12,99 €
Ihr Leben ist eine ewige Party mit immer neuen Cocktails und neuen Melodien des Jazz Age. Gloria und Anthony sind Dandys: exzentrisch, jung, schön, verschwenderisch und verdammt. Denn alles endet in einem schrecklichen Kater. Ein Roman, wie Liebende galant zur Hölle fahren, vom schillerndsten Vertreter der Lost Generation.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 668
F. Scott Fitzgerald
Die SchönenundVerdammten
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Hans-Christian Oeser
Mit einem Nachwort von
Manfred Papst
Titel der 1922 bei Charles Scribner’s Sons, New York, erschienenen Originalausgabe: ›The Beautiful and Damned‹
Die vorliegende Übersetzung erschien erstmals 1998 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Grafik von Georges Lepape, für das Titelbild von Vogue/USA, März 1927 (Ausschnitt)
Alle Rechte vorbehalten
Copyright © 2023
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23694 1
ISBN E-Book 978 3 257 60271 5
[5] Für Shane Leslie, George Jean Nathan
und Maxwell Perkins
zum Dank für ihre großzügige
literarische Unterstützung
und Ermutigung
[9] Erstes Buch
[11] Anthony Patch
1913, Anthony Patch zählte fünfundzwanzig Jahre, waren bereits zwei Jahre verstrichen, seit sich – wenigstens theoretisch – Ironie, der Heilige Geist unserer Tage, auf ihn ausgegossen hatte. Ironie war das letzte Wienern des Schuhs, der abschließende Tupfer der Kleiderbürste, eine Art intellektuelles »Na bitte!« – nun, zu Beginn dieser Geschichte hat er es bis zum bewussten Stadium gebracht. Als man ihn das erste Mal zu Gesicht bekommt, fragt er sich häufig, ob er nicht ehrlos und leicht verrückt sei, etwas schändlich und abscheulich Dürftiges, das auf der Oberfläche der Welt schillert wie Öl auf einem klaren Teich. Selbstverständlich wechseln sich diese Momente mit jenen ab, da er sich eher für einen außergewöhnlichen jungen Mann hält: überaus kultiviert, seiner Umgebung gut angepasst und um einiges bedeutender als jeder andere, den er kennt.
Dies war ein gesunder Geisteszustand, der ihn auf intelligente Männer und auf alle Frauen munter, angenehm und äußerst attraktiv wirken ließ. In diesem Zustand traute er sich zu, eines Tages etwas verhalten Feinsinniges zu vollbringen, dessen Wert von wenigen Auserwählten erkannt werden würde, und hielt es für möglich, dass er sich nach seinem Hinscheiden in einem nebelhaften, unbestimmten Himmel auf halbem Wege zwischen Tod und [12] Unsterblichkeit den schwächer leuchtenden Sternen zugesellen würde. Bis zu dieser Anstrengung wäre er, Anthony Patch – nicht eben ein Bild von einem Mann, aber doch eine ausgeprägte und dynamische Persönlichkeit, von sich eingenommen, hochmütig, von innen heraus handelnd –, ein Mann, der sich bewusst war, dass es kein Ehrgefühl geben kann, und dennoch welches besaß, der die Sophisterei des Muts durchschaute und dennoch unerschrocken war.
Ein würdiger Mann und sein begabter Sohn
Anthony bezog sein Gefühl gesellschaftlicher Sicherheit aus dem Umstand, dass er der Enkel von Adam J. Patch war; wenn er seine Abstammung bis zu den Kreuzrittern übers Meer hätte zurückverfolgen können, wäre es auch nicht ausgeprägter gewesen. Denn ein Adel, der ganz auf Geld gegründet ist, verlangt vor allem Wohlstand – die Bewohner Virginias und Bostons ausgenommen…
Adam J. Patch, besser bekannt unter dem Namen »Cross Patch«, hatte Anfang 1861 die Farm seines Vaters in Tarrytown verlassen, um in ein New Yorker Kavallerieregiment einzutreten. Aus dem Krieg kehrte er als Major heim, eroberte Wall Street im Sturm und häufte unter viel Wirbel, Wut, Beifall und bösem Blut ein an die fünfundsiebzig Millionen Dollar umfassendes Vermögen an.
Dieses nahm seine Kräfte bis zu seinem siebenundfünfzigsten Lebensjahr in Anspruch. Dann, nach einem schlimmen Anfall von Sklerose, beschloss er, den Rest seines Lebens der sittlichen Erneuerung der Welt zu weihen. Er [13] wurde zu einem Reformer unter Reformern. Er versuchte, es den großartigen Anstrengungen Anthony Comstocks, nach welchem sein Enkel benannt war, nachzutun, und versetzte dem Alkohol, der Literatur, dem Laster, der Kunst, den Pillen und dem Sonntagstheater eine bunte Abfolge von Haken und Schlägen. Unter dem Einfluss jenes heimtückischen Mehltaus, der letztlich mit wenigen Ausnahmen alle befällt, gab sich sein aufbrausendes Temperament jeder Entrüstung des Zeitalters hin. Von einem Sessel im Büro seines Guts in Tarrytown aus leitete er gegen das Gespenst eines gewaltigen Feindes, die Sündhaftigkeit, einen Feldzug, der über fünfzehn Jahre anhielt. Während dieser Zeit erwies er sich als fanatischer Monomane, ausgesprochene Landplage und unerträglicher Langweiler. In dem Jahr, da unsere Geschichte beginnt, war er bereits abgekämpft; sein Feldzug war ziellos geworden; langsam überlagerte 1861 das Jahr 1895; in Gedanken befasste er sich ausführlich mit dem Bürgerkrieg, weniger ausführlich mit seiner verstorbenen Frau und seinem verstorbenen Sohn und so gut wie gar nicht mit seinem Enkel Anthony.
Zu Beginn seiner Karriere hatte Adam Patch Alicia Withers geheiratet, eine anämische Dame von dreißig Jahren, die hunderttausend Dollar und ein untadeliges Entree in die New Yorker Bankierskreise mit in die Ehe brachte. Diese hatte ihm unverzüglich und ziemlich draufgängerisch einen Sohn geboren und sich fortan, als sei sie von der Erhabenheit dieser Leistung vollkommen entkräftet, in die dämmrigen vier Wände des Kinderzimmers zurückgezogen. Der Knabe, Adam Ulysses Patch, entwickelte sich zu einem eingefleischten Klubgänger, Kenner des guten Tons und [14] Tandemfahrer – seine Memoiren unter dem Titel Meine Erlebnisse in der New Yorker Gesellschaft begann er im erstaunlichen Alter von sechsundzwanzig Jahren. Als sich die Idee zu diesem Werk herumsprach, machten die Verlage eifrig Angebote; da es jedoch, wie sich nach seinem Tod herausstellte, übermäßig langatmig und überwältigend langweilig war, kam es nicht einmal als Privatdruck heraus.
Mit zweiundzwanzig trat dieser Chesterfield der Fifth Avenue in den Ehestand. Seine Frau war die Altistin Henrietta Lebrune, die Bostoner Salon-Sängerin, und auf Bitten des Großvaters wurde das einzige Kind dieser Verbindung auf den Namen Anthony Comstock Patch getauft. Als er nach Harvard ging, fiel der Name Comstock weg, geriet in die Vergessenheit des Hades und ward seitdem nie mehr gehört.
Der junge Anthony besaß ein Bildnis von seinen Eltern – als Kind hatte er es so oft vor Augen gehabt, dass es die Unpersönlichkeit von Möbelstücken angenommen hatte, doch jeder, der in sein Schlafgemach trat, betrachtete es mit Interesse. Es zeigte einen Dandy der Neunziger, schlank und ansehnlich, der neben einer hochgewachsenen, dunkelhaarigen Dame mit Muff und der Andeutung einer Turnüre stand. Zwischen ihnen war ein kleiner Junge mit langen braunen Locken zu sehen, angetan mit einem Samtanzug à la Lord Fauntleroy. Das war Anthony mit fünf, im Sterbejahr seiner Mutter.
Seine Erinnerungen an die Bostoner Salon-Sängerin waren verschwommen und von Musik geprägt. Sie war eine Dame, die im Musikzimmer ihres Hauses am Washington Square sang, sang und abermals sang – zuweilen saßen Gäste [15] um sie her, die Männer wippten mit verschränkten Armen und angehaltenem Atem auf Sofakanten, die Frauen hatten die Hände in den Schoß gelegt und raunten den Männern gelegentlich etwas zu, applaudierten stets sehr lebhaft und stießen nach jedem Lied leise Schreie des Entzückens aus – oft sang sie auch für Anthony allein, auf Italienisch, Französisch oder in einem seltsamen und entsetzlichen Dialekt, den sie für die Mundart der Südstaatenneger hielt.
Seine Erinnerungen an den ritterlichen Ulysses, den ersten Mann in Amerika, der seine Mantelaufschläge hochstellte, waren sehr viel lebhafter. Nachdem Henrietta Lebrune Patch »einem anderen Chor beigetreten« war, wie ihr Witwer von Zeit zu Zeit mit heiserer Stimme bemerkte, wohnten Vater und Sohn beim Opapa in Tarrytown, und täglich kam Ulysses in Anthonys Schlafzimmer und brachte mitunter fast eine Stunde lang angenehm vollmundige Worte hervor. Ständig versprach er Anthony Jagdreisen und Angelfahrten und Ausflüge nach Atlantic City – »ah, jetzt ist es bald so weit« –, doch keine dieser Unternehmungen wurde jemals durchgeführt. Eine Reise freilich kam zustande: Als Anthony elf war, fuhren sie ins Ausland, nach England und in die Schweiz, und dort, im besten Hotel Luzerns, schwitzend, ächzend und laut nach Luft japsend, starb sein Vater. Von Verzweiflung und Entsetzen gepackt, wurde Anthony nach Amerika zurückgebracht, wo er sich einer düsteren Schwermut vermählte, die bis ans Ende seiner Tage nicht mehr von ihm weichen sollte.
