Die Schule der Nacht - Ann A. McDonald - E-Book
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Die Schule der Nacht E-Book

Ann A. McDonald

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Beschreibung

Atmosphärisch, düster, spannend – perfekt für alle Fans von Deborah Harkness.

»Du kannst dich nicht für immer vor der Wahrheit verstecken. Bitte komm zurück, und bring alles zu einem guten Ende.« Diese Nachricht erhält die Amerikanerin Cassandra Blackwell in einem mysteriösen Päckchen, zusammen mit einem alten Foto ihrer verstorbenen Mutter, gekleidet in die schwarze Robe der Oxford Universität. Kurzerhand beschließt sie, nach England zu reisen, um mehr über die geheimnisvolle Vergangenheit ihrer Mutter zu erfahren. Dort entdeckt Cassie eine Welt voller Traditionen und Privilegien und merkt schnell, dass hier eine dunkle Macht am Werk ist – verbunden mit einer geheimen Gesellschaft, die sich Die Schule der Nacht nennt …

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Inhalt:

»Du kannst dich nicht für immer vor der Wahrheit verstecken. Bitte komm zurück, und bring alles zu einem guten Ende.« Diese Nachricht erhält die Amerikanerin Cassandra Blackwell in einem mysteriösen Päckchen, zusammen mit einem alten Foto ihrer verstorbenen Mutter, gekleidet in die schwarze Robe der Oxford Universität. Kurzerhand beschließt sie, nach England zu reisen, um mehr über die geheimnisvolle Vergangenheit ihrer Mutter zu erfahren. Dort entdeckt Cassie eine Welt voller Traditionen und Privilegien und merkt schnell, dass hier eine dunkle Macht am Werk ist – verbunden mit einer geheimen Gesellschaft, die sich Die Schule der Nacht nennt …

Autorin:

Ann A. McDonald wurde in Sussex geboren, studierte Philosophie, Politik und Wirtschaft in Oxford, um anschließend als Musikjournalistin und Unterhaltungskritikerin zu arbeiten. Heute lebt sie in Los Angeles und schreibt hauptberuflich Romane und Drehbücher.

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Ann A. McDonald

Die Schule der Nacht

Roman

Deutsch von Christoph Göhler

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel »The Oxford Inheritance« bei William Morrow, an Imprint of HarperCollins Publishers, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2016 by 3 Arts Entertainment Published by arrangement with William Morrow, an imprint of HarperCollins Publishers, LLC. Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Penhaligon Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion: Susann Rehlein Covergestaltung und -abbildung: www.buerosued.de LH · Herstellung: sam Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-20019-0V002
www.penhaligon.de

Epigraph

n

Der Teufel ist nunmehr emsiger denn je; der lange Tag der Menschheit neiget sich dem Abend zu, und der Welt Trauerspiel und Zeit nahen sich ihrem Ende.

Sir Walter Raleigh

Epilog

n

Sie rannte.

Durch die Tunnel, barfuß über den Steinboden. An den Hauptwegen leuchteten blakende Fackeln, darum tauchte sie tiefer ins Labyrinth ab, stolperte verborgene Treppen hinunter und die dunklen, verschlungenen Gänge entlang, bis stickiger Modergeruch in der Luft lag und die Türen protestierend aufstöhnten, wenn sie sie aufstemmte. Und immer noch rannte sie weiter.

Der Sprechgesang kam unaufhaltsam näher, von allen Wänden hallte das einlullende Summen wider, egal wie weit sie floh. Es war alles nur Einbildung, ermahnte sie sich. Es musste so sein. Unvermittelt erhob sich im Halbdunkel ein Schatten, sie kam vor Schreck ins Straucheln und schrammte sich im Fallen die Haut an den scharfkantigen Steinen auf. Doch sie hatte keine Zeit, ihrem Schmerz nachzuspüren, nicht solange sie das glitschige Messer fest umklammert hielt und die fernen Schritte mit jeder Sekunde lauter klangen. Näher.

Sie stolperte um eine weitere Ecke und die nächste Treppe hinauf und hätte um ein Haar vor Erleichterung aufgeschrien, als sie einen vertrauten behauenen Bogen sah. Dahinter, wusste sie, lag ein Seitengang und dahinter wiederum die Freiheit.

Da trat er aus dem Schatten.

Sie kam erneut ins Straucheln und blieb direkt hinter dem Eingang im Vorraum stehen. Er sagte kein Wort, er verstellte ihr nicht einmal den Weg, doch das Adrenalin, das sie durch die Dunkelheit getrieben hatte, schien auf einen Schlag zu versiegen, und nichts blieb zurück als ein hohler Schmerz in ihren Gliedern und ein schicksalsergebenes Schluchzen, das ungewollt aus ihrer Brust aufstieg. Ihre Finger öffneten sich wie von selbst. Das Messer fiel zu Boden.

Natürlich hatte er sie gefunden.

Der Mann schlenderte auf sie zu und hob die Hand, um ihr die Haare aus den Augen zu streichen. Die Geste war ihr so vertraut, dass ihr vor Trauer die Knie einknickten. Ein Schluchzen stieg aus ihrer Kehle und hallte rau durch die schwere Stille der Katakomben. Er deckte die Hand über ihren Mund und erstickte den Laut.

»Psst«, murmelte er, und sein Atem wehte sacht über ihre Wange. »Du bist jetzt bei mir.«

Er fing sie noch im Fallen auf und legte sie sanft ab, bis sie beide auf dem staubigen Boden zu liegen kamen, ihr Körper dicht an seinen geschmiegt. Jetzt, wo sie die Wahrheit kannte, konnte sie spüren, wie die Schwärze aus ihm sickerte: Wie sie in dunklen Tentakeln aus seinen Fingerspitzen aufstieg und kräuselnd verwehte, während er ihr Kinn nachzeichnete. Aber schlimmer als die schwarze Berührung – viel schlimmer – war, dass sie merkte, wie sich tief in ihrer Brust etwas löste. Ein Flattern wie von unsichtbaren Flügeln, mit dem ihr eigenes dunkles Herz aufstieg, um seinem Ruf zu folgen.

Sie kämpfte dagegen an, doch es war vorbei. Er wusste es. »Pst«, sagte er und hielt sie fest, sanfter als in irgend­einer der Nächte, in denen er sie zuvor gehalten hatte. Das Flattern hatte sich zu einem Schlagen verstärkt. Sie spürte, wie die Dunkelheit sich erhob, ihre Schwingen ausbreitete, um sie ganz und gar in Besitz zu nehmen.

»Du bist jetzt bei mir«, flüsterte er wieder. In seinen Augen leuchtete der Triumph, ein hungriger Vorgeschmack auf das, was kommen würde. Noch während er seine Lippen auf ihre senkte, tasteten ihre Finger verzweifelt nach dem Messer, und dann fand sie es: kalter Stahl auf staubigem Stein.

Sie ergab sich seinem Kuss und schickte ein stummes Gebet zum Himmel. Dann war nur noch Rot um sie.

Kapitel 1

n

Oxford im Sommer war eine Stadt im Belagerungszustand. Sie kamen von jenseits der Meere, aus Norwegen und Brasilien, Indien und Japan: In einer vereinten Invasionsarmee stürmten alte und neue Zivilisationen gleichermaßen die verträumten Kirchtürme und adretten sattgrünen Kolleg­höfe; die Gesichter mit einer Kriegsbemalung aus zinkhaltiger Sonnencreme maskiert, ließen die Invasoren ihre Schlachtenrufe in fremdländischem Kauderwelsch erschallen. Während sie vereint von den lauschigen Blumen­wegen des Botanischen Gartens zum altehrwürdigen, hoch aufragenden Speisesaal des Christ Church College zogen, vermengten sich in Souvenir-Shirts die unterschied­lichen Rassen und Nationen unter den Baseballkappen mit Union-Jack-Aufdruck zu einer einheit­lichen Truppe. Die Invasoren drängten sich auf dem Kopfsteinpflaster der Cornmarket Street, konsultierten Reiseführer und Straßen­karten und zwängten sich durch Eisentore, immer auf der Suche nach der besten Schussposition auf Statuen und geschwungene Sandsteinmauern.

Die Läden entlang der High Street trieben schwunghaften Handel mit Schreibtischstandarten, Statuetten und langen Strickschals im abgetönten Farbspektrum der offiziellen Collegefarben: Maulbeerrot und Marineblau, Senfgelb und Jagdgrün. In altmodischen Tearooms – wo hauchdünnes Goldrandporzellan auf zier­lichen Untertässchen klirrte – wurde Cream Tea serviert, und auf dem Fluss stauten sich die Stechkähne: die langen, flachen Flussboote, die von den Studenten über die moosgrünen Gewässer gestakt wurden, während ihre Passagiere Pimm’s aus mit Gurkenscheiben dekorierten Plastikgläsern nippten und süße Erdbeeren aus einem Körbchen zupften, das sie an einem der Obststände auf der Brücke erstanden hatten.

Von Anfang Mai bis Ende August waren die historischen Straßen verstopft, staubig und vermüllt – oder, öfter noch, von plötz­lichen kalten Sommerschauern überschwemmt, vor denen die Menschen, die Straßenkarten über den Kopf erhoben, unter die Torbögen und Ladenmarkisen flüchteten. Doch wenn der September heraufzog, wurde es schlagartig wieder still in den majestätischen Collegehöfen. Die Heerscharen zogen ab, und die Stadt atmete auf. Eine neue, herbst­liche Frische lag in der Luft, und taufeuchte Nebelschleier benetzten allmorgendlich die Wiesen der Port Meadow, wenn die Kirchenglocken zum Tagesbeginn ihren Baritonchor erschallen ließen.

Nur eine Woche oder zwei währte diese Erholungspause, während der die Verkäuferinnen erschöpft hinter ihren Registrierkassen zusammensanken und die Landschaftsgärtner der Colleges sich daranmachten, die Rosenbüsche zu stutzen und die akkuraten Rasenflächen zu mähen.

