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Die Fortsetzung zu "Die Zauberer von Lythe" Colin muss Widerstand und Gehorsam sorgsam gegeneinander abwägen, als er nach seiner gescheiterten Zeitreise in der schwarzen Schule seines Großvaters Susipper festsitzt: Soll er sich selber retten, dem Doppelagenten Morley vertrauen oder alles tun, um Susippers größenwahnsinnige Pläne zu durchkreuzen? Verbittert darüber, dass ihr Vater und die Dornen zu wenig unternehmen, um ihren Bruder zu retten, lässt sich Kathrine unterdessen auf eine gefährliche Einladung ihrer Mutter Eleanor ein und erlebt gemeinsam mit ihren Freunden Isaac und Geoffrey einmal mehr, dass bei den Plänen der beiden verfeindeten Zaubererfraktionen nichts ist, wie es auf den ersten Blick scheint.
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Seitenzahl: 600
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In den Tiefen des Winters erfuhr ich schließlich, dass in mir ein unbesiegbarer Sommer liegt.
Albert Camus
Nichts geht verloren. Alles wird nur verwandelt.
Michael Ende
Vier Monate früher
Zorn
Strohhalme
Die ehrenwerte Abtei
Unter der Maske
Der Gefangene
Die Verschwörer von Lythe Hall
Ausgeliefert
Gewonnen und zerronnen
Flucht nach vorn
Ohnmacht
Besuch
Vertrauen
Alles hat seinen Preis
Freunde und Feinde
Susippers Tochter
Blaue Flecke und brennende Botschaften
Der Abgrund der Seele und die Düfte der Welt
Eleanors Zauber
Die Sehenden und die Suchenden
Gift und Gischt
Das verschwundene Zimmer
Der Segen Gottes
Spiravivum
Das Bernsteinhaus
Der Malermagus
Engelsgleich
Das Geheimnis der Briefe
Gehorsam
Gefährten auf Zeit
Im Netz des Giganten
Prinz und Bettler
Die Fahrt nach Edinburgh
Das Geschenk
Rüstzeug
Die Katakomben und der Geschmack des Todes
Zünglein an der Waage
Theonysios Wächter
Verurteilte und Gäste
Aaskrähen
Verrat
Trubel und Tod
An der Seite eines Geistes
Zaubertod
Der Handel
Neues Leben
Frühling
Der Junge mit den mausgrauen Haaren sah aus, als würde er sich jeden Moment die Lippe abbeißen, so krampfhaft waren seine Zähne ins Fleisch gepresst.
Er weiß, dass er Grund hat, sich zu fürchten, erkannte Eleanor, als sie das kleine angstverzerrte Gesicht vor sich musterte. Sie hielt ihm die Schale mit den Äpfeln hin.
„Willst du einen?“
Langsam lösten sich die verschränkten Arme von den angezogenen Knien.
„Ist das meine Henkersmahlzeit?“, fragte der Junge misstrauisch. Die Anspannung in seinem Gesicht war ungebrochen.
„Kommt darauf an. Wenn das, was du ausgefressen hast, schlimm genug ist, dass Susipper dich im Kerker verrotten lässt, vielleicht. Aber es müsste schon etwas sehr Schlimmes sein ... “, bemerkte sie fragend. „Er opfert doch sonst keinen seiner wertvollen Schüler.“
Ein Schatten huschte über das blasse Gesicht vor ihr.
„Ich bin aber kein guter Schüler. Nicht in den wichtigen Fächern jedenfalls.“
„Aber woanders schon?“, fragte Eleanor augenzwinkernd.
Der Junge musterte sie einen Augenblick lang und schien zu überlegen, wie weit er ihr vertrauen konnte.
„Ich kann gut heilen“, sagte er schließlich. „Ich kriege jedes aufgeschlagene Knie in zehn Sekunden heil - und als Lee Winterborne einmal nachts Zahnschmerzen bekam und sich nicht traute, der Aufseherin Bescheid zu sagen, konnte ich ihm auch helfen.“ Eine etwas lebendigere Farbe stieg in sein Gesicht bei der Erinnerung. „Vor allem aber kann ich gut mit Tieren umgehen. Von den Hunden hier würde mir wohl keiner etwas tun!“, prahlte er.
„Nun, dann bleibt es wohl beim Kerker, vermute ich.“
Der Junge riss die Augen auf und machte einen Satz rückwärts.
Eleanor seufzte.
„Das war ein Scherz, Dummchen! Im Täuschungen-entlarven-Unterricht bist du wirklich nicht der Hellste, was?“
Der junge Prim starrte die Frau vor sich finster an.
Eleanor schnitt eine Grimasse.
„Nun erzähl schon! Was hast du ausgefressen? Du bist nicht der erste Lausejunge, den sie im Hungerturm einschließen, weißt du?“
Abschätzig betrachtete der Junge sie.
„Warum sollte ich ausgerechnet Ihnen vertrauen?“
Eleanor schwieg. Der Junge konnte nicht wissen, wer sie wirklich war. Aber seiner Erfahrung nach waren sicher alle Erwachsenen an diesem Ort verlängerte Augen und Ohren Susippers. Außerdem hatte sie ihm schon reichlich Angst gemacht. Weil ich eine Gefangene bin, genau wie du.
„Ich könnte dir jedenfalls dabei helfen, alles wieder gerade zu rücken, was auch immer du angestellt hast. Frag Archibald Crane oder Sheila MacGowan, die vor dir hier saßen. Sie dürften allerdings zwei oder drei Klassen über dir sein ...“
„Sie sind schon in der Fünften“, platzte es aus dem jungen Zauberlehrling heraus. „Können Sie mir wirklich helfen, dass ich bis dahin überlebe?“
Eleanor schmunzelte. „Probier es aus!“
Der Junge stieß einen Schwall Luft aus, der bis eben in ihm festgesessen haben musste.
„Es war eine Mutprobe“, flüsterte er. „Liswell hat keinem so eine fiese Aufgabe gestellt wie mir. Alle anderen Neuen waren schon dran und ich bin ja auch geschickt … wenn nicht plötzlich diese aufgeregte Dame erschienen wäre, säße ich bestimmt nicht hier ...“
Eleanor kniff die Augen zusammen.
„Was für eine Dame?“ hakte sie nach, ehe der Junge wieder in Selbstmitleid versinken konnte.
„Irgendeine externe Agentin. Sie war schon älter. Dürr wie ein Kleiderständer und einen ganz schiefen Hals hatte sie.“
Der junge Prim bemerkte nicht, dass Eleanor ihn nun mit erhöhter Aufmerksamkeit ansah, sondern griff nun endlich in den Korb mit Äpfeln, wählte sich den größten und rötesten aus und biss herzhaft hinein. Dann fuhr er fort: „Ich sollte sie belauschen. In Susippers Kabinett persönlich! Was Schwierigeres konnte Liswell sich wirklich nicht ausdenken!“ Der Ärger war deutlich aus seiner Stimme herauszuhören. „Ich habe es an der ›Sphinx‹ vorbeigeschafft. Allerdings stand ich dann Susipper und der Dame direkt gegenüber. So kam es heraus - sie haben mir nicht geglaubt, dass Comezzi mich geschickt hatte.“
Eleanor nickte. Nicolai Iwanowitsch, wegen seiner Vorliebe für Rätsel von allen nur „die Sphinx“ genannt, war der Türsteher und persönliche Leibwächter ihres Vaters. Er stellte jedem, der unaufgefordert Einlass verlangte, eine Rätselfrage. Dass der Junge sie gelöst hatte, verriet, dass er weit cleverer sein musste, als er bisher den Anschein machte - wenngleich nicht so clever, dass er das Spionieren gelassen hatte. Auch wenn es sich nur um das Spiel von kleinen Jungs handelte, so war die Gefahr doch groß, dass Susipper ein Exempel statuieren würde. Im Spione erziehen war er groß - aber dass ein Schüler versucht hatte, ihn persönlich auszuforschen, durfte nicht die Runde machen. Er tat sich schwer damit, zu vergeben ...
Wenn Eleanor darüber nachdachte, wunderte sie es fast, dass der Junge, der gerade alles so freimütig ausplauderte, seine Zunge noch besaß - und was für interessante Dinge er damit erzählte! Mrs. Bridgewater! Hier am Geburtstag der Zwillinge! Es dürfte das erste Mal gewesen sein, seit ...
„Was hast du von dem gehört, was die Agentin zu berichten hatte?“, fragte Eleanor.
Der Junge vor ihr schüttelte heftig den Kopf.
„Bei ihm bleibt dir keine Zeit für ein zweites Kopfschütteln!“, warnte Susippers Tochter.
Ein Seufzer entwich dem blassen Gesicht vor ihr.
„Sie haben mich doch sofort geschnappt! Ich weiß nur, dass irgendein Alarm losgegangen ist und die Dame hoffte, Susipper bald etwas zu bringen, was er sich dringend wünscht - nichts worauf sich unsereins einen Reim machen könnte, nicht wahr?“ Der Junge blickte flehend.
Eleanor nickte zustimmend, obwohl sie durchaus eine Ahnung hatte, was geschehen war. Und das Gedicht, das beim Reimen heraus kam, gefiel ihr ganz und gar nicht.
„Wie hat Susipper auf die Informationen reagiert?“
„Er sprach von einer gründlichen Suche und dass er gegebenenfalls weitere Helfer schicken würde.“ Der Junge starrte sie fragend an. „Sie werden mir also helfen, Miss?“
Eleanor musterte ihn nachdenklich.
„Und wenn das bedeuten würde, dass du Heshwicks Horn verlassen müsstest?“
Der Junge machte Augen, als hätte sie ihm einen eigenen Hund versprochen.