[16] Vergangenheit und Persönlichkeit des Helden
Mit elf graute ihm vor dem Tod. Innerhalb von sechs für Eindrücke besonders empfänglichen Jahren waren seine Eltern gestorben, und seine Großmutter war fast unmerklich dahingewelkt, bis sie endlich, zum ersten Mal seit ihrer Heirat, einen Tag lang die unbestrittene Herrschaft über ihren Salon ausübte. So war das Leben für Anthony ein Kampf gegen den Tod, der an jeder Ecke lauerte. Seiner hypochondrischen Einbildungskraft zuliebe nahm er die Gewohnheit an, im Bett zu lesen – es beruhigte ihn. Er las, bis ihm die Augen zufielen, und schlief oft ein, ohne das Licht zu löschen.
Bis zum Alter von vierzehn Jahren war sein liebster Zeitvertreib seine riesige Briefmarkensammlung, die so weitgehend vollständig war, wie es die eines Jungen sein konnte – törichterweise bildete sein Großvater sich ein, ihm auf diese Weise Geographie beibringen zu können. So pflegte Anthony Korrespondenz mit einem halben Dutzend Firmen für Briefmarken und Münzen, und fast täglich brachte ihm der Postbote neue Briefmarkenalben oder Packungen mit glänzenden Probebogen. Seine Erwerbungen unaufhörlich von einem Album ins andere umzustecken, übte einen geheimnisvollen Zauber auf ihn aus. Seine Marken waren sein größtes Glück, und jeden, der ihn bei seinem Spiel unterbrach, bedachte er mit einem ungeduldigen Stirnrunzeln. Sie verschlangen sein monatliches Taschengeld, und nachts lag er wach und sann unermüdlich über ihre Vielfalt und Farbenpracht nach.
Bis sechzehn hatte er fast ausschließlich in sich gekehrt [17] gelebt, ein nicht sehr wortgewandter, durch und durch unamerikanischer Junge, der sich von seinen Altersgenossen artig verwirrt zeigte. Die beiden vorangegangenen Jahre hatte er in Europa verbracht, mit einem Privatlehrer, der ihn von den Vorzügen Harvards überzeugte: Die Universität werde ihm »Türen aufschließen«, sie sei ein ungeheures Stimulans und werde ihm ungezählte aufopferungsvolle und anhängliche Freunde bescheren. So ging er nach Harvard – es gab nichts anderes, was sich vernünftigerweise mit ihm anstellen ließ.
Repräsentation war ihm fremd, und so wohnte Anthony eine Weile allein und unerwünscht in einer Dachkammer in Beck Hall – ein schlanker, dunkelhaariger Bursche mittlerer Statur mit einem schüchternen, empfindsamen Mund. Sein Monatswechsel fiel mehr als großzügig aus. Er legte den Grundstock zu einer Bibliothek, indem er bei einem hausierenden Büchernarren Erstausgaben von Swinburne, Meredith und Hardy sowie das vergilbte, unleserliche Autograph eines Briefes von Keats erstand – später fand er heraus, dass ihm entschieden zu viel berechnet worden war. Er wurde ein exquisiter Dandy und erwarb eine ziemlich pathetische Kollektion seidener Pyjamas, brokatener Morgenmäntel und ausgefallener Krawatten, die zu ausgefallen waren, als dass er sie hätte tragen können; in diesem heimlichen Putz prunkte er vor einem Spiegel in seinem Zimmer oder lag, hingegossen in Satin, an seinem Fensterplatz, sah auf den Hof hinunter und bemerkte undeutlich das atemlose, hastige Treiben, an dem er offensichtlich niemals Anteil haben würde.
In seinem letzten Studienjahr stellte er fest, dass er [18] seltsamerweise unter seinen Kommilitonen eine gewisse Stellung errungen hatte. Er erfuhr, dass man ihn für eine recht romantische Figur hielt, für einen Gebildeten, einen Einsiedler, eine Säule der Gelehrsamkeit. Dies belustigte ihn, doch insgeheim freute er sich darüber – er begann auszugehen, zunächst ein wenig, dann immer öfter. Er wurde in die Hasty Pudding Society aufgenommen. Er trank – heimlich, still und leise und in bester Tradition. Wäre er nicht in so jungen Jahren ans College gekommen, so hätte er womöglich »hervorragend abgeschnitten«, hieß es. 1909, bei seinem Abschlussexamen, zählte er erst zwanzig Jahre.
Danach wieder ins Ausland – diesmal nach Rom, wo er abwechselnd mit Architektur und Malerei liebäugelte, sich aufs Geigenspiel verlegte und einige haarsträubende italienische Sonette verfasste: die angeblichen Grübeleien eines Mönchs aus dem dreizehnten Jahrhundert über die Freuden der vita contemplativa. Unter seinen Vertrauten in Harvard sprach sich herum, dass er sich in Rom aufhielt; wer in jenem Jahr im Ausland weilte, schaute bei ihm vorbei und stieß bei zahllosen Mondscheinspaziergängen mit ihm auf vieles in der Stadt, das älter als die Renaissance, ja älter als die Republik war. Maury Noble aus Philadelphia etwa blieb zwei Monate; gemeinsam entdeckten sie die besonderen Reize südländischer Frauen und genossen das köstliche Gefühl, in einer Kultur, die sehr alt und frei war, sehr jung und frei zu sein. Nicht wenige Bekannte seines Großvaters kamen zu ihm zu Besuch, und hätte es ihn danach verlangt, so hätte er es in diplomatischen Kreisen zur persona grata bringen können – in der Tat stellte er fest, dass es ihn in zunehmendem Maße zur Geselligkeit hinzog, doch jugendliche [19] Zurückhaltung und daraus resultierende Schüchternheit bestimmten sein Verhalten noch immer.
Aufgrund einer jener unverhofften Erkrankungen seines Großvaters kehrte er 1912 nach Amerika zurück und entschloss sich, nach einer übermäßig anstrengenden Unterredung mit dem stets wieder aufs Neue genesenden Alten, das Vorhaben einer dauerhaften Ansiedlung im Ausland auf die Zeit nach dem Ableben seines Großvaters zu verschieben. Nach ausgedehnter Wohnungssuche nahm er sich in der 52. Straße ein Apartment und richtete sich allem Anschein nach häuslich ein.
1913 stand Anthony Patchs Anpassung an das Universum kurz vor dem krönenden Abschluss. Körperlich hatte er sich seit seinen Studententagen fortentwickelt – zwar war er noch immer zu schmal, doch seine Schultern waren breiter geworden, und sein gebräuntes Gesicht hatte das ängstliche Aussehen des Erstsemesters verloren. Insgeheim war er sehr ordnungsliebend und wirkte wie aus dem Ei gepellt – seine Freunde behaupteten, sein Haar noch nie zerzaust gesehen zu haben. Seine Nase war zu spitz, sein Mund einer jener unglücklichen Spiegel der Befindlichkeit, die dazu neigen, sich in Augenblicken der Unzufriedenheit merklich nach unten zu verziehen; seine blauen Augen aber waren bezaubernd, ob nun hellwach und aufmerksam oder aber, in schwermütiger Stimmung, halb geschlossen.
Wiewohl ein Mann, dem es zum arischen Ideal am wesentlichen Ebenmaß der Gesichtszüge fehlte, galt er doch hier und da als gutaussehend – überdies war er, der Erscheinung nach und in Wirklichkeit, sehr reinlich, und zwar von jener besonderen Reinlichkeit, die von der Schönheit borgt.
[20] Das makellose Apartment
Fifth und Sixth Avenue, so kam es Anthony vor, waren die Holme einer gigantischen Leiter, die sich vom Washington Square bis zum Central Park in die Wohnviertel erstreckte. Wenn er auf dem Oberdeck eines Omnibusses zur 52. Straße fuhr, hatte er unweigerlich das Gefühl, er hangele sich Hand über Hand an einer Reihe tückischer Sprossen hoch, und wenn der Bus ruckend an seiner eigenen Sprosse hielt, empfand er so etwas wie Erleichterung, da er die gefährlichen Metallstufen hinabstieg und auf den Bürgersteig trat.
Danach brauchte er die 52. Straße nur noch einen halben Block weit hinunterzulaufen, vorbei an einem langweiligen Ensemble rötlichbrauner Sandsteinhäuser – und im Nu befand er sich unter der hohen Decke seines geräumigen Vorderzimmers. Das war wirklich sehr angenehm. Schließlich fing hier das Leben an. Hier schlief er, frühstückte, las und bewirtete Gäste.
Das Haus selbst, Ende der neunziger Jahre erbaut, war aus dunklem Stein; um die ständig wachsende Nachfrage nach kleinen Apartments stillen zu können, war jedes Stockwerk von Grund auf umgebaut und einzeln vermietet worden. Von den vier Apartments im zweiten Geschoss war Anthonys das reizvollste.
Das Wohnzimmer wies eine schöne hohe Decke und drei große Fenster auf, die erfreulicherweise auf die 52. Straße hinunterblickten. Was die Einrichtung anbetraf, so war jeder besondere Zeitgeschmack glücklich vermieden; vermieden waren Steifheit, Spießigkeit, Kahlheit und Dekadenz. Es roch weder nach Zigarettenqualm noch nach Weihrauch– [21] es war groß und hatte etwas Bläuliches. Da stand eine tiefe Chaiselongue von weichstem braunem Leder, umweht von Schläfrigkeit wie von einem Dunstschleier. Da war ein hoher Paravent aus chinesischem Lack, auf dem vor allem geometrisch geformte Fischer und Jäger in Schwarz und Gold dargestellt waren; dieser bildete einen Alkoven für einen voluminösen Sessel, bewacht von einer orangefarbenen Stehlampe. Das gevierte Wappenschild im Innern des Kamins war zu einem düsteren Schwarz verkohlt.