Viel zu früh folgte der nächste Ansturm.

Und diese Besucher würden nicht so schnell wieder ab­­ziehen. Sie kamen mit noch eingeschweißten Lehrbüchern und dicken Einführungsleitfäden, blank gewienerten Schuhen und großen Augen, und sie hatten an ihren hoffnungsvollen Erwartungen ebenso schwer zu tragen wie an den brandneuen Besitztümern, die sie in prall gefüllten Rollkoffern hinter sich herzogen.

Der Sommer war vorüber, und damit für eine neue Generation von Studenten der Zeitpunkt gekommen, sich einen Namen in der Ruhmeshalle der großen akademischen Denker Oxfords zu machen.

Am Anfang, entdeckte Cassandra Blackwell, stand die Immatrikulation.

Sie traf zu spät ein, ihr Flug hatte sich aufgrund eines extremen Sturmtiefs über der amerikanischen Ostküste verspätet, und bis sie ihr Gepäck in Heathrow vom Band gezogen und die zweistündige Busfahrt nach Oxford hinter sich gebracht hatte, war der erste offizielle Studientag an der Oxford University bereits in vollem Gang. Aus dem dicken Informationspaket wusste sie zwar, was sie erwartete, dennoch war sie überwältigt, als sie ihre Koffer über das holprige Kopfsteinpflaster durch die Tore des Raleigh College zog und sich in einem Meer von Studenten in merkwürdigen schwarzen Roben wiederfand, die unstet und quirlig durch den Eingangshof trieben wie Zeitungsblätter im englischen Herbstwind.

Cassie blieb inmitten des Trubels stehen und nahm die befremd­liche Szene in sich auf. Die Studenten versammelten sich bereits für das offizielle Foto auf einer Holztribüne. Aber im Gegensatz zu den lässig gekleideten Freshmen in Jeans, die sie von ihrem amerikanischen College her kannte, trugen diese Erstsemester gestärkte weiße Hemden und Anzüge unter ihren Roben; die Mädchen Blusen und schwarze Röcke, dazu dunkle Schleifen um den Hals und breite schwarze Stoffbänder, die ihnen von den Schultern hingen. Es war ein altmodisches Gewand, wie man es auf vergilbten, vom Alter ausgeb­lichenen Sepia-Fotografien erwartet hätte. Der einzige Hinweis darauf, dass sie sich im einundzwanzigsten Jahrhundert befanden, waren die Smartphones, die fast alle Studenten in der Hand hielten, während sie sich unter den uralten honigfarbenen Sandsteinwänden aufstellten, um für ihr erstes Foto zu posieren.

Das Mittagsläuten der Glocke in der Kapelle hallte über den Hof. Sie war spät dran.

Cassie sah sich eilig um. Ein unablässiger Strom von Besuchern betrat und verließ das kleine Pförtnerhaus direkt hinter dem Tor, darum reihte sie sich in die Schlange ein, wobei sie den Kopf einziehen musste, um nicht an den niedrigen steinernen Türsturz zu stoßen. Drinnen ging es chaotisch zu: In dicken Trauben standen die Menschen vor dem Schalter. Verunsichert harrte sie im Gedränge aus, bis ein Angestellter – ein verwittert aussehender Mann mit Schirmmütze und schwerer Strickjacke – ihren Koffer und das an ihre Brust gepresste Info-Paket bemerkte.

»Sind Sie Erstsemester?«, wollte er wissen.

»Ja.« Cassie streckte ihm ihre Papiere hin. »Cassandra Blackwell. Mein Flug hatte Verspätung; ich bin gerade erst angekommen.«

Der Mann riss die Augen auf. »Lassen Sie Ihre Sachen hier, und ziehen Sie sich um, sonst verpassen Sie noch das Foto.«

»Nicht so schlimm«, versuchte Cassie zu protestieren. »Ich will mich erst mal in meinem Zimmer einrichten.«

Aber der Mann ließ sich nicht beirren. »Los, geben Sie mir Ihren Koffer.« Ehe sie widersprechen konnte, hatte er ihn ihr aus der Hand gerissen. »Haben Sie Ihr Subfusc?«

Carrie starrte ihn verständnislos an, woraufhin er erklärte: »Den Talar und die Uniform. Vergessen Sie’s, dafür ist keine Zeit mehr. Gut, dass Sie was Schwarzes anhaben.« Er wühlte in einer Kiste und entnahm ihr eine Robe, ähnlich denen, die sie draußen gesehen hatte. »Jetzt raus mit Ihnen; ich suche währenddessen Ihr Zimmer heraus. Cassandra, haben Sie gesagt?« Sie nickte. »Ich bin Rutledge. Wenn Sie mit der Immatrikulation durch sind, kommen Sie wieder zu mir. Und jetzt los!« Er scheuchte sie hinaus und wurde gleich darauf vom Gedränge verschluckt.

Cassie streifte den Talar über, trat aus dem Häuschen und wurde umgehend auf die Tribüne geschoben, in eine der oberen Reihen, eher im Hintergrund des Bildes. Die anderen Studenten machten Platz, um sie durchzulassen, hatten aber kaum einen Blick für sie, weil sie vollauf damit beschäftigt waren, mit den anderen neuen Studenten zu reden und zu witzeln. Sie waren viel zu aufgeregt, um sie auch nur zu bemerken.

Auch Cassie war aufgeregt, doch sie fühlte nicht die gespannte Vorfreude, die sie in allen anderen Gesichtern las. Sie war vor allem neugierig auf diese neue Welt, fühlte sich aber zugleich wie eine Hochstaplerin, so als könnte einer ihrer neuen Kommilitonen womöglich irgendwann hinter ihre Fassade blicken und ihre wahren Absichten erkennen. Den wahren Grund, warum sie unter ihnen war, und all ihre geheimen Pläne für das kommende Jahr.

»Es geht los! Bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein!«

Gerade als sie sich in Positur gestellt hatte, begannen der Fotograf und sein Assistent, die letzten Nachzügler zum Rand der Gruppe zu scheuchen.

»Passt das so?« Das Mädchen neben Cassie nestelte an dem Band um ihren Hals und versuchte vergeblich, es zu einer lockeren Schleife zu binden. Die junge Frau hatte große Vogelaugen, ihre Fingerspitzen flatterten nervös, und ihr Gesicht glühte in atemloser Begeisterung.

Cassie drehte sich um, doch das Mädchen hatte wirklich mit ihr gesprochen. »Lass mich mal.« Schnell hatte sie die Schleife gebunden.

»Danke.« Ihre Nachbarin strahlte sie an. »Kannst du glauben, dass wir tatsächlich hier sind?« Sie wartete Cassies Antwort gar nicht erst ab. »Von diesem Tag habe ich mein ganzes Leben geträumt«, sprudelte es aus ihr heraus. »Und jetzt endlich, nach all den Jahren, habe ich es geschafft. An die Oxford University.« Sie hauchte die Worte voller Inbrunst und Ehrfurcht – wie ein altvertrautes Gebet, das endlich erhört worden war. »Ist das nicht fantastisch?«

Cassie sah zu der karmesinroten Flagge des Raleigh College hoch, die ihnen gegenüber auf der breiten Mauer flatterte. Sie hatte sie auf Fotos und in Hochglanzbroschüren gesehen, sogar leibhaftig, vor Jahren, aber hier erschien sie ihr größer, mächtiger, lebendiger als je zuvor. Plötzlich flammte der Blitz des Fotografen vor ihr auf, und dunkle Funken tanzten durch ihr Blickfeld. Sie blinzelte, benebelt vom Jetlag und der langen Reise und den Jahren an Planung, die sie gebraucht hatte, bis sie es durch die geheiligten, exklusiven Tore des Raleigh College geschafft hatte.

Ihr unermüd­licher Einsatz hatte endlich Früchte getragen. All die Intrigen und Lügen, Opfer und Risiken.

»Fantastisch«, wiederholte sie leise, und dann flammte der Blitz erneut auf und blendete sie alle in der strahlenden Nachmittagssonne.

Kapitel 2

n

Die Porträtfotos aufzunehmen dauerte eine Stunde, mit Unterbrechungen durch eine spielerische Rangelei unter einigen Jungen sowie durch einige scharfe Windböen, die lose Papiere durch den Innenhof trieben. Schließlich waren alle Fotos im Kasten, doch bevor Cassie ihr Gepäck abholen und sich endlich auf ihr Bett fallen lassen konnte, wurde sie vom Pförtnerhaus weggelotst.

»Du bist jetzt für den Master’s Tea eingetragen«, eröffnete ihr forsch ein Student, nachdem er sein Klemmbrett konsultiert hatte.

»Ich war den ganzen Tag unterwegs«, erwiderte Cassie, der die Erschöpfung schwer zusetzte. »Ich möchte lieber erst duschen und später hingehen.«

Verdattert starrte er sie an. »Du bist aber für jetzt eingeplant. Jede Gruppe hat nur ein kleines Zeitfenster. Und Anwesenheit ist Pflicht.«

Cassie öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, und klappte ihn dann wieder zu. Sie sollte die gleiche Begeisterung zeigen wie die anderen in ihrer Gruppe, die sich bereits weiter vorn auf dem gepflasterten Weg versammelt hatten. »Dann also zuerst der Tee«, willigte sie ein.

»Sein Quartier befindet sich am anderen Ende des Campus. Neil wird eure Gruppe hinbringen.« Er nickte einem weiteren Studenten zu, der ebenfalls den karmesinroten Raleigh-Schal trug.