„Heshwicks Horn verlassen? Nichts lieber als das, Miss!“
„Dann hoffe ich, dass du nicht gelogen hast, als du sagtest, du könntest gut mit Tieren umgehen! Du wirst eine Tarnung brauchen, wenn du mit mir unterwegs bist ... wie heißt du eigentlich?“
„Melchior“, sagte der Junge und strahlte von einem Ohr zum anderen. „Aber Sie dürfen auch ›Mel‹ sagen!“
Der Januar auf Lythe Hall war stets ein Monat der Stille gewesen. Wenn die großen Feste vorbei waren und die Gärten tief im Winterschlaf ruhten, breitete sich im Schloss ein Gefühl wohliger Sattheit und Zufriedenheit aus.
In diesem Jahr jedoch war alles anders. Durchwachte Nächte und das Gefühl eines Fehlers, der nicht wieder gut zu machen war, prägten den Monat des Anfangs. All dies haftete an den Räumen wie ein schlechter Geruch und bislang hatte kein wärmendes Feuer, kein Abenteuer des Earls und kein Gebrüll sie vertreiben können.
Kathrine fühlte sich inmitten all der Menschen auf Lythe Hall so einsam wie noch nie in ihrem Leben. Über die Jahre hatte sie gelernt, auf ihre Mutter und auch auf ihren Vater zu verzichten – aber ihren Bruder Colin nicht mehr bei sich zu haben, fühlte sich an, als fehle ihr ein Teil von ihr selbst.
„Und wenn du mich noch so herzzerreißend bittest - es ändert nichts an meiner Entscheidung!“, Adam Lythefield starrte seine Tochter, die sich Verstärkung in Gestalt ihres Freundes Isaac mitgebracht hatte, ungeduldig an.
„Ihr nennt euch ›Dornen‹ und kratzt so wenig an Susippers Mauern wie ein welkes Blatt!“ Kathrine spuckte mit Tränen in den Augen vor der versammelten Liga der Weißen Dornen aus. Vor Scham, dass sie sich selbst so erniedrigen musste, wäre sie am liebsten in Grund und Boden versunken.
Lord Roquefort, der Mentor ihres Vaters, blinzelte unbehaglich.
Der Zaubererorden hatte sich auf den heil gebliebenen Sofas des Salons versammelt. Dort, wo bis vor kurzem noch ein Konzertflügel gestanden hatte, waren neue Sessel aufgebaut. Um die Lücke zu überspielen. Das Loch im Fußboden war repariert, aber die ausgefransten Ränder der Dielen konnte man immer noch erkennen.
Nie hätte Kathrine gedacht, dass der Orden ihres Vaters sie so enttäuschen würde. Inzwischen waren fast drei Wochen ins Land gegangen - zähe, bange und noch dazu dunkle Tage Ende Dezember und Anfang Januar des neuen Jahres 1905 - seit sie wussten, dass Kathrines Cousine Gwendoline und wahrscheinlich auch Kathrines Zwillingsbruder Colin entführt worden waren. Während man in Colins Fall nur rätseln konnte, wussten sie, dass sich Gwendoline in der Hand der Primordialmagier befand, auch genannt „Prims“. Und was hatten die Dornen seither getan? - den feindlichen Zauberern Lösegeld angeboten, Susipper ein Erdbeben geschickt und auf Nachricht von Geoffrey gewartet, der sich Anfang Januar aufgemacht hatte, um Heshwicks Horn, die Burg ihrer Feinde, von außen zu beobachten. Einen Spiegelgang zu nutzen, scheiterte daran, dass sie jemanden in der Festung brauchten, der ihnen half ...
„Bevor wir keine Nachricht von Rodair oder Geoff haben, werde ich nichts in der Art unternehmen!“, verkündete Adam Lythefield mit Nachdruck.
Rodair, der liebe und unerschrockene Rodair. Der Earl hatte seinen besten Freund vor gut einer Woche zum Verhandeln in den Norden geschickt. Aber Kathrine konnte nicht darauf vertrauen, dass er Gwendoline zurückbringen würde. Susipper will mich. Er wird Gwendoline nur freigeben, wenn er dafür mich bekommt.
Über den Grund dafür dachte sie allerdings nicht gerne nach: Erst vor kurzem hatte sie erfahren, dass John Maxwell Susipper ihr eigener Großvater war - der Vater ihrer Mutter - und dass dieser seine Enkel schon lange in die Finger bekommen wollte.
Auch deshalb war sie so bestürzt, dass ihr Vater einfach nur abzuwarten schien. Er hätte eine Invasion oder ein klug eingefädeltes Täuschungsmanöver vorbereiten sollen!
Sei geduldig, meldete sich ihre innere Stimme wieder. Kathrine hätte auflachen können. Zum dritten Mal hatte sie ihren Vater eben angefleht, auf den Tausch einzugehen, den die Primordialmagier vorgeschlagen hatten: Gwendoline gegen Kathrine. Um ihre Cousine zu befreien und nachforschen zu können, was aus ihrem Bruder geworden war, war Kathrine bereit, sich auf das Angebot einzulassen. Leider sahen ihr Vater und seine Freunde ganz und gar nicht die Notwendigkeit dazu.
„Was ich will, ist dir offensichtlich vollkommen egal - man könnte meinen, du hast vor, Colin zu bestrafen dafür, dass er die Uhr genommen hat!“
„Es geht nicht um Strafe“, erklärte ihr Vater Adam noch einmal. „Aber wir verbessern die Situation nicht durch irgendwelche Kurzschlussreaktionen! Ich weiß nicht, wie du an dieser Idee so einen Narren fressen kannst: dich austauschen gegen Gwendoline!“ Seine Stimme hatte etwas Schnappendes – so als müsse er jedes Wort seiner Tochter schon in der Luft auffangen und zerbeißen. „Mit den Prims müssen wir sehr vorsichtig sein!“
„So vorsichtig, dass Colin, ohne dass wir es wissen, vielleicht schon Dreiundzwanzig geworden ist? Wie willst du denn je etwas über ihn in Erfahrung bringen, wenn wir niemanden auf Heshwicks Horn haben?“
Der Earl sah seine Tochter ernst an. Es stimmte. Rodair sollte zwar versuchen, auch etwas über Colin in Erfahrung zu bringen, aber wie sollte er es anstellen, ohne Kathrines Bruder in Gefahr zu bringen? Immerhin saß Colin nach seiner missglückten Zeitreise an einem Punkt in der Vergangenheit fest, der fast zwölf Jahre zurücklag. Er war nach dem Aufeinandertreffen mit Susippers Agentin verschwunden, und sein einziger Schutz bestand möglicherweise darin, dass niemand wusste, wer er wirklich war ... Dummerweise hatte Isaacs Bruder Geoffrey, mit dem Colin den Trip in die Vergangenheit unternommen hatte, sich die Zeitreiseuhr auch noch abnehmen lassen.
Die Ausgangssituation war also mehr als ungünstig. Genauso wenig wie in Heshwicks Horn heimlich einzubrechen, konnte man einfach eine andere Zeitreise-Uhr kaufen, selbst wenn Kathrines Familie ihren kompletten Besitz dafür gegeben hätte. Die Janus-Uhr war einmalig.
„Warum nehmen wir nicht einfach die Castellavi und stürmen die Festung?“, wagte Kathrine einen neuen Versuch. Immerhin beherbergten sie einen großen Schwarm dieser Lichtwesen, die im Kampf gegen die Prims schon überraschende Kräfte offenbart hatten.
„Ich habe es bereits erklärt ...“
„Ja ja, wir wissen nicht, in welchem Teil der Festung Gwen gefangen gehalten wird ... blind drauflosschlagen kann für sie gefährlich werden ...“, wiederholte Kathrine patzig.
„Deine Cousine ist eine Geisel!“ Adam Lythefield klang nun ebenfalls aufgebracht. „Wenn der Plan steht, kann es gut sein, dass die Castellavi eine wichtige Rolle darin übernehmen, sie aber einfach so auf einen Zerstörungsfeldzug zu schicken, könnte dazu führen, dass man Gwen als Schild benutzt oder sie bestraft. Willst du das?“
Kathrine schloss entmutigt die Augen. Es ist deine Aufgabe, den Plan rund zu machen, Vater!
„Ich könnte auch gehen.“ Isaac Furkins, mit dem sich Colin und Kathrine in den letzten Monaten intensiv angefreundet hatten, schob sich nach vorne. „Susipper sucht immer Schüler - außerdem werde ich bald fünfzehn und habe in meinen Anculi viel gelernt!“
Adam sah den Jungen stirnrunzelnd an.
„Es ist sehr ehrenvoll von dir, Isaac, das anzubieten. Aber ich glaube, du hast eben sowenig wie Kathrine eine Vorstellung, worauf ihr euch einlassen würdet. Sehr wahrscheinlich würden wir keinen von euch je wiedersehen - und wenn doch, stünden wir uns vielleicht als Feinde gegenüber!“
„Ihr glaubt, ich stelle mich gegen euch?“, rief Isaac empört.
„Susipper steht nicht umsonst im Ruf, der gefährlichste Mann ganz Britanniens zu sein!“, mischte sich Lord Roquefort ein, der sich selbst im Sitzen noch auf den Knauf seines Gehstockes stützte. „Selbst damals haben wir uns nie zum Horn gewagt – immer nur zu den anderen Schulen. Das Horn ist uneinnehmbar! Und dieser Halunke kennt genug Mittel, sich Menschen gefügig zu machen, mein Junge! Es gehen Gerüchte von Folter und Gehirnwäsche in seiner Schule ... die Kinder von damals haben viel Schlimmes erzählt!“
Kathrine verdrehte die Augen.
„Und was ist, wenn Colin und Gwen nun das Gleiche passiert? Wollt ihr einfach Däumchen drehen und zusehen?“
Betretenes Schweigen war die Antwort.
