Die schönsten Weihnachtsgeschichten II - Charles Dickens - E-Book

Die schönsten Weihnachtsgeschichten II E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Die schönsten Geschichten zur Weihnachtszeit, erzählt von Charles Dickens in zwei Bänden. Von Heimchen, Spielzeughändlern und anderen obskuren Gestalten. In ›Das Heimchen am Herde‹ spielt eine Grille die gute Fee im Haus. Die junge Dot ist mit dem gutmütigen John Peerybingle verheiratet. Eines Abends bringt Mr. Peerybingle, der von Beruf Fuhrmann ist, den Spielzeughändler Mr. Tackleton mit nach Hause. Das Paar nimmt ihn mit zum Abendessen bei Freunden. Durch einen dummen Zufall glaubt John Peerybingle, seine Frau habe eine Affäre mit Mr. Tackleton. Allerschönstes Weihnachtslesevergnügen.

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LUNATA

Die schönsten Weihnachtsgeschichten

Band 2

Charles Dickens

Die schönsten Weihnachtsgeschichten

von Charles Dickens

© 1927 Charles Dickens

Aus dem Englischen von Gustav Meyrink,

Carl Kolb und Julius Seybt

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Das Heimchen am Herde

Erstes Zirpen

Zweites Zirpen

Drittes Zirpen

Hochzeitsttanz

Auf der Walstatt des Lebens

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Doktor Marigold

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Mrs. Lirripers Fremdenpension

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Die Geschichte des armen Verwandten

Die Geschichte des armen Verwandten

Das Heimchen am Herde

Erstes Zirpen

Der Kessel fing an! Sprecht mir nicht davon, was Mrs. Peerybingle behauptet hat. Natürlich weiß ich es besser als sie. Für ewige Zeiten mag Mrs. Peerybingle es vor Gericht zu Protokoll geben, daß sie nicht imstande sei, auszusagen, wer von ihnen beiden den Anfang gemacht hat – ich behaupte, daß der Kessel es war. Wer sollte es denn sonst wissen, wenn nicht ich. Dort in der Ecke steht eine kleine Schwarzwälderuhr, und deren Wachsgesicht zeigte an, daß der Kessel ganze fünf Minuten vorher angefangen hat, bevor das Heimchen überhaupt zu zirpen begann.

Gerade als hätte die Uhr nicht voll ausgeschlagen und als hätte der kleine Landmann oben drauf, der mit seiner Sense vor einem maurischen Schloß rechts und links drauflos arbeitete, nicht einen halben Morgen Gras abgemäht – das, nebenbei gesagt, garnicht da war, bevor das Heimchen überhaupt daran dachte, einzufallen.

Nicht, daß ich von Natur aus immer recht haben will. Alle Welt weiß das. Um nichts in der Welt möchte ich Mrs. Peerybingle widersprechen, wenn ich nicht vollkommen von der Wahrheit meiner Aussage überzeugt wäre. Wahrlich, nichts könnte mich dazu veranlassen. Hier jedoch sprechen Tatsachen. Und Tatsache ist, daß der Kessel mindestens fünf Minuten vorher begann, bevor das Heimchen überhaupt ein Lebenszeichen von sich gab. Wenn mir jetzt jemand widerspricht, so sage ich zehn!

Erlaubt jetzt, daß ich exakt erzähle, wie es geschah. Freilich hätte ich das gleich tun sollen, – aber das ist einfach so: soll ich eine Geschichte erzählen, so habe ich mit dem Anfang anzufangen – und wie kann ich mit dem Anfang anfangen, wenn ich nicht mit dem Kessel beginne?

Ist es nicht gerade, als handelte es sich um eine Wette oder ein musikalisches Preisringen? Natürlich zwischen dem Kessel und dem Heimchen. Und nun erzähle ich auch, wie es zugegangen ist und wie sich die Sache verhält.

Mrs. Peerybingle ging in die unheimliche Dämmerung hinaus und klapperte mit ihren Pantoffeln, unendlich viele rohe Abdrücke des ersten Euklidischen Lehrsatzes auf dem Hofe zurücklassend, über die nassen Steine, um den Kessel aus dem Wasserfaß zu füllen. Sodann kehrte sie in das Haus zurück, d. h. ohne die Pantoffel – und das ist ein großer Unterschied, denn die Pantoffel waren hoch und Mrs. Peerybingle war klein – und nun stellte sie den Kessel ans Feuer. Dabei verschwand ihre gute Laune, oder Mrs. Peerybingle hatte sie beiseite gelegt. Denn das Wasser auf dem Hofe – das sehr kalt war und außerdem so klebrig und glitschig, daß es alle möglichen Stoffe, selbst Pantoffel nicht ausgenommen, durchdringt – hatte Mrs. Peerybingles Füße nicht geschont und selbst ihre Waden bespritzt. Bilden wir uns aber nun – und das mit Fug und Recht – etwas auf unsere Beine ein und sind wir obendrein sehr eigen, was Sauberkeit und saubere Strümpfe betrifft, so empfinden wir das natürlich zunächst als eine große Unannehmlichkeit. –

Nun kommt noch dazu, daß auch der Kessel überaus widerspenstig war. Er wollte auf der Eisenstange nicht sitzen bleiben; er wollte nichts davon wissen, sich den Kohlen freundlich anzubequemen. Er beugte sich absolut wie ein Betrunkener vornüber und, als richtiger Einfaltspinsel von einem Kessel, ließ er seinen Inhalt auf den Herd tröpfeln. –

Er war streitsüchtig und zischte und sprudelte mürrisch über dem Feuer. Schließlich widersetzte sich auch der Deckel Mrs. Peerybingles Fingern; erst schlug er einen Purzelbaum und dann fiel er mit boshafter Hartnäckigkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen, seitwärts bis auf den Grund des Kessels hinunter. Sogar der Rumpf des »Königlichen Georg« hat, um aus den Tiefen des Meeres gehoben zu werden, den Ingenieuren nicht halb soviel Widerstand geleistet, als dieser widerspenstige Kesseldeckel den Fingern der Mrs. Peerybingle.

Auch dann noch erwies sich der Kessel widerspenstig und dickköpfig; streckte seinen Henkel keck empor und schien seine Schnauze impertinent und höhnisch gegen Mrs. Peerybingle zu rümpfen, als wollte er sagen:

»Ich will nicht kochen. Nichts kann mich dazu bewegen!«

Aber Mrs. Peerybingle hatte ihre gute Laune wiedergefunden: sie rieb ihre molligen rundlichen Hände aneinander und setzte sich vergnügt vor den Kessel. Inzwischen schlug die Flamme fröhlich empor und beleuchtete freundlich den kleinen Grasmäher auf der Schwarzwälder Uhr, so daß man hätte glauben können, er stehe stockstill vor dem maurischen Palast und nur die Flamme sei in Bewegung.

Allein er bewegte sich doch; er hatte noch ganz richtig und regelmäßig seine Anfälle, immer zwei in der Sekunde. Aber es war schrecklich, seine Leiden anzusehen, wenn die Uhr im Begriff war zu schlagen, und sooft der Kuckuck aus seiner Klapptür im Palast herausguckte und sechsmal einsetzte, schüttelte es ihn jedesmal wie eine Gespensterstimme, oder wie ein Eisendraht, der an seinen Beinen zerrte.

Erst nach einer heftigen Erschütterung, und nachdem das Schnarren und Rasseln der Gewichte und der Schnüre unter ihm vollständig aufgehört hatte, kam der geängstete Grasmäher wieder zu sich. Sein Schrecken war übrigens begründet gewesen; denn die rasselnden Knochengerippe von Uhren sind mit ihrer lärmenden Tätigkeit ganz danach angetan, jeden außer Fassung zu bringen, und es wundert mich sehr, wie sich irgendein Mensch, ganz besonders aber ein Schwabe, daran ein Vergnügen finden konnte, sie zu erfinden. Behauptet man doch überhaupt, die Schwaben liebten weite Gehäuse und viel Kleidungsstoff für die unteren Teile ihres Körpers, und sie hätten darum schon der Übereinstimmung wegen ihre Uhren nach unten zu nicht so ganz nackt und unbekleidet lassen sollen.

Aber dies war der Augenblick, wo der Kessel sich zu amüsieren anfing. Dies war der Augenblick, wo der Kessel, sanft und musikalisch werdend, in seiner Kehle ein ununterdrückbares Gurgeln zu bekommen begann und kurze Schnaubetöne hören ließ, die er jedoch sofort erstickte, als wüßte er selbst noch nicht, ob er ein angenehmer Gesellschafter wäre. Dies war der Augenblick, wo er, nach zwei oder drei vergeblichen Anläufen seine zutraulichen Gefühle nicht zu verraten, alle üble Laune, alle Zurückhaltung beiseite schob und plötzlich in so fröhliche, trauliche Melodien ausbrach, daß sogar die sentimentalste Nachtigall ihn darum beneidet hätte.