Quartier. Eines der ungewohnt klingenden Worte, an die Cassie sich erst gewöhnen musste. Als Amerikanerin in England spürte sie ohnehin eine Sprachbarriere, doch in den wenigen Stunden seit ihrer Ankunft war ihr klar geworden, dass die Oxford University zudem eine Welt für sich war. Ein verbundenes Netz von Colleges erstreckte sich über die Stadt, ein Gewebe mit eigenen Regeln, eigener Kultur und eigener Sprache. Aus den Unterhaltungen ihrer neuen Kommilitonen hatte Cassie sich bereits erschlossen, dass Rutledge und seine Kollegen als Porters bezeichnet wurden; es gab das Torhaus, die Porters’ Lodge. Daneben gab es jedoch eine Kakophonie an Begriffen, die ihr immer noch ein Rätsel waren, obwohl die Studenten sie ganz beiläufig ins Gespräch einstreuten: Junior Common Room, Buttery, Pidges und Tutes, Michaelistag und Trinity Terms.

Cassie setzte sich in Marsch und folgte ihrer Gruppe über die gepflasterten Wege, die den üppig begrünten Kolleghof durchschnitten.

»Sir Walter Raleigh hat das College nicht allein gegründet.« Neil ging voran und gab ihnen unterwegs eine Führung. »Ein Kreis von einflussreichen Akademikern und Denkern seiner Zeit, Männer allesamt, die das öffent­liche Leben im Elisabethanischen Zeitalter prägten, trug ebenfalls zum Bau des Raleigh College bei. Der berühmte Astro­nom Thomas Hariot, der Dramatiker Christopher Marlowe – sie und viele andere kamen hier zusammen, sprachen über neue Ideen und teilten ihre visionären Arbeiten.«

Cassie kannte die Geschichte des College. Das Raleigh war nicht die älteste Schule in Oxford und auch nicht die reichste, aber sie hatte nichtsdestotrotz einen exklusiven Stammbaum. Gegründet im späten 16. Jahrhundert von Sir Walter Raleigh, mit Geldern, die er bei der Plünderung der spanischen Armada erbeutet hatte, erhob sich das College am Rand der Stadt wie ein kleines Königreich aus Sandsteinbefestigungen und sanft gewellten Rasenflächen, die sich bis zu den moosbeladenen Ufern des Flusses Cherwell erstreckten. Der Hochglanzprospekt, den sie studiert hatte, pries großspurig die prachtvollen Säle und gepflegt begrünten Kolleghöfe sowie die abgeschiedene Fachwerkbibliothek; dazu reich ausgestattete Studentenwohnheime und offene Kreuzgänge; nicht zu vergessen die behauenen Sandsteinmauern, die Verkehr und Hektik der Stadt abschirmten. Aber jetzt, wo sie tatsächlich hier war, verschlug es ihr doch den Atem angesichts der Geschichte und der Schönheit der unbestreitbar prachtvollen Anlage.

»Ihr müsst euch vor Augen halten«, fuhr ihr enthusiastischer Fremdenführer fort, »dass damals die Kirche die akademische Forschung noch fest im Griff hielt und folglich die Gründung des Kollegs von vielen als revolutionärer Akt betrachtet wurde. Viele beschuldigten die Gruppe, sie würde einen Hochverrat planen.«

»So wie diese Geheimgesellschaft?« Eins der Mädchen in der Gruppe hatte sich zu Wort gemeldet.

Es gab Gelächter. Cassie sah sich um und fragte sich, wo dabei der Witz lag. Ihr Führer bemerkte ihre Verwirrung.

»Über Sir Walter Raleigh und seine Gefährten wurde damals viel spekuliert. Selbst Shakespeare bezeichnete die Gruppe ironisch als Die Schule der Nacht, eine Anspielung auf die dunklen Roben, die sie angeblich bei ihren Treffen trugen.«

»Also bitte«, murmelte einer der Jungen neben ihr. »Wenn überall über deine Geheimgesellschaft gequatscht wird, kann man sie kaum noch geheim nennen.«

»Heißt das, du wirst dich nicht um Aufnahme im Bulldingdon Club bewerben?«, fragte sein Freund schmunzelnd.

»Moment mal, nicht so voreilig …« Er lachte.

Cassie blieb ein wenig zurück und verlor sich in der Betrachtung der Mauern und Bauten, die sie ihrem Ge­­fühl nach in- und auswendig kannte. Auf verschlungenen We­­gen überquerten sie den ganzen Campus, bis sie schließlich den Wohnsitz des Rektors erreicht hatten: ein weiteres herrschaft­liches, von sanften Rasenflächen und Rosenlauben umgebenes Sandsteingebäude, dessen elisabethanische Architektur die Jahrhun­derte unberührt überstanden hatte. Innen war es nicht weniger imposant: In einer Ecke des Foyers führte eine prachtvolle Prunktreppe nach oben, die Wände waren mit dicken, jagdgrünen Tapeten bedeckt, tiefe Teppiche gab es und verschnörkelte Beistelltische.

»Und da wären wir«, verkündete Neil. »Viel Glück, und nicht vergessen, es gibt keinen Grund zur Nervosität. Hier am Raleigh sind wir alle eine große Familie.«

Familie. Das Wort hallte in Cassie nach, während sie in den Salon trat, wo sich bereits zwei Dutzend aufgeregter Erstsemester versammelt hatten, die sich nervös plappernd an ihren Käsetellern mit Crackern festhielten und bemüht waren, keinen Wein auf den brokatgepolsterten Sofas zu verschütten. Es war eine Art erstes Kennenlernen mit Professoren und Angestellten. Die erste Gelegenheit für jene, die neuen Schützlinge in Augenschein zu nehmen – und für Cassies Mitstudenten die erste Gelegenheit, einen guten Eindruck zu machen.

Während alle direkt auf den nächsten greifbaren Professor zusteuerten, enterte Cassie das kalte Büfett. Ihr knurrte der Magen nach einem langen Tag mit nichts als pappigen Flugzeugmahlzeiten und Automatensnacks, und so häufte sie Labsal auf ihren Teller. Sie fand einen Platz auf einer freien Couch und machte sich über ihr Essen her.

»Chavez war doch aus Argentinien, oder?« Ein junger Mann ließ sich neben ihr in die Polster fallen. Er war untersetzt, und unter seinen Achseln zeichneten sich dunkle Flecken ab.

»Venezuela«, korrigierte sie ihn.

Er blinzelte. »Ich habe gerade zehn Minuten mit Professor Kenmore über seine Verstaatlichung der argentinischen Industrie diskutiert.« Erst allmählich dämmerte ihm die Peinlichkeit seines Schnitzers. Der Junge erbleichte. »O Gott.« Er schoss hoch und floh in den Gang, wobei er im Lauf mit einer Professorin zusammenprallte. Die Frau strauchelte und verschüttete ihren Tee in einem dunklen Fleck auf dem hellbraunen Teppich.

Für einen Moment verstummten sämt­liche Gespräche, und ausnahmslos alle Studenten und Studentinnen schickten ein stilles Dankgebet zum Himmel, dass dieser unglück­liche Ausrutscher nicht ihnen passiert war.

Cassie erfasste die angespannten Körper, die ängstlich hin und her zuckenden Blicke und fühlte sich merkwürdig verbunden mit all diesen nervösen Fremden. Sie mochte älter sein und schon Dinge erlebt haben, die sich die anderen nicht ausmalen konnten, aber heute teilten alle das Bedürfnis, unauffällig zu bleiben und zu beweisen, dass sie hierhergehörten. Ihre Beweggründe waren vielleicht unterschiedlich, aber für jeden Einzelnen von ihnen stand viel auf dem Spiel. Für sie alle ging es um die Zukunft.

Cassie leerte ihren Teller und begann, sich widerstrebend unter die anderen zu mischen. Sie stand gerade interessiert vor einer Reihe streng blickender Porträtbilder, als eine kiesige Stimme hinter ihr verkündete: »Kit Marlowe.«

Cassie drehte den Kopf und sah den Rektor des Col­lege höchstpersönlich an ihrer Seite stehen. Er trug einen altmodischen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, hatte eine glänzende Glatze und ein strenges, von tiefen Falten gezeichnetes Gesicht. »Bekanntlich war er einer von Raleighs teuersten Freunden«, fuhr er fort. »Wir verwahren eine Erstausgabe seiner Werke in unserem Bibliotheksarchiv. Sie dürfen die Bände gern betrachten, aber bedauer­licherweise mussten wir sie konservieren, Sie werden also nicht, wie von ihm eigentlich beabsichtigt, darin blättern können.« Er streckte ihr die Hand hin. »Wir wurden einander noch nicht vorgestellt. Sir Edmund Castle.«

»Cassandra Blackwell.«

Der Rektor schüttelte ihr fest und freundlich die Hand. »Aus Ihrem Akzent schließe ich, dass Sie eine Transfer-Studentin sind.«

»Ja, richtig. Ich mache ein Auslandsjahr«, erklärte Cassie. »Ich komme vom Smith College.«

»Exzellentes College.« Sir Edmund pumpte ihre Hand ein weiteres Mal auf und ab. »Willkommen, willkommen. Wie gefällt es Ihnen bis jetzt?«

»Es ist … überwältigend«, antwortete sie und ergänzte dann eilig: »Das College ist so schön angelegt und so geschichtsträchtig.«

»Das beste in Oxford«, stimmte er ihr zu. »Aber vielleicht bin ich da ein wenig voreingenommen. Ich habe selbst hier studiert, müssen Sie wissen, wenn auch vor Äonen. Und später hier gelehrt.«

Cassie nickte. Seit Jahren hatte sie sich mit dem Raleigh College beschäftigt, und es gab kaum etwas, das sie nicht in ihren Notizbüchern und Rechercheordnern gespeichert hatte. Sir Edmund hatte sich als Mathematiker einen Ruf gemacht und mehrere Bücher veröffentlicht, bevor er den Verheißungen der Privatwirtschaft erlegen war und die akademische Welt verlassen hatte. Er hatte mit Hedgefonds ein Vermögen gemacht, war für seine Verdienste um die Wirtschaft des Landes zum Ritter geschlagen worden und schließlich ans Raleigh zurückgekehrt, um einen noblen Ruhestand zu genießen, indem er die Finanzen des Col­lege aufpolsterte und den Gastgeber für Ehrengäste spielte. »Ich habe Ihr Buch über Spieltheorie gelesen«, bemühte sie sich, Konversation zu machen. »Eine faszinierende These.«