Vor etwa zwanzig Jahren hatte die Zeit der Kinderdiebstähle begonnen. Susipper, der Anführer der Primordialmagier, ließ systematisch Kinder der weißen Zauberer entführen, um sie in seinem Sinne umerziehen zu lassen. Die Weißen Dornen hatten sich damals gegründet, um diese Kinder zu finden und ihren Familien zurückzugeben. Und sie waren überaus erfolgreich gewesen. Wie bei allen Kämpfen hatte es jedoch auch Opfer gegeben: Rodairs Frau Ravinia und Isaacs Vater John waren dabei ums Leben gekommen. Und Eleanor, Kathrines und Colins Mutter, hatte ihren Mann, der nichts von ihrer wahren Identität ahnte, über Jahre ausspioniert ...
„Sowohl Gwendoline als auch Colin - wenn er wirklich in der Hand der Prims sein sollte - sind für Susipper viel zu wertvoll, als dass er sie wie gewöhnliche Gefangene behandeln wird“, sagte der Earl beschwichtigend. „Das garantiert ihnen eine gewisse Sicherheit, während wir im Geheimen an der Befreiung arbeiten. Wie schon gesagt, braucht das Zeit und sorgfältige Planung! Wenn ihr wirklich etwas Sinnvolles tun wollt, dann helft Rachel und Elisa mit den Briefen oder bringt Mina davon ab, sich noch mehr Maler kommen zu lassen! Wir haben keine Mrs. Bridgewater mehr, die sie alle einsammelt und wieder vor die Tür verfrachtet!“
Die Bibliothek war angesichts des fahlen Januarlichts ein Ort der Wärme und Behaglichkeit. Dies lag nicht so sehr an dem Feuer, das im steinernen Kamin knisterte und gelegentlich seine Funken an das Eisengitter davor sprühte, als vielmehr an den zahlreichen großen und kleinen Leuchtkugeln, die lebhaft unter der Decke umherwuselten. Die Castellavi, die so viele Jahre in der Wolfshöhle gelebt hatten, schienen sich auch im Schloss wohlzufühlen, blieben aber stets in der Nähe von Elisa, und diese arbeitete seit Tagen zusammen mit Rodairs Tochter Rachel in der Bibliothek.
Nicht weniger als siebzehn Kisten, teilweise mit geöffnetem Deckel und herausquellendem Papier, alle aber angestaubt oder voller Nässeflecken, standen auf dem Tisch und dem Parkett.
„Wollt ihr uns beim Husten helfen in diesem Staub, oder warum seid ihr gekommen?“, fragte Elisa und fasste ihren Enkelsohn scharf ins Auge.
Isaac blickte verlegen zu Boden, während Kathrine näher an den überladenen Tisch trat und die vergilbten Briefumschläge musterte. Den meisten Platz nahm ein dicker Stapel Zeitungen ein, die Elisa beim Pastor im Nachbardorf ausgeliehen hatte.
„Schon irgendetwas entdeckt?“ wandte sich Kathrine an Rachel.
„Nun, bei der Nadel im Heuhaufen erwartet auch keiner, dass sie schon am vierten Tag gefunden wird, oder? - Vorausgesetzt natürlich, es gibt überhaupt eine Nadel ...“, bemerkte Rachel verschnupft.
Kathrine fand, dass die Stimme ihrer Freundin etwas Trübsinniges hatte. Auch Elisa musterte das Mädchen nachdenklich. Seit ihr Vater auf seine gefährliche Mission in den Norden aufgebrochen war, glich sie einem verletzten Reh, das Mühe hatte, seinen Weg durch den Wald zu finden.
Gemeinsam mit Isaacs Großmutter hatte sie die undankbare Aufgabe übernommen, nach einem Hinweis von Colin zu fahnden, der allen Befürchtungen nach also im Jahr 1893 festhing. Ob er überhaupt Gelegenheit dazu bekam, eine Nachricht für seine Familie abzusetzen, darüber konnten sie natürlich nur spekulieren. Allerdings war es immer noch wahrscheinlicher als andersherum. Denn wie sollte ohne Zeitreiseuhr eine Nachricht in die Vergangenheit aussehen? Und wohin sollte man sie senden?
Bislang war Recherche also die einzig brauchbare Idee, nach Colin zu suchen. Es war Rodairs Vorschlag gewesen, alte Schriftstücke durchzugehen, in der Hoffnung, dass es Colin gelungen war, irgendwo einen Hinweis über seinen Verbleib zu hinterlassen.
Lionel Grumford, der Sekretär des Earls, hatte nicht schlecht gestaunt, als man ihn deshalb um sämtlichen Schriftverkehr der letzten elf Jahre und zehn Monate gebeten hatte. Alle verbliebenen Dornen hatten ihre private Post zur Verfügung gestellt und Pastor MacMichael aus dem Nachbarort reichlich alte Jahrgänge des örtlichen Anzeigers sowie der Times.
Natürlich hatten sich Rachel und Elisa zunächst die ältesten Briefe und Zeitungen vorgenommen - soweit diese entsprechend sortiert waren - und arbeiteten sich nun schrittweise in die Gegenwart.
Gleich am zweiten Tag war Rachel aufgeregt mit einem Artikel aus der Times von Ende 1893 zu Adam gekommen, in dem ein gewisser Colin Cantric eine Belohnung für das Wiederfinden seines Foxterriers auslobte. Eine Überprüfung hatte dann aber ergeben, dass Mr. Cantric, der tatsächlich denselben Nachnamen trug wie Rachel und Rodair, mittlerweile 74 Jahre alt war und noch nie von einer Familie Lythefield gehört hatte.
„Eigentlich bin ich gekommen, weil ich dich um deine Erlaubnis bitten möchte, Geoffrey nachzureisen, Granny“, sagte Isaac nervös.
„Wie kommst du auf diese Idee?“ fragte Elisa barsch und betrachtete ihn fassungslos. „Reicht es nicht, dass einer von euch sich in Gefahr begibt? Geoff hat bislang nicht eine einzige Nachricht geschickt in diesen vierzehn Tagen! Willst du, dass ich mich auch noch die andere Hälfte meiner Nacht schlaflos herumwälze?“
„Nein Granny“, sagte Isaac bedrückt. „Aber ich würde gern etwas Sinnvolles tun und vielleicht kann Geoff Hilfe da oben gebrauchen!“
„So!“, schnaubte Elisa. „Und kannst du dich etwa auch in einen Wolf verwandeln, wenn Gefahr droht? Oder erzählst du Susipper, dass du nur ein Spaziergänger bist, wenn seine Schergen dich fangen - jetzt, nachdem bereits fünfzig Prims dein Gesicht kennen?“
Isaac senkte kleinlaut seinen Kopf.
„Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben, als diese Briefe durchzusehen!“, rief Kathrine verzweifelt. „Das Warten macht mich fast wahnsinnig! Was ist, wenn wir Colin nie mehr wieder sehen? Und Gwendoline auch nicht ...?“
Es war kein Geheimnis, dass die Zwillinge nie viel mit ihrer Cousine hatten anfangen können. Allerdings war Gwendoline nun genauso in Gefahr wie Colin, auch wenn sie lediglich wegen einer Verwechslung entführt worden war: Eigentlich hatte Mrs. Bridgewater Kathrine haben wollen und weil immer noch zu befürchten war, die Prims könnten es erneut versuchen, gab es seit Weihnachten ein striktes Ausgehverbot. Kathrine war neunzehn Tage nicht mehr unter freien Himmel gewesen.
„Geduld, mein Mädchen! Es geht doch uns allen nicht anders! Oder meinst du, mir und Rachel macht es Spaß, über diesen Papieren zu sitzen? Vielleicht bleibt ihr ein Stündchen bei uns und seht die Times ab Mai 1894 durch?“ Als wäre dies bereits beschlossene Sache, wandte sie sich an Rachel, die in Gedanken weit fort zu sein schien. „Liebes, wärst du so nett, uns allen einen Tee zu machen, ja?
Irgendetwas mit Ingwer vielleicht, was uns ein bisschen Energie gibt?“
Rachel nickte dankbar für die Unterbrechung und verließ den Tisch.
Elisa kannte sich großartig mit der Wirkung von Heilpflanzen und anderen Zauberstoffen aus. Leider war der größte Vorrat ihrer Zaubermittel in der eingestürzten Wolfshöhle geblieben. Elisa war während der Tage, als alle sie vermisst hatten, noch einmal dort gewesen, konnte aus dem Wohnhügel aber kaum noch etwas retten.
„Ich habe ein Déjà-vu-Erlebnis“, sagte Kathrine ernüchtert, als Elisa ihr und Isaac einen Stapel Zeitungen vor die Nase schob. „Im Herbst haben Colin und ich hier auch recherchiert - aber da wussten wir wenigstens, wonach wir Ausschau halten mussten.“
Apricotfarbene Seide ergoss sich in Wellen über den Sofatisch. Rubinfarbene Stoffrosen waren in regelmäßigen Abständen auf dem Rock befestigt und säumten eine Stickerei aus jadegrünen Girlanden. Kunstvolle Spitze schloss an die glockenförmigen Ärmel an und nun war Kathrines Tante als Letztes dabei, auch noch echte Perlen am Halsausschnitt festzunähen. Kathrine zweifelte daran, dass Mina wirklich den Geschmack ihrer Tochter getroffen hatte. Das Kleid glich einer üppig verzierten Marzipantorte.
„Ist es nicht wunderschön?“, fragte Mina und schaute mit geröteten Augen von ihrer Arbeit auf.
Kathrine brachte es nicht fertig, die Wahrheit auszusprechen.
„Das schönste Kleid, das ich je gesehen habe, Tante!“
Ein Ausdruck, den man fast Zufriedenheit nennen konnte, legte sich über Minas verhärmtes Gesicht. Das Kleid zu nähen, war Teil ihrer Strategie, sich vom Kummer abzulenken.
„Es soll eine ganz besondere Überraschung für Gwennie werden“, seufzte sie. „Hoffentlich ist sie nicht völlig herausgewachsen, wenn wir das arme Mädchen endlich wiederbekommen!“
Ein weißer Schwanz lugte unter dem Tisch hervor. Pudel Ludwig lag dort in seinem Körbchen und schlief. Das gebrochene Bein war noch in Gips, aber er schien gut damit klarzukommen - zumindestens gut genug, dass er es erst gestern geschafft hatte, eine Pastete aus der Küche zu stibitzen. Hoffentlich würde Ludwig das neue Kleid nicht mit etwas Essbarem verwechseln ...
Wäre der aprikosenfarbene Albtraum Minas einziges Projekt geblieben, hätte Kathrines Vater sich nicht beschwert. Eigentlich hatte die Tragödie Mina sogar menschlicher werden lassen, fand Kathrine. Ihr Hochmut und das ständige Sticheln waren verschwunden.
Schwierig war es dadurch geworden, dass Mina mittlerweile ganze vier Porträts ihrer Tochter in Auftrag gegeben hatte.
„Ich brauche etwas, mit dem sich Gwennie näher anfühlt!“, hatte sie erklärt.
Jedes der Bilder stammte von einem anderen Künstler. Bislang gab es Gwendoline beim Streicheln von Ludwig, Gwendoline hoch zu Ross und Gwendoline als fromme Betende. Von dem letzten Bild ging tatsächlich eine bestechende Wirkung aus, obwohl der Künstler das Mädchen aus unerfindlichen Gründen weder hatte lächeln noch gerade stehen lassen. Es war, als hätte der Künstler gespürt, dass die echte Gwendoline sich in Not befand. Ihre Körperhaltung wirkte verunsichert, das Gesicht flehentlich. Kathrine spürte jedes Mal einen Stich, wenn sie ihre Cousine so sah. Es verstärkte ihre schlimmsten Befürchtungen.
Kein Wunder also, dass ihre Tante das Bild ablehnte. Weil keines der Porträts Gwendoline Grazie gerecht wurde, war seit gestern Darstellung Nummer Vier in Arbeit. Das Format hatte sich mit jedem Bild gesteigert und so würde das aktuelle Gwendoline lebensgroß und in eben jenem Prinzessinnenkleid zeigen - soweit Kathrine die Vorzeichnung auf der Leinwand richtig deutete.
Das Problem bestand darin, dass Mina die betreffenden Maler engagiert, sich ansonsten aber weder um ihren Einlass gekümmert hatte, noch wo diese Quartier beziehen sollten. Die ersten beiden waren irgendwo im Dorf untergekommen und hatten sich auch rein auf ihre Arbeit konzentriert. Der dritte Künstler jedoch, ein gewisser Mr. Whitby, war über eine Woche geblieben, hatte sich mit großer Selbstverständlichkeit überall im Schloss umgesehen, war dabei in eine Geheimbesprechung der Dornen gestolpert und hatte auch noch angefangen, Rachel den Hof zu machen, bevor der Earl den jungen Mann hochkant hinausgeworfen hatte.
Kathrine blickte flüchtig zum Bild der betenden Gwendoline zurück. Tatsächlich schien es, als sei in ihre Gestalt auch etwas von Rachel eingeflossen - Kathrine hatte ihre Cousine jedenfalls noch nie mit einem so züchtig über die Schulter gelegten Zopf gesehen ... Arme Rachel, dachte sie, denn wie es schien, sorgte sich ihre Freundin nicht nur um ihren Vater, sondern war auch überaus beeindruckt von Mr. Whitby gewesen.
Der Earl war froh darüber, dass Rupert Lythefield und seine Frau entschieden hatten, nicht nach Hause zurückzukehren. Da es auf Lythe Hall weitaus sicherer für sie war, bewohnte das Paar drei zusammenhängende Räume im ersten Stock, die beide so selten wie möglich verließen. Vermutlich aus Angst vor den magischen Fähigkeiten der anderen, dachte Kathrine, auch wenn der Earl immer wieder erklärt hatte, dass seine Gefährten alle auf Ruperts und Minas Seite stünden.
Trotzdem mussten sich Gwendolines Eltern natürlich mit irgendetwas beschäftigen und wie es schien, hatte Mina die deutlich bessere Strategie von beiden gewählt.
Rupert hatte die ersten Tage getobt wie ein tollwütiger Stier. Wie Kathrine wollte er nicht wahrhaben, dass sein Cousin so wenig zur Rettung seiner Tochter beitragen konnte (dass Adam den Entführern ein Lösegeld von fünftausend Pfund angeboten hatte, nahm er für selbstverständlich). Als Kathrines Onkel dann bewusst wurde, dass eher Wochen als Tage ins Land gehen würden, bevor er seine Tochter wiederbekam, ließ er zwei befreundete Anwälte kommen. Zu seinem Unmut klärten sie ihn auf, dass man den Earl nicht für die Entführung Gwendolines haftbar machen könne, auch wenn die Tat von seiner Hausangestellten verübt worden war.
Das Beruhigungsmittel, um das Mina den Earl schließlich gebeten hatte, schlug Rupert mit der Bemerkung aus, er werde sich hüten, eine Medizin von einem Zauberer anzunehmen, schließlich wisse man ja nicht, ob er dann auch noch verschwinden würde. Seit diesem Vorfall aß Kathrines Onkel kaum noch etwas und stocherte immerzu misstrauisch in seinem Essen herum, als befürchte er, man würde ihm auf anderem Wege etwas unterjubeln.
Das Hungern und Nichtstun tat ihrem Onkel nicht gut, wie Kathrine nun erneut bemerkte. Er war ein Mann, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen und andere herumzukommandieren. Das schweigende Brüten, unter dem er auf dem Sofa saß, ließ Kathrine befürchten, es staue sich in ihm ein neuer Ausbruch zusammen, der noch gewaltiger als die letzten sein würde.
Es muss sein, sagte sich Kathrine, atmete tief ein und ging auf ihn zu.
Denn ausschließlich wegen ihres Onkels war Kathrine gekommen.
„Onkel Rupert?“, fragte sie vorsichtig.
Er blickte sie mit gerunzelter Stirn an, so als müsse er sich erst erinnern, wen er da eigentlich vor sich hatte.
„Was willst du?“, knurrte er dann.
Kathrine beschloss, besser gleich zum Thema zu kommen.
„Ich brauche deine Hilfe.“
Erleichtert registrierte sie, wie sich ein Ausdruck von Verblüffung auf dem Gesicht ihres Onkels breitmachte.
„Schickt dein Vater dich mit irgendetwas, was er mir nicht selber sagen will?“, fragte Rupert misstrauisch.
„Nein. Ganz im Gegenteil. Wenn er wüsste, um was ich dich bitten möchte, hätte er gründlich verhindert, dass wir überhaupt miteinander sprechen - darauf kannst du Gift nehmen!“
Kathrine bemerkte zu spät, dass das Wort „Gift“ Ruperts Alarmglocken schrillen ließ. Sie beschloss, rasch weiterzureden.
„Es gibt eine Möglichkeit, Gwendoline ganz schnell zu befreien. Ich könnte das arrangieren, wenn du mir hilfst.“
Schweigend starrte ihr Onkel sie an und schien zu überlegen, ob sie ihn zum Besten hielt oder wo sonst der Haken an der Sache liegen mochte.
Mina war inzwischen aufmerksam geworden und kam mit einem Blick, der Kathrine geradewegs zu durchbohren schien, auf sie zu.
„Was hast du da gesagt, Herzchen? Sag das nochmal!“, drängte sie mit heiserer Stimme.
„Lass bloß nicht zu, dass sie falsche Hoffnungen bei dir weckt, Mina!“ Ihr Mann richtete sich drohend vor Kathrine auf. „Dahinter steckt doch irgendein Trick! Aber wir sind auf der Hut, du kleine Göre, hörst du!“
Kathrine holte tief Luft.
„Mein Vater ist derjenige, auf den ihr wütend sein solltet, denn er verhindert Gwendolines Rettung. Wenn er sich nicht querstellen würde, wäre sie vielleicht längst schon wieder bei euch! Susipper ist nämlich nicht an Lösegeld interessiert!“
Kathrine nutzte das verblüffte Schweigen, dass auf diese Enthüllung einsetzte, um ihrem Onkel und seiner Frau das Verwandtschaftsverhältnis mit Susipper näher zu erläutern.
„Von Gwendoline wollen sie Garnichts – dieser Teufel Susipper, der hinter allem steckt, wollte eigentlich mich entführen lassen ...“
Ruperts Miene wechselte auf eindrucksvolle Weise - von kaltem Zorn zu völliger Verblüffung. Mina hing wie gebannt an Kathrines Lippen.
„Das Problem besteht darin, dass die Weißen Dornen einen Zauber über das Gelände gelegt haben, mit dem nicht nur verhindert werden soll, dass jemand Unbefugtes hier eindringt, sondern der auch mich auf Lythe Hall eingeschlossen hält! Ich kann das Haus nicht mehr verlassen - es sei denn, jemand, der das darf, hilft mir dabei!“ Kathrine beschloss, Isaac besser erst bei einem späteren Zeitpunkt ins Spiel zu bringen.
„Oh mein Gott, das ist ja wunderbar!“, heulte Mina auf. „Wann kannst du aufbrechen?“
Kathrine merkte, wie ein Kloß ihre Kehle hinaufstieg. Aber sie hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass einem von beiden klar war, welches Opfer das Ganze für sie bedeutete.
„Na sieh mal einer an, gibt es da tatsächlich eine ehrenwerte Person in eurer Familie, oder geht es dir um etwas ganz anderes?“ Das Gesicht ihres Onkels hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen. „Was ich noch nicht verstehe, ist, warum du dich freiwillig zur Gefangenen machen willst - an Gwennie liegt dir doch nichts, oder? Komm bloß nicht auf die Idee, etwas anderes zu behaupten!“
Kathrine zwang sich, Rupert direkt in die Augen zu blicken.
„Gwen und ich haben nicht viel gemeinsam, das ist wahr. Trotzdem ist sie meine Cousine und es gefällt mir ganz und gar nicht, sie bei diesen Leuten zu wissen. - Du hast aber Recht: Ich tue das hauptsächlich für meinen Bruder, der in einer noch viel schlimmeren Klemme sitzt. Ich denke, dass es wohl keine Chance gibt, ihn zu befreien, wenn wir nicht jemanden haben, der auf Heshwicks Horn nach ihm suchen kann.“
„Und das willst du sein!“ Ruperts Gesichtsausdruck blieb unbewegt, trotzdem hatte Kathrine das Gefühl, als würde ihr Onkel sie mindestens für lebensmüde halten. „Nun - wie du das hinbekommen willst, soll nicht unsere Sorge sein! Alles, was wir wollen, ist, unsere Gwennie heil wiederzubekommen und wenn du das erreichen kannst, ist dir meine Hilfe sicher!“, bemerkte er gönnerhaft. „Wie soll das Ganze denn vonstattengehen?“
Mina starrte die Nichte ihres Mannes wie gebannt an.
„Es sind noch nicht alle Punkte des Planes fertig“, gab Kathrine zu. „Aber wir brauchen auf jeden Fall eine Kutsche zur schottischen Grenze und Proviant für diese Fahrt.“
„Wir?“, fragte ihr Onkel scharf.
„Isaac will mich begleiten“, gestand Kathrine. „Es ganz allein zu versuchen, wäre Wahnsinn.“
Rupert neigte den Kopf, als hätte er ein schwerwiegendes Problem zu lösen. Schließlich war Isaac der Bruder desjenigen, den er für den Verlust der Janus-Uhr verantwortlich machte.
„Dann lass dir mal nicht zu lange Zeit mit deinem Plan! Mina und ich haben schließlich schon lange genug gewartet!“
Die Leute im Ort schienen zu glauben, dass es sich um eine Klosterschule handelte. Gedämpft und ehrfürchtig antworteten ihre Stimmen, wenn jemand nach dem Bauwerk auf dem kahlen Berg über der Stadt fragte. Gerüchteweise war es vor Jahrhunderten vom Orden der Karthäuser errichtet worden. Wann der neue Orden sich eingefunden hatte, wusste niemand. Die Bürger von Heshwick nannten die Anlage nur „die Festung“, wobei das Äußere eher einer Kathedrale glich: mit seinen Strebepfeilern und den hohen schmalen Glasfenstern am größten der Gebäude.
Eine gute Woche hielt sich Geoffrey nun schon nahe dem kleinen Fischerort auf, hatte mit rotwangigen Händlern gesprochen, mit buckligen Witwen und halbwüchsigen Jungen, die beim Netze flicken auf den Felsen der Bucht saßen.
Die Auskünfte waren immer dieselben: Man war stolz, das Kloster am Ort zu haben. Viele Bürger waren überzeugt, dass der Prior ein wundertätiger Mann sei. Angeblich hatte er ein in Seenot geratenes Fischerboot gerettet und aus dem holperigen Feldweg, der zur nächsten Stadt führte, hatte er mit Hilfe seiner Schüler eine richtige Straße gemacht, breit genug für einen Autobus. Angeblich war die gesamte, fünfzehn Kilometer lange Strecke innerhalb von Stunden aus dem Boden gewachsen. Das jedenfalls berichtete eine beleibte Waschfrau names Heather Fennock, und sie wirkte auch, als würde sie jedermann gehörig den Kopf waschen, der ein schlechtes Wort über Heshwicks Horn verlieren sollte.
Von den Klosterschülern bekam man nur selten einen zu Gesicht. Manchmal tauchte ein Junge in seinem groben Leinengewand im Schreibwarenladen auf und kaufte etwas Papier und Tinte oder ging zum Schuster, um ein neues Paar Sandalen in Auftrag zu geben.
Auf dem Markt hatte man noch nie einen „von oben“ gesehen, so waren sich die Menschen einig - allerdings hatten mehrere Händler aus der Umgebung Verträge mit der Festung. In regelmäßigen Abständen lieferten sie Lebensmittel und Feuerholz, der Schneider manchmal einen Ballen Stoff - immer schwarz. Schlachter Dibson brachte Fleisch und Knochen für die Hunde - und davon musste es eine ganze Menge geben, dem Bedarf nach zu urteilen.
Geoffrey, der seine Nächte trotz Eis und Schnee im Wäldchen oberhalb der Stadt verbrachte, hatte sich der Festung von verschiedenen Seiten aus genähert. Dies erwies sich jedoch auch ohne ihre magischen Sicherungen als schwierig. Der Felsen, auf dem die Gebäude ruhten, fiel nach drei Seiten steil zum Meer ab. Zur Stadtseite hatten auf dem kargen, vereisten Untergrund nur vereinzelt ein paar Disteln oder niedrige Büsche Fuß gefasst und auf den letzten hundert Metern nicht einmal das - zu wenig, um sich den Mauern ungesehen nähern zu können. Selbst für einen Wolf.
Der bröckelige Damm, der zum Tor führte, eben breit genug, um noch von einem Fuhrwerk oder einer Kutsche passiert zu werden, besaß überhaupt keine Deckung und das Tor wurde von zwei einschüchternden Wachtürmen flankiert.
Adam Lythefield hatte Geoffrey eine Flasche Mutabilistrank mitgegeben, und der junge Zauberer war einmal in Gestalt einer Möwe und einmal als Kaninchen zur Festung aufgebrochen. Beide Ausflüge endeten jedoch unter Lebensgefahr, weil sich ein Greifvogel von den Zinnen auf ihn gestürzt hatte, und Geoffrey, der sich in den fremden Körpern lange nicht so geschickt bewegte wie als Wolf, wäre beinahe als Abendbrot in einem Falkenschnabel geendet. Einen dritten Versuch zögerte er hinaus, denn möglicherweise bewachte mehr als ein Falke die Grenzen in der Luft.
Die Tiere der Umgebung schienen dies zu wissen, denn nie sah er einen anderen Vogel über das Gebiet segeln und die kleinen Tiere auf der Erde hielten es wie die Pflanzen und die Bewohner der Stadt: Irgendein Instinkt sagte ihnen, dass sie sich besser nicht zu nah an die ausgeblichenen Mauern des Klosters heranwagen sollten.
Immerhin hatte Geoffrey auf seinem Erkundungsflug entdeckt, dass es neben dem Haupteingang noch eine verwitterte Tür in der Wehrmauer gab. Eine schmale, in die Felsen gehauene Treppe führte von dort zum Ufer und in der Nähe gab es eine Grotte, in die das Meerwasser tief und gurgelnd hineinströmte.
An einigen Tagen schienen Schulstunden auf dem Wasser stattzufinden. Mehrfach hatte Geoffrey eine Handvoll Boote in die Bucht fahren sehen, vollbesetzt mit mageren Kindern in schwarzen Kitteln.
Und dann hatte Geoffrey noch in Erfahrung gebracht, dass Gabriel Tant, ein Bauer aus der Umgebung, die Festung einmal wöchentlich mit Gemüse belieferte. Nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgeschieden waren, beschloss er, dass dies seine Eintrittskarte nach Heshwicks Horn sein würde.
Weil sich auf der Ladefläche ein Gebirge aus Weißkohl türmte, konnte Tants Wagen sich beim Aufstieg nur langsam bewegen.
Geoffrey wollte sein Glück dieses Mal als Maus versuchen und so kletterte er flink das Wagenrad hinauf, als Tants Wagen rumpelnd den Hang erklomm. Eilig schlüpfte er unter den Kugeln hindurch, denn es war ihm nicht geheuer, was passieren mochte, wenn der Wagen über einen Stein rollte.
Hinter dem Kutschbock entdeckte Geoffrey einen staubigen Sack, der nach Zwiebeln roch, sowie ein paar Kisten, die mit alten Zeitungen gegen die Kälte abgedeckt waren. Geoffrey schlüpfte unter das Papier und fand sich zwischen einer Ladung mürber Äpfel wieder. Wegen der Kälte verströmten sie nur einen schwachen Duft. Ja, hier konnte er bleiben, ohne Gefahr zu laufen, von den Kohlköpfen erschlagen zu werden.
Dass die Festung nicht mehr weit sein konnte, merkte Geoffrey daran, dass plötzlich vielstimmiges Hundegejaul einsetzte. Unwillkürlich sträubte sich sein Fell. Auch das Pfeifen des Bauers war mit einem Mal verstummt, so als hätte eine plötzliche Anspannung seine Lippen versiegelt.
Rasselnd wurde das Fallgitter hochgezogen und eine heisere Stimme irgendwo weit über ihnen rief über das aufgeregte Hundehecheln hinweg: „Na Tant, willst du wieder deine verschimmelten Äpfel loswerden?“
Während der Wagen den Eingang passierte, brummte der Bauer: „Ich bringe nur, was bestellt ist und zwar in bester Qualität!“
„Wer’s glaubt!“, höhnte der andere.
„Was soll das mit den Hunden, Wheeler?“, wollte Tant wissen und stoppte. Es war eine gewisse Unruhe aus seiner Stimme herauszuhören.
Kein Wunder, dachte Geoffrey, denn wie es schien, war das Fuhrwerk komplett von neugierigen Tieren umringt. Jeden Moment konnte ein Hund auf die Ladefläche springen. Es wurde Zeit, dass Geoff sich aus dem Staub machte.
Ein Rumms ertönte, als Tant vom Kutschbock sprang.
„Die Viecher verwechseln mich doch hoffentlich nicht mit dem Schlachter?“
„Höchstens mit seiner Lieferung!“ Der Prim, den der Bauer mit „Wheeler“ angesprochen hatte, lachte kehlig, wurde dann aber freundlicher. „Ruhig Blut Tant, die wollen nichts von dir. Wir suchen einen Einbrecher, der seit ein paar Tagen ums Kloster streicht. Wir haben Anordnung jeden Wagen zu überprüfen, der das Tor passiert.“
Geoffrey, der sich noch unter der Zeitungsschicht befand, erstarrte. War er trotz seiner Verwandlungen bemerkt worden? Wie sollte er nun unbemerkt zwischen all diesen Mäulern hindurchschlüpfen?
„Dann schau dir meine Kohlköpfe lieber ganz genau an! Hier sind sie - alle einzeln und in ihrer ganzen Pracht!“, lachte der Bauer. Ein donnerndes Geräusch, das sich für Geoffrey wie ein Erdbeben anfühlte, verriet, dass Tant die Ladeklappe geöffnet hatte und nun eine Weißkohlflut vom Wagen rollte. Ein Teil der Hunde auf dem Hof sprang kläffend beiseite, andere beschnupperten die grünen Kugeln neugierig.
„Was ist das für eine Geschichte mit dem Einbrecher? Hat er es auf den Kirchenschatz abgesehen?“
„Vielleicht!“, meinte die Wache. „Jedenfalls stellt so ein junger Kerl im Ort vielen Leuten Fragen über das Kloster. Der Prior will sicherstellen, dass seine Zöglinge geschützt sind. War wohl nur eine Frage der Zeit, bis Susippers göttliche Gaben Neugierige anziehen!“ „Sauerei!“, brummte der Bauer, während er eine Kiste von der Ladefläche nahm, die neben Geoffreys Versteck gestanden hatte.
„Das Bürschchen habe ich auch gesehen. Ich werde mal besser die Augen offen halten!“, versprach er.
„Recht so! Susippers Segen soll mit dir sein!“
Geoffrey überlegte gerade, ob er todesmutig dem Kohl hinterherstürzen sollte, bevor die Meute Gelegenheit bekam, auf den Wagen zu klettern. Doch im selben Moment spürte er, wie seine Kiste mit einem Ruck hochgehoben wurde. Durch einen Spalt bekam er wedelnde Schwänze und ein Paar verschränkte Arme zu Gesicht, dann wurde die Kiste vor einer Mauer aus Feldsteinen abgestellt.
Geoffrey zuckte beim neuerlichen Beben zusammen und wurde schmerzhaft an den unbequemen Inhalt seines Mundes erinnert.
Durch das Holz konnte er die Luke eines Lagerkellers erkennen. Er war nur ein paar Schritte entfernt. Drei oder vier Kohlköpfe lagen vor der Öffnung, so als sollten sie demnächst hinuntergerollt werden. Daneben führte eine vereiste Steintreppe in die Tiefe.
Kaum zeigte ein Stapfen an, dass Tant sich entfernte, schlüpfte Geoffrey aus seinem Versteck und presste sich unter einen der vorstehenden Mauersteine. Trotz der Hunde warf er einen hastigen Blick in den Hof, denn schließlich war er gekommen, um Informationen zu sammeln. Seine Winzigkeit, die ihm Schutz bieten sollte, erwies sich jedoch als Problem, denn Überblick konnte er aus seiner Perspektive kaum gewinnen. Fluchend wollte er sich die hölzerne Klappe des Vorratskellers hinaufhangeln, als ihn ein Stoß warme Luft traf. Eine feuchte Hundenase hatte sich auf ihn gerichtet.
Alles, was er unter dem Eindruck des angriffslustigen Kläffens, das nun einsetzte, noch wahrnahm, war eine schwarze Kutsche, die auf der gegenüberliegenden Hofseite stand und ein offiziell wirkendes Symbol auf der Tür trug - und dass die Hunde von Heshwicks Horn überwiegend Rottweiler waren - dann flitzte er mit bebendem Herzen den Kellerabgang hinab.
Vielstimmiges Gebell folgte ihm und das Gewölbe verstärkte die Geräusche zu einem infernalischen Konzert. Aufgeregtes Hecheln und Pfoten, die schnell über das Gestein preschten, machten Geoffrey klar, dass er sich in einer ernsthaften Bredouille befand. Offensichtlich hatte er einen Großteil der Hundemeute im Nacken! Sicher waren sie genauso scharf auf Eindringlinge gedrillt wie die Falken!
Ich muss irgendwo hinauf, wo sie mich nicht erreichen können, dachte Geoff verzweifelt, während er im Halbdunkel über ausgetretene Sandsteinplatten raste. Doch dies war leichter gesagt als getan, denn offensichtlich war er gleich zu Anfang ungünstig abgebogen und entfernte sich nun von den Lagerräumen, wo er sich vielleicht erneut hinter ein paar Kisten hätte verstecken können. Immerhin fanden sich seine Augen in der Dunkelheit zurecht. Der Abstand zu Gebell und schnüffelnden Nasen hinter ihm war jedoch nicht groß genug, als dass er sich getraut hätte, einfach an einer der Wände oder Türöffnungen hinaufzuklettern. Sein Instinkt sagte ihm, weiterzurennen sei das Beste.
Plötzlich bemerkte er, dass er auf eine Wand zuraste und wusste sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte: In der Annahme, der Gang würde immer weiter gehen, war er in einem langen schmalen Raum gelandet, dessen Seitenwände von schweren Eichenfässern bedeckt waren. Susippers Weinlager. Neben dem Geruch nach Moder und Säure, lag noch ein weiterer Duft in der Luft - kaum wahrnehmbar zwar, aber Geoffreys feine Mäusenase tippte auf menschlichen Urin.
Verdammt! Die ersten Hunde stürzten geifernd in den Raum! Kopflos huschte Geoffrey in die erstbeste Ritze zwischen zwei Fässern. An das Holz gepresst hörte er, wie die Hunde über den Boden schnüffelten, ärgerlich bellten und unruhig hin- und herliefen. Einige sprangen sogar auf die Weinfässer und der Aufprall davon hallte dumpf zu Geoffrey herab. Obwohl er in seinem Versteck vor den Zähnen abgeschirmt war und die Hunde nicht genau wussten, wo er steckte, konnte er hier nicht bleiben. Über kurz oder lang würden Prims kommen und dann böten die Fässer ihm keinen Schutz mehr. Ob er zwischen Wand und Weinfässern heimlich wieder zum Ausgang gelangen konnte? Geoffrey beschloss es zu versuchen. Er schob sich an der Wand entlang und stellte fest, dass der hässliche Geruch von vorhin in Richtung Tür stärker wurde. Er war etwa vier Meter im Dunkel über tote Kellerasseln und Steinsplitter gehuscht, da stieß er auf eine Bodenplatte, der ein Stück fehlte, und darunter war ein Hohlraum. Vorsichtig hängte er sich rückwärts an den Rand des beschädigten Steins und tastete mit seinem Schwanz im Loch herum. Er spürte den Boden. Ohne zu zögern begab Geoffrey sich in das Loch und wusste wegen des stechenden Geruchs, der ihm entgegenstieg, nun auch, wo er sich befand: in einem Abwasserschacht. Vielleicht gab es irgendwo im Keller einen Abtritt oder eine Pinkelrinne, jedenfalls brachte ihn der Gestank fast zum Würgen und er hatte Mühe, die Last, die er in seinem Mund mit sich führte, nicht einfach auszuspucken. Er entschied sich für die Richtung, in der die Konzentration an Harnstoff etwas geringer schien und nahm mit Befriedigung wahr, dass das Bellen nur noch gedämpft zu seinem neuen Standort drang. Eigentlich war sein Fund nicht der schlechteste, fand Geoffrey, während er den engen Gang hinunter wanderte. Vielleicht konnte er über den Abfluss sogar ins Innere der Festung gelangen! Doch die einzige Querverbindung, auf die er stieß, war nach ein paar Metern eingestürzt und so musste er wohl oder übel dem ersten Weg folgen, der ihn in vielen Biegungen immer weiter abwärts führte.
Auch ohne das entfernte Geräusch von Wellen ahnte Geoffrey, dass sein Weg bald zu Ende sein würde. Die Luft war in den letzten Minuten immer leichter geworden und vor ihm wurde es heller. Etwas Schmieriges klebte am Boden, dass sich als Algen herausstellte. Geoffrey musste sich festkrallen, so rutschig machten sie das Rohr. Als er ins Freie schaute, traf in zuerst ein Schock. Er befand sich immer noch in großer Höhe und unter ihm befand sich offenes Wasser, das mit gleichförmigem Wogen an einen Saum aus angespülten Steinen schwappte. Er befand sich in der Grotte. Gespenstisch hallte das Geräusch der Wellen von den umliegenden Wänden zurück.
Der Abwasserschacht endete etwa in der Mitte der Höhle.. Von draußen strömte die Helligkeit des Tages herein und zu gern hätte Geoffrey sich dorthin gewandt. Aber er war nicht gekommen, um an dieser Stelle aufzugeben.
