Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Am 5. November 1950 wird ein junges Ehepaar auf einem Einödhof in Niederbayern auf hinterhältige Art und Weise ermordet. Der Tatverdacht fällt schnell auf den "Metzgerfuchs", der im Dorf zweifelhaften Ruf genießt. Ist er der gesuchte Doppelmörder? Ausgangspunkt des Romans sind die den Akten und Prozess
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 502
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Das Buch
Am 5. November 1950 wird ein junges Ehepaar auf einem Einödhof in Niederbayern auf hinterhältige Art und Weise ermordet. Der Tatverdacht fällt schnell auf den »Metzgerfuchs«, der im Dorf zweifelhaften Ruf genießt. Ist er der gesuchte Doppelmörder?
Ausgangspunkt des Romans sind die den Akten und Prozessunterlagen entnommenen Fakten. Bei der Auflösung des Falles steht aber vor allem die Frage im Vordergrund, durch welche Verkettung von Umständen es zu dem Verbrechen kommen konnte. In zahlreichen collageartigen Rückblenden über einen Zeitraum von 54 Jahren erlebt der Leser prall gezeichnete, lebensechte Persönlichkeiten aus dem ländlichen Bayern und zugleich ein faszinierendes Porträt dörflichen Alltags in den unmittelbaren Nachkriegsjahren.
Der Autor
Der Diplomphysiker Franz Gilg, Jahrgang 1963, arbeitet als Redaktionsleiter einer Tageszeitung in Simbach am Inn. Zu seinen bisherigen Werken gehören Romane, Kurzgeschichten, Lyrik, Filmdrehbücher und Theaterstücke.
Franz Gilg
Kriminalroman nach einer wahren Begebenheit
Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:www.verlag-der-criminale.de
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
2. Auflage
Mai 2008
Verlag der Criminale
Ein Verlag der Buch&media GmbH, München
© 2008 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink
Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt
Printed in Germany · ISBN 978-3-86520-301-4
Inhalt
Drei Schüsse
Spuren im Schnee
Schäfers Stündchen
Mit allen Wassern
Pranger und Pistolen
Gottesmutters Eingebung
Der Prozess – Erste Zeugen
Der Prozess – Das Alibi
Der Prozess – Die Wende
Nachtarock
Witwentröster
Strafe Gottes
Der Kuhhandel
Nachtrag
Die wichtigsten Personen:
Paul Waczek, genannt Metzgerfuchs – vermeintlicher Doppelmörder
Karl Hartl – Bauer von Öd, Opfer eines Schützen
Kathi Hartl – Bäuerin von Öd, Opfer eines Schützen
Sepp, Maria, Resi – Kinder der Hartl-Bauern
Gertrud und Steffi – früh verstorbene Kinder der Hartl-Bauern
Lisbeth Gruber – Wirtin, Pauls Lebensgefährtin
Centa Wimberger – Besitzerin des Gasthauses Metzgerwirt, Ziehmutter von Lisbeth
Irmi Becker – Bedienung beim Metzgerwirt
Hanno Gruber – Bauer, älterer Bruder von Elisabeth Gruber
Margit Gruber – Hanno Grubers Frau
Elfriede Kotter (spätere Maller) – Mutter von Paul Waczek
Hubert Maller – Stiefvater von Paul Waczek
Josef Ober, Fritz Kampinger, Willy Mayer, Michael Schenk – Nachbarn der Hartls
Alfons Steininger – Schafhalter, zweiter Verdächtiger
Marlies Steininger – Steiningers Frau, strenggläubig
Anna Steininger – Tochter der Steiningers
Pfarrer Moritz Zumüller – Rammbacher Ortsgeistlicher
Herbert Galldorfer – Metzger, Nachbar vom Metzgerwirt
Dr. Oswin Stockinger – Arzt aus Steinbach
Albert Saller – Begleiter im Sanitätsfahrzeug
Alois Benner – Oberkommissar, Chef der Landpolizei Steinbach
Josef Pommereder – Hauptwachtmeister, Freund von Paul Waczek
Johann Völz – eifriger Wachtmeister
Fridolin Wick – Polizist aus dem benachbarten Fallberg
Herbert Spangl – Kollege von Wick
Dr. Isidor Weiler – Amtsgerichtsrat
Harro Suhl – Staatsanwalt aus der Kreisstadt
Johann Mars – Kriminaloberinspektor aus München
Konrad Maritzke – Oberkommissar aus Landshut
Fred Sammer – Sicherheitsoffizier der US-Army in Erding
Günther Winter – Kriminalmeister aus Straubing
Carl Berger – Landgerichtsdirektor, Vorsitzender Richter im Mordprozess