Und wie einfach war der Gesang! Gott, ihr hättet ihn verstanden wie ein Buch – ja vielleicht besser als gewisse Bücher, die ich nicht nennen will. Während er seinen warmen Atem in einer lichten Wolke ausströmte, der fröhlich und anmutig einige Fuß emporstieg, und dann in der Kaminecke als an seinem Privathimmel hängen blieb, trällerte der Kessel sein Lied mit solchem Elan und einer Begeisterung, daß sein metallischer Körper auf dem Feuer summte und vor Freude schaukelte; und selbst der Deckel, der vorhin so widerspenstige Deckel – so viel vermag ein gutes Beispiel! – führte eine Art von Polka auf und klapperte wie ein taubstummes junges Zimbelbecken, das nie etwas von den Gewohnheiten seines Zwillingsbruders gehört hat.

Daß dieser Gesang des Kessels ein Einladungs- und Willkommensgruß für jedermann da draußen war, für jemand, der sich in diesem Augenblick dem kleinen behaglichen Hause und dem flackernden Feuer näherte, darüber kann gar kein Zweifel bestehen. Mrs. Peerybingle wußte das freilich sehr gut, während sie nachdenklich vor dem Herde saß.

Die Nacht ist finster, sang der Kessel, und dürre Blätter liegen am Wege; und oben ist alles Nebel und Dunkelheit, unten alles Schmutz und Schlamm; nur einen hellen Punkt gibt es in der traurigen düstern Luft, doch ich weiß nicht einmal, ob es einer ist, denn er scheint nur ein dunkelroter, zorniger Schimmer an der Stelle zu sein, wo Sonne und Wind gemeinsam den Wolken ein Brandmal aufdrücken, um sie wegen eines solchen Wetters zu strafen; und wohin man sieht, ist die Landschaft nur ein einziger trübseliger schwarzer Streifen; und Reif bedeckt den Wegweiser und Glatteis die Pfade; und das Eis ist kein Wasser und das Wasser kann nicht fließen und kein Wesen kann sagen, daß etwas sei, wie es sein sollte; aber er kommt, kommt, kommt! . . .

Und hier, wenn ihr erlaubt, stimmte das Heimchen ein mit einem Zirp–zirp–zirp von einer Großartigkeit wie ein Chor, – mit einer Stimme, die in einem so fabelhaften Mißverhältnis stand zu seiner Größe im Vergleich mit der des Kessels – (was sag' ich Größe! man konnte es ja nicht einmal sehen!) – daß, wenn es geplatzt wäre wie ein zu stark geladenes Gewehr, es als ein Opfer seines Fleißes auf der Stelle geblieben wäre und seinen kleinen Körper in tausend Splitter zerzirpt hätte – es würde euch das nur als eine natürliche und unvermeidliche Folge erschienen sein, auf die es extra losgearbeitet hatte. –

Bei dem Kessel war es aus mit seinem Solo. Allerdings fuhr er mit ungeschwächter Anstrengung fort; aber das Heimchen spielte jetzt die erste Violine und behielt sie. Gott, wie das zirpte! Seine schrille, harte, durchdringende Stimme tönte durch das ganze Haus und schien in der Dunkelheit draußen zu scheinen wie ein Stern. Es lag ein unbeschreibliches Trillern und Tremulieren in seinen höchsten Noten, das auf den Gedanken brachte, es sei ihm, hingerissen von dem Feuer seiner Begeisterung, nicht mehr möglich, sich aufrecht zu erhalten und müsse nun immer hüpfen und springen. Doch stimmten sie ganz ausgezeichnet zusammen, das Heimchen und der Kessel. Der Refrain des Liedes war immer derselbe, und lauter, lauter, immer lauter sangen sie in ihrem Wetteifer.

Die hübsche kleine Zuhörerin – denn hübsch war sie und jung, obgleich ein wenig rundlich, was mir persönlich aber durchaus nicht unsympathisch ist – die hübsche kleine Zuhörerin zündete ein Licht an, warf einen Blick nach dem Heumäher oben auf der Uhr, der schon eine recht schöne Mittelernte von Minuten geerntet hatte, und blickte dann zum Fenster hinaus, wo sie jedoch dank der Finsternis nichts sah als ihr eigenes Gesicht, das sich in den Scheiben spiegelte. Allerdings ist meine Ansicht – und ich glaube, auch die eure –: sie hätte lange hinausblicken können, ehe sie nur etwas halb so Anmutiges gesehen hätte.

Als sie auf ihren alten Sitz am Herde zurückkehrte, waren das Heimchen und der Kessel noch immer am Musizieren in einer Art wütenden Wettstreites – offenbar war die schwache Seite des Kessels die, daß er nicht wußte, wann er besiegt war.

Eine Aufregung, ganz wie bei einem Wettrennen. Zirp, zirp, zirp! Heimchen eine Weile voran Sum, sum, sum–m–m! Kessel tapfer hinterdrein, gerade wie ein großer Brummkreisel. Zirp, zirp, zirp! Heimchen biegt um die Ecke. Sum, sum, sum–m–m! Kessel folgt natürlich: kein Gedanke, sich für besiegt zu halten. Zirp, zirp, zirp! Heimchen lustiger als je. Sum, sum, sum–m–m! Kessel bedächtig, aber beharrlich! Zirp, zirp, zirp! Heimchen legte sich ins Geschirr, um ihm den Garaus zu machen. Sum, sum, sum–m–m! Kessel gibt nicht nach – bis sie schließlich im Holterpolter des Wettrennens sich so miteinander vermischen, daß, um einigermaßen sicher zu entscheiden, ob der Kessel zirpte und das Heimchen summte, oder ob das Heimchen zirpte und der Kessel summte, oder ob sie beide zirpten und beide summten, ein hellerer Kopf als der eure und der meine dazu nötig gewesen wäre. – Darüber kann jedoch kein Zweifel bestehen: daß der Kessel und das Heimchen genau in demselben Augenblick und vermöge einer ihnen allein bekannten Harmonie ihren Herdgesang auf den Flügeln eines Lichtstrahls, der durch das Fenster drang, die ganze Straße hinunter sandten. Und dieser Strahl, der auf einen gewissen Jemand fiel, der sich in der Dunkelheit dem Hause näherte, teilte ihm sofort die ganze Sache mit und rief: »Willkommen zu Hause, alter Knabe! Willkommen, lieber Freund!«

Gerade als dies Ziel erreicht war, kochte der Kessel, vollständig besiegt, über und wurde schnell vom Feuer genommen. Dann lief Mrs. Peerybingle nach der Tür, und bei dem Gerassel von Wagenrädern, dem Stampfen eines Pferdes, dem Rufen eines Mannes, dem Drauflosstürmen eines aufgeschreckten Hundes und dem ebenso überraschenden wie geheimnisvollen Erscheinen eines Wickelkindes wußte sie bald gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. –

Woher das Wickelkind kam oder wo Mrs. Peerybingle es nur so im Handumdrehen herbekommen, das kann ich beim besten Willen nicht erzählen. Jedenfalls aber lag ein lebendiges Wickelkind in Mrs. Peerybingles Armen, und sie schien sogar glücklich und stolz darauf zu sein, als sie von der robusten Gestalt eines Mannes sanft ans Feuer gezogen wurde, der viel größer und viel älter als sie war; er mußte sich tief herabbücken, um sie zu küssen. Aber es war auch der Mühe wert. Sogar für einen Mann von sechs Fuß sechs Zoll lohnte es sich, ja, wäre er noch obendrein mit Kreuzschmerzen behaftet gewesen!

»Herr, mein Gott!« sagte Mrs. Peerybingle. »Wie siehst du aus, bei dem Wetter!«

Man konnte in der Tat nicht leugnen, daß er recht schlimm aussah, – der dicke Nebel hing in großen Tropfen an seinen Augenwimpern wie gefrorener Tau, und das Feuer und die Nässe ließen richtige Regenbogen in seinem Backenbart spielen.

»Ja, siehst du, Dot«, sagte John langsam, während er einen Schal von seinem Halse wickelte und sich die Hände rieb: »ja, . . . Sommerwetter haben wir gerade nicht. Da ist's also nicht zu verwundern.«

»Ich bitte dich, John, nenne mich nicht Dot.Pünktchen. Wirklich, der Name ist mir unleidlich«, sagte Mrs. Peerybingle und verzog das Mäulchen in einer Weise, die klar zeigte, daß sie ihn im Gegenteil sehr gern leiden mochte. »Na, und was bist du denn sonst?« erwiderte John, indem er lächelnd auf sie herabblickte und ihre Taille so sanft drückte, wie seine große Hand und sein starker Arm zuließen. »Was bist du denn sonst als ein Pünktchen und« – hier blickte er das Kind an – »ein Pünktchen und ein Klexchen . . . Aber nein, ich sag's nicht, es würde mir doch nicht gelingen; aber ich war nahe daran, einen Witz zu machen; ich glaube, ich war noch nie so nahe daran.«

Nach seiner Behauptung war er überhaupt oft nahe daran, etwas sehr Gescheites zu sagen, dieser unbeholfene, langsame, ehrliche John; dieser John mit seinem schwerfälligen Kopf und so hellem Herzen, mit so rauher Schale und so mildem Kern; außen so schläfrig und innen so lebhaft, so einfältig und doch so gut! O Mutter Natur, gib deinen Kindern die echte Poesie des Herzens, wie sie die Brust dieses armen Fuhrmanns in sich barg – denn nebenbei gesagt, er war nur ein Fuhrmann – und dann können sie gern in Prosa reden und ein prosaisches Leben führen, wir werden dich doch segnen für solche Gesellschaft!