Durchschritt man das Esszimmer, das Anthony lediglich für sein Frühstück benutzte, aus dem man aber etwas Prunkvolles hätte machen können, und einen verhältnismäßig langgestreckten Flur, so gelangte man zum Kern und Herzen des Apartments – Anthonys Schlafgemach und Badezimmer.
Beide waren enorm. Unter der Decke des Ersteren nahm sich selbst das große Himmelbett nur mittelmäßig aus. Der exotische Bettvorleger aus karmesinrotem Samt fühlte sich unter Anthonys bloßen Füßen weich wie ein Vlies an. Im Gegensatz zu dem Bombast seines Schlafgemachs wirkte sein Badezimmer fröhlich, hell und überaus wohnlich, gar verspielt. An den Wänden hingen die gerahmten Fotografien von vier zu jener Zeit gefeierten thespischen Schönheiten: Julia Sanderson als »The Sunshine Girl«, Ina Claire als »The Quaker Girl«, Billie Burke als »The Mind-the-Paint-Girl« und Hazel Dawn als »The Pink Lady«. Zwischen Billie Burke und Hazel Dawn hing ein Druck, der eine große Schneelandschaft zeigte, über welcher eine kalte, furchteinflößende Sonne thronte – dies, behauptete Anthony, versinnbildliche die kalte Dusche.
[22] Die mit einem raffinierten Lesepult versehene Badewanne war niedrig und ausladend. Der Wandschrank daneben war mit Bettwäsche vollgestopft, die für drei Männer ausgereicht hätte, und mit einer ganzen Kollektion Krawatten. Die Brücke war nicht etwa ein dürftiges besseres Handtuch, sondern ein kostbarer Teppich, wie jener im Schlafgemach ein Wunder an Weichheit, das den nassen Fuß, der der Wanne entstieg, beinahe zu massieren schien…
Alles in allem ein Raum, der Wunder wirkte – das sah man sogleich. Hier kleidete Anthony sich an, hier frisierte er sein makelloses Haar, hier tat er alles außer schlafen und speisen. Es war sein ganzer Stolz, dieses Badezimmer. Hätte er eine Geliebte, dachte er bei sich, so würde er ihr Bild gerade gegenüber der Wanne aufhängen, um, in den besänftigenden Dämpfen des heißen Wassers sich verlierend, daliegen, zu ihr aufblicken und warm und sinnlich von ihrer Schönheit träumen zu können.
Die Lilie auf dem Felde
Das Apartment wurde von einem englischen Diener mit dem einzigartig, ja beinahe theatralisch zutreffenden Namen Bounds sauber gehalten, dessen Perfektion nur durch den Umstand beeinträchtigt wurde, dass er einen ungesteiften Kragen trug. Wäre er ausschließlich Anthony verpflichtet – eben bound – gewesen, so wäre dieser Defekt rasch behoben gewesen, indes war er auch der Bounds zweier anderer Gentlemen in der Nachbarschaft. Von acht bis elf Uhr morgens gehörte er ganz Anthony. Er brachte die Post und [23] bereitete das Frühstück zu. Um neun Uhr dreißig zog er am Zipfel von Anthonys Bettdecke und sprach einige wenige markige Worte – Anthony konnte sich nie genau daran erinnern, worin sie bestanden, hegte aber den Verdacht, dass sie vorwurfsvoller Natur waren; daraufhin servierte er auf einem Kartenspieltisch im Wohnzimmer das Frühstück, machte das Bett und zog sich nach der etwas feindseligen Frage, ob es sonst noch etwas gebe, zurück.
Vormittags, zumindest einmal in der Woche, suchte Anthony seinen Börsenmakler auf. Sein Einkommen betrug nicht ganz siebentausend im Jahr, Zinsen auf eine Geldsumme, die er von seiner Mutter ererbt hatte. Sein Großvater, der es nie zugelassen hatte, dass sein Sohn von einem sehr großzügig bemessenen Monatswechsel freikam, war der Auffassung, dass dieser Betrag für den Bedarf des jungen Anthony ausreichend sei. Immer zu Weihnachten schickte er ihm eine Anleihe in Höhe von fünfhundert Dollar, die Anthony, sofern möglich, meist veräußerte, da er stets ein wenig, wenn auch nicht sehr, in Geldnöten war.
Die Besuche beim Börsenmakler reichten von Plaudereien halb geselligen Charakters zu Diskussionen über die Sicherheit von Geldanlagen zu acht Prozent, und für Anthony waren sie jedesmal ein Genuss. Das große Gebäude der Kreditbank schien ihn an die riesigen Vermögen anzubinden, deren Zusammenhalt er schätzte, und ihm zu versichern, dass er von den oberen Rängen der Hochfinanz angemessen betreut wurde. Von den umherhastenden Männern bezog er das gleiche Gefühl der Sicherheit, wie wenn er sich im Geiste mit dem Geld seines Großvaters befasste – ja es war noch stärker, kam ihm doch Letzteres geradeso vor wie [24] ein täglich kündbares Darlehen, das Adam Patchs moralischer Rechtschaffenheit von der Welt gewährt wurde, während das Geld in Downtown anscheinend eher durch schier unbezwingbaren Kraftaufwand und ungeheure Willensanstrengung zusammengerafft und beieinandergehalten wurde; außerdem sprach man hier, anders als zu Hause, offen und ausdrücklich über – Geld.
So dicht er seinem Einkommen auch auf den Fersen war, er hielt es für ausreichend. Eines gesegneten Tages natürlich würde er über viele Millionen verfügen; bis dahin lag seine raison d’être in der Aufgabe, Essays über die Päpste der Renaissance zu schreiben. Dies geht zurück auf eine Unterredung mit seinem Großvater gleich nach seiner Rückkehr aus Rom.
Er hatte gehofft, seinen Großvater tot vorzufinden, bei einem Anruf von den Landungsbrücken jedoch erfahren, dass Adam Patch wieder vergleichsweise wohlauf war – tags darauf hatte er seine Enttäuschung hinuntergeschluckt und war nach Tarrytown hinausgefahren. Fünf Meilen hinter dem Bahnhof bog seine Droschke in eine aufwendig gepflegte Auffahrt ein, die sich durch ein wahres Labyrinth von Mauern und Drahtzäunen schlängelte, von denen das Gut geschützt wurde – wie es allgemein hieß, geschah dies, weil zweifelsfrei feststand, dass der alte Cross Patch, wenn es nach den Sozialisten ginge, zu den ersten zählen würde, die sie meucheln würden.
Anthony hatte sich verspätet, der verehrungswürdige Philanthrop wartete in einer Glasveranda auf ihn und blätterte nun schon zum zweiten Mal die Morgenzeitungen durch. Edward Shuttleworth, sein Sekretär – der vor seiner [25] Wiedergeburt Hasardeur, Barbesitzer und allgemein ein verkommenes Subjekt gewesen war –, geleitete Anthony ins Zimmer und führte seinen Erlöser und Wohltäter wie einen unermesslich wertvollen Schatz vor.
Feierlich schüttelten sie sich die Hand. »Ich freue mich kolossal, dass es Ihnen bessergeht«, sagte Anthony.
Mit einer Miene, als habe er seinen Enkel erst letzte Woche gesehen, zog Patch der Ältere seine Uhr hervor.
»Zug verspätet?«, fragte er nachsichtig.
Es hatte ihn geärgert, auf Anthony warten zu müssen. Er lebte nicht nur in dem Wahn, in seiner Jugend allen praktischen Angelegenheiten mit äußerster Gewissenhaftigkeit nachgegangen zu sein, ja jede Verabredung auf die Minute pünktlich eingehalten zu haben, sondern wiegte sich auch in dem Glauben, dies sei genau und hauptsächlich der Grund für seinen Erfolg gewesen.
»Diesen Monat hat er sich ziemlich oft verspätet«, bemerkte er mit einem Anflug sanften Vorwurfs in der Stimme – dann sagte er nach einem langen Seufzer: »Setz dich.«
Anthony musterte seinen Großvater mit jener stillschweigenden Verwunderung, die sich bei seinem Anblick stets einstellte. Besaß doch dieser kraftlose, unintelligente alte Mann eine solche Macht, dass diejenigen Männer der Republik, deren Seelen er nicht mittelbar oder unmittelbar hätte kaufen können, White Plains nur spärlich bevölkert hätten – da konnten die Revolverblätter schreiben, was sie wollten. Dies erschien ihm ebenso unglaublich wie die Tatsache, dass er früher einmal ein rosiger Säugling gewesen sein musste.
Die Spanne seiner fünfundsiebzig Jahre hatte wie ein [26] magischer Blasebalg gewirkt – das erste Vierteljahrhundert hatte ihn mit Leben vollgepumpt, und das letzte hatte es wieder aus ihm herausgesogen. Es hatte Wangen und Brustkorb einsinken lassen und den Umfang von Armen und Beinen verringert. Tyrannisch hatte es ihm einen Zahn nach dem anderen abgefordert, seine kleinen Äuglein in dunkelbläulichen Tränensäcken versteckt, ihm die Haare ausgerissen, ihn an einigen Stellen von Grau in Weiß, an anderen von Rosa in Gelb verwandelt – rücksichtslos seine Farben aufgetragen wie ein Kind, das sich an einem Malkasten zu schaffen macht. Nach seinem Körper und seiner Seele war es über sein Gehirn hergefallen. Es hatte ihm nächtliche Schweißausbrüche, Tränen und grundlose Ängste beschert. Seine ausgeprägte Durchschnittlichkeit hatte es in Leichtgläubigkeit und Argwohn aufgespalten. Aus dem groben Stoff seiner Begeisterungsfähigkeit hatte es Dutzende bescheidener, aber griesgrämiger Obsessionen zugeschnitten; seine Energie war auf die schlechte Laune eines verwöhnten Kindes geschrumpft, sein Wille zur Macht dem törichten Verlangen eines Knaben nach einem Land von Harfenspiel und Lobgesängen auf Erden gewichen.