Dr. Max Wilde – Oberstaatsanwalt, Ankläger
Hans Knopp – Pflichtverteidiger von Waczek
Walter Hannerwald – dubioser Zeuge vor Gericht
Kurt Jettner – Belastungszeuge vor Gericht
Hans Zank – Überraschungszeuge vor Gericht
Michael Reischl – Viehhändler
Tom Lettl – stolzer Autobesitzer, der vielleicht etwas gesehen hat
Iris Lettl – Tom Lettls Frau
Richard Worschling – Spezi von Waczek, ein kleiner Gauner
Rudi Fichtel – Ortsvorsitzender der Bayernpartei
Rainer, Rita und Töchterchen Tanja – junge Familie, wohnt jetzt in Öd
Drei Schüsse
November 1998, Öd am Wald
Hier können Sie halten«, sagt der alte Mann mit kraftloser Stimme. »Den Rest gehe ich zu Fuß.« Das Taxi hält, er zahlt und steigt leise ächzend aus. Lange schon hat er sich an das süße Leben im Schaukelstuhl gewöhnt. Das nette Seniorenwohnheim, die freundlichen Pflegerinnen mit ihrem jugendlichen Lächeln, sein Pfeifchen auf dem Balkon, während die Sonne untergeht. Und der Blick über ein beschauliches Dorf, in dem keiner seinen richtigen Namen, geschweige denn seine Geschichte kennt.
Sie schätzen ihn als ruhigen Bewohner, der gerne ein gutes Buch liest oder mit den einsamen Rollstuhlfahrern im Foyer plaudert. Ein Mann im Winter seines Lebens, ohne Angehörige, aber mit dem Geld der Lebensversicherung seiner verstorbenen Gattin und dem Verkauf seiner Güter aller finanziellen Sorgen ledig. Ein paar Jahre sollte ihm der Herrgott noch vergönnen, obwohl er bereits auf Medikamente angewiesen ist. Sein hinkender Gang lässt ihn etwas ungelenk aussehen. Daran hat er sich gewöhnt. Auch seine Adlernase provoziert manches Schmunzeln. »Sie könnte mich verraten«, grämt er sich ein wenig, während er den Mercedes auf dem schmalen Sträßlein davonfahren sieht.
»Hier hab ich meine Kindheit verbracht«, hat er dem Fahrer erklärt. Er war nicht danach gefragt worden, er wollte nur verhindern, dass man über ihn ins Grübeln kommt: ein Greis, allein in dieser Einöde, bei Einbruch der Dämmerung. Was will er, was treibt ihn an? Sein Entschluss zur Rückkehr in diese Gegend entstand bei der Lektüre seiner ehemaligen Heimatzeitung, die er sich immer noch per Post zustellen lässt. Gerne liest er, was aus den Steinbachern von damals geworden ist. Viele sind gestorben oder haben sich aus dem öffentlichen Leben verabschiedet, andere tun sich immer noch als emsige Vereinsmeier hervor oder zehren von ihrer ehemaligen Prominenz. Aus seinen einstigen Geschäftspartnern wurden überwiegend ehrbare Bürger.
Doch er hätte nicht gedacht, in dieser bodenständigen Zeitung noch einmal seinen Namen zu lesen. Bis zu jenem 25. November 1998. Die Besonderheit dieses Datums hatte er längst vergessen. Tatsächlich handelte es sich um so etwas wie einen runden Jahrestag. Ihn »Jubiläum« zu nennen, wäre pietätlos. Die Tragik des Anlasses erlaubte keine Feierstimmung. Der Redakteur, der seine Geschichte noch einmal aufgerollt hatte, konnte großes Übel anrichten. Nicht dass es ihm gelungen wäre, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Nur, manch findiger Kopf könnte angestachelt werden, Nachforschungen über den Verbleib des alten Mannes anzustellen. So gesehen wäre dieser besser beraten gewesen, in seinem beheizten Appartement zu bleiben.
Nein, da ist plötzlich dieser Drang, sich endlich der Vergangenheit zu stellen. Jahrzehntelang hat er alles verdrängt – des lieben Friedens wegen. Was nützt ihm das, wenn es demnächst heißt, von dieser Welt Abschied zu nehmen? Was nützen die Stunden im Beichtstuhl, die Bittgänge nach Altötting, der regelmäßige Besuch des Gottesdienstes in der Heimkapelle? Gott mag ihm vergeben, aber wird er ihm auch das Geheimnis lüften?
»Ich muss zur Beerdigung eines guten Freundes«, begründete er seine Reise. Sie hätten ihm gerne einen Begleiter mitgegeben. Da wