Unterordnung des Einzelnen unter den Gesamtwillen, Disziplin des Egoismus zum Gemeingefühl ist die erhabene Formel, die sechzig Millionen Deutscher in den Tagen der Not in eine einzige Masse verwandelt, eine einlinig wirkende ungeheure Kraft, deren Stärke sich ruhmvoll auch an dem furchtbarsten Gegner erproben wird.

Jeder von uns hat in den Jahren des Friedens mit Bewunderung die Resultate dieses zielbewußt vereinheitlichten nationalen Willens gesehen. Immer, wenn wir die Grenze überschritten, war Staunen unser erstes Gefühl, wie sicher und schön hier die Städte blühten und in majestätischer Entfaltung eine noch junge Nation sich der Hegemonie der Leistung annäherte. Vor fünfundzwanzig Jahren noch tributpflichtig an England im Schiffsbau, hat es sich eine Flotte geschaffen von seltener Kraft, in Hamburg rollten die größten, die schönsten und schnellsten Schiffe der Welt nieder in den eroberten Ozean. Aus jahrhundertelanger Armut war in vierzig Jahren redlicher Arbeit gesunder Reichtum emporgeblüht, der in Kunst und Wissenschaft seine höchsten Ziele fand, mit eiserner Beharrlichkeit sahen wir diese Nation vorschreiten in die erste Reihe der Völker und in allen Teilen der Erde sich Bewunderung erzwingen. Mit neidvoller Sehnsucht – wir dürfen es heute gestehen in dieser Stunde – hat jeder von uns dann oft hinübergeblickt und gefühlt, daß an keinem Lande wir mehr für das eigene lernen könnten an Zucht des Willens und Verwertung der Kräfte, es war Seligkeit, in der Stille des Friedens den Rhythmus dieses Landes zu hören, der aus geeintem gesunden Herzen schlug. Und gerade solche grandiose Leistung des Friedens läßt uns, die Verbündeten, heute doppelt vertrauen auf die deutsche Leistung im Kriege.

Dieses große gesunde Vertrauen zu Deutschland ist heute ein unschätzbarer Teil unserer Kraft und unserer Zuversicht. Blut bildet diesen Bund und des Geistes sinnlichste Form, die gemeinsame Sprache. Nicht wie bei Frankreich und Rußland sind hier heterogene Elemente nur durch das Medium des gemeinsamen Vorteils zusammengeschmiedet, zwischen Deutschland und Österreich ist eine Bindung, die nicht im Äußern wurzelt, sondern im lebendigen fruchtbaren Humus unseres Empfindens. Von je war Deutschland uns niemals ganz Ausland, niemals Fremde, jede Stadt Teil unserer geistigen Heimat, ihre Dichter, ihre Meister, ihre Gelehrten die unseren, und die unseren die ihren. Aber nie war unsere Zusammengehörigkeit so stark wie in dieser Stunde, und wenn auch die Grenzpfähle fest eingerammt bleiben in der Erde, unser Gefühl hat die Grenzen überflutet und kennt in diesen Tagen kein Hüben und kein Drüben mehr. Im Wetteifer der beiden Armeen um die Siege muß es neidlose Freude sein, gute Nachricht im eigenen Lager durch noch bessere von verbündeten Waffen überholt zu sehen, alle Unterschiede müssen heute untergehen im Gefühl gemeinsamer Not und gemeinsamer Pflicht. Deutschlands Sorge ist heute eins mit der unseren, seine Freude unsere Freude, und jeder Kämpfer unter seinen Fahnen ein Mann aus unserer Mitte.

Die schlaflose Welt

Es ist weniger Schlaf jetzt in der Welt, länger die Nächte und länger die Tage. In jedem Lande des unendlichen Europa, in jeder Stadt, jeder Gasse, jedem Haus, jedem Gemache ist der ruhige Atem des Schlummers gekürzt und verfiebert, wie eine einzige schwüle erstickende Sommernacht glüht die feurige Zeit in die Nächte nieder und macht die Sinne wirr. Wie viele hüben und drüben, die sonst sanft in der schwarzen Barke des Schlafs – bewimpelt mit bunten und flatternden Träumen – hinüberglitten vom Abend in den Morgen, hören jetzt nachts die Uhren wandern, wandern und wandern den ganzen ungeheuren Weg vom Licht zum Licht, und fühlen innen den Holzwurm der Sorgen und Gedanken unablässig fressen und nagen, bis das Herz ihnen wund wird und krank. Eine ganze Menschheit fiebert jetzt nachts und tags, furchtbare übermächtige Wachheit funkelt durch die aufgereizten Sinne von Millionen, Schicksal dringt unsichtbar durch die Tausende Fenster und Türen und scheucht den Schlummer, scheucht das Vergessen von jeder Lagerstatt. Es ist weniger Schlaf jetzt in der Welt, länger die Nächte und länger die Tage.