»Finden Sie?« Sir Edmund sah sie mit frisch erwachtem Interesse an. »Sind Sie Mathematikerin?«

»Nein«, beeilte sie sich zu antworten. »Ich habe es in meiner Freizeit gelesen. Ich wurde auf Ihre Arbeiten aufmerksam, als ich mich über das College informierte.«

»Sehr gründlich.« Er betrachtete sie neugierig. »Und was hat Sie an unsere holden Gestade verschlagen, Miss Blackwell? Es ist ein weiter Weg hierher, und die wenigen Plätze für ausländische Studenten sind schwer umkämpft.«

Cassie holte tief Luft. Dies war die Frage, die ihr während der Bewerbungsphase und bei dem persön­lichen Vorstellungsgespräch mit den ehemaligen Raleighstudenten in Boston regelmäßig gestellt worden war und auf die sie sich besonders gründlich vorbereitet hatte. »Das war schon immer mein ganz persön­licher Traum«, sagte Cassie. »Meine Eltern sind durch England gereist, als sie noch jung waren, und ich wurde mit unzähligen Geschichten über Oxford und seine Colleges groß. Ich glaube, sie haben mir einen Oxford-Kalender übers Bett gehängt, bevor ich auch nur lesen konnte«, ergänzte sie mit einem kurzen Lachen.

Sir Edmund schmunzelte. »Na, dann sind die beiden jetzt gewiss sehr stolz auf Sie.«

»O ja, das sind sie.« Cassie lächelte andächtig, als würde sie gerade an sie denken. »Sie planen schon ihren ersten Besuch hier.«

Sir Edmund wandte sich kurz um und erblickte jemanden. Er hob die Stimme: »Tremain! Kommen Sie her, ich stelle Ihnen noch eine Amerikanerin vor. Cassandra, das ist Matthew Tremain. Er kümmert sich um alle ausländischen Studenten, spielt den Seelsorger und so weiter.«

Der Mann, der sich zu ihnen gesellte, war etwa in den Vierzigern und verfügte nicht über Sir Edmunds geschliffene Vornehmheit. Mit seinem Dreitagebart und den zerzausten braunen Haaren wirkte er zurückhaltend und zerstreut; das zerknitterte Nadelstreifenhemd hing ihm aus der abgewetzten Cordhose.

»Sehr erfreut.« Cassie streckte ihm die Hand hin, und nach kurzem Jonglieren mit seiner Teetasse und dem Keksteller gelang es dem Professor, sie zu ergreifen.

»Cassandra, Cassandra …« Tremains Blick huschte neugierig über sie hinweg. »Ach ja. Cassandra Blackwell. Smith. PPE«, ergänzte er und verwendete dabei die in Oxford üb­liche Abkürzung für Politik, Philosophie und Wirtschaftswissenschaften, Cassies Studiengang. »Sie haben dieses Semester Philosophie bei mir. Ich habe Ihnen schon einen Zettel ins Pidge geworfen.«

»Pidge?« Schon wieder hörte sie das merkwürdige Wort.

»Ihr Taubenloch, das Pigeonhole«, klärte Sir Edmund sie auf. »Ich vergesse immer, wie das für Auswärtige klingen muss. So nennen wir die Holzfächer in der Porters’ Lodge. Dort wird die Post hinterlegt.«

»Ach so.« Cassie fügte den Begriff ihrem privaten Glossar an Oxford-Slang hinzu.

»Unser Professor hier ist eine Institution am Raleigh«, erläuterte Sir Edmund. »In früheren Zeiten war er Student bei mir. Wie lange ist das jetzt her …?«

»Fast fünfundzwanzig Jahre«, ergänzte Tremain, und Cassie hätte schwören können, dass sie einen Anflug von Resignation in seiner Stimme hörte.

»Ein brillanter Student obendrein«, fuhr Sir Edmund unbeirrt fort, »nur dass er immer alles auf den letzten Drücker erledigen musste. Wann haben Sie noch mal zehn Minuten vor dem Tutorium einen Aufsatz unter meiner Tür durchgeschoben?« Er wandte sich warnend an Cassie. »Sie werden mit so was nicht durchkommen.«

Tremains Blick traf mit leiser Ungeduld auf Cassies. Ganz offensichtlich waren diese Anekdoten schon unzählige Male erzählt worden. Nichtsdestotrotz erging sich Sir Edmund weiter in seinen Erinnerungen. »Wo ist nur die Zeit geblieben?« Er stieß einen dramatischen Seufzer aus. »Manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich noch letzte Woche Aufsätze korrigiert und meine Studenten gerüffelt, dass sie sich in der Bar anständig aufführen sollen. Was meinen Sie, Tremain; man sollte uns eine Grube im Garten ausheben, damit sichergestellt ist, dass wir niemals von hier wegmüssen.«

»Wie wahr«, erwiderte Tremain.

»Hat sich seit Ihrer Studienzeit viel verändert?«, fragte Cassie.

»Nun, zum einen gab es damals kein Internet«, antwortete er ätzend. »Wenigstens nicht so wie heute. Wenn man etwas abkupfern wollte, musste man es Zeile für Zeile abschreiben, statt es mit Cut und Paste aus der Wikipedia zu kopieren.«

»Nein, ich meine das Studentenleben«, hakte Cassie nach. »Die Universitätskultur.«

Tremain lächelte ein dünnes, fast melancholisches Lächeln. »In Oxford verändert sich eigentlich nie etwas. Und hier schon gar nicht.« Abrupt wandte er sich Sir Edmund zu. »Wir sollten uns weiter unter die Studenten mischen. Miss Blackwell, vielleicht können wir uns ein andermal zu einem persön­lichen Gespräch treffen und uns über ein paar akademische Details austauschen?«

Sir Edmund schüttelte erneut ihre Hand. »Es war mir ein Vergnügen. Ich hoffe, Sie nutzen Ihre Zeit hier. Und sehen Sie sich auf jeden Fall die Marlowe-Manuskripte an. Aber nicht anfassen!«

Sie zogen ab, wobei Tremain schnell auf Abstand ging und zum anderen Ende des Salons marschierte, während Sir Edmund sofort in einer weiteren Studentengruppe landete und Hände zu schütteln begann. Cassie wartete kurz ab und huschte dann aus dem Raum.

Aus der Eingangshalle rechts von ihr hallte gekünsteltes Lachen, deshalb bog sie nach links ab und wanderte mit leichten Schritten über das gebohnerte Parkett tiefer ins Gebäude hinein. Je weiter sie sich von der Feier entfernte, desto stiller wurde es. Sie erforschte nacheinander die übrigen Räume, stieß dabei auf eine Toilette mit einem alten Porzellanwaschbecken und auf einen eleganten Speisesaal – mit einem für sechzehn Personen gedeckten Tisch, blank polierten Girandolen und Tischsets aus schwerem Leder. Es war, als würde sie durch ein Museum schlendern, und doch war es für jemanden ein Zuhause: ein Ort, um zu leben und zu arbeiten, umgeben von all diesen brokatgesäumten Gespenstern aus uralten Zeiten. Am Ende des Ganges öffnete sie eine schwere Eichentür zu einem großen, düsteren Raum mit deckenhohen Bücherregalen, der von einem massiven Mahagonischreibtisch dominiert wurde. Das musste Sir Edmunds Arbeitszimmer sein.

Einen Moment zögerte Cassie auf der Schwelle. Dies war mit Sicherheit verbotenes Terrain, außerdem würde bald auffallen, dass sie sich von der Gruppe abgesondert hatte, doch ihre Neugier siegte; sie trat ein, ließ die Tür jedoch einen Spaltbreit offen, damit sie hörte, falls jemand den Flur entlangkam.

Cassie schlenderte unter den düsteren Ölgemälden in schweren Goldrahmen entlang an den Schreibtisch. Er war mit Papieren und einer Reihe identischer Füllfederhalter bedeckt, und das Holz wurde von einer Schreibunterlage aus dunklem Leder geschützt. Aus alter Gewohnheit blätterte sie kurz in den Unterlagen, doch hier lag nur schlichte Verwaltungskorrespondenz: ein Protokoll zu einem Disput über die Bezahlung der Landschaftsgärtner, ein Gutachten zur Bausicherheit in den Kreuzgängen. Ihre Fingerspitzen strichen über das körnige Holz und die dicken Briefbögen; sie roch Sandelholz und etwas Dunkleres, Herbes: ein leichter Hauch von kaltem Tabakrauch hing in der Luft.

Es war eine andere Welt. Selbst im Smith College mit seiner langen Geschichte zählten die ältesten Gebäude höchstens hundertfünfzig Jahre und waren heutzutage zwischen den neuen Vorlesungsgebäuden und Wohnheimen beinahe unsichtbar. Hier jedoch ruhten mindestens fünf Jahrhunderte in den Sandsteinmauern. Cassie trat an die Bücherregale, die hinter ihr die Wand bedeckten. Sie waren vollgepackt mit leinengebundenen Buchrücken: Erstausgaben, gewichtigen Einzelbänden. Shakespeare, Wordsworth, Wilde. Und dort, ganz am anderen Ende, entdeckte Cassie die Aufzeichnungen des Raleigh College, eine bis ins Jahr 1952 zurückreichende Sammlung von Jahrbüchern, allesamt mit steifen, ungebrochenen Buchrücken, unberührt seit dem Tag, an dem sie aus der Druckerpresse gekommen waren.