Im hinteren Teil der Grotte gab es ein Ufer, auf dem sicher zwanzig Ruderboote lagerten. Eine steinernen Treppe führte hinauf zu einem Durchgang, den zwei knisternde Fackeln säumten. Geoffrey registrierte außerdem, dass die Höhle hinter dem Ufer einen Knick machte. Ein Arm des Stollens führte offensichtlich noch weiter, aber eine Felswand versperrte ihm die Sicht.
Ein Ruf ließ den Mäusekopf herumfahren. Aus der Bucht steuerte ein Boot in den Tunnel. Sobald das Gefährt in der Höhle war, ließen die beiden Ruderer ihre Hölzer ins Wasser gleiten, so als seien sie der Anstrengung überdrüssig. Das Boot glitt dennoch zügig weiter - nun zweifellos durch Gebrauch von Magie. Zwischen den Ruderern stand ein dritter Zauberer, der zum Heck blickte.
„Na Schneewittchen, fühlst du dich schon wie ein Fisch?“
Wasser spritzte hinter dem Boot auf und Geoffrey erkannte schreckstarr, dass dort ein Mann schwamm. Während die anderen höhnisch lachten, versuchte er mit verzweifelten Bewegungen an der Oberfläche zu bleiben. Offensichtlich war er angebunden! Wenn er nicht mitgeschleift und untergehen wollte, musste er schwimmen, was das Zeug hielt. Doch der Mann schien schwer erschöpft - kein Wunder bei dem eisigen Wasser - und wer weiß, wie lange das Ruderboot schon in der Bucht unterwegs gewesen war ...
Mit lautem Rattern schoss nun am Eingang ein engmaschiges Fallgitter von der Höhlendecke herab und grub seine Zähne mit einem schnappenden Geräusch in das Geröll unter Wasser.
Geoffrey wäre fast aus seinem Versteck gepurzelt vor Schreck. Skeptisch beäugte er das Eisen, das sich schwarz gegen das Licht abhob und nun den Zugang für andere Boote versperrte. Die Maschen waren zu eng für einen Vogel, aber nicht für eine Maus. Bestimmt war das Gitter noch durch anderes geschützt, zumindest ein Elemente-Zauber musste darauf liegen. Vielleicht würde das Wasser in der Höhle plötzlich bis zur Decke steigen, wenn man das Gitter berührte, oder die Maschen würden sich enger und enger zusammenziehen, während man gerade versuchte hindurchzuschlüpfen ...
Geoffrey wartete, bis das Boot an ihm vorbeigeglitten war, dann kletterte er kopfüber aus dem Schacht und fand einen Wulst im Fels, den er hinabklettern konnte. Er ließ sich auf das Geröll fallen und flitzte am Ufer entlang, um das Boot zu verfolgen. Erneut hörte er das Prusten des Angebundenen und den grausamen Spott seiner Peiniger.
Hinter ein paar Steinen versteckt beobachtete Geoffrey, wie der Gefangene unter Stöhnen auf das Ufer geschleift wurde, während das Boot sich einfach aus dem Wasser hob, um sachte auf dem Geröll zu landen.
„Weißt du noch wie man läuft?“, rief der breite Zauberer und stieß den Gefangenen mit dem Fuß an, als wolle er etwas Ekliges aus dem Weg befördern. „Oder sollen wir behilflich sein und dich zu deinem Loch schleifen?“
Mühsam richtete sich der Geschundene auf, doch seine Beine gaben sofort wieder unter ihm nach. Knirschen erklang, als er auf die Steine stürzte.
„Dann ist die Entscheidung wohl gefallen!“, sagte sein Gegner ironisch. Er gab den beiden anderen, die nun, da sie neben ihm standen, als Jugendliche erkennbar wurden, ein Zeichen, woraufhin sie das Seil vom Boot lösten und begannen, den Gefangenen hinter sich herzuziehen.
„N-nein b-bitte! Ich will laufen!“, bettelte der Mann unter Tränen.
Wie eine alles verschlingende Woge brandete der Hass in Geoffrey auf. Er wusste nun, wer der Geschundene war.
Die Entscheidung war nicht leicht. Als Feldmaus hatte Geoffrey die größten Chancen, sich unentdeckt weiterzubewegen. Allerdings konnte er in dieser Gestalt weder Magie einsetzen noch mit Menschen sprechen. Er hatte nicht damit gerechnet, sich innerhalb der Festung zurückverwandeln zu wollen. Tat er es, gab es kein Zurück und sein eigenes Entkommen war gefährdet. Allerdings musste er versuchen, den Mann zu befreien, bevor die Prims ihm noch mehr antun konnten - oder zumindest mit ihm sprechen.
Geoffrey hatte erwartet, im hinteren Teil der Grotte, wohin der Gefangene gebracht worden war, Gefängniszellen vorzufinden - kleine Höhlen im Sandstein mit Fußketten aus Eisen und einem starken Gitter davor. Aber es gab nichts dergleichen.
Fackeln an den Wänden ließen unruhige Schatten über die Felsen zucken - und auch über den Teil, der von Rodair sichtbar war.
Als Geoffrey sich endlich zu ihm traute, lag der Kopf des Zauberers bewusstlos auf einer breiten, runden Platte im Boden, die buttergelben Locken nass und dreckig.
Im Hintergrund tropfte Wasser von der Decke und gab ein gespenstisches Geräusch von sich. Von einem zweiten Gefangenen war ebenfalls nur der Kopf sichtbar. Die Holzplatten waren Zellentür und Riegel gleichzeitig. Der andere war ein Mann mit schütterem grauem Haar und wirrem Bart, der zu schlafen schien.
Insgesamt gab es fünfzehn von den Deckeln und da einige davon zur Seite geschoben waren, erkannte Geoffrey, was sie bedeuteten: Man hatte in den felsigen Untergrund Löcher von einem halben Meter Durchmesser geschlagen. Geoffrey hoffte, dass sie tiefer waren.
Da sie bis zum Rand mit Meerwasser gefüllt waren, blieb es unklar. Dies waren also die berüchtigten Zellen von Heshwicks Horn. Den Gefangenen stand das Wasser sprichwörtlich bis zum Halse ...
Geoffrey vergewisserte sich nochmals, dass niemand in der Nähe war, dann piepste er leise: „Muscamor.“
Schneller als ihm lieb war, verschwand das wärmende Mäusefell und er stand nackt und fröstelnd in der feuchten Höhle. Mit der Zunge schob er die Gepäcknuss, die sich in seinem Mund bis eben riesig angefühlt hatte, nach vorne und spuckte sie auf den Boden. Sofort brach die Schale auf und gab Unterwäsche, Wollkleidung und Stiefel frei. Mit wenigen Handgriffen zog der junge Zauberer sich an, dann kauerte er sich auf den Boden und strich seinem Freund das feuchte Haar aus der Stirn.
„Rodair, kannst du mich hören?“
Dem breiten, gutmütigen Gesicht entwich nur ein Stöhnen. Rodair wachte nicht auf.
„Lass ihn schlafen, Dummkopf! Das hat er bitter nötig nach allem, was sie mit ihm gemacht haben! Und vor allem: Sei verdammt noch mal leiser, oder willst du, dass sie uns alle zusammen umbringen?“
Geoffrey fuhr herum. Der andere Gefangene schlief nicht länger, sondern starrte ihn nun wachsam an. Nasse Haarsträhnen klebten an seiner Stirn und sein stoppeliger Bart konnte kaum verdecken, dass ein hässliches Geschwür unter seinem Kiefer saß. Möglicherweise vom ständigen Scheuern auf der Holzplatte.
Zögernd kam Geoffrey näher.
„Wer sind Sie?“, fragte er wachsam.
Der Gefangene hustete kurz und heiser.
„Bromhurst ist mein Name. Leider habe ich wie dein Freund hier Susippers Missfallen erregt. Du entschuldigst sicher, dass ich gerade keine Verbeugung mache!“
Geoffreys Züge entspannten sich.
„Können wir wirklich ungestört reden? Warum sind keine Wachen da?“
„Solange wir nur flüstern, sollten die Geräusch-Sensoren nicht anspringen. Also achte auf deine Lautstärke! Die Wache kommt in der Regel nur zweimal am Tag, um uns ein paar Abfälle und etwas Wasser zu geben. Dein Freund ist allerdings gerade in den Genuss einer Sonderbehandlung gekommen. Die hat er offensichtlich dir zu verdanken!“ Die Stimme des Fremden troff nun vor Grimm.
„Was meinen Sie damit?“, flüsterte Geoffrey erschreckt.
Bromhursts Mundwinkel verzogen sich. Wahrscheinlich hielt er sein Gegenüber für hoffnungslos naiv.
„Na, Sie haben ihn doch überhaupt erst eingesperrt, weil angeblich weiße Zauberer in der Gegend sein sollen. Muss vorher eine bessere Behandlung erfahren haben, nach all dem, was er erzählte. Heute wollten sie aus ihm herausquetschen, was er über eure Pläne weiß. Keine Ahnung, ob ihnen das gelungen ist. Als Sie ihn zurückbrachten, war er jedenfalls nicht mehr in der Lage, noch irgendetwas zu erzählen ... Ich hoffe, euer Plan ist gut genug, dass seine Unannehmlichkeiten sich gelohnt haben!“
Geoffrey musste schlucken. War er etwa Schuld daran, dass man Rodair gefoltert hatte?
„Wo steckt der Rest von deinen Leuten?“, wollte Bromhurst wissen.
„Weit weg“, sagte Geoffrey trübsinnig. „Eigentlich ist es nur Zufall, dass ich hier im Kerker gelandet bin. Ich wusste nichts davon, dass jemand von uns hier eingesperrt ist. Ich wollte nur herausfinden, wie man ungesehen in die Festung kommt ...“
„Oho! Du bist also wirklich lebensmüde! Na wenn das so ist, stehen meine Chancen wohl schlecht, dass ich heute hier herauskomme. Vielleicht sorgst du wenigstens für ein bisschen wärmeres Wasser? Die Kerle achten zwar darauf, dass wir nicht erfrieren, aber die Temperatur ist trotzdem erbärmlich!“
„Mein Gott, er hat Recht!“, dachte Geoffrey beschämt. Rasch schob er seine rechte Hand unter Rodairs Deckel. Das Nass wirkte annähernd lauwarm. Konzentriert schloss er die Augen und schickte dann eine kräftige Ladung Glut hinein. Dann lief er geduckt zu Bromhurst hinüber, um dort das Gleiche tun.
„So ein zuvorkommendes Bürschchen!“
Bromhursts Tonfall ließ Geoffrey aufblicken. Das Gesicht des
Fremden wirkte mit einem Mal hämisch. Im selben Moment bemerkte er irritiert, dass er kein Wasser in der Grube spüren konnte. Stattdessen erhielt seine Hand eine Art elektrischen Schlag, der ihn aufkeuchen ließ. Dann segelte er in großem Bogen durch die Luft und landete hart auf dem Rücken. Feuer schien in seinem ganzen Arm zu brennen. Auf allen Vieren wich Geoffrey zurück, als der fremde Zauberer sich aus seinem Loch schwang und ihn triumphierend anstarrte.
Geoffrey wunderte sich nicht mehr, dass Bromhursts schwarzes Gewand keinen einzigen Wasserfleck zeigte: Der Mann war weder ein Gefangener noch ein Freund. Allein der hölzerne Deckel stach noch wie eine groteske Halskrause von ihm ab.
„Habe ich dich jetzt erschreckt?“, fragte er mit mitleidig, während seine Augenbrauen vor Vergnügen zuckten.
„Was? Über einen einzelnen Prim, der mir seinen Kopf auf dem Silbertablett präsentiert?“ Geoff bemühte sich, spöttisch zu klingen, registrierte aber bestürzt, dass sich sein Arm inzwischen fast taub anfühlte und sich das brennende Gefühl weiter in seinem Körper ausbreitete. „Discus Lapidosus!“, machte er einen schwachen Versuch der Gegenwehr, woraufhin sich ein melonengroßer Steinbrocken vom Boden erhob und als Geschoss auf seinen Gegner stürzte.
Bromhurst lachte, während er flink seine Halskrause abnahm und wie einen Tennisschläger schwang. Als beide Teile mit Wucht zusammenkrachten, zersplitterte der obere Teil des Holztellers, aber der Stein wurde trotzdem zurückgeschleudert. Geoffrey konnte gerade noch zur Seite springen.
„Gut!“, rief sein Widersacher. „Wäre auch schade gewesen, wenn du gar keinen Kampfwillen hättest. So gibt es ein viel unterhaltsameres Spektakel!“
Allmählich könnte ich wirklich Hilfe gebrauchen, dachte Geoffrey besorgt, denn mittlerweile erhielt er pausenlos Stromschläge. Sein ganzer Körper zuckte unkontrolliert, als würde ein Riese ihn durchschütteln. Er warf einen raschen Blick hinüber zu Rodair, doch dieser war immer noch bewusstlos - oder vielleicht auch anderweitig aus dem Verkehr gezogen worden, wie ihm jetzt aufging.
Geoffrey nahm nur noch am Rande wahr, dass Bromhurst ein Fingerschnippen von sich gab und daraufhin die Schatten an den Wänden dunkler wurden. Die Schatten zogen sich in rasender Geschwindigkeit zusammen und verdichteten sich. Plötzlich war der Zauberer umringt von schwarzen Umhängen, aus denen etwa fünfzehn bleiche Gesichter Geoffrey feindselig anstarrten.
„Darf ich vorstellen? Meine Schüler!“, sagte Bromhurst leichthin. „Ich habe mir den Spaß gemacht, eine Unterrichtsstunde hierhin zu verlegen, als wir hörten, die Hunde hätten angeschlagen. Wie wir gesehen haben, nicht umsonst! Eindringlinge versuchen es immer über die Grotte! - Nun Kadetten? War es lehrreich für euch?“
Ein schmächtiger Bursche mit farblosen Augen, der sich hektisch die Lippen leckte, trat einen Schritt vor.
„Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf: Sie waren grandios, Mr. Bromhurst!“
„Klappe, Craven! Ich habe nicht darum gebeten, dass mir jemand schmeichelt! Was du gelernt hast, will ich wissen!“ Bromhursts Blick bohrte sich in seinen unglücklichen Schüler.
„N-nun, Ihre T-tarnung war sehr überzeugend. Das Geschwür und der P-prangerdeckel ...“
„Dekoration“, winkte Bromhurst ab. „Was weiter?“
Ein dicklicher Junge mit fast kahl rasiertem Kopf und kleinen stechenden Augen meldete sich.
„Sie haben versucht, das Vertrauen des Unwürdigen zu gewinnen, um ihn dann auszuhorchen. Sobald er verraten hatte, dass er ohne Verbündete hier ist, konnten Sie ihn ausschalten. Was seinen jetzigen Zustand betrifft, tippe ich auf einen toxo-elektrischen Schock. Er wird sicher keine Schwierigkeiten mehr machen!“
Bromhurst nickte. „Im Wesentlichen richtig, Maberly. Allerdings werden die Krämpfe bald nachlassen und er hat er immer noch seine Zauberkräfte. Da gerade der Minister zu Besuch ist, wollen wir keine unfreundliche Szene, wenn wir ihn nach oben bringen.“ Bei diesen Worten zog er eine ovale, dunkelblaue Flasche aus seinem Umhang und warf Geoffrey einen verächtlichen Blick zu. „Zeit, den Zaubertod ins Spiel zu bringen!“
Im Vorzimmer der Hölle war es zugig und kalt. Seit fast drei Stunden ließen sie ihn nun schon warten. Nicht dass er besonders erpicht darauf war, Susipper persönlich zu begegnen, aber allmählich fragte Colin sich doch, ob es wirklich schlimmer sein konnte, als noch einmal drei Stunden auf dieser steinharten Fläche zu hocken.
Die mittelalterliche Sitzbank war das einzige Möbelstück in dem kargen Raum mit Wänden aus bleichen, unverputzten Backsteinen.
Trübsinnig musterte Colin die kunstfertig geschnitzte Seitenwand, die es statt einer bequemen Armlehne gab, während er im Rücken kalten Stein spürte. Lag es an seiner düsteren Stimmung, oder waren die ineinander verflochtenen Figuren tatsächlich auf der Flucht vor Wildkatzen und Mantikoren, die er in den schwarzen, muskelartigen Holzformen zu erkennen meinte?
Seufzend richtete er sich auf. Obwohl sein Hintern schmerzte, als säße er auf bloßen Knochen, fühlte Colin keine Energie, aufzustehen und zum Fenster zu gehen.
Es war zwar inzwischen hell geworden, aber die kleinen pastellfarbenen Glasrauten, aus denen das Fenster zusammengesetzt war, ließen trotzdem keinen klaren Blick nach draußen zu. Was hätte es auch genutzt? Selbst wenn es ihm gelingen sollte zu fliehen, wäre er immer noch in der falschen Zeit - mehr als elf Jahre entfernt von den Menschen, die ihm etwas bedeuteten. Würde er es tatsächlich zurück nach Lythe Hall schaffen, wäre seine Schwester erst ein halbes Jahr alt - und sein jüngeres Selbst auch.
Nein, er musste darauf warten, dass Geoffrey oder die Dornen ihn wieder zurückholten. Allerdings waren die Chancen dazu nicht gerade gestiegen, nachdem Mrs. Bridgewater ihn nach Heshwicks Horn verfrachtet hatte - die berüchtigte Schule seines Großvaters.
Er hatte immer noch einen Filmriss und wusste nicht, was geschehhen war, direkt nachdem Susippers Agentin ihn aus dem Zeitstrudel gerissen hatte. Als er zu sich kam, drehte sich alles. Aber der Anblick von Mrs. Bridgewater, deren leichenblasses Gesicht über ihm schwebte, brachte ihn schnell in die Realität zurück. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Blutung aus ihrer furchtbaren Wunde am Hals zu stoppen ...
Im selben Moment, als Colin erkannte, dass er ein Gestrandeter war, wusste er auch mit absoluter Sicherheit, dass es einen Grund dafür gab. Dass keine Zeit zu verlieren war. Dass er die Verantwortung dafür trug, ob seine Mutter überlebte oder nicht.
„Sie müssen etwas tun - wegen Eleanor!“, drängte er. Wie konnte er es nur erklären, ohne dass sie Verdacht schöpfte? „Sie kann jeden Moment vom Dach stürzen!“
„Ist das die nächste durchtriebene Geschichte, die du mir auftischen willst?“ hatte Mrs. Bridgewater geschnaubt. „Erklär mir lieber, was für ein Zauber das war, mit dem dein Freund verschwunden ist!“
Schließlich hatte sie aber doch beschlossen, lieber zu prüfen, ob er die Wahrheit sagte und für einen kurzen Moment verschoben sich ihre Rollen: Sie flatterte vor Nervosität, er gab die Befehle.
Wie genau sie beide im Hof landeten, konnte er nicht sagen. Ihm schien, Mrs. Bridgewater hatte es geschafft, sich eines Blitzes zu bedienen, der draußen vor dem Fenster aufzuckte und sich mit ihm wie an einem Seil hinabgeschwungen.
Keinen Moment zu früh. Aufgebrachte Stimmen wehten vom Dach zu ihnen herunter. Dann kippte ein Körper über die Einfassung der Dachterrasse. Wehende Haare stürzten an ihm vorbei.
„Eleanor!“ gellte der heisere Schrei eines Mannes hinterher.