Keiner ist jetzt allein mit sich und seinem Schicksal, jeder späht aus sich hinaus in die Ferne. Nachts, in der Stunde, da er allein liegt und wach im geschützten, verriegelten Haus, fliegen seine Sinne zu Freunden und Fernen: vielleicht wird zu dieser gleichen Stunde irgendein Teil seines Schicksals erfüllt, ein Reitersturm in einem galizischen Dorfe, ein Überfall zur See, all das, was zu ebendieser Sekunde tausend und Tausende Meilen weit geschieht, hat Bezug auf sein Leben. Und die Seele weiß es, sie dehnt sich und möchte in Ahnung, in Sehnsucht etwas fassen davon, feurig ist die Luft von Wünschen und Gebeten, die jetzt von einem Ende der Welt zum anderen hin und wider fliegen. Tausendfaches Gedenken ist rastlos unterwegs, von den schweigenden Städten zu den Lagerfeuern, von einsamer Feldwacht zur Heimat zurück, von den Nahen zu den Fernen schweben unsichtbare Fäden der Liebe und Besorgnis, ein Gespinst des Gefühls, ein unendliches, überflicht jetzt allnachts, alltags die Welt. Wieviel Worte werden jetzt geflüstert, wieviel Gebete dem anteilslosen Raum gesagt, wieviel sehnende Liebe schwingt durch jede Stunde der Nacht! Die Luft zittert unablässig von geheimnisvollen Wellen, für welche die Wissenschaft keinen Namen kennt und deren Beben kein Seismograph zu messen weiß: aber wer vermöchte zu sagen, ob sie ganz ohnmächtig sind, diese Wünsche, ob nicht dies ungeheure, aus den untersten Tiefen der Seele glühende Wollen auch so die Ferne überschwingt wie die Vibrationen der Töne und die elektrische Zuckung? Wo sonst Schlaf war, wesenlose Rast, ist jetzt bildernder Drang: immer und immer wieder müht sich die Seele, durch das nächtige Dunkel die Entfernten zu sehen, die ihr teuer sind, und in der Phantasie erlebt jetzt jeder vielfaches Geschick. Tausend Gedankengänge durchhöhlen den Schlaf, immer und immer stürzt sein schwankes Gebäude wieder zusammen und leer wölbt sich über den Einsamen das bildreiche Dunkel. Und, wacher des Nachts, sind die Menschen jetzt auch wacher des Tags: in den einfachsten Personen, denen man begegnet, ist in diesen Stunden etwas lebendig von der Macht des Redners, des Dichters, des Propheten, das Geheimnisvollste im Menschen ist durch den ungeheuren Druck der Tatsachen gleichsam nach außen gepreßt, jeder einzelne gesteigert in seiner Vitalität. So wie dort draußen im Felde jetzt aus schlichten Bauern, die still und friedlich ein Leben lang ihr Feld bestellten, in erregter Stunde plötzlich das Heldische, das Heroische sich entzündet, so flammt hier aus sonst ganz dunklen und beschwerten Menschen die Fähigkeit der Vision; jeder und jeder erlebt in seinem innern Schauen weit über den gemeinen Kreis seiner Existenz hinaus, und wer sonst nur auf sein Tagewerk blickt, spürt nun in jeder Nachricht beseelte Wirklichkeit und Bild. Immer und immer wieder durchackern jetzt die Menschen mit Sorgen und Visionen die unfruchtbare Scholle der Nacht, und sinken sie endlich hin in den Schlaf, so fühlen sie fremde Träume. Denn das Blut ist heißer in ihren Adern, und aus dieser Schwüle blühen tropische Gewächse des Grauens und der Besorgtheit, Träume, aus denen es Seligkeit ist, zu erwachen und zu fühlen, daß sie unnützer Alpdruck waren und nur jener entsetzlichste Traum der Menschheit furchtbare Wahrheit: der Krieg aller gegen alle.