Sie strich mit dem Finger über das geprägte Leder, bis sie das Jahr 1994 erreicht hatte, zog den Band heraus und nahm das große Buch mit ans Fenster, um in der Nachmittagssonne einen Blick hineinzuwerfen. Sie überflog das Grußwort des College-Geist­lichen, außerdem die Berichte über Bauprojekte und Spendenaktionen, die von einer Aufzählung studentischer Leistungen und Nachrufen »in memorandum« auf ehemalige Absolventen durchbrochen wurden. Ungeduldig blätterte Cassie Seite um Seite weiter, aber nicht einmal als sie die Liste der Erstsemester entdeckte, fand sie einen Hinweis auf das, was sie suchte.

Schwere, gemäch­liche Schritte hallten durch den Gang. Hastig schlug Cassie das Buch zu und hatte es eben zurück ins Regal gestellt, als die Tür aufschwang und ein ihr unbekannter Mann in den Raum trat.

Cassie erstarrte. Er war schon älter, über siebzig oder vielleicht auch achtzig, und trug einen makellosen dunklen Anzug. Er hatte dichtes weißes Haar und ein von tiefen Falten gezeichnetes Gesicht, doch sein Blick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren; die schwarzen Augen schienen sie geradezu aufzuspießen.

»Was tun Sie hier?«, wollte der Mann wissen. »Das ist privat.«

»Ich weiß, bitte verzeihen Sie. Ich war auf der Suche nach der Toilette«, schwindelte Cassie schnell.

Er rührte sich nicht vom Fleck, doch sein Blick wanderte langsam von Cassie zum Schreibtisch und zurück.

»Und dann hat mich das Gebäude in Bann geschlagen«, ergänzte sie und trat vom Bücherregal zurück. »Diese uralten Mauern … das ist alles so faszinierend.«

Die Augen des Mannes tasteten sie von Kopf bis Fuß ab, und Cassie überlief ein Schauer der Dankbarkeit, dass sie noch ihren Talar trug, so wie alle anderen neuen Studenten, dass sie nur ein Gesicht unter vielen war. »Ihre Kommilitonen machen sich bereits auf den Weg zur Zeremonie«, erklärte er eisig.

»Danke.« Cassie ging eilig auf die Tür zu. »Ich finde bestimmt noch eine, an der ich teilnehmen kann; wahrscheinlich gibt es hier jede Woche was Lateinisches zu feiern.« Sie hatte einen Scherz machen wollen, um die Anspannung zu lösen, aber die Miene des Mannes wirkte ganz und gar nicht amüsiert.

»Sie halten das für einen Witz?«, fragte er scharf. »Sie glauben, wir würden nur zum Spaß in unseren Talaren herumspazieren? Unsere Geschichte bedeutet uns alles.« Er fixierte sie mit einem kalten, schonungslosen Blick. »Unsere Traditionen machen uns zu dem, was wir sind, und wenn Sie glauben, Sie würden über alldem stehen, dann sind Sie hier fehl am Platz.«

Cassie biss sich auf die Zunge. Die Paraden und Fotos und Teezeremonien? Das war nicht Tradition, das waren Kostümspiele. Hier drin wurde Theater gespielt, während sich draußen vor den Sandsteinmauern die Welt weiterdrehte, ohne sich um Roben und Rituale zu scheren.

Doch statt das zu erwidern, zwang sich Cassie, betreten die Augen niederzuschlagen. »Bitte verzeihen Sie. Ich verstehe das mit der Tradition. Sie bedeutet auch mir alles. Ich wollte Ihnen keinesfalls zu nahe treten.«

Die Lippen des Mannes waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst.

»Genau darum bin ich hier«, schwadronierte Cassie hastig weiter. »Aus Familientradition. Geschichte. Wahrscheinlich leide ich noch unter dem Jetlag.« Sie lächelte matt. »Es tut mir leid, wenn ich mich missverständlich ausgedrückt habe.«

Noch immer verzog er keine Miene. Cassies Haut kribbelte, ihr Herz schlug wie wild. Dann, endlich, nickte er knapp. »Ihre Gruppe ist abmarschbereit, Sie sollten sich beeilen.«

Bei jedem Schritt, den sie den langen Korridor hinabging, spürte sie seinen bohrenden Blick in ihrem Rücken. Zum Glück wurde ihre Gruppe gerade hinausgeführt und durch einen neuen Tross Studenten ersetzt, sodass Cassie, knapp entkommen, sich einfach anschließen konnte und mit immer noch rasendem Puls in die kühle Nachmittagssonne trat.

Ihre Gruppe bog nach rechts ab, am Rand der Rasenfläche entlang, nur Cassie verzog sich unbeobachtet nach links, durch den Kreuzgang. Der kleine Garten voller Stiefmütterchen und spät blühender Chrysanthemen, den sie nun erreichte, war von einer niedrigen Steinmauer eingefasst: eine abgeschiedene Oase abseits der Geschäftigkeit, die überall sonst im College herrschte.

Cassie blieb stehen, lauschte der Stille und atmete den frischen Duft von Blumen und gemähtem Gras ein. Es war ein Fehler gewesen, sich einfach in Sir Edmunds Arbeitszimmer zu schleichen; sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, und wofür? Noch nicht einmal einen Tag war sie hier, und schon hatte sie Aufmerksamkeit auf sich gezogen – sie hatte riskiert, dass ihre Geheimnisse enthüllt wurden, jene Geheimnisse, für die sie den langen Weg hierher auf sich genommen hatte.

Denn Cassies lockeres Geplauder über ihre Familie in Amerika – darüber, wie sie schon als Kind sehnsüchtig von Oxford mit seinem akademischen Glanz geträumt hatte, über die enthusiastische Unterstützung durch ihre Eltern – hatte nicht das Geringste mit der Realität gemein. So war sie keineswegs mit Geschichten über akademische Glanzleistungen groß geworden. Ihr Weg nach Oxford war kein glatter, vorgezeichneter Pfad gewesen.

Was sie ihnen erzählt hatte, war gelogen.

Kapitel 3

n

Nebelschleier hingen über dem College, als Cassie tags darauf im Morgengrauen den Reißverschluss ihrer Kapuzen­jacke hochzog und auf den Weg vor ihrem neuen Wohnheim trat. Nach dem Master’s Tea war sie so müde gewesen, dass sie nur noch mit letzter Kraft ihr Gepäck auf ihr Zimmer geschleppt hatte, bevor sie ins Bett gefallen war und den Nachmittag und die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Sie war früh aufgewacht, und jetzt vibrierten ihre Glieder vor frischer Energie, die sich nur mit einem Morgenlauf abbauen ließ.

So wie es aussah, würde sie allein bleiben. Reglos und still lag der Campus in der Morgendämmerung, während sie forsch die geharkten Wege entlangging. Cassie machte ein paar Dehnübungen und folgte dann der rückwärtigen Campusmauer, bis sie einen Pfad zum Fluss hinunter entdeckte. Sie begann zu joggen, ihre Turnschuhe stampften durch den Lehm, während sie tiefer in das üppige Grün des Collegeparks vordrang.

Sobald sie in ihr normales Tempo gefallen war, spürte Cassie, wie sich zum ersten Mal, seit sie in Boston ins Flugzeug gestiegen war, ihre verspannten Muskeln lockerten. Sie liebte diese Tageszeit. Sie schenkte ihr einen Augenblick zum Nachdenken, Raum für sich allein. So früh am Morgen schien jede Stadt kurz Atem zu holen, und wie sich zeigte, war das in Oxford nicht anders; es war wie eine Schneise der Stille, die nur von Vogelgesang und dem leisen Rumoren des Verkehrs hinter den Mauern des Col­lege durchbrochen wurde. Der Oktober hatte gerade erst begonnen. Nebelschwaden hingen tief über den taunassen Wiesen, und ihre einzige Gesellschaft war eine Gruppe von Schwänen, die elegant durch das dunkle Wasser des Flusses glitten.

Cassie lief durch das hintere Tor und folgte dem malerischen Spazierweg, der sich aus den manikürten Rasenflächen des College hinausschlängelte; ihre Schritte wurden länger, sobald sie dem Fluss aus den Gartenanlagen in den unberührten Wald hinein folgte. Bei jedem Schritt war es, als würden Jahre von ihr abfallen und als könnte sie die verschlungene Reise hinter sich lassen, die sie um die halbe Welt hierher geführt hatte – Jahre, in denen das Wort »Zuhause« gleichbedeutend gewesen war mit dem Inhalt ihrer Reisetasche und »Erfolg« mit genug Bargeld, um die monat­liche Miete bezahlen zu können. In denen Oxford nicht mehr als eine weit entfernte Stadt gewesen war, ein beliebiges Ziel, so willkürlich wie eine zufällig in eine zerfledderte Weltkarte gestoßene Stecknadel.

Bis zu dem Tag, an dem sie das Päckchen bekommen hatte.

Vor drei Jahren hatte es an einem eisigen Morgen an Cassies Tür gelehnt. Die ausländischen Briefmarken hatten sich schon halb gelöst, der ursprüng­liche Poststempel mit dem Aufdruck Oxford war verschmiert und kaum noch zu entziffern und die Adresse mit ständig neuen Aufklebern überklebt worden, während die Sendung immer wieder weitergeleitet worden war, an früheren Wohnstätten und vergessenen Orten vorbei zu seiner ursprüng­lichen Empfängerin.

Ihrer Mutter.

Cassie hatte den zerrissenen braunen Umschlag in den Händen gewendet und sich gefragt, wie das Päckchen überhaupt zu ihr gefunden hatte. Sie lebte in diesem Monat in Providence, Rhode Island, wo sie ein Zimmer über einem polnischen Restaurant gemietet hatte, weswegen ständig ein rauchiger Paprikaduft in der Luft lag. Die Miete zahlte sie bar an eine verhutzelte alte Frau, die ausgeleierte Strickjacken trug, bei jeder Begegnung tadelnd an Cassies dürren Handgelenken zupfte und Tupperdosen mit Klößen und Brühe vor ihrer Tür abstellte. Von dieser wohlmeinenden Babula einmal abgesehen, blieb Cassie für die Menschen unsichtbar. Sie tauchte in keinem Wählerverzeichnis auf, besaß keine Kredit- oder Rabattkarte und bewahrte ihr Bargeld in einer Köderdose aus schwerem Stahlblech auf, die sie in dem Ventilationsschacht über ihrem Bett versteckt hatte. Sich selbst aus allen offiziellen Unterlagen zu eliminieren, war eine vorsätz­liche, überlegte Entscheidung gewesen. So wie Cassie es sah, wusste niemand, dass es sie gab.

Sie hatte sich getäuscht.

Du kannst dich nicht für immer vor der Wahrheit verstecken. Bitte komm zurück, und bring alles zu einem guten Ende.

Die schlichte, in kleinen Blockbuchstaben geschriebene Nachricht hatte zusammen mit einer Kollektion mysteriöser Gegenstände in dem Päckchen gesteckt.

Cassie war auf die oberste Treppenstufe gesackt und hatte instinktiv nach ihrem Amulett gegriffen, dem einzigen Erinnerungsstück an ihre Mutter, das ihr geblieben war. Joanna hatte sie vor beinahe zehn Jahren verlassen, und die Rosenquarzgemme war abgegriffen, die eigenwillige, verschlungene Goldeinfassung verb­lichen und stellenweise abgeblättert. Dennoch brachte Cassie es nicht übers Herz, den Anhänger wegzuwerfen. Er allein verankerte sie in der Vergangenheit und warnte sie zugleich davor, was ihr passieren konnte, wenn sie nicht aufpasste.

Während ihre Fingerspitzen die vertrauten, rissigen Konturen nachfuhren, fragte sie sich, was die Nachricht wohl bedeuten mochte. Ihre Mutter hatte nie Freunde gehabt, war nie sesshaft gewesen; Cassie hatte sie nie einen Brief schreiben sehen, und sie hatte erst recht nie von jemandem erzählt, mit dem sie in Kontakt geblieben wäre. Und ganz bestimmt hätte jede hypothetische Freundin bis dahin erfahren, dass sie gestorben war.

Zehn Jahre waren eine lange Zeit.

Was hatte die Nachricht zu bedeuten? Und sollte Cassie das nach allem überhaupt noch interessieren? Sie hatte Jahre gebraucht, um ihr Leben so weit abzuschmirgeln, dass es so reibungslos lief wie jetzt. Wollte sie wirklich schmerzvolle Erinnerungen aufwühlen und Geister wecken, die gerade erst zur Ruhe gekommen waren?

Die Antwort schien auf der Hand zu liegen.

Nein.

Cassie hatte die Nachricht wieder in das Päckchen gestopft, es zuhinterst in ihren Schrank geschoben und fortan die Fragen ignoriert, die den Rest der Woche durch ihren Kopf tanzten. Sie hatte das zudring­liche Flüstern der Neugier überhört, hatte jeden wachen Moment mit Bildschirmbildern, Buchseiten und nicht abreißendem Lärm aus ihren Kopfhörern angefüllt, aber die Fragen hatten trotzdem nicht weichen wollen. Bald erwachte sie um drei Uhr morgens in kalten Schweiß gebadet aus dunklen, verzweifelten Träumen, in denen sie im Haus ihrer Kindheit gefangen war, wo sie suchend durch die Schatten eilte und etwas zu finden versuchte, das ihr regelmäßig im letzten Moment entglitt. Sie versuchte es mit Joggen, lief in der frühmorgend­lichen Dunkelheit durch die menschenleeren Straßen der Innenstadt, doch prompt begannen die Gedichte ihrer Mutter wispernd durch die nebelverhangene Luft zu ziehen, erst einzelne Strophen, dann ganze Sonette, die Cassie offenbar auswendig kannte, ohne dass sie es bisher geahnt hatte. Sie versuchte, ihre Neugier mit Pillen und Gras und glutäugigen Fremden in Absturzbars abzutöten, aber nichts davon zeigte Wirkung.

Nach zehn schlaflosen Nächten in Folge hellte das graue Winterwetter endlich auf. Auf den Hügeln über der Stadt öffneten sich die ersten Kirschblüten auf den Bäumen, und Cassie holte das Päckchen aus seinem dunklen Versteck, um sich auf die Suche nach Antworten zu machen.

Ein Geräusch riss Cassie aus ihren Erinnerungen. Ein an­­derer Läufer kam ihr auf dem Weg durch die Wälder am Raleigh College entgegen. Er war etwa Ende zwanzig, un­­ter einer Strickmütze ragten blonde Haare heraus, und un­­ter seinem dunklen Hoodie schlängelten sich Ohrhörerkabel hervor.

Cassie wich auf die andere Seite des Weges aus, um ihn vorbeizulassen, aber der Mann wurde langsamer und zog einen Ohrstöpsel ab. »Aufpassen da vorn«, rief er ihr mit einem freund­lichen Lächeln zu. »Da ist der Weg noch vereist.«

Sie nickte zum Dank, wartete aber ab, bis er hinter der nächsten Biegung verschwunden war, bevor sie abbremste und anhielt. Sie legte eine kurze Verschnaufpause ein und spürte dabei, wie schnell ihr Herz schlug. In der Ferne, jenseits der Wiesen, schlugen die Glocken: fünf, sechs, sieben. Cassie schaute nach vorn auf die einladende Wegbiegung; zu gern wäre sie noch eine Stunde weitergelaufen, immer weiter, hätte das Zwangskorsett der Bibliotheken und der ersten Seminare in ihrem Stundenplan hinter sich gelassen, aber sie hatte zu tun.

Das mysteriöse Päckchen war ihr nicht grundlos zugeschickt worden, und sie hatte keine Zeit zu verlieren.

Kapitel 4

n

Sie war in der Carlton Hall untergebracht worden, einem erhabenen Bau weit hinten auf dem College-Gelände, der eher an ein elegantes Landhaus als an ein Studentenwohnheim erinnerte. Cassie schloss die Tür auf und stieg die breiten, knarrenden Stufen zum ersten Stock hinauf. Inzwischen erwachte auch der Rest der Welt, und im Gebäude war gedämpftes Geplapper zu hören, unter dem ihre Mitstudenten den Tag begannen. Die Geräusche drangen unter den Türen hervor und wehten durch den Gang. Sie würde sich erst wieder daran gewöhnen müssen, ihren Raum und ihr Bad mit anderen zu teilen; sie hatte lang allein gelebt.

Im ersten Stock bog sie auf den Flur ab und blieb abrupt stehen. Ihre Tür stand offen, und ihr Koffer lag zusammen mit mehreren Kartons im Gang; ihre Bücher und den Wintermantel hatte man achtlos darübergelegt.

Eilig trat Cassie ins Zimmer. Es war dreimal so groß wie ihr altes Apartment in Providence: ein Wohnzimmer plus ein abgetrenntes Schlafzimmer mit Parkettboden und blassblauen Wänden unter weißen Stuckleisten – und mittendrin ein sauber aufgestapeltes Gepäckensemble, wo noch vor einer Stunde Cassies Koffer gestanden hatte. Eine butterweiche Lederjacke hing über der Lehne eines Schreibstuhls, und im Schlafzimmer wartete ein Stapel Bettwäsche darauf, das vom College gestellte Bettzeug zu ersetzen. Cassie fuhr mit den Fingern über die weiche Baumwolle, die weiche, glatte Baumwolle. Teuer.

Auf dem Gang war Lärm zu hören, und Sekunden später trat eine junge Frau rückwärts ins Zimmer, die Arme mit mehreren Taschen beladen. »Vorsichtig mit der Kiste, Hugo«, rief sie nach draußen. »Da sind Lampen drin.« Sie drehte sich um und erstarrte, als sie Cassie neben dem Bett stehen sah.

»Verzeihung.« Sie zog eine Braue hoch und musterte Cassie eisig. »Wer bist du?«

Cassie spannte sich an. Sie hatte über die Jahre mehr als genug reiche Menschen getroffen. Es gab die verschiedensten Gattungen – den weltvergessenen alten Geldadel, die forschen, neureichen Immigranten, junge, abgerissene Kids, die glaubten, ihren Familiennamen mit Kaufhausjeans und selbst gedrehten Zigaretten kaschieren zu können. Aber was sie alle unweigerlich verriet, war das Selbstbewusstsein, mit dem sie jede einzelne Silbe betonten, jenes selbstverständ­liche Überlegenheitsgefühl, geboren und genährt in Privatschulen und Sommercamps, einem ganzen Leben in der herr­lichen Gewissheit, dass sie dazugehörten, dass ihnen all dies – gute Noten, Jobs, Geliebte, wonach immer ihnen gerade der Sinn stand – von Rechts wegen zustand.

Die junge Frau vor ihr gehörte ebenfalls dazu. Auf kantige, aristokratische Art schön, hatte sie stahlblaue Augen und gewelltes, glänzendes blondes Haar. Sie trug enge schwarze Jeans und ein künstlich gealtertes Wildleder­jackett, dazu leicht verschmierte Wimperntusche, aber in ihren Ohrläppchen steckten Perlenohrstecker, und die über ihren Armen baumelnden Taschen waren aus Leder und definitiv Designerstücke.