Es war ein Vergnügen, Dot zu sehen, so klein und so rundlich, mit ihrem Wickelkinde auf den Armen, ein richtiges Püppchen von einem Wickelkinde – wie sie mit koketter Nachdenklichkeit ins Feuer sah und ihr feines Köpfchen grade genug auf die Seite neigte und es in seltsamer, halb natürlicher, halb gezierter, aber ganz anmutiger Weise, gleichsam wie ein kleines Nest an die breite rauhe Gestalt des Fuhrmanns schmiegte. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie er in seiner zärtlichen Unbeholfenheit sich bemühte, seine rauhe Stütze ihren leichten Bedürfnissen anzupassen und seine kräftige Männlichkeit zu einem nicht unangemessenen Stabe für ihre blühende Jugend zu machen. Es war ein Vergnügen zu sehen, wie Tilly Tolpatsch, die im Hintergrunde auf das Kind wartete, trotz ihrer angehenden fünfzehn Jahre sich die Gruppe ganz genau ansah und, Mund und Augen weit offen und den Kopf vorgestreckt, dastand – in einer Weise, als ob sie begierig Luft einatme. Nicht weniger erfreulich war es zu sehen, wie John, der Fuhrmann, auf einige Worte, die Dot bezüglich vorerwähnten Kindes sagte, seine Hand in demselben Augenblick zurückzog, als er es berühren wollte, als hätte er Furcht, es zu zerdrücken, und sich damit begnügte, es mit vorgeneigtem Oberkörper aus der Ferne zu betrachten, und zwar mit einer Mischung von Stolz und Verlegenheit – wie wohl ein liebenswürdiger Bullenbeißer dreingeschaut hätte, wenn er eines schönen Tages herausgefunden hätte, daß er Vater eines jungen Kanarienvogels sei.

»Ist er nicht hübsch, John? Sieht er nicht reizend aus, wenn er schläft?«

»Ganz reizend«, sagte John. »Ja, ja, ganz reizend. Er schläft wohl überhaupt die meiste Zeit, nicht wahr?«

»Aber mein Gott, John! Bewahre, nein!«

»Oh!« sagte John nachdenklich. – »Ich dachte, er hätte seine Augen meistens geschlossen. Halloh!«

»Du lieber Gott, John, wie du einen erschreckst!«

»Es ist nicht gut, daß er die Augen so verdreht!« sagte der erschreckte Fuhrmann. »Nicht wahr? Sieh, wie er mit beiden zugleich blinzelt! Und sieh nur den kleinen Mund an! Wie er schnappt, – gerade wie ein Goldfisch!«

»Du verdienst garnicht, Vater zu sein, durchaus nicht«, sagte Dot mit der ganzen Würde einer erfahrenen Matrone. »Aber wie solltest du auch wissen, John, wieviel kleine Schmerzen so ein Kindchen leiden muß! Du weißt nicht einmal ihren Namen, du dummer Mann!«

Und nachdem sie das Kind auf den linken Arm genommen und ihm als eine Art Herzstärkung den Rücken geklopft hatte, zupfte sie lachend ihren Mann am Ohr.

»Nein«, sagte John, indem er seinen Überrock auszog. »Du hast Recht, Dot, ich verstehe mich nicht besonders auf dergleichen. Ich weiß nur, daß ich heut Abend tüchtig mit dem Wind habe kämpfen müssen. Er kam von Nordost gerade in den Wagen herein, auf dem ganzen Heimweg.«

»Ach ja, mein armer, guter Mann!« rief Mrs. Peerybingle und wurde sofort außerordentlich beweglich. »Da, nimm den kostbaren Schatz, Tilly, während ich etwas Nützliches tue. Du lieber Gott, ich glaube, ich könnt' ihn schier totküssen! Kusch dich, gutes Tier. Kusch dich, Boxer! Erst sollst du deinen Tee haben, John, und dann will ich dir bei den Paketen helfen, wie eine fleißige Biene: ›Wie das kleine Bienchen‹Das in ganz England bekannte Kinderlied »The busy Bee«. – und so weiter: du weißt ja, John. Hast du je ›Wie das kleine Bienchen‹ gelernt, John, als du in die Schule gingst?«

»Nicht alle Verse«, antwortete John. »Ich war einmal sehr nahe daran, sie alle zu lernen. Aber ich hätte es doch nur verdorben.«

»Ha, ha, ha!« lachte Dot. Es war das lustigste Lachen von der Welt. »Was für ein guter, lieber, alter Dummkopf du doch bist, John!«

Ohne auf diese Behauptung irgend etwas einzuwenden, ging John hinaus, um nach dem Jungen mit der Laterne zu sehen, die wie ein Irrlicht vor Tür und Fenster hin und her hüpfte, ob er auch ordentlich für das Pferd sorge – und dieses Pferd war dicker und fetter, als ihr glauben würdet, wenn ich euch seinen Umfang angäbe, und so alt, daß sein Geburtstag sich in der grauen, dunklen Vorzeit verlor. Boxer, welcher wußte, daß die ganze Familie auf seine Aufmerksamkeit Anspruch hatte, und diese unparteiisch unter die einzelnen Mitglieder derselben verteilen wollte, stürmte überall beunruhigend ein und aus – bald bellte er rund um das Pferd herum, während dieses an der Stalltür gestriegelt wurde, bald stellte er sich, als wolle er sich wie toll auf seine Herrin stürzen, und machte dann plötzlich in ergötzlicher Weise halt, dann wieder der Tilly Tolpatsch, die auf einem Schemel am Feuer saß, einen Schrei entlockte, indem er ihr mit seiner feuchten Schnauze unvermutet im Gesicht herumfuchtelte; bald ein aufdringliches Interesse für das Wickelkind zeigte; bald rund um den Herd ging und sich niederlegte, als wolle er sich für die Nacht niederlassen; bald wieder aufstand und sein bißchen Schwanz in die Nacht hinaustrug, als habe er sich gerade eines Stelldicheins erinnert, und fort war er im raschen Trabe, um es nicht zu versäumen.

»Da, da ist der Tee, die Kanne steht auf dem Herdrand«, sagte Dot mit der ernsten Geschäftigkeit eines Kindes, das Hausfrau spielt. »Und da ist der kalte Schinken und da Butter und da Brot und all das andere! Hier ist ein Waschkorb für die kleinen Pakete, John, wenn du welche hast – aber wo bist du denn, John? Tu, was du tust, aber laß das liebe Kind nicht auf den Rost fallen, Tilly!«

Es muß hier bemerkt werden, daß Fräulein Tolpatsch trotz des Protestes, den sie gegen diese Möglichkeit einlegte, ein seltenes und ganz überraschendes Talent dafür besaß, das Wickelkind in allerlei Gefahren zu bringen, und mehr als einmal sein junges Leben mit einer nur ihr eigentümlichen Kaltblütigkeit aufs Spiel gesetzt hatte. Sie war von schmächtiger, hoher Gestalt, diese junge Dame, so, daß ihre Kleider in beständiger Gefahr zu sein schienen, von ihren spitzen Schultern, an denen sie nur lose hingen, herabzugleiten. An ihrem Kostüm war das Merkwürdige, daß es an allen möglichen Stellen gewisse Stückchen Flanell sehen ließ, und in der Gegend des Rückens ein Korsett von verschossenem Grün sichtbar wurde. Da Fräulein Tolpatsch stets in einem Zustande war, wo sie alles Denkbare begaffte und bewunderte und zudem in fortwährende Betrachtung der Vollkommenheiten ihrer Herrin und des Wickelkindes versunken war, so kann man wohl sagen, daß die kleinen Irrtümer ihres Verstandes ebensosehr ihrem Kopfe wie ihrem Herzen Ehre machten; und obgleich sie dem Köpfchen des Wickelkindes weniger Ehre machten, das sie gelegentlich in Berührung brachten mit Türkanten, Tischecken, Treppengeländern, Bettpfosten und andern fremdartigen Gegenständen, so waren sie doch nur das ehrliche Resultat von Tillys beständigem Erstaunen darüber, daß man sie so freundlich behandelte und sie in einem so behaglichen Hause untergebracht war. Denn die Tolpatsch, Vater und Mutter, waren der Fama beide gleich unbekannt. Tilly war durch öffentliche Barmherzigkeit aufgezogen worden, da sie ein Findling war, und dieses Wort, obgleich es grad so viel Buchstaben besitzt wie Liebling, hat doch einen ganz anderen Sinn und bezeichnet etwas durchaus anderes. 