Nachdem man so behutsam das Thema Verkehrsverbindungen gestreift hatte, beschlich Anthony das Gefühl, es werde von ihm erwartet, dass er in Umrissen seine Absichten darlege – zugleich aber warnte ihn einstweilen ein Funkeln in den Augen des Alten davor, seinen Wunsch auszusprechen, im Ausland zu leben. Er wünschte, Shuttleworth besäße genügend Takt, den Raum zu verlassen – er verabscheute Shuttleworth –, doch der Sekretär hatte sich gleichgültig in einem Schaukelstuhl niedergelassen und ließ die [27] Blicke seiner glanzlosen Augen von einem Patch zum anderen wandern.
»Wo du nun schon einmal hier bist, solltest du etwas tun«, sagte sein Großvater sanft, »etwas zustande bringen.«
Anthony wartete darauf, dass er sagte: »Etwas Fertiges hinterlassen, wenn du von hinnen gehst.« Dann machte er einen Vorschlag: »Ich dachte – es schien mir, dass ich vielleicht am besten dazu tauge, etwas zu schreiben…«
Adam Patch zuckte zusammen; er stellte sich einen Dichter in der Familie mit langer Mähne und drei Geliebten vor.
»…über Geschichte zu schreiben«, schloss Anthony.
»Über Geschichte? Was für eine Geschichte? Die des Bürgerkriegs? Der Revolution?«
»Aber nein, Sir. Eine Geschichte des Mittelalters.« In diesem Augenblick war die Idee zu einer Geschichte der Renaissancepäpste geboren, unter einem neuen Blickwinkel verfasst. Dennoch war er froh, »Mittelalter« gesagt zu haben.
»Mittelalter? Weshalb nicht über dein eigenes Land? Etwas, worüber du Bescheid weißt?«
»Sie verstehen, ich habe so lange im Ausland gelebt…«
»Ich weiß nicht, weshalb du ausgerechnet über das Mittelalter schreiben willst. Finsteres Mittelalter, haben wir immer dazu gesagt. Niemand weiß, was sich abgespielt hat, und niemand macht sich etwas daraus, wichtig ist bloß, dass es jetzt zu Ende ist.« Etliche Minuten lang verbreitete er sich über die Nutzlosigkeit derartiger Kenntnisse, wobei er natürlich auf die spanische Inquisition und die »Verderbtheit der Klöster« zu sprechen kam. Dann: »Glaubst du, dass du in New York einer richtigen Arbeit nachgehen kannst – oder [28] hast du überhaupt vor zu arbeiten?« Letzteres mit leisem, fast unmerklichem Zynismus.
»Aber ja, Sir.«
»Wann wirst du fertig sein?«
»Nun, erst muss ein Entwurf gemacht werden – allerhand vorbereitende Lektüre.«
»Ich dachte, die hättest du schon zur Genüge hinter dich gebracht?«
Das Gespräch bewegte sich ruckweise auf einen recht abrupten Abschluss zu, als Anthony aufstand, auf seine Uhr sah und vorgab, an diesem Nachmittag einen Termin bei seinem Börsenmakler zu haben. Er hatte vorgehabt, ein paar Tage bei seinem Großvater zu verbringen, doch von der stürmischen Überfahrt war er müde und gereizt und hatte keine Lust, eine hintergründige und scheinheilige Befragung über sich ergehen zu lassen. Er werde in ein paar Tagen wieder herauskommen, sagte er.
Trotz alledem war dank diesem Zusammentreffen die Arbeit als bleibende Idee in sein Leben eingetreten. Im Laufe des Jahres, das seitdem verstrichen war, hatte er mehrere Listen mit den Namen von Fachautoritäten zusammengestellt, er hatte sogar mit Kapitelüberschriften und der Gliederung seiner Arbeit in Zeitabschnitte experimentiert, aber zur Stunde gab es weder eine wirklich hingeschriebene Zeile, noch hatte es den Anschein, als würde es sie jemals geben. Er tat nichts – doch der bestbeglaubigten Schulbuchlogik zuwider wusste er sich zu seiner mehr als nur durchschnittlichen Zufriedenheit Zerstreuung zu verschaffen.
[29] Nachmittag
Es war im Oktober 1913, auf halbem Wege durch eine Woche angenehmer Tage. In den Querstraßen lagerte der Sonnenschein, und die Atmosphäre war so träge, dass sie von den gespenstisch herabfallenden Blättern beschwert zu werden schien. Es war angenehm, müßig am geöffneten Fenster zu sitzen und ein Kapitel des Erewhon zu Ende zu lesen. Es war angenehm, gegen fünf Uhr zu gähnen, das Buch auf einen Tisch zu werfen und summend durch den Flur ins Bad zu schlendern.
To… you… beaut-if-ul lady,
sang er, während er den Hahn aufdrehte,
I raise… my… eyes;
To… you… beaut-if-ul la-a-dy
My… heart… cries…
Um gegen die Wasserflut anzusingen, die sich in die Wanne ergoss, erhob er die Stimme, und als er das Bild von Hazel Dawn an der Wand betrachtete, setzte er eine imaginäre Geige an die Schulter und liebkoste diese sanft mit einem gedachten Bogen. Mit geschlossenen Lippen machte er ein summendes Geräusch, von dem er sich einbildete, es entspreche in etwa dem Klang einer Violine. Einen Augenblick später stellten seine Hände ihre runden Bewegungen ein und wanderten zu seinem Hemd, das er aufzuknöpfen [30] begann. Ausgekleidet, warf er sich in athletische Positur wie der Tigerfellmann in der Werbung und musterte sich mit einiger Befriedigung im Spiegel. Dann unterbrach er sich dabei und planschte vorsichtig mit einem Fuß im Wasser. Daraufhin drehte er den Hahn zu und stieg ächzend in die Wanne.
Nachdem er sich an die Temperatur des Wassers gewöhnt hatte, entspannte er sich in einem Zustand wohliger Schläfrigkeit. Nach dem Bad würde er sich gemächlich ankleiden und die Fifth Avenue hinunter zum Ritz laufen, wo er wie so oft mit seinen beiden Gefährten Dick Caramel und Maury Noble eine Verabredung zum Dinner hatte. Danach würden Maury und er ins Theater gehen – Caramel würde vermutlich nach Hause trotten und an seinem Buch arbeiten, das wohl ziemlich bald abgeschlossen war.
Anthony war froh, dass er nicht an seinem Buch zu arbeiten brauchte. Die absurde Vorstellung, sich hinzusetzen und nicht nur Worte herbeizuzaubern, mit denen er Gedanken einkleiden konnte, sondern auch Gedanken, die es wert waren, in Worte eingekleidet zu werden – dies alles lag für ihn weit abseits allen Begehrens.
Als er aus dem Bad gestiegen war, trocknete er sich mit der akribischen Hingabe eines Schuhputzers ab. Dann schlenderte er ins Schlafgemach und bummelte, eine seltsame, ungewisse Melodie pfeifend, hierhin und dorthin, knöpfte zu, rückte zurecht und genoss die Wärme des flauschigen Teppichs unter seinen Füßen.
Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz aus dem offenen Fenster, dann hielt er unvermittelt inne und ließ die Zigarette ein paar Zentimeter weit aus [31] dem leicht geöffneten Mund hängen. Sein Blick war an einem leuchtenden Farbfleck auf dem Dach eines Hauses weiter unten in der Gasse haftengeblieben.
Es war ein Mädchen in einem roten Negligé, sicherlich aus Seide, das sich in der noch warmen Sonne des Spätnachmittags die Haare trocknete. In der stickigen Luft des Zimmers erstarb sein Gepfeife. Er trat vorsichtig einen Schritt näher ans Fenster, ganz überrascht von ihrer schönen Erscheinung. Vor ihr auf der steinernen Brüstung lag ein Kissen von derselben Farbe wie ihr Gewand; sie hatte beide Arme darauf gestützt und schaute auf den sonnigen Hof hinunter, wo Anthony Kinder spielen hörte.
Er beobachtete sie mehrere Minuten lang. Etwas in ihm war wachgerüttelt, etwas, das sich weder dem warmen Duft des Nachmittags noch der aufsehenerregenden Lebhaftigkeit des Rots verdankte. Er empfand das Mädchen als wirklich schön – dann begriff er plötzlich: Es war der Abstand, kein rarer und kostbarer Abstand der Seele, aber doch ein Abstand, wenn auch nur in irdischen Metern. Zwischen ihnen lagen die Herbstluft und die Dächer und die verwischten Stimmen. Und dennoch, eine nicht ganz erklärliche, wundersam in der Schwebe hängende Sekunde lang war seine Empfindung der Anbetung näher gewesen als im tiefsten Kuss, den er je ausgekostet hatte.
Er kleidete sich fertig an, fand eine schwarze Frackschleife und zog sie vor dem dreiteiligen Badezimmerspiegel sorgfältig zurecht. Dann ging er, einem Impuls nachgebend, rasch in sein Schlafgemach und sah wieder aus dem Fenster. Die Frau stand jetzt aufrecht; sie hatte ihr Haar zurückgeschüttelt, und er hatte sie direkt vor Augen. Sie [32] war dicklich, volle fünfunddreißig und höchst durchschnittlich. Er schnalzte mit der Zunge, ging wieder zurück ins Badezimmer und zog sich einen neuen Scheitel.