Cassie wusste genau, wie verschwitzt und zerzaust sie in ihrem Sweatshirt und den Leggings aussehen musste, aber sie hielt die Stellung. »Ich glaube, du bist im falschen Zimmer. Hier wohne ich.«

Das Mädchen warf einen Blick auf die schwere Holztür mit den matt glänzenden Messingziffern. »Fünf achtzig. Tut mir leid, aber du bist diejenige, die hier falsch ist.« Sie ließ ihre Taschen auf den Boden fallen. »Erst müssen die Teppiche rein«, rief sie nach draußen. »Und sag Parker, er soll das Schränkchen hochbringen, das mit …« Sie brach ungeduldig ab. »Hugo? Hugo!«

Niemand antwortete, und das Mädchen seufzte entnervt auf. »Ich kann dir helfen, deine Sachen zusammenzusuchen«, bot sie Cassie an. »Die Verwaltung wird dich woanders unterbringen.«

»Nein danke«, erwiderte Cassie störrisch. »Mir gefällt es hier.« Sie schlenderte zu dem Fenstersitz, ließ sich darauf nieder und lehnte sich auf dem schmalen Polster zurück. Von hier hatte man freien Blick bis zum Flussufer, das sattgrün in der Morgensonne leuchtete.

Es war nicht klug, eine Szene zu machen, aber Cassie konnte nicht anders. Wie wichtig die Verteidigung des eigenen Territoriums war, hatte sie in ihrem ersten Heim gelernt, wo die Kinder um jeden Quadratmeter im Schlafraum gekämpft hatten. Diese weitläufigen, glänzend honiggelben Holzböden und die glatten, kühlen Wände würde sie ganz gewiss nicht kampflos hergeben.

Das Mädchen sah Cassie wieder an und schien dabei ihre eiserne Entschlossenheit zu spüren. Ihr Stirnrunzeln glättete sich zu einem breiten Lächeln, und auf einmal wirkte ihr Gesicht warm, sogar freundlich. »Bitte entschuldige«, rief sie aus. »Wo sind nur meine Manieren? Ich habe den ganzen Tag Umzugskisten geschleppt. Ich habe dich noch nicht mal nach deinem Namen gefragt.«

Argwöhnisch stellte Cassie sich vor.

»Wie schön.« Das Mädchen lächelte. »Ich bin Olivia, Olivia Mandeville. Bitte entschuldige, dass ich dir solche Umstände mache.«

»Wie gesagt, wahrscheinlich wurde da was verwechselt.« Cassie blieb standhaft. »Bestimmt kann die Verwaltung ein anderes Zimmer für dich finden.«

Olivia stieß ein melodisches Lachen aus. »Du bist Austauschstudentin?«, fragte sie.

Cassie zog die Stirn in Falten. »Was hat das damit zu tun?«

»Es hat insofern was damit zu tun, als dass dies die Zimmer für die Finalisten sind. Für die Studenten im dritten Jahr.« Olivia zuckte bedauernd mit den Achseln. »Wir haben letztes Jahr um die Zimmer gelost; meine Freundinnen und ich haben alle Carlton gezogen. Die Auslandsstudenten wohnen drüben bei den Erstsemestern im Hartwell, ganz hinten raus, bei der Küche.« Sie drehte sich weg und bellte aus der Tür: »Hugo!« Kräftig und energisch hallte ihre Stimme nach draußen, und im nächsten Moment war sie weg, verschwunden in dem Labyrinth knarrender Korridore und staubiger Stiegen, während in der Luft über ihrem Gepäck goldene Staubpartikelchen tanzten, als würden selbst die Wellen in ihrem Kielwasser im Abglanz ihres Reichtums erstrahlen.

Cassies Territorialinstinkt erwies sich als machtlos gegenüber der offiziellen Wohnheimordnung des College; unten in der Porters’ Lodge bestätigte Rutledge Olivias Anspruch: Carlton Hall war den Studenten im Abschlussjahr vorbehalten. »Mal sehen, was wir noch übrig haben …« Leise brummend klickte er sich durch die Dateien in seinem alten Computer. »Wenn Sie möchten, könnte ich Sie bei den übrigen Erstsemestern unterbringen, aber da kann es recht wild zugehen. Zum ersten Mal weg von den Eltern«, ergänzte er mit einem müden Blick aus seinem faltigen Gesicht.

Bei dem Gedanken an nächtelange Wohnheimpartys und wild gewordene Jungstudenten verzog Cassie das Gesicht. »Hätten Sie noch was anderes?«

»Das hier müsste passen.« Rutledge drehte sich um und zog einen neuen Schlüssel vom Schlüsselbrett. »Ganz oben unter dem Dach. Da wohnen Sie zwar nicht allein, aber dafür in einer gemüt­lichen kleinen Wohnung. Die andere Bewohnerin ist im Masterstudium und allem Anschein nach ein sehr nettes Mädchen.«

»Die nehme ich«, sagte Cassie dankbar, weil sie den Schlamassel endlich geklärt haben wollte.

»Ich kann Ihnen mit dem Gepäck helfen, wenn Sie möchten …«, bot Rutledge ihr an, aber Cassie schnitt ihm das Wort ab.

»Das schaffe ich schon, danke.« Sie war schon fast aus der Tür, als sie noch einmal stehen blieb und sich umdrehte. »Wo fange ich am besten an, wenn ich etwas über das Raleigh recherchieren möchte?«

Rutledge überlegte kurz. »Um was für Recherchen handelt es sich denn?«

»Allgemeine Sachen.« Cassie zog beiläufig die Schultern hoch. »Die Geschichte des College, ehemalige Studenten, solche Sachen.«

Für einen Moment wurden Rutledges Augen schmal, und Cassie spürte ein unbehag­liches Flattern. Dann hellte sich seine Miene wieder auf. »Nun, da gäbe es die Bibliothek, die bietet sich für den Anfang an. Aber wenn Sie tiefer graben möchten, sollten Sie es am besten unten im Gewölbe probieren.«

»Im Gewölbe?«, wiederholte Cassie.

»Unter den Kreuzgängen.« Rutledge nickte. »Früher oder später wird alles da unten archiviert. Es wird schon seit ewigen Zeiten davon gesprochen, dass ein Archivar eingestellt werden soll, der die Bestände registriert, aber einstweilen liegt alles, was in den letzten hundert Jahren hier passiert ist, irgendwo dort unten.«

»Danke«, lächelte Cassie. »Dann werde ich mich da mal umtun.«

Ihr neues – und hoffentlich endgültiges – Zimmer lag im East Wing, einem versteckt gelegenen Gebäude mit holzvertäfelten Seminarräumen und breiten, knarrenden Treppen. Im ganzen Haus gab es keine Wohnräume außer ihren, darum war alles still und leer, als Cassie ihre Koffer in den dritten Stock hinaufwuchtete. Ganz oben kam sie vor einer gedrungenen, vergitterten Tür zu stehen.

»Hallo?« Cassie schloss vorsichtig auf und streckte den Kopf vor, um einen Blick durch den Türspalt zu werfen. »Ist jemand da?«

Laut Rutledge sollte Cassie die Wohnung mit einer gewissen Genevieve DuLongpre teilen. Nichts rührte sich, und so zog Cassie ihr Gepäck über die Schwelle und ließ ihre Last mit einem erleichterten Seufzer auf den Tisch fallen, um sich dann ausgiebig umzusehen.

Die Unterkunft war bei Weitem nicht so mondän wie Carlton Hall, das war unübersehbar. Cassie stand in einem großen, sechseckigen Wohnzimmer, das mit einem langen Esstisch und bunt zusammengewürfelten Stühlen möbliert war. Am anderen Ende des Raums standen zwei stock­fleckige, abgewetzte Sofas vor einem unverputzten Ziegelkamin; auf dem Boden lagen fadenscheinige Teppiche. Ein kurzer, enger Flur führte zu einer schmalen Einmannküche auf der einen und in ein Bad auf der anderen Seite, beides in altmodischen Senf- und Grüntönen gefliest. Die niedrigen Decken hatten Dachschrägen, und obwohl eine Seite des Wohnzimmers von mehreren tiefen, in die Steinmauern eingelassenen Fenstern erhellt wurde, wirkten die Räume beengt, klaustrophobisch, hätte man sagen können.

Gemütlich, beschloss Cassie.

Die Tür zu einem der Schlafzimmer stand offen und gab den Blick auf einen Teppich aus losen Schriftstücken und abgelegten Sweatern frei, darum brachte Cassie ihre Sachen ins andere Zimmer. Ein weiterer kleiner Raum mit Dachschrägen und eingebauten Regalfächern auf der einen Seite und Bett und Schreibtisch auf der anderen. Sie ging zum Fenster und öffnete es bis zum Anschlag, um Luft hereinzulassen. Draußen ergoss sich das Nachmittagslicht durch die Lücken zwischen den steinernen Wasserspeiern, die hoch oben auf den Mauern kauerten. Unten auf der Straße war leises Gelächter zu hören und das Brummen des Verkehrs, aber hier war Cassie hoch über der Stadt und absolut allein.

Sie packte schnell aus und holte ganz unten aus ihrem Koffer einen dicken Aktenordner hervor. Dann brühte sie sich eine Tasse Tee auf, entdeckte im Küchenschrank ein Päckchen mit Keksen und ließ sich damit in einer Sonnenscheinpfütze an dem ausladenden Esstisch nieder. Sie schlug den Ordner auf und breitete den vertrauten Inhalt vor sich aus wie eine Hellseherin ihre Tarotkarten.

Erst die Nachricht. Du kannst dich nicht für immer vor der Wahrheit verstecken. Bitte komm zurück, und bring alles zu einem guten Ende.

Dann der rest­liche Inhalt des mysteriösen Päckchens.

Ein entwertetes Schiffsticket. Von Plymouth nach New York, aus dem Frühjahr 1995.

Ein Rosenquarzanhänger genau wie der, den sie trug.

Und ein Foto. Von ihrer unglaublich jung aussehenden Mutter. In weißer Bluse und langem schwarzem Rock, und mit einer schwarzen Schleife unter dem Kragen. Lächelnd, das junge Gesicht lebendig und begeistert, stand sie neben einem weiteren Mädchen zwischen zwei Jungen in ebenso formeller Aufmachung, die dreiviertellangen Talare wehten wie breite Stoffbänder in der leichten Brise.