Dot liebkost ihren Mann.

Es würde euch fast ebensosehr ergötzt haben wie John, wenn ihr selbst die kleine Mrs. Peerybingle mit ihrem Manne hättet zurückkommen sehen, wie sie an dem Waschkorbe zog und die tapfersten Anstrengungen machte, nichts zu tun – denn er trug ihn ja. Und soviel ich weiß, amüsierte es auch das Heimchen, wenigstens fing es jetzt mit einer gewissen Heftigkeit wieder zu zirpen an.

»Hallo!« sagte John in seiner langsamen Weise, »'s ist heut Abend lustiger als je, scheint mir.«

»Und es bringt uns sicherlich Glück, John! Das hat's immer getan. Ein Heimchen am Herd zu haben, ist das größte Glück von der Welt!«

John sah sie an, als wäre er nahe daran, auf den Gedanken zu kommen, sie sei sein Oberheimchen, und war vollständig mit ihr einverstanden. Aber es war vermutlich wieder eine jener Gelegenheiten, wo er nahe daran war, einen Witz zu machen, denn er sagte nichts.

»Das erstemal, daß ich seinen munteren lieben Gesang hörte, das war an jenem Abend, John, da du mich in dein Haus – in mein neues Heim brachtest, als seine kleine Herrin. Es ist nahezu ein Jahr her. Du erinnerst dich doch, John!«

O ja, John erinnerte sich! »Das sollt' ich meinen!«

»Sein Zirpen war mir ein so lieblicher Willkommensgruß! Es schien so voller Verheißung und Ermutigung! Es war, als wolle es mir sagen, du würdest gut und freundlich gegen mich sein und nicht erwarten – das fürchtete ich damals, John – einen alten Kopf auf den Schultern deiner dummen kleinen Frau zu finden.«

John klopfte nachdenklich eine dieser Schultern und streichelte dann ihren Kopf, als wollte er sagen: »Nein, nein, ich hatte so etwas nicht erwartet; ich bin mit diesem Kopf und diesen Schultern ganz zufrieden.« Und er hatte durchaus recht: sie waren allerliebst.

»Es sagte die Wahrheit, John, als es zu sprechen schien; denn du bist mir immer der beste, der nachsichtigste, der liebevollste Gatte gewesen. Du hast mir dieses Haus zu einem glücklichen Heim gemacht, John, und ich liebe das Heimchen darum.«

»Na, dann ich auch«, sagte der Fuhrmann. »Dann ich auch, Dot.«

»Ich liebe es, weil ich es so oft gehört habe und wegen der vielen guten Gedanken, die seine unschuldige Musik in mir angeregt hat. Wenn ich mich abends in der Dämmerung bisweilen ein wenig verlassen und niedergeschlagen fühlte, John, – nämlich ehe das Kindchen kam, um mir Gesellschaft zu leisten und es fröhlich im Hause zu machen – wenn ich bedachte, wie einsam du sein würdest, wenn ich stürbe, wie trostlos ich sein würde, wenn ich es wissen könnte, daß du mich verloren hättest, Liebster: da schien sein Zirp – zirp – zirp auf dem Herde mir von einem andern Stimmchen zu erzählen, von einem so süßen, meinem Herzen so teuren Stimmchen, daß dessen zukünftiger Klang meinen Kummer bald wie einen Traum verschwinden ließ. Und wenn ich sonst fürchtete – und ich fürchtete es anfangs wirklich, John, denn du weißt ja, ich war noch sehr jung! – wir könnten als ein schlechtes Ehepaar zusammenleben, da ich fast nur ein Kind war und du mehr aussahst wie mein Vormund als wie mein Mann – und daß du, welche Mühe du dir gäbest, doch nicht imstande wärest, mich so lieben zu lernen, wie du hofftest und wünschtest; dann heiterte sein Zirp-zirp-zirp mich wieder auf und gab mir frischen Mut und neues Vertrauen. An all diese Dinge dacht' ich heute Abend, Lieber, als ich dasaß und dich erwartete; und das ist's, warum ich das Heimchen so lieb habe!«

»Dann ich auch«, wiederholte John. »Aber Dot . . . ich erst hoffen und wünschen, daß ich dich lieben lernte! Wie du nur reden magst! Das hatte ich längst gelernt, eh' ich dich hierher brachte, damit du des Heimchens kleine Herrin seist, Dot!«

Sie legte ihre Hand einen Augenblick auf seinen Arm und schaute mit erregtem Gesicht zu ihm auf, als hätte sie ihm etwas sagen wollen. Am nächsten Augenblick jedoch lag sie vor dem Korb auf den Knien, plauderte mit ihrer angenehmen Stimme fröhlich und eifrig, während sie sich mit den Paketen beschäftigte.

»Es sind heute Abend nicht viele, John; aber ich habe soeben hinten auf dem Wagen einige Ballen gesehen, und wenn sie auch mehr Arbeit machen, so bringen sie doch auch mehr ein; wir haben also nichts, worüber wir uns zu beklagen hätten, nicht wahr? Und zudem hast du gewiß auf dem Heimweg schon einiges abgeliefert, nicht?«

»Jawohl«, sagte John. »Eine recht hübsche Anzahl.«

»Aber was ist dies für eine runde Schachtel? Du meine Güte, John, das ist ja ein Hochzeitskuchen!«Der Hochzeitskuchen, eine Art Baumkuchen, spielt in England bei der Hochzeit eine große Rolle.

»Sowas kann nur eine Frau erraten!« sagte John voll Bewunderung. »Ja, ein Mann wäre gar nicht auf solche Gedanken gekommen! Man packe nur einen Hochzeitskuchen in eine Teekiste, in eine auseinandergenommene Bettstelle, in ein Lachsfäßchen oder in irgendein anderes unwahrscheinliches Ding, ich wette, eine Frau findet ihn sofort heraus . . . Ja, das ist richtig, ich habe ihn von dem Konditor mitgebracht.«

»Und er wiegt, ich weiß nicht wie viele . . . ganze hundert Pfund!« rief Dot, indem sie große Anstrengungen machte, ihn aufzuheben. »Für wen ist er, John? Wo soll er hin?«

»Lies die Adresse auf der anderen Seite«, erwiderte John.

»Wie, John! Du meine Güte, John!«

»Ja, wer hätte das gedacht!« versetzte John.

»Du meinst doch nicht etwa«, fuhr Dot fort, indem sie sich auf den Boden setzte und den Kopf schüttelte, »daß er für Gruff und Tackleton, den Spielwarenhändler, ist!«

John nickte.

Mrs. Peerybingle nickte ebenfalls, wenigstens fünfzigmal. Nicht zum Zeichen der Zustimmung, sondern in stummer, mitleidiger Überraschung, und inzwischen zog sie mit all ihrer geringen Kraft ihre Lippen spitz zusammen – sie waren gar nicht für das Spitzzusammenziehen geschaffen, das ist mir klar – und blickte in Gedanken verloren den guten Fuhrmann gleichsam durch und durch an. Inzwischen fragte Fräulein Tolpatsch, die ein ungeheures Talent dafür hatte, aus dem Fluß der Unterhaltung einige Brocken zum Vergnügen des Wickelkindes herauszufischen, wobei sie sie jedoch alles Sinnes beraubte und fast sämtliche Wörter ins Diminutiv verwandelte, um sie diesem jungen Geschöpfchen anzupassen: »Wirklich für Gruffchen und Tapletonchen, das Spielwarenhändlerchen? Wollte bei dem Pastetenbäckerchen Hochzeitküchelchen holen? Und Mütterchen wirklich Schächtelchen sofortchen erkanntchen, als Väterchen sie heimchen gebracht!« und so weiter.

»Und die Heirat soll also wirklich zustande kommen!« sagte Dot. »Gott, wir sind zusammen in die Schule gegangen, John.«

John dachte ohne Zweifel an sie, oder war vielleicht nahe daran zu denken, wie sie in jener Schulzeit ausgesehen habe. Er sah sie mit nachdenklichem Wohlgefallen an, ohne jedoch zu antworten.