To… you… beaut-if-ul lady,
sang er leichthin,
I raise… my… eyes…
Dann, mit einem letzten wohltuenden Bürstenstrich, der eine irisierende Fläche reinen Glanzes hinterließ, trat er aus dem Badezimmer und aus seinem Apartment und ging die Fifth Avenue hinunter zum Ritz-Carlton.
Drei Männer
Um sieben sitzen Anthony und sein Freund Maury Noble an einem Ecktisch auf dem kühlen Dach. Maury Noble gleicht einem großen, schlanken, imposanten Kater. Seine Augen sind schmal und zwinkern unaufhörlich und ausdauernd. Sein Haar liegt glatt an, als sei es von einem gewaltigen Muttertier abgeleckt worden. Während Anthonys Jahren in Harvard galt er als äußerst ungewöhnliche Figur, als einfallsreichster und originellster Kopf seines Jahrgangs – gescheit, verhalten, einer der Erwählten.
Dies ist der Mann, den Anthony als seinen besten Freund ansieht. Unter all seinen Bekannten ist er der einzige, den er bewundert und mehr, als er sich eingestehen will, beneidet.
[33] Jetzt sind sie froh, sich zu sehen – ihre Augen blicken freundlich, da jeder von ihnen nach einer kurzen Trennung den vollen Reiz des Neuen verspürt. Aus der Gegenwart des anderen schöpfen sie Erholung, eine neue Heiterkeit; Maury Noble schnurrt beinahe hinter seinem feingeschnittenen und lächerlich katzenhaften Gesicht. Und Anthony, rastlos wie ein Irrlicht, nervös – jetzt findet er Ruhe.
Sie sind in eines jener unbeschwerten, abgerissenen Gespräche vertieft, wie nur Männer unter dreißig oder Männer unter großer Anspannung sie sich leisten können.
ANTHONY Sieben Uhr. Wo steckt diese Karamelle bloß? ungeduldig Ich wünschte, er würde diesen nicht enden wollenden Roman beenden. Ich habe mehr Zeit mit Hungern zugebracht…
MAURY Er hat einen neuen Namen dafür. Der dämonische Liebhaber – nicht schlecht, was?
ANTHONYinteressiert.Der dämonische Liebhaber? O wehklagend das Weib für seinen dämonischen Liebhaber – nein, gar nicht schlecht! Ganz und gar nicht schlecht – das meinst du doch auch?
MAURY Ja sicher. Um wie viel Uhr, hast du gesagt?
ANTHONY Um sieben.
MAURYSeine Augen verengen sich – nicht unangenehm, aber um leichte Missbilligung auszudrücken. Hat mich neulich zur Weißglut gebracht.
ANTHONY Wie?
MAURY Diese Angewohnheit, sich Notizen zu machen.
ANTHONY Mich auch. Anscheinend hatte ich am Abend vorher was gesagt, das er wichtig fand, aber er hatte’s vergessen – und da hat er mich angegiftet. Sagt: »Kannst du [34] nicht versuchen, dich zu konzentrieren?« Und ich sage: »Du langweilst mich zu Tode. Wie soll ich mich daran erinnern?«
MAURYlacht geräuschlos, wobei er sein Gesicht höflich anerkennend in die Breite zieht. Dick sieht auch nicht unbedingt mehr als andere. Nur kann er einen größeren Teil dessen, was er sieht, niederschreiben.
ANTHONY Dieses durchaus beeindruckende Talent…
MAURY O ja. Beeindruckend!
ANTHONY Und Tatkraft – ehrgeizige, zielgerichtete Tatkraft. Er ist so unterhaltsam – er ist so ungeheuer belebend und anregend. Oft raubt es einem den Atem, wenn man mit ihm zusammen ist.
MAURY O ja.
Schweigen, dann:
ANTHONYmit einem Höchstmaß an Überzeugung in seinem schmalen, ein wenig unsicheren Gesicht Aber keine unbezähmbare Tatkraft. Irgendwann wird sie nach und nach verwehen, und das durchaus beeindruckende Talent auch, und nur ein schmächtiges Männlein zurückbleiben, reizbar, egoistisch und schwatzhaft.
MAURYunter Gelächter Hier sitzen wir nun und versichern uns gegenseitig, dass der kleine Dick den Dingen nicht so tief auf den Grund geht wie wir. Aber ich wette, er seinerseits verspürt ebenfalls ein gewisses Maß an Überlegenheit – besser kreativer als kritischer Geist und all so was.
ANTHONY O ja. Aber da irrt er. Er neigt dazu, auf eine Million alberner Schwärmereien hereinzufallen. Da er aber nun mal vom Realismus angetan ist, muss er die Gewänder des Zynikers anlegen, aber eigentlich wäre er – wäre er so [35] leichtgläubig wie das religiöse Oberhaupt eines Colleges. Er ist Idealist. O ja. Er glaubt, keiner zu sein, weil er das Christentum verworfen hat. Erinnerst du dich noch an ihn auf dem College? Jeden Autor hat er vollständig verschlungen, einen nach dem anderen, Ideen, Stil und Figuren, Chesterton, Shaw, Wells, jeden genauso mühelos wie den davor.
MAURYnoch seiner eigenen letzten Beobachtung nachhängend Ich erinnere mich.
ANTHONY Es ist wahr. Ein geborener Fetischist. Nimm die Kunst…
MAURY Lass uns bestellen. Er wird…
ANTHONY Schön. Lass uns bestellen. Ich hab ihm gesagt…
MAURY Da kommt er ja. Pass nur auf – gleich rempelt er den Kellner an. Er hebt zum Zeichen den Finger – hebt ihn, als wäre er eine weiche, freundliche Pfote. Da bist du ja, Caramel.
EINE NEUE STIMMEschneidend Hallo, Maury, hallo, Anthony Comstock Patch. Wie geht’s dem Enkel des alten Adam? Sind die Debütantinnen immer noch hinter dir her, eh?
RICHARD CARAMEList stämmig und blond – mit fünfunddreißig wird er eine Glatze haben. Er hat gelbliche Augen – eines davon erschreckend klar, das andere trübe wie ein schlammiger Teich – und eine gewölbte Stirn wie ein Baby in einem Comic. Auch an anderen Körperstellen wölbt er sich – sein Bauch wölbt sich prophetisch, seine Worte klingen so, als wölbten sie sich aus seinem Mund hervor, selbst die Taschen seines Smokings wölben sich wie durch eine Infektion dank einer Sammlung abgegriffener Fahrpläne, [36] Programme und verschiedenster Zettel – auf diesen macht er sich seine Notizen, wobei er seine ungleich gelben Augen fest zusammenkneift und mit der freien Linken Schweigen gebietet.
Als er am Tisch ankommt, schüttelt er ANTHONY und MAURY die Hand. Er ist einer von diesen Männern, die dauernd die Hand schütteln, selbst Leuten, die sie eine Stunde zuvor schon mal gesehen haben.
ANTHONY Hallo, Caramel. Schön, dass du gekommen bist. Wir brauchen was zum Lachen.
MAURY Du kommst zu spät. Hast du mit dem Briefträger ein Wettrennen um den Block gemacht? Wir haben deine Persönlichkeit auseinandergepflückt.
DICKfixiert ANTHONY erwartungsvoll mit dem hellen Auge Was habt ihr gesagt? Sagt mir’s, und ich schreib’s auf. Hab heut Nachmittag dreitausend Wörter im ersten Teil gestrichen.
MAURY Nobler Ästhet. Und ich habe mir Alkohol in den Magen gekippt.
DICK Ich zweifle nicht daran. Ich wette, ihr zwei habt hier gesessen und eine Stunde lang über nichts als Alkohol geredet.
ANTHONY Nur umkippen tun wir nie, du Milchbart.
MAURY In angeheitertem Zustand nehmen wir Damen, die wir kennenlernen, niemals mit nach Haus.
ANTHONY Alles in allem zeichnen sich unsere Partys durch eine gewisse hochmütige Erlesenheit aus.
DICK Die besonders alberne Sorte, die damit prahlt, vollgetankt zu sein! Das Problem ist, dass ihr beide der Schule der alten englischen Junker aus dem 18.Jahrhundert [37] angehört. Still und heimlich trinkt, bis ihr unter den Tisch rollt. Nie auch nur einmal die Sau rauslassen. O nein, das gehört sich nicht.
ANTHONY Ich wette, das stammt aus dem Sechsten Kapitel.
DICK Geht ihr ins Theater?
MAURY Ja. Wir haben vor, den Abend mit tiefem Nachdenken über die Probleme des Lebens zu verbringen. Das Ding heißt kurz und knapp Die Frau. Ich nehme an, sie wird dafür »bezahlen«.
ANTHONY Mein Gott! Handelt es davon? Lass uns wieder ins Follies gehen.
MAURY Ich bin’s leid. Ich hab’s schon dreimal gesehen. Zu DICK Beim ersten Mal sind wir nach dem ersten Akt gegangen und haben eine ganz unglaubliche Bar gefunden. Als wir zurückkamen, sind wir ins falsche Theater geraten.
ANTHONY Hatten einen längeren Streit mit einem ängstlichen jungen Paar, von dem wir glaubten, es säße auf unseren Plätzen.
DICKals spräche er mit sich selbst Ich glaube – wenn ich einen weiteren Roman und ein Theaterstück und vielleicht einen Band mit Kurzgeschichten geschrieben habe, nehme ich mir eine musikalische Komödie vor.
MAURY Ich weiß – mit intellektuellen Texten, die niemand interessieren. Und sämtliche Kritiker werden stöhnen und murren: »Der gute alte HMS Pinafore.« Und ich werde weiterhin leuchten – eine glänzend sinnlose Gestalt in einer sinnlosen Welt.