Cassie hatte den vorangegangenen Nachmittag in einer identischen Aufmachung verbracht, und zwischen ähn­lichen Jungen. Sie hätte genau gewusst, wo dieses Foto aufgenommen worden war, auch ohne den handschrift­lichen Vermerk auf der Rückseite zu kennen.

Raleigh College. 1994.

Sie starrte auf das Bild wie mindestens schon hundertmal, seit sie das Päckchen geöffnet hatte. Beide Stücke für sich genommen waren Fragmente, ein Rätsel. Aber zusammen …?

Cassie hatte versucht – wenn auch ohne Erfolg –, diese neuen Tatsachen irgendwie mit ihrer eigenen Lebensgeschichte in Einklang zu bringen. Ihre Mutter, Joanna, die nie vom College gesprochen hatte, die nicht ein einziges Mal erwähnt hatte, dass sie Amerika je verlassen hatte, war zum Studium nach England gekommen, hatte hier am Raleigh studiert, einer der angesehensten und elitärsten Lehranstalten der Welt. Sie war auf denselben gepflasterten Wegen gegangen, war vielleicht die Treppen in exakt diesem Gebäude hinaufspaziert und hatte Cassie nie davon erzählt.

Cassie hatte keine einzige der grausamen, wütenden Verhöhnungen, keine einzige schluchzende Beschwörung vergessen. Vierzehn Jahre lang war sie dem Zorn ihrer Mutter ausgesetzt gewesen, hatte ihre Mutter Cassie die Schuld an all den verpassten Gelegenheiten, an all den geopferten Träumen gegeben. Falls ihre Mutter je auch nur ein Wort über ein früheres Leben in England verloren hätte, hätte Cassie das mitbekommen. Doch dieses Geheimnis hatte Joanna mit ins Grab genommen

Außergewöhnlich hatte man ihre Mutter genannt. Zerbrechlich. So als wäre Joanna ein seltener Schmetterling oder eine exquisite Vase. Doch Cassie hatte nichts Zerbrech­liches in den Wutanfällen erkennen können, die sich wie ein Feuersturm durch ihre Kindheit gefressen hatten und nach denen ihre Mutter erschöpft in einem See von Tränen am Küchenboden gelegen hatte. Joanna war bei Cassies Geburt erst zwanzig gewesen, und sie hatte keinerlei Familie gehabt; nie hatte sie von Cassies Vater erzählt, außer dass er sich abgesetzt hatte und dass sie ohne ihn besser dran wären, und so war Cassie nichts anderes übrig geblieben, als allein mit aufgestellten Antennen und auf Zehenspitzen durch ihre Kindheit zu schleichen, um den Frieden zu bewahren, so gut sie eben konnte.

Irgendwas übersah sie trotzdem immer. Sauer gewordene Milch im Kühlschrank, ein halb abgerissener Knopf an Cassies Grundschulbluse – der kleinste Funke konnte ein Buschfeuer an unerklär­lichem Leid entzünden, das sogleich durch das ganze Haus fegte, stundenlange Zornestiraden darüber, welche Opfer Joanna gebracht hatte, was für eine großartige Poetin sie hätte werden können, wenn Mühsal und Plackerei des Mutterseins sie nicht so erdrückt hätten. Cassie lernte bald, sich vor Joannas Wut zu verstecken, indem sie beim ersten Anzeichen eines Zornesausbruchs in den einzigen abschließbaren Raum im Haus flüchtete, sich hinter der verriegelten Badezimmertür zu einem Klumpen Angst zusammenkauerte und lautlos zu zählen begann. Bis fünfhundert. Sechshundert. Manchmal kam sie bis weit über tausend, ehe es still im Haus wurde. Wenn Cassie sich dann, oft erst nach Stunden, wieder hinauswagte, mit pochendem Kopf und leerem Magen, wartete hinter der Tür nichts als eine leere Wohnung auf sie – oder, schlimmer noch, ein Teller mit gegrilltem Käse auf der Küchentheke und der schrecklich schamvolle, schuldbewusste Blick ihrer Mutter.

Trotzdem, trotz der Fingernägel kauenden Angst während dieser Fieberträume waren sie Cassie immer noch lieber als das, was auf sie folgte: Monate voller Lethargie, in denen ihre Mutter ihr Menschsein zu vergessen schien und Cassie nichts weiter tun konnte, als Joanna mit weißen Toastscheiben zu füttern und zuzudecken, während sie reglos auf der Couch lag. So oft, wie sie umzogen, fiel es niemandem auf, dass Cassies Entschuldigungsschreiben für die Schule nur mit einem unleser­lichen Gekrakel unterzeichnet waren, und dass ihre Mutter bestenfalls sporadisch bei irgendwelchen Elternabenden auftauchte.

Schließlich schmirgelte ein Mix aus Medikamenten und seelischer Reifung die extremsten Attacken ihrer Mutter ab, bis Joannas dunkle Tage – wie ihre Mutter diese Phasen mit einem nervösen Lachen nannte – nur noch ein- bis zweimal im Jahr auftraten. Sie zogen zum fünften und letzten Mal um und ließen sich in einer kleinen Allee in einer Stadt mitten in Indiana nieder. Ihre Mutter ließ ihre Lyrikbände eingepackt, suchte sich Arbeit und heiratete sogar. Cassie hatte schon beinahe zu glauben begonnen, dass sie endlich ein normales Leben führen könnten, als die Fieberträume zurückkehrten und ihre Mutter sich eines Nachmittags in der rissigen Emailbadewanne die Pulsadern aufschnitt; sie verblutete, während neben ihr eine halb leere Pillenflasche stand, um die Endgültigkeit ihres Akts zu unterstreichen.

Cassies kurzer Einblick in ein stabiles Familienleben war damit beendet. Joannas Ehemann hielt noch ein paar Monate durch, dann starb er im Vollrausch, während um ihn herum das Haus auf die Grundmauern niederbrannte. Cassie wurde dem Jugendamt übergeben, das sie von einer Einrichtung zur nächsten weiterreichte, bis sie sich mit sechzehn vom staat­lichen Wohlfahrtssystem abnabelte. Danach folgten Jahre in billigen Motels und Diners, während derer Cassie rastlos von einer Stadt in die nächste wechselte, sich durch den Handel mit gefälschten Ausweisen oder verschreibungspflichtigen Pillen über Wasser hielt und scheinbar unaufhaltsam einem Schicksal wie dem ihrer Mutter entgegenschlitterte, bis sie auf eine Währung stieß, die lukrativer war als die meisten anderen.

Wissen.

Es war einfach, viel leichter als jedes ihrer anderen Verbrechen. Sie hatte schon immer alles aufgesogen und neue Ideen und Gedankensysteme so gierig verschlungen wie ihre Grundschulkameraden die Zeichentrickfilme am Sonntagmorgen. Ein paar Stunden Arbeit am Computer, um einen Studentenausweis zu fälschen, und schon stand ihr die Welt offen: im Strom der Bachelorstudenten unterzutauchen, die durch die Tore des Campus strömten, am hintersten Tisch im ört­lichen Studentencafé zu arbeiten, in der fünften Reihe eines Vorlesungssaals zu lagern und dem Professor zu lauschen, der sich in Theorien über Astronomie, Physik, Mathematik erging. Sie verkaufte Hausarbeiten an faule, privilegierte Collegekids, die ihre hunderttausend Dollar teure Ausbildung nur zu gern an jemanden outsourcten, der tatsächlich mit Begeisterung lernte, und schrieb manchmal, wenn die Security lax genug war, sogar Prüfungen für ihre Kommilitonen. Alle Vorzüge des College ohne irgendwelche Regeln, Noten, willkür­lichen Einschränkungen. Cassie war nur ein weiteres anonymes Gesicht in einer Schar von tausend Studenten.

Bis sie dieses Päckchen öffnete und begriff, dass die we­­nigen schmerz­lichen Wahrheiten, auf die sie ihr Leben gegründet hatte, gar nicht wahr waren, sondern nur ein Märchen, erträumt von einer Frau, die sie nie wirklich ge­­kannt hatte, wie sich herausstellte.

Jetzt starrte Cassie auf die Puzzleteile, als könnten sie sich diesmal endlich zu einem klaren Bild ordnen.

Oxford. Eine Schiffsreise. Dann, fünf Monate darauf, war Cassie zur Welt gekommen.

Sie hatte das Foto schon tausendmal betrachtet, aber auch diesmal war es, als sähe sie es zum ersten Mal. Die Joanna auf dem Foto wirkte unbefangen, jugendlich, unschuldig. Cassies Mutter war nichts von alldem gewesen. Bis Cassie alt genug gewesen war, um den Ausdruck in den Augen ihrer Mutter deuten zu können, war jede Freude darin verdorrt, und an ihre Stelle waren Blitze der Verbitterung und schlecht verhohlener Verdruss getreten; Frustration hatte die frühere Verheißung verdrängt, und wo einst Hoffnung geleuchtet hatte, war nichts als Resignation geblieben.

Versunken in das unvertraute Lächeln ihrer Mutter, starrte Cassie auf das Bild, bis das Kratzen eines Schlüssels im Türschloss sie aus ihren Tagträumen riss. Eilig fegte sie die Papiere in den Umschlag zurück, gerade als die Tür aufging und eine schlanke, koboldhafte Frau vor ihr stand, die ihre blonden Haare zu einem Dutt hochgesteckt und sich ein bunt bedrucktes Tuch um den blassen Hals gelegt hatte. Eine Schultertasche, Bücher und ein Take-away-Behälter zogen sie fast zu Boden. Cassie sprang auf, um ihr zu ­helfen.

»Hi!«, sagte die Frau außer Atem und sah sie mit strahlenden Augen an. »Du musst die neue Mitbewohnerin sein! Rutledge hat gesagt, es hätte eine Fehlbelegung gegeben. Willkommen auf dem Dachboden. Ich bin Genevieve; nenn mich einfach Evie.«

»Cassie«, erwiderte sie und nahm Evie die Bücher ab.