»Und er ist so alt –! Ihr so ungleich –! . . . Sag doch mal, John, wie viel Jahre ist Gruff und Tackleton wohl älter als du?«

»Wieviel Tassen Tee soll ich heute Abend in einer Sitzung wohl mehr trinken als Gruff und Tackleton je in vier Sitzungen getrunken hat?« versetzte John gutgelaunt, indem er einen Stuhl an den runden Tisch rückte und den kalten Schinken in Angriff nahm. »Was das Essen anbelangt, Dot, so esse ich nur wenig, aber dieses Wenige lass' ich mir schmecken.«

Selbst dieser sein gewöhnlicher Trinkspruch, eine seiner unschuldigen Selbsttäuschungen, – denn sein Appetit war stets hartnäckig und strafte ihn offensichtlich Lügen – rief kein Lächeln auf das Gesicht seines kleinen Weibchens, das zwischen den Paketen stand und die Kuchenschachteln langsam mit dem Fuße von sich stieß, ohne ihrem zierlichen Schuh, dem sie sonst so viel Beachtung schenkte, auch nur einen Blick zu gönnen, obgleich ihre Augen ebenfalls niedergeschlagen waren. In Gedanken verloren stand sie da, dachte ebensowenig an den Tee wie an John – obwohl er sie anrief und mit dem Messer auf den Tisch klopfte, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen – bis er endlich aufstand und ihren Arm berührte. Da schaute sie ihn einen Augenblick an und eilte, über ihre Nachlässigkeit lachend, auf ihren Platz hinter dem Teebrett. Aber sie lachte nicht wie früher. Die Art und Weise sowohl wie der Klang hatten sich ganz verändert.

Auch das Heimchen war verstummt. Das Zimmer war irgendwie nicht mehr so gemütlich wie früher. Gar nicht mehr.

»Dies sind also sämtliche Pakete, John?« sagte sie und unterbrach ein langes Schweigen, das der ehrliche Fuhrmann der praktischen Illustration des einen Teils seines beliebten Trinkspruches gewidmet hatte – indem er in der Tat bewies, daß er mit Appetit aß, wenn auch nicht zugegeben werden konnte, daß er nur wenig aß. »Dies sind also sämtliche Pakete, John?«

»Das ist alles«, versetzte John. »Aber – nein – ich –« setzte er hinzu, indem er Messer und Gabel niederlegte und tief ausatmete. »In der Tat, ich habe den alten Herrn rein vergessen!«

»Den alten Herrn?«

»Im Wagen«, sagte John. »Er war im Stroh eingeschlafen, als ich ihn zum letztenmal sah. Ich bin zweimal ganz nahe daran gewesen, mich seiner zu erinnern, seit ich hier bin; aber er ist mir wieder aus dem Kopfe gekommen. Holla! Heda, Ihr dort! Aufgestanden, guter Freund!«

John sagte diese letzten Worte vor der Tür, wohin er mit dem Licht in der Hand geeilt war.

Fräulein Tolpatsch, überzeugt, daß hinter dem Namen »alter Herr« irgendein Geheimnis stecke, und die in ihrer verworrenen Phantasie gewisse Vorstellungen religiöser Natur mit diesem Ausdruck verband»Alter Herr« (Old gentleman) ist in England ein beliebter Spitzname des Teufels., geriet so in Aufregung, daß sie hurtig von ihrem Schemel am Feuer aufstand, um Schutz hinter der Schürze ihrer Herrin zu suchen. Aber in dem Augenblick, als sie an der Tür vorübereilte, kam sie in Berührung mit einem unbekannten Greise und machte sofort instinktiv einen Angriff auf ihn mit der einzigen Waffe, die ihr gerade zu Gebote stand. Da diese Waffe zufällig das Wickelkind war, so entstand große Aufregung und Bestürzung, die Boxers Scharfsinn nur noch vermehrte; denn dieser brave Hund, achtsamer als sein Herr, hatte allem Anschein nach den alten Herrn in seinem Schlaf bewacht, damit er sich nicht mit ein paar jungen Pappeln davonmachte, die hinten auf den Wagen gebunden waren, und auch jetzt noch blieb er ihm hart auf den Fersen, zauste beständig an seinen Gamaschen und machte verzweifelte Angriffe auf seine Knöpfe.

»Na, Herr, Ihr versteht das Schlafen, das kann man nicht anders sagen«, sprach John, als die Ruhe wieder hergestellt war.

Während dieser Zeit hatte der alte Herr barhaupt und regungslos mitten im Zimmer gestanden.

»So ausgezeichnet versteht Ihr's, daß ich Euch fast fragen möchte, wo denn die andern sechs sind. Aber das gäbe ja beinahe einen Witz und ich würde ihn gewiß nur verderben. Übrigens nahe daran«, murmelte der Fuhrmann lachend: »ganz nahe daran!«

Der Fremde, der langes weißes Haar, schöne und für einen Greis merkwürdig stolze und ausdrucksvolle Züge und glänzende durchdringende dunkle Augen hatte, sah sich freundlich lachend um und grüßte des Fuhrmanns Frau mit würdevollem Kopfnicken.

Sein Anzug war zwar einfach, aber sehr komisch – er war schon längst aus der Mode gekommen. Er war ganz von brauner Farbe. In der Hand hielt er einen großen ebenfalls braunen Knüttel oder eine Art Spazierstock. Da geschah etwas Merkwürdiges: als er damit auf den Boden stieß, fiel er auseinanderAnspielung auf die Sage von den sieben Schläfern. und wurde ein Stuhl, auf den er sich mit der größten Gelassenheit setzte.

»Sieh nur!« sagte der Fuhrmann, indem er sich zu seiner Frau umwandte. »Gerade so fand ich ihn am Wege sitzend. Aufrecht wie ein Meilenzeiger. Und beinahe ebenso taub!«

»Er saß im Freien, John?«

»Ganz im Freien«, erwiderte der Fuhrmann; »just als die Nacht hereinbrach. ›Fahrgeld‹, sagte er und gab mir einundeinenhalben Schilling. Dann stieg er ein. Und jetzt ist er da.«

»Er wird doch wohl bald gehen wollen, John?«

Aber nein. Er wollte nur reden.

»Mit eurer Erlaubnis«, sagte der Fremde sanft, »ich soll abgeholt werden. Tut, als wenn ich gar nicht da wäre.«

Damit nahm er aus einer seiner weiten Taschen eine Brille und aus einer andern ein Buch und begann behäbig zu lesen, wobei er sich um Boxer nicht mehr kümmerte, als wäre er ein Lämmchen gewesen.

Der Fuhrmann und seine Frau wechselten einen bestürzten Blick. Der Fremde erhob sein Haupt, blickte von der letzteren auf den ersteren, und sagte:

»Eure Tochter, guter Freund?«

»Frau«, erwiderte John.

»Nichte?« fragte der Fremde.

»Frau!« schrie John.

»Wirklich?« versetzte der Fremde. »In der Tat, sehr jung!«

Dann schlug er gemütlich einige Blätter um und setzte seine Lektüre fort. Aber kaum hatte er zwei Zeilen gelesen, da unterbrach er sich wieder und fragte:

»Und das Kind – Euer?«

John machte mit dem Kopfe ein gar nicht mißzuverstehendes Zeichen der Bejahung – mit Hilfe eines Sprachrohrs hätte er nicht verständlicher antworten können.

»Mädchen?«

»Kna-a-be!« schrie John.

»Auch noch sehr jung, he?«

Sofort meldete sich Mrs. Peerybingle zum Wort.

»Zwei Monat und drei Ta-a-ge! Vor sechs Wochen wurde er gerade gei-i-mpft! Pocken sehr schön bekommen! Doktor sagte, ein merkwürdig schönes Ki-i-nd! So kräftig wie sonst nur Kinder von fünf Mo-o-nden! Seine Klugheit ganz wu-un-derbar! Wird Ihnen unglaublich scheinen, aber kann schon auf seinen Beinchen ste-e-hen!« Hier hielt die atemlose kleine Mutter, die diese kurzen Sätze dem Greise ins Ohr geschrien, bis ihr hübsches Gesicht feuerrot geworden, das Kindchen vor ihn hin, als einen unumstößlichen triumphierenden Beweis ihrer Behauptung, während Tilly mit dem melodischen Rufe »Ätsch, ätsch« – die geheimnisvollen Worte wie das Niesen eines kräftigen Mannes klangen – wie ein junges Kalb um das unschuldige Kindchen herumtanzte. –

»Horch! Da wird er gewiß abgeholt«, sagte John. »Da ist jemand an der Tür. Mach' auf, Tilly!«

Eh' sie jedoch die Tür erreicht hatte, wurde sie von außen geöffnet; denn es war eine jener altmodischen Türen mit Klinke, die jeder öffnen konnte, der Lust hatte – und gar mancher hatte Lust dazu; denn alle möglichen Nachbarn wechselten gern ein paar gemütliche Worte mit dem Fuhrmann, obgleich er gerade nicht sehr redselig war. Es trat ein kleiner dummer Mann mit nachdenklichem braunen welken Gesicht herein, der sich aus Packleinwand, in die wohl mal eine alte Kiste eingenäht worden war, selbst einen Überrock gemacht zu haben schien; denn als er sich umwandte, um die Tür zu schließen, damit das Wetter nicht hereinschlage, zeigte er auf der Rückseite seines Rocks in großen schwarzen Buchstaben die Aufschrift »G. & T.«, sowie in energischen Schriftzügen das Wort »Glas!«

»Guten Abend, John«, sagte der kleine Mann. »Guten Abend, junge Frau. Guten Abend, Tilly. Guten Abend, Unbekannter. Was macht das Kindchen, junge Frau? Und Boxer hoffentlich gesund?«

»Alles bei bestem Wohlsein, Kaleb.« antwortete Dot. »Um Euch davon zu überzeugen, braucht Ihr nur unseren lieben Jungen anzusehen.«

»Und Euch, dann weiß ich's noch mal«, versetzte Kaleb.