DICKwichtigtuerisch Kunst ist nicht sinnlos.
[38] MAURY An sich schon. Nur insofern nicht, als sie versucht, das Leben weniger sinnlos zu machen.
ANTHONY Mit anderen Worten, Dick, du spielst für ein Publikum von Geistern.
MAURY Gib ihm bitte eine gute Vorstellung.
ANTHONYzu MAURY Nein, ich finde, weshalb schreiben, wo die Welt doch sinnlos ist? Der bloße Versuch, ihr einen Zweck zu liefern, ist zwecklos.
DICK Selbst wenn ich all dem zustimme, sei ein anständiger Pragmatiker und gönne einem armen Mann den Willen zu leben. Soll etwa jeder diesen spitzfindigen Blödsinn akzeptieren?
ANTHONY Ja, ich glaube schon.
MAURY Nein, Sir! Ich glaube, dass jedermann in Amerika, bis auf ein auserwähltes Tausend, gezwungen werden sollte, ein äußerst rigides Moralsystem zu akzeptieren – zum Beispiel das der römisch-katholischen Kirche. Ich beklage mich ja nicht über konventionelle Moral. Vielmehr beklage ich mich über jene mediokren Ketzer, die begierig die Erkenntnisse der Spitzfindigkeit aufgreifen und eine Pose sittlicher Freiheit einnehmen, zu der ihre Intelligenz sie durchaus nicht berechtigt.
In diesem Augenblick trifft die Suppe ein, und was MAURYnoch alles von sich gegeben hätte, geht für alle Zeiten verloren.
[39] Nacht
Hinterher suchten sie einen Schwarzhändler auf und erstanden für viel Geld Sitzplätze für eine neue musikalische Komödie namens Es geht hoch her. Im Foyer des Theaters warteten sie einige Augenblicke, um das Premierenpublikum hereinströmen zu sehen. Da gab es vielfach mit farbiger Seide oder Pelz besetzte Abendmäntel; von Armen, Hälsen und weißen oder rosa Ohrläppchen herabhängendes Geschmeide; den breiten Schimmer unzähliger Seidenhüte; Schuhe von Gold und Bronze und Rot und glänzendem Schwarz; hochgesteckte, festverpackte Coiffuren vieler Damen und glattes, angefeuchtetes Haar gepflegter Herren – vor allem aber das Auf und Ab, das Geplapper und Gegluckse, das Schäumen und gemächlich heranrollende Wogen dieses heiteren Menschenmeers, das seinen glitzernden Wasserschwall an diesem Abend in den künstlichen See des Gelächters lenkte…
Nach dem Stück trennten sie sich – Maury ging zu einem Tanz ins Sherry’s, Anthony heimwärts und zu Bett.
Langsam bahnte er sich seinen Weg durch das Gewühl der abendlichen Menge auf dem Times Square, den das Streitwagenrennen und seine tausend Satelliten vor lauter Ausgelassenheit selten schön, licht und intim erscheinen ließen. Um ihn her wirbelten Gesichter, ein Kaleidoskop von Mädchen, hässlich, hässlich wie die Sünde – zu fett, zu mager –, und doch schwebten sie in dieser Herbstluft wie auf ihrem eigenen warmen und leidenschaftlichen Atem, der sich in die Nacht ergoss. Hier, dachte er, wirkten sie bei aller Gewöhnlichkeit auf zarte, feine Weise geheimnisvoll. [40] Vorsichtig atmete er ein, nahm in seine Lungen Parfüm und den nicht unangenehmen Duft vieler Zigaretten auf. Er suchte den Blick einer dunkelhaarigen jungen Schönen, die allein in einer geschlossenen Droschke saß. Im Zwielicht verhießen ihre Augen Nacht und Veilchen, und einen Augenblick lang besann er sich wieder auf jenen halbvergessenen Abstand am Nachmittag.
Zwei junge Juden gingen an ihm vorüber, sie unterhielten sich mit lauter Stimme und reckten ihre Hälse hierhin und dorthin, um ebenso einfältige wie hochmütige Blicke um sich zu werfen. Sie trugen übertrieben enganliegende Anzüge, wie sie damals halbwegs Mode waren; ihre Umlegekragen waren am Adamsapfel eingekerbt. Sie hatten graue Gamaschen um und trugen über den Griffen ihrer Spazierstöcke graue Handschuhe.
Vorbei kam eine verwirrte alte Dame, wie ein Korb mit Eiern entlanggetragen von zwei Männern, die ihr die Wunder von Times Square verkündeten – sie so rasch erläuterten, dass die alte Dame in dem Versuch, sich interessiert zu zeigen, ihren Kopf hierhin und dorthin drehte wie eine vom Wind geschüttelte alte Orangenschale. Anthony schnappte einen Gesprächsfetzen auf:
»Das ist das Astor, Mama!«
»Sieh nur! Schau dir die Reklame mit dem Streitwagenrennen an…«
»Da waren wir heute. Nein, da!«
»Du meine Güte!«
»Ist doch piepe, komm, beweg dich, Zeit ist Geld.« In dem, was einem der beiden Paare an seiner Seite da so schrill entfuhr, erkannte Anthony die Redensart des Jahres wieder.
[41] »Da sag ich zu ihm, sag ich…«
Neben ihm das sanfte Geschiebe der Droschken und Gelächter, Gelächter, so heiser wie das einer Krähe, unaufhörlich und laut, unter ihm das Rumpeln der Untergrundbahn und über allem die Drehungen der Lichter, das Aufblitzen und Verlöschen von Licht – Licht, das sich wie Perlen teilte, sich immer wieder aufs Neue formte in funkelnden Streifen und Kreisen und abscheulich grotesken Figuren, aufs erstaunlichste in den Himmel geschnitten.
Dankbar bog er in die Stille ein, die wie ein dunkler Wind aus einer Querstraße wehte, und kam an einer Bäckerei mit Imbiss vorbei, in dessen Fenstern sich ein Dutzend Grillhähnchen an einem automatischen Spieß drehte. Aus der Tür drang ein Geruch – heiß, teigig und rosig. Als Nächstes ein Drugstore, der einen Gestank nach Medizin und verschüttetem Sodawasser nebst einer angenehmeren Duftnote von der Kosmetikabteilung verströmte; sodann eine immer noch geöffnete chinesische Wäscherei, dampfig und drückend, die nach Gemangeltem und irgendwie gelb roch. All das deprimierte ihn; als er zur Sixth Avenue kam, betrat er ein Zigarrengeschäft an der Ecke und tauchte besser gelaunt wieder auf – der Zigarrenladen war heiter, Menschheit in marineblauem Dunst beim Kauf eines Luxusguts…
Als er wieder in seinem Apartment war, setzte er sich im Dunkeln ans offene Vorderfenster und rauchte eine letzte Zigarette. Zum ersten Mal seit einem Jahr genoss er New York in vollen Zügen. Die Stadt zeichnete sich durch eine seltene Schärfe aus, eine fast südliche Qualität. Freilich war es eine einsame Stadt. Er, der allein aufgewachsen war, hatte neuerdings gelernt, die Einsamkeit zu fliehen. Während der [42] vergangenen Monate war er, wenn er für den Abend keine Verabredung hatte, jeweils in einen seiner Klubs gehastet, um jemanden zu finden. O ja, hier gab es Einsamkeit…
Seine Zigarette, deren Rauch die schmalen Vorhangfalten mit einem Rand schwachen weißen Dunstes säumte, glühte weiter, bis die Turmuhr von St.Anne’s weiter hinten in der Straße mit modisch missmutiger Eleganz eins schlug. Die Hochbahn, einen ruhigen halben Block entfernt, klang wie ein Trommelwirbel – und wenn er sich aus dem Fenster lehnte, konnte er den Zug sehen, der wie ein zorniger Adler auf die dunkle Kurve an der Ecke zubrauste. Er musste an einen phantastischen Abenteuerroman denken, den er unlängst gelesen hatte und in dem Städte von Schwebebahnen aus bombardiert worden waren, einen Augenblick lang bildete er sich ein, Washington Square habe Central Park den Krieg erklärt und sei eine nach Norden vorrückende Gefahr, die mit Schlachtengetümmel und Toten enden werde. Doch als die Bahn vorüberfuhr, verblasste die Illusion, schwächte sich ab zu verhaltenem Trommelklang – und dann zu einem Rauschen ferner Adlerschwingen.
Von der Fifth Avenue drangen fortwährend Geklingel und der verschwommene Klang gedämpfter Autohupen herüber, doch in seiner eigenen Straße herrschte Stille, hier drinnen war er geborgen vor all den Bedrohungen des Lebens, denn hier war seine Tür, war der langgestreckte Flur und sein schützendes Schlafgemach – geborgen, geborgen! Die Bogenlampe, die in sein Fenster leuchtete, erschien um diese Stunde wie der Mond, nur heller und schöner als der Mond.
[43] Rückblende ins Paradies
SCHÖNHEIT, die alle hundert Jahre wiedergeboren wurde, saß im Freien in einer Art Wartesaal, durch den weiße Windstöße wehten und gelegentlich, in atemloser Eile, ein Stern. Die Sterne zwinkerten ihr im Vorübergleiten vertraulich zu, und die Winde zausten ihr sanft das Haar. Sie war unergründlich, denn in ihr waren Seele und Geist eins – die Schönheit ihres Leibes war das Wesen ihrer Seele. Sie war jene Einheit, nach der die Philosophen viele Jahrhunderte lang gesucht hatten. In diesem Wartesaal von Wind und Sternen saß sie seit hundert Jahren und fand Frieden in der Betrachtung ihrer selbst.
Schließlich erfuhr sie, dass sie wiedergeboren werden sollte. Seufzend begann sie ein langes Gespräch mit einer Stimme, die der weiße Wind zu ihr hintrug, ein Gespräch, das viele Stunden währte und von dem ich hier nur ein Bruchstück wiedergeben kann.
SCHÖNHEITbewegt kaum die Lippen und hält den Blick wie stets nach innen gekehrt Wohin soll ich denn jetzt schon wieder reisen?
DIE STIMME In ein neues Land – ein Land, in dem du noch nie gewesen bist.
SCHÖNHEITbockig Ich hasse es, in diese neuen Zivilisationen hineinzuplatzen. Wie lange muss ich diesmal bleiben?
DIE STIMME Fünfzehn Jahre.
SCHÖNHEIT Und wie heißt der Ort?
DIE STIMME Es ist das wohlhabendste, herrlichste Land auf Erden – ein Land, in dem die Klügsten nur um ein [44] weniges klüger sind als die Dümmsten; ein Land, wo die Regierenden den Verstand kleiner Kinder haben und die Gesetzgeber an den Weihnachtsmann glauben; wo hässliche Frauen starke Männer beherrschen…
SCHÖNHEITerstaunt Was?
DIE STIMMEäußerst bedrückt Ja, wahrhaftig ein Anblick, der schwermütig stimmt. Frauen mit fliehendem Kinn und unförmiger Nase laufen bei helllichtem Tage umher und sagen: »Tu dies!« und »Tu das!«, und sämtliche Männer, selbst diejenigen, die über großen Reichtum verfügen, folgen bedingungslos ihren Frauen, die sie klangvoll als »Mrs.Soundso« oder als »meine Alte« bezeichnen.
SCHÖNHEIT Das kann doch wohl nicht wahr sein! Ihren Gehorsam gegen Frauen mit gewissen Reizen kann ich natürlich verstehen – aber gegen dicke Frauen? Magere Frauen? Frauen mit knochigen Wangen?
DIE STIMME Aber so ist es.
SCHÖNHEIT Und was ist mit mir? Was für Chancen werde ich haben?
DIE STIMME Es wird eine ganz schöne Schinderei werden, wenn ich mich so ausdrücken darf.
SCHÖNHEITnach einer Pause Warum nicht die alten Länder, das Land der Trauben und der sanftzüngigen Männer oder das Land der Schiffe und Meere?
DIE STIMME Man nimmt an, dass sie bald alle Hände voll zu tun haben.
SCHÖNHEIT Oh!
DIE STIMME Dein Leben auf Erden wird sich wie immer in der Zeitspanne zwischen zwei bedeutungsschweren Blicken in einen schlichten Spiegel abspielen.
[45] SCHÖNHEIT Als was werde ich auftreten? Sag’s mir!
DIE STIMME Zunächst hat man sich gedacht, dass du diesmal als Filmschauspielerin gehen würdest, aber das ist nach alledem nicht ratsam. Während deiner fünfzehn Jahre wirst du dich als sogenannte ›junge Dame der gehobenen Gesellschaft‹ verkleiden.
SCHÖNHEIT Was ist das?
Im Wind ist ein neues Geräusch zu hören, das für unsere Zwecke so gedeutet werden muss: DIE STIMME kratzt sich am Kopf.
DIE STIMMEendlich Eine Art unechter Aristokratin.
SCHÖNHEIT Unecht? Was heißt unecht?
DIE STIMME Auch das wirst du in diesem Land entdecken. Du wirst auf vieles stoßen, das unecht ist. Auch wirst du vieles tun, das unecht ist.
SCHÖNHEITselbstgefällig Das alles klingt so vulgär.
DIE STIMME Nicht halb so vulgär, wie es ist. Während deiner fünfzehn Jahre wird man dich Ragtime-Kid nennen, Flapper, Jazz-Baby und Baby-Vamp. Du wirst die neuen Tänze weder graziöser noch ungraziöser tanzen als die alten.
SCHÖNHEITflüsternd Werde ich bezahlt?
DIE STIMME Ja, wie gewöhnlich – mit Liebe.
SCHÖNHEITmit einem leisen Lachen, das die Unbeweglichkeit ihrer Lippen nur flüchtig beeinträchtigt Und werde ich mich gerne Jazz-Baby nennen lassen?
DIE STIMMEnüchtern Sehr gerne…
Hier endet das Zwiegespräch. SCHÖNHEIT sitzt noch immer ruhig da. Die Sterne verharren in einem Taumel der Begeisterung, der Wind, weiß und böig, durchweht ihr Haar.
[46] All dies fand statt, sieben Jahre bevor ANTHONY am Wohnzimmerfenster seines Apartments saß und auf das Glockengeläut von St.Anne’s lauschte.
[47] Porträt einer Sirene
Einen Monat später war New York in eisige Frische ein gehüllt; und mit ihr kamen November, die drei großen Football-Spiele und ein großes Flattern von Pelzmänteln auf der Fifth Avenue. Außerdem bescherte sie der Stadt ein Gefühl von Spannung und unterdrückter Erregung. Jeden Morgen fand Anthony Einladungen in der Post. Drei Dutzend tugendsamer Frauen der ersten Garnitur gaben ihre Eignung, wenn auch nicht ihre definitive Bereitschaft bekannt, drei Dutzend Millionären Kinder zu gebären. Fünf Dutzend tugendsamer Frauen der zweiten Garnitur gaben nicht nur diese Eignung bekannt, sondern darüber hinaus ihre durchaus unerschrockenen Absichten auf drei Dutzend der ersten jungen Männer, die selbstredend zu jeder der sechsundneunzig Partys eingeladen wurden – ebenso wie der Kreis der Familienfreunde, Bekanntschaften und Kommilitonen der jungen Dame sowie beflissene junge Außenseiter. Und weiter: Es gab noch eine dritte Garnitur aus den Randgebieten der Stadt, aus Newark und den Vorstädten von Jersey bis hin zum rauhen Connecticut und den nicht gesellschaftsfähigen Bezirken Long Islands – und zweifellos angrenzende Garnituren bis hinunter zum Schuhwerk der Stadt: Jüdinnen, die, von der Riverside bis zur Bronx, in die Gesellschaft jüdischer Männer und Frauen eingeführt [48] wurden und sich auf einen aufsteigenden jungen Makler oder Juwelier und eine koschere Hochzeit freuten; irische Mädchen, die ihr Auge – endlich mit Erlaubnis – auf eine Gesellschaft korrupter junger Politiker, frommer Bestattungsunternehmer und ausgewachsener Sängerknaben richteten.
Natürlich ließ sich von dieser prickelnden Atmosphäre die ganze Stadt anstecken – die Arbeiterinnen, arme hässliche Wesen, die in den Fabriken Seife verpackten oder in den großen Kaufhäusern die neueste Mode zum Verkauf anboten, träumten davon, in der aufregenden Reizbarkeit dieses Winters den begehrten Mann ergattern zu können – so wie ein ungeschickter Taschendieb im Menschengewühl eines Volksfests wittert, dass seine Chancen steigen. Und die Kaminschlote begannen zu rauchen, und der faulige Geruch der Untergrundbahn verlor sich. Und die Schauspielerinnen kamen in neuen Bühnenstücken heraus, die Verleger kamen mit neuen Büchern heraus und Vernon und Irene Castle mit neuen Tänzen. Und die Eisenbahn kam mit neuen Fahrplänen heraus, die anstelle der alten Fehler, an die die Pendler sich eben erst gewöhnt hatten, neue enthielten…
Die ganze Stadt kam aus sich heraus!
Eines Nachmittags, Anthony lief unter einem stahlgrauen Himmel die 42. Straße entlang, begegnete er unverhofft Richard Caramel, der gerade aus dem Herrenfriseursalon des Manhattan Hotel trat. Es war ein kalter Tag, der erste ausgesprochen kalte Tag, und Caramel hatte einen dieser knielangen, mit Schaffell besetzten Mäntel an, die schon lange von den Arbeitern im Mittleren Westen getragen wurden und eben die Billigung der Modewelt fanden. Sein [49] weicher Hut war von einem gedeckten Dunkelbraun, darunter flammte sein klares Auge wie ein Topas. Begeistert hielt er Anthony an und schlug ihm auf die Arme, mehr aus dem Wunsch heraus, sich warmzuhalten, denn aus Jux und Tollerei. Nach dem unvermeidlichen Händedruck platzte er heraus: »Höllisch kalt heute – meine Güte, ich hab den ganzen Tag wie ein Berserker geschuftet. Dann ist mein Zimmer so kalt geworden, dass ich dachte, ich hol mir ’ne Lungenentzündung. Verflixte Hauswirtin spart an Kohlen. Hab mir mehr als ’ne halbe Stunde lang die Kehle nach ihr heiser geschrien, dann kommt sie endlich rauf. Hab angefangen zu erklären, was los ist. Gott! Sie hat mich erst fast zum Wahnsinn getrieben, dann sah ich in ihr aber doch plötzlich eine mögliche Figur, und ich hab mir Notizen gemacht, während sie daherplapperte – so, dass sie mich nicht sehen konnte, weißt du, als würde ich mir nur beiläufig was aufnotieren…«
Er hatte Anthonys Arm ergriffen und führte ihn forschen Schritts die Madison Avenue hinauf.
»Wohin?«
»Nirgendwohin.«
»Was soll das denn?«, wollte Anthony wissen.
Sie blieben stehen und blickten einander an, und Anthony überlegte, ob sein Gesicht in der Kälte wohl ebenso abstoßend wirkte wie Dick Caramels; dessen Nase war karminrot, die gewölbte Stirn blau und die ungleichen gelben Augen an den Rändern rot und wässrig. Kurz darauf gingen sie weiter.