Er sah sie jedoch nicht an; denn er hatte ein unruhiges, nachdenkliches Auge, das immer in einer andern Zeit und einem andern Raume schien, wie denn seine Stimme auch niemals bei der Sache zu sein schien.

»Oder John, dann weiß ich's nochmal«, sagte Kaleb.

»Oder Tilly, soweit das möglich; oder auch Boxer.«

»Gerade viel zu tun, Kaleb?« fragte der Fuhrmann.

»O ja, ziemlich viel, John«, erwiderte dieser mit der zerstreuten Miene eines Mannes, der nicht weniger als den Stein der Weisen sucht. »Ja, ziemlich viel. Es ist jetzt starke Nachfrage nach Noahs Archen. Ich möchte die Noahsche Familie gern vollkommener machen, aber ich weiß nicht, wie es bei dem Preise möglich ist. Es würde mir Freude machen, wenn die Sems von den Hams, und die Männer von den Weibern deutlicher unterschieden werden könnten. Die Fliegen haben auch nicht das richtige Maß – wißt Ihr, wenn man sie mit den Elefanten vergleicht! Was ich sagen wollte, John, habt Ihr etwas unter den Paketen für mich?«

Der Fuhrmann steckte seine Hand in eine Tasche des Rockes, den er ausgezogen hatte, und brachte, sorgfältig in Moos und Papier gewickelt, einen kleinen Blumentopf zum Vorschein.

»Da ist's!« sagte er, ihn mit der größten Sorgfalt auspackend. »Es ist nicht ein einziges Blatt beschädigt. Ganz voller Knospen.«

Kalebs trübes Auge erhellte sich, als er ihn entgegennahm und dem Fuhrmann dankte.

»Teuer, Kaleb«, sagte der Fuhrmann; »sehr teuer um diese Jahreszeit.«

»Macht nichts, mir würde er immer billig sein, was er auch kosten mag«, erwiderte der kleine Mann. »Sonst noch was, John?«

»Eine kleine Schachtel«, erwiderte der Fuhrmann. »Da ist sie.«

»An Kaleb Plummer«, sagte der kleine Mann, die Adresse buchstabierend. »Mit Vorschuß, John? Ich glaube nicht, daß das für mich ist.«

»Mit Vorsicht«, entgegnete der Fuhrmann, ihm über die Schulter blickend. »Wie lest Ihr denn Vorschuß heraus?«

»Ach ja, richtig!« sagte Kaleb. »Ja, ja, richtig, mit Vorsicht! Jawohl, es ist für mich. Es hätte übrigens auch ›mit Vorschuß‹ heißen können, John, wenn mein lieber Junge, der nach dem goldenen Südamerika ging, noch lebte. Ihr liebtet ihn wie einen Sohn, nicht wahr? Ihr braucht nicht ja zu sagen. Ich weiß es ohnehin. An Kaleb Plummer, ›mit Vorsicht‹. Ja ja, ist ganz richtig. 's ist eine Schachtel mit Puppenaugen für die Arbeit meiner Tochter. Ich wollte, John, es wären Augen für sie selbst in der Schachtel.«

»Ich auch!« rief der Fuhrmann. »Oder doch, daß es so sein könnte!«

»Danke für den Wunsch«, sagte der kleine Mann. »Was Ihr sagt, kommt von Herzen. Wenn man so denkt, daß sie nie die Puppen sehen kann . . . und daß sie sie den ganzen lieben langen Tag so unverwandt anblicken! Das ist das Traurige dabei. Was bin ich Euch schuldig, John?«

»Das werdet Ihr gleich merken«, sagte John, »wenn Ihr sowas noch mal fragt. Dot, sehr nahe daran, he?«

»Ja, das sieht Euch ganz ähnlich«, bemerkte der kleine Mann. »Das ist so Eure freundliche Weise. Ich glaube, das wäre nun alles.«

»Ich glaub's nicht«, sagte der Fuhrmann. »Ratet noch mal.«

»Etwas für unsern Prinzipal, he?« sagte Kaleb nach kurzem Besinnen. »Jawohl, das ist's, warum ich herkam; aber mein Kopf steckt so voll Archen Noahs und dergleichen . . . Er ist doch nicht hier gewesen, nicht wahr?«

»Der!« versetzte der Fuhrmann. »Der hat den Kopf voll mit Heiraten.«

»Er muß jedoch herkommen«, sagte Kaleb; »denn er sagte mir, ich sollte auf dem Heimwege an der linken Seite gehen, und es gilt zehn gegen eins, daß er mich einholt. Übrigens, es ist wohl am besten, ich gehe . . . Möchtet Ihr wohl die Freundlichkeit haben, junge Frau, mich einen Augenblick Boxer in den Schwanz kneipen zu lassen – ja?«

»Aber Kaleb! Was fällt Euch ein!«

»O, es hat nichts zu bedeuten, junge Frau«, sagte der kleine Mann. »Er könnte es mir ja auch übelnehmen. Seht, ich habe da gerade einen ziemlich großen Auftrag auf bellende Hunde bekommen, und da möcht' ich es so natürlich herstellen, wie es sich für fünf Groschen machen läßt. Nichts für ungut, junge Frau.«

Da traf es sich glücklicherweise, daß Boxer, ohne, wie vorgeschlagen, gekniffen zu werden, mit großem Eifer zu bellen begann. Aber da dieses Bellen die Nähe eines neuen Besuches anzeigte, so lud sich Kaleb, indem er seine Studien nach der Natur auf günstigere Gelegenheit verschob, die runde Schachtel auf die Schulter und nahm hastig Abschied. Er hätte sich die Mühe sparen können, denn auf der Schwelle begegnete er bereits dem neuen Besuch.

»So, Ihr seid noch hier? Hm! Wartet ein Weilchen, ich werde Euch nach Hause bringen. John Peerybingle, Euer Diener; und vor allem der gehorsamste Diener Eures hübschen Weibchens. Alle Tage schöner! Auch besser, wenn möglich! und jünger«, murmelte der Redner leise; »das ist gerade der Teufel!«

»Ich würde mich wundern, daß Ihr so mit Komplimenten um Euch werft, Mr. Tackleton«, sagte Dot gerade nicht sehr gnädig, »wenn Eure neue Lage uns die Sache nicht erklärte.«

»Ihr wißt es also schon?«

»Ich hab's endlich fertiggebracht, es zu glauben«, sagte Dot.

»Vermutlich nach einem sehr heißen Kampf?«

»Nach einem sehr heißen.«

Tackleton, der Spielwarenhändler, ziemlich allgemein bekannt als Gruff und Tackleton – denn so hieß die Firma, obgleich Gruff schon längst ausgetreten war, seinem ehemaligen Kompagnon nur seinen Namen und seinem Geschäft, wie manche behaupteten, die Eigenschaft, die das Wörterbuch mit diesem WorteGruff: mürrisch, sauertöpfisch. bezeichnet, lassend – Tackleton, der Spielwarenhändler, war ein Mensch, dessen Beruf von seinen Eltern und Vormündern völlig mißverstanden worden war. Hätten sie einen Pfandleiher, einen Exekutor oder Makler aus ihm gemacht, so hätte er, wenn er seine widerwärtigen Hörner in der Jugend abgestoßen, und nachdem er die Bosheit seines Naturells in menschenfeindlichen Handlungen erschöpft, schließlich noch ein liebenswürdiger Mensch werden können, wäre es auch nur gewesen, weil es etwas ganz Neues für ihn bedeutet hätte. Aber das Schicksal hatte ihn dazu bestimmt, sich die Galle zu erhitzen in der friedlichen Beschäftigung eines Spielwarenhändlers, und so wurde er ein wahrer Hausteufel, der sein ganzes Leben lang von Kindern lebte, ohne darum aufzuhören, ihr unversöhnlicher Feind zu sein. Alle Spielsachen waren ihm ein Greuel, und er würde um alles in der Welt keine gekauft haben. Er fand in seiner Bosheit ein eigentümliches Vergnügen daran, den pappdeckelnen Pächtern, die ihre Schweine zu Markt trieben, den öffentlichen Ausrufern, die denjenigen, die verlorengegangene Advokatengewissen wiederfänden, eine angemessene Belohnung versprachen, den zappeligen alten Damen, die Strümpfe stopften oder Pasteten zerschnitten, und andern Figuren seines Lagers wilde, ingrimmige Gesichter zu geben. Es war ein wahrer Hochgenuß für ihn, schrecklich häßliche Fratzen zu erfinden, sowie häßliche, mit Haaren bedeckte, rotäugige Schachtelmännchen, vampirartige Papierdrachen, dämonische Springer, die nicht liegen bleiben wollten, sondern immer wieder jedem ins Gesicht sprangen und die Kinder bis zum Tode erschreckten. Sie waren sein einziger Trost und sozusagen der Kanal, der seine überströmende Bosheit abführte. Er war groß in solchen Erfindungen. Die Idee irgendeines Kinderälpchens war für ihn die Quelle eines unbeschreiblichen Entzückens. Er hatte sogar Geld dafür ausgegeben – und dies war das einzige Spielzeug, das er zärtlich liebte –, um Schiebegläser für Zauberlaternen zu bekommen, worauf die Mächte der Hölle als eine Art übernatürlicher Seekrebse mit menschlichen Gesichtern abgemalt waren. Auch hatte er ein kleines Kapital fest dafür angelegt, um Riesen von übernatürlicher Größe herzustellen, und obgleich nicht selbst Maler, verstand er doch, zur Belehrung der Fabrikanten, bei denen er seine Waren bestellte, mit einem Stück Kreide gewisse versteckte Züge anzudeuten, dazu angetan, die Gesichter jener Ungeheuer in einer Weise zu verändern, daß ihr Blick dann imstande war, alle jungen Herren zwischen sechs und elf Jahren während der ganzen Dauer der Weihnachts- und Hundstagsferien um ihre Seelenruhe zu bringen.

Wie er in Spielsachen war, so war er auch – wie die meisten Menschen – in allen andern Dingen. – Man kann sich daher leicht vorstellen, daß in dem großen, grünen Überzieher, der ihm bis über die Waden reichte, bis ans Kinn hinan ein möglichst unangenehmer Gesell steckte und daß er ein so auserlesener Patron und angenehmer Gesellschafter war, wie je einer in ein Paar Stiefeln, die wie Bullenbeißer aussahen, mit mahagonifarbigen Stulpen daran.

Und doch war Tackleton, der Spielwarenhändler, im Begriff, sich zu verheiraten. Ja, trotz alledem war er im Begriff, sich zu verheiraten. Und noch dazu mit einem jungen Mädchen, mit einem schönen jungen Mädchen.

Man sah ihm den Bräutigam wirklich nicht an, wie er so dastand in der Küche des Fuhrmanns mit seinem verzerrten, eingetrockneten Gesicht, seinem spiralartigen Körper, den Hut auf die Brücke von Nase herabgedrückt, die Hände bis auf den Grund der Taschen vergraben und seine ganz boshafte, spöttische Natur aus einer kleinen Ecke seines kleinen Auges hervorlauernd, so daß man unwillkürlich an soundsoviel Raben denken mußte. Und dennoch wollte er einen Bräutigam vorstellen.

»Nur noch drei Tage«, sagte Tackleton. »Nächsten Donnerstag. Der letzte Tag des ersten Monats im Jahr. Das ist mein Hochzeitstag.«

Habe ich bereits erwähnt, daß das eine Auge stets weit offen stand und er das andere beinahe geschlossen hielt, und daß das fast geschlossene Auge immer das ausdrucksvollere Auge war? Ich glaube nicht.

»Das ist mein Hochzeitstag!« sagte Tackleton, mit seinem Gelde klimpernd.

»Ei, ei, das ist auch unser Hochzeitstag«, rief der Fuhrmann.

»Ha, ha!« lachte Tackleton. »Merkwürdig! Ihr seid just auch so ein Pärchen. Just so eins!«

Das Entsetzen Dots über diese anmaßende Behauptung ist unbeschreiblich. Es fehlte nur noch, daß seine Einbildung so weit ging, sogar die Möglichkeit eines solchen Wickelkindes, wie das ihre, vorauszusetzen. Der Mann war nicht richtig im Oberstübchen!

»Hört einmal! Auf ein Wörtchen!« flüsterte Tackleton, indem er den Fuhrmann mit dem Ellenbogen anstieß und ihn ein wenig auf die Seite nahm. »Ihr kommt doch zur Hochzeit? Wir befinden uns ja in der gleichen Patsche, wißt Ihr!«

»Wieso in der gleichen Patsche?« fragte der Fuhrmann.

»Was die kleine Ungleichheit der Jahre anbetrifft, wißt Ihr«, sagte Tackleton, indem er ihm wieder einen Rippenstoß versetzte, »so kommt und bringt vorläufig einen Abend bei uns zu.«

»Warum?« fragte John, erstaunt über diese drängende Gastfreundschaft.

»Warum?« versetzte der andere. »Das ist ja eine ganz neue Art, Einladungen anzunehmen. Warum? Ei, des Vergnügens halber – um der Geselligkeit willen und all dergleichen, wißt Ihr?«

»Ich dachte, Ihr wäret niemals gesellig«, sagte John in seiner ehrlichen Weise.

»Nun, nun, ich sehe, bei Euch bleibt einem nichts übrig, als frei von der Leber weg zu reden«, versetzte Tackleton.

»Nun also, die Wahrheit ist, Ihr – Ihr und Eure Frau – habt ein . . . was die Teetrinker ein gewisses gemütliches Verhältnis nennen. Wir wissen das besser, versteht Ihr, aber . . .«

»Nein, wir wissen das nicht besser«, fiel ihm John in die Rede. »Wovon redet Ihr denn?«

»Gut, wir wissen's nicht besser«, sagte Tackleton. »Wir wollen also sagen, wir wissen's nicht besser. Wie Ihr wollt; was tut's? Ich wollte also sagen, da Ihr nun einmal einen solchen Eindruck macht, so wird Eure Gesellschaft einen günstigen Einfluß auf die zukünftige Mrs. Tackleton ausüben. Und obgleich ich nicht glaube, daß Eure liebe Frau in dieser Hinsicht sehr freundschaftlich gegen mich gesinnt ist, so kann sie gar nicht anders, als meinen Absichten dienen, denn sie hat in ihrer Erscheinung etwas so Vernünftiges und Behagliches, das immer eine gute Wirkung hervorbringt, selbst in gleichgültigen Dingen. Also Ihr kommt, nicht wahr?«

»Wir haben beschlossen, unsern Hochzeitstag zu Hause zu feiern, soweit bei uns von Feiern überhaupt die Rede sein kann«, sagte John. »Es ist nun schon ein halbes Jahr, daß wir uns dieses vorgenommen haben. Seht Ihr, wir meinen zu Hause . . .«

»Bah! Was zu Hause!« rief Tackleton. »Vier Wände und eine Decke – warum schlagt Ihr das Heimchen nicht tot? Ich tät's. Ich tu es immer. Der Lärm ist mir unerträglich . . . Auch bei mir gibt's vier Wände und eine Decke. Kommt also!«

»Was, Ihr schlagt Eure Heimchen tot?« sagte John.

»Zertrete sie«, versetzte der andere, mit dem Absatz fest auf die Diele tretend. »Aber nun sagt ja! Es ist ebenso sehr in Eurem als in meinem Interesse, wißt Ihr, daß unsere Weiber einander einreden, sie seien durchaus glücklich und zufrieden und könnten es gar nicht besser haben. Ich kenne die Weiber. Wenn die eine Frau sich rühmt, macht es ihr die andere gleich nach. Es herrscht unter ihnen, mein Lieber, ein solcher Wetteifer, daß, wenn zum Beispiel Eure Frau zu meiner sagt: ›Ich bin die glücklichste Frau von der Welt und habe den besten Mann von der Welt und bete ihn förmlich an‹, so wird meine Frau dasselbe zu der Eurigen sagen oder noch mehr, und sie glaubt es sogar halbwegs.«

»Ihr meint also, daß sie das nicht tut?« fragte der Fuhrmann.

»Nicht tun!« rief Tackleton, mit einem kurzen, scharfen Lachen. »Was nicht tun?«

Der Fuhrmann hatte halb die Absicht gehabt, hinzuzufügen: »daß sie Euch nicht anbetet.« Aber als er zufällig das halbgeschlossene Auge sah, in dem Augenblick, als es sich blinzelnd auf ihn heftete über den aufgeschlagenen Mantelkragen hin, dessen Spitze es ihm beinahe ausstach, da fühlte John, daß in diesem Menschen so wenig Anbetungswürdiges war, daß er statt dessen sagte: »daß sie es nicht selbst glaubt.«

»Ha, ha! Ihr seid ein Schelm! Ihr scherzt!« sagte Tackleton.

Aber der Fuhrmann, obgleich er nur langsam die ganze Tragweite dessen begriff, was er gesagt, sah ihn mit einer so ernsten Miene an, daß Tackleton genötigt war, sich etwas deutlicher zu erklären.

»Ich habe Lust«, sagte er, indem er die Finger seiner linken Hand emporhielt und den Zeigefinger anfaßte, als wollte er sagen: »Das bin ich, Tackleton nämlich« . . . »Ich habe Lust, mein Bester, mir ein Weibchen zu nehmen, und zwar ein junges Weibchen, und ein schönes Weibchen« – hier klopfte er auf seinen kleinen Finger, der gleichsam die Braut präsentierte, und zwar recht empfindlich, wie um sich als Herr zu zeigen. »Ich bin ganz der Mann danach, diesen Gedanken zur Ausführung zu bringen, und ich tu' es auch. Das ist nun einmal meine Laune. Aber – seht mal dort!«

Er deutete auf Dot, die nachdenklich am Feuer saß, ihr Kinn mit dem Grübchen auf die Hand stützte und in die helle Glut schaute. Der Fuhrmann sah sie an, und dann ihn, und dann sie, und dann wieder ihn.

»Ohne Zweifel ehrt sie Euch und gehorcht Euch, wie es ihre Pflicht und Schuldigkeit ist«, sagte Tackleton; »und da ich kein Mann von schönen Phantastereien bin, so genügt mir das auch vollständig. Meint Ihr etwa, daß noch sonst etwas dabei ist?«

»Ich meine«, bemerkte der Fuhrmann, »daß ich jeden zum Fenster hinauswerfen würde, der das Gegenteil behaupten wollte.«

»Richtig, richtig!« beeilte sich der andere mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit zuzustimmen, »Gewiß, versteht sich! Ohne Zweifel würdet Ihr das. Ganz selbstredend. Bin vollkommen davon überzeugt! Gute Nacht. Angenehme Träume!«

Der gute Fuhrmann war verlegen und empfand, er mochte wollen oder nicht, ein gewisses Unbehagen und etwas wie Unsicherheit. Er konnte nicht anders, als es in seiner Weise zu zeigen.

»Gute Nacht, lieber Freund!« sagte Tackleton in mitleidigem Ton. »Ich gehe. Wir sind natürlich vollständig der gleichen Meinung, wie ich sehe. Ihr wollt uns also morgen Abend nicht die Freude machen? Gut, übermorgen macht Ihr einen Besuch, wie ich weiß. Ich werde Euch dort treffen und meine Braut mitbringen. Sie wird sich freuen. Einverstanden? Danke! . . . Was ist das?«

Es war ein lauter Schrei, den des Fuhrmanns Frau ausstieß: ein lauter schriller, plötzlicher Schrei, der durch das Zimmer klang wie eine Glasglocke. Sie war aufgestanden und stand da wie versteinert von Schreck und Überraschung. Der Fremde war näher an das Feuer getreten, um sich zu wärmen, und stand einen Schritt von ihrem Stuhl entfernt, aber ganz still und schweigsam.

»Dot!« schrie der Fuhrmann. »Marie! Mein Liebling! Was ist Dir?« Im Augenblick waren alle um sie. Kaleb, der auf der Kuchenschachtel eingeschlummert war, ergriff im ersten unvollständigen Zusammensuchen seiner zeitweilig aufgehobenen Geistesgegenwart Fräulein Tolpatsch bei ihrem Haar, bat aber sofort um Entschuldigung.

»Marie!« rief der Fuhrmann, indem er sie in seine Arme nahm. »Bist du krank? Was fehlt dir? So rede doch, mein Herz!«

Ihre ganze Antwort bestand darin, daß sie die Hände zusammenschlug und in ein unaufhaltsames Lachen ausbrach. Dann glitt sie aus seinen Armen, bedeckte ihr Gesicht mit der Schürze und fing an, bitterlich zu weinen. Hierauf begann sie wieder zu lachen, dann wieder zu weinen, und sagte, es sei kalt und ließ sich an das Feuer führen, wo sie sich wieder, wie vorhin, niedersetzte.

Der alte Mann stand noch da, ganz gelassen wie zuvor.

»Mir ist besser, John« sagte sie. »Mir ist jetzt wieder ganz wohl . . . mir . . .«

Aber John stand an der anderen Seite der Stube. Warum sah sie nur den alten Herrn an, als ob sie mit ihm redete! War sie nicht bei Verstand?

»Nichts als Einbildung, lieber John . . . eine Art Erschütterung . . . etwas wie eine plötzliche Erscheinung . . . ich weiß nicht recht, was . . . es ist ganz vorüber, ganz vorüber.«

»Es freut mich, daß es ganz vorüber ist«, murmelte Tackleton, indem er das sorgenvolle Auge im ganzen Zimmer umherwandeln ließ. »Ich möchte wissen, wie es verschwunden ist und was es war. Hm! Kaleb, kommt mal her! Wer ist denn der Graukopf da?«

»Ich weiß nicht, Herr«, erwiderte Kaleb flüsternd. »Ihn früher nie gesehen; in meinem ganzen Leben nicht. Herrliche Figur für einen Nußknacker; ganz neues Modell. Mit einem Hängemaul, das bis auf den Bauch hinunter aufginge, würde er ganz prachtvoll sein.«

»Nicht häßlich genug«, sagte Tackleton.

»Oder auch für eine Streichholzbüchse«, bemerkte Kaleb, der in tiefe Betrachtung versank. »Welch ein Modell! Den Kopf abgeschraubt, um die Streichhölzer hineinzutun; umgewendet, und das Streichholz an den Absätzen angestrichen; welch eine Streichholzbüchse für den Kaminsims in einem Salon, wie er gerade so dasteht!«

»Lange, lange nicht häßlich genug!« versetzte Tackleton. »Aus dem ist gar nichts zu machen. Kommt! nehmt die Kuchenschachtel mit! – Alles in Ordnung jetzt, hoff ich?«

»O, es ist ganz vorüber! Ganz vorüber!« sagte die kleine Frau und winkte ihn hastig fort. »Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« sagte Tackleton. »Gute Nacht, John Peerybingle! Paßt gut auf die Schachtel, Kaleb! Laßt Ihr sie fallen, so schlag' ich Euch tot! Rabenschwarze Nacht, und das Wetter schlechter als je. Gute Nacht!«

Und nachdem er noch einen scharfen Blick im Zimmer umhergeworfen, ging er zur Tür hinaus, gefolgt von Kaleb, der den Hochzeitskuchen auf dem Kopfe trug.

Der Fuhrmann war so entsetzt über das, was seiner kleinen Frau zugestoßen war, und so damit beschäftigt, sie zu beruhigen und ihr zu helfen, daß er die Anwesenheit des Fremden fast vollständig vergessen hatte, und ihn erst jetzt, als die übrigen fort waren, wieder dastehen sah.

»Er gehört nicht zu ihnen, siehst du«, sagte John. »Ich muß ihm einen Wink geben, daß er geht.«

»Ich bitte um Verzeihung, Freund«, sagte der Greis, indem er auf ihn zutrat, »um so mehr, als ich fürchte, daß Eure Frau etwas unwohl geworden ist, aber da die Person nicht kommt, die mein Leiden« – hier zeigte er auf seine Ohren und schüttelte den Kopf – »mir fast unentbehrlich macht, so fürchte ich, daß ein Mißverständnis vorliegt. Das schlechte Wetter, das mir heute Abend den Schutz Eures bequemen Wagens – möchte ich nie einen schlechteren finden – so angenehm machte, ist abscheulicher als je. Würdet Ihr wohl so freundlich sein, mir gegen Entgelt ein Bett zu vermieten?«

»Ja, ja!« rief Dot. »Ja gewiß!«

»O!« sagte der Fuhrmann, überrascht von dieser sofortigen Einwilligung. »Nun, ich habe nichts dagegen; indes weiß ich nicht ganz bestimmt, ob –«

»Pst!« unterbrach sie ihn. »Lieber John!«

»I was, er ist ja stocktaub!« wendete John ein.

»Das weiß ich, aber – ja Herr, gewiß. Ja gewiß! Ich will ihm sofort ein Bett zurecht machen, John.«

Als sie davoneilte, um sich sofort an die Arbeit zu machen, hatten ihre Aufregung und die Sonderbarkeit ihres Verhaltens etwas so Eigentümliches, daß der Fuhrmann ihr ganz bestürzt nachblickte.

»Und Mütterchen ihm nunchen Bettchen machelchen?« sang Tilly Tolpatsch dem Wickelkinde vor: »und Härchen ihm wurden braunchen und krauschen, als Mützchen ein bissel er abchen genommen? Und hat's liebe Herzchen in Schreckchen gebracht, als es so stillchen am Feuerchen saß?«

Infolge jenes unerklärlichen Instinkts, der oft die geringfügigsten Belanglosigkeiten auf ein von Verwirrung und Zweifel gequältes Gemüt ausüben, überraschte sich der Fuhrmann dabei, während er langsam hin und her ging, wie er in Gedanken mehrmals jene sinnlosen Worte wiederholte, so oft, daß er sie auswendig wußte, und sie wie eine Lektion immer wieder hersagte, während Tilly, nachdem sie mit der flachen Hand das kleine Kahlköpfchen, wie Wärterinnen zu tun pflegen, so lange gerieben, als sie es für notwendig für seine Gesundheit hielt, dem Kindchen das Mützchen wieder aufsetzte.

»Und hat's liebe Herzchen in Schreckchen gebracht, als es so stillchen am Feuerchen saß?«

»Aber was hat denn nur Dot erschreckt!« murmelte der Fuhrmann, indem er immer wieder im Zimmer auf und ab ging.