»Bin mit meinem Roman gut vorangekommen.« Dick sprach und blickte nachdrücklich auf den Bürgersteig. [50] »Aber hin und wieder muss ich einfach raus.« Schüchtern schaute er zu Anthony, als benötige er dringend Zuspruch. »Ich muss einfach reden. Ich schätze, nur wenige Menschen denken nach, ich meine, setzen sich hin, denken nach und haben eine geordnete Abfolge von Ideen. Wenn ich nachdenke, dann schriftlich oder im Gespräch. Man braucht eine Art Anfang – etwas, das man verteidigen oder dem man widersprechen kann, findest du nicht?«
Anthony brummelte etwas und entzog ihm behutsam seinen Arm.
»Ich hab ja nichts dagegen, dich zu schleppen, Dick, aber mit dem Mantel…«
»Ich meine«, fuhr Richard Caramel feierlich fort, »der erste Absatz, den man zu Papier bringt, enthält die Idee, die man verwerfen oder ausbauen will. Im Gespräch muss man sich mit der letzten Behauptung seines Gegenübers befassen – aber wenn man einfach nur nachgrübelt, folgen die Ideen aufeinander wie die Bilder einer Laterna magica, und jede verdrängt die vorhergehende.«
Sie passierten die 45. Straße und verlangsamten ihre Schritte ein wenig. Beide zündeten sich Zigaretten an und bliesen ungeheure Wolken von Rauch und gefrorenem Atem in die Luft.
»Lass uns zum Plaza laufen und einen Eierflip trinken«, schlug Anthony vor. »Wird dir guttun. Die frische Luft verscheucht das scheußliche Nikotin aus unseren Lungen. Komm – darfst auch den ganzen Weg von deinem Buch reden.«
»Will ich doch gar nicht, wenn’s dich langweilt. Also wirklich, einen Gefallen brauchst du mir nicht zu tun.« Die [51] Worte kamen hastig herausgepurzelt, und obwohl er versuchte, ein gleichmütiges Gesicht aufzusetzen, verzog es sich vor Unsicherheit. Anthony sah sich gezwungen zu protestieren: »Mich langweilen? Aber mitnichten!«
»Hab da ’ne Cousine…«, setzte Dick an, doch Anthony fuhr ihm dazwischen, indem er die Arme ausbreitete und einen leisen Jubelschrei hauchte.
»Großartiges Wetter, nicht wahr!«, rief er aus. »Ich fühle mich wie zehn. Ich meine, ich fühle mich so, wie ich mich gefühlt haben muss, als ich zehn war. Mordsmäßig! O Gott, einen Augenblick liegt mir die Welt zu Füßen, und im nächsten schon bin ich ihr Narr. Heute liegt sie mir zu Füßen, und alles ist leicht, so leicht. Selbst das Nichts ist leicht!«
»Hab da ’ne Cousine im Plaza. Famoses Mädel. Wir könnten zu ihr hoch und sie besuchen. Im Winter wohnt sie da zusammen mit ihren Eltern – jedenfalls seit einiger Zeit.«
»Wusste gar nicht, dass du in New York Cousinen hast?«
»Sie heißt Gloria. Kommt aus meiner Gegend – Kansas City. Ihre Mutter ist praktizierende Bilphistin und ihr Vater ein ziemlicher Leimsieder, aber ein vollendeter Gentleman.«
»Was sind sie? Literarischer Stoff?«
»Sie geben sich jede Mühe. Der Alte sagt mir immer nur, er sei gerade der wunderbarsten Figur für einen Roman begegnet. Dann erzählt er mir von irgendeinem vertrottelten Freund und sagt: ›Das wäre doch eine Figur für dich. Weshalb verwendest du nicht den? Den fände doch jeder interessant.‹ Oder er erzählt mir von Japan, Paris oder irgendeinem anderen naheliegenden Ort und sagt: ›Weshalb schreibst du darüber keine Kurzgeschichte? Das wäre doch ein wunderbarer Schauplatz für eine Kurzgeschichte!‹«
[52] »Was ist mit diesem Mädchen?«, erkundigte sich Anthony beiläufig. »Gloria – Gloria, wie weiter?«
»Gilbert. Ach, du hast schon von ihr gehört – Gloria Gilbert. Geht auf Collegebälle – und all so was.«
»Ihren Namen habe ich schon mal gehört.«
»Gutaussehend – sogar verflucht attraktiv.«
Sie kamen zur 50. Straße und wandten sich zur Avenue.
»In der Regel mache ich mir nichts aus jungen Mädchen«, sagte Anthony stirnrunzelnd.
Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Die durchschnittliche Gesellschafts-Debütantin schien ihm wohl mit nichts anderem befasst zu sein, als zu jeder Tagesstunde darüber nachzudenken und davon zu sprechen, welche Beschäftigung die große weite Welt während der nächsten Stunde für sie bereithalte, andererseits interessierte ihn jede kolossal, die offen von ihrem hübschen Aussehen lebte.
»Gloria ist verflucht nett – kein Grips im Kopf.«
Anthony lachte – ein einsilbiges Schnauben. »Damit meinst du wohl, dass sie nicht eine Zeile literarischen Jargons beherrscht?«
»Nicht doch.«
»Dick, es ist bekannt, was du bei einem Mädchen unter Grips verstehst. Ernsthafte junge Frauen, die sich mit dir in eine Ecke setzen und sich ernsthaft über das Leben unterhalten. Frauen, die, als sie sechzehn waren, mit feierlichen Gesichtern darüber stritten, ob Küssen etwas Rechtes oder etwas Unrechtes sei – und ob es unmoralisch sei, wenn Erstsemester Bier trinken.«
Richard Caramel war gekränkt. Sein finsteres Gesicht knitterte sich zusammen wie zerknülltes Papier.
[53] »Nein…«, fing er an, doch rücksichtslos unterbrach Anthony ihn.
»O doch. Frauen, die in ebendiesem Augenblick in irgendeiner Ecke über den neuesten skandinavischen Dante in englischer Übertragung zu Rate sitzen.«
Dick drehte sich zu ihm um und machte ein wunderlich bestürztes Gesicht. Seine Frage klang fast wie ein Appell. »Was ist nur mit dir und Maury los? Manchmal redet ihr daher, als wäre ich eine Art Untergebener.«
Anthony war verwirrt, aber ihm war auch kalt und leicht unbehaglich zumute, daher flüchtete er sich in den Angriff.
»Ich glaube nicht, dass dein Grips wichtig ist, Dick.«
»Und ob er wichtig ist!«, rief Dick verärgert aus. »Was willst du damit sagen? Weshalb sollte er nicht wichtig sein?«
»Vielleicht weißt du zu viel für deine Feder.«
»Das könnte ich gar nicht.«
»Ich könnte mir einen Mann vorstellen«, beharrte Anthony, »der zu viel weiß, als dass er es bei seinem Talent ausdrücken könnte. Nimm mich als Beispiel. Angenommen etwa, ich wäre klüger als du, aber weniger begabt. Wahrscheinlich könnte ich mich nicht gut artikulieren. Du hingegen hast genügend Wasser, um den Eimer damit zu füllen, und einen Eimer, groß genug, um das Wasser aufzunehmen.«
»Ich kann dir überhaupt nicht folgen«, beschwerte sich Dick in niedergeschlagenem Ton. So tief betroffen, schien er sich erst recht überall zu wölben. Er starrte Anthony durchdringend an, wobei er mehrere Passanten anrempelte, die ihn mit böse grollenden Blicken tadelten.
»Ich meine damit nur, dass ein Talent wie das von H. G. [54] Wells die Intelligenz eines Herbert Spencer mitträgt. Aber ein minderes Talent kann nur dann geistreich sein, wenn es mindere Ideen mitträgt. Und je beschränkter der Blickwinkel, desto unterhaltsamer kann man über etwas schreiben.«
Dick dachte nach, vermochte jedoch das genaue Ausmaß an Kritik, das Anthony mit seinen Bemerkungen beabsichtigte, nicht abzuschätzen. Mit jener Leichtigkeit, die er so häufig zu verströmen schien, fuhr Anthony fort. Die dunklen Augen in seinem schmalen Gesicht blitzten, und mit erhobenem Kinn, erhobener Stimme, erhobenem Körper sprach er: »Angenommen, ich wäre stolz, vernünftig und klug – ein Athener unter Griechen. Trotzdem könnte ich unterliegen, wo ein Geringerer obsiegen würde. Er könnte nachahmen, er könnte ausschmücken, er könnte schwärmen, er könnte eine Zukunftsvision schaffen. Doch mein angenommenes Ich wäre zu stolz, um nachzuahmen, zu vernünftig, um zu schwärmen, zu weltklug, um Utopist zu sein, zu sehr Grieche, um auszuschmücken.«
»Dann glaubst du also nicht daran, dass der Künstler aus seiner Intelligenz heraus schafft?«
»Nein. Hinsichtlich des Stils verbessert er immer nur, was er nachahmt, wenn er denn dazu imstande ist, und wählt aus seiner Deutung der Dinge um ihn her dasjenige aus, was seinen Stoff darstellt. Aber schließlich und endlich schreibt jeder Schriftsteller deswegen, weil es nun mal seine Lebensart ist. Sag mir bloss noch, dass dir das Gerede von der ›göttlichen Sendung des Künstlers‹ zusagt?«
»Ich hab’s mir noch nicht mal angewöhnt, mich als Künstler zu bezeichnen.«
[55] »Dick«, sagte Anthony und wechselte den Tonfall, »ich möchte dich um Entschuldigung bitten.«
»Warum?«
»Wegen dieses Ausbruchs. Es tut mir wirklich leid. Ich habe nur aus Effekthascherei geredet.«
Leicht beschwichtigt, erwiderte Dick: »Ich hab ja schon immer gesagt, dass du im Grunde deines Herzens ein Philister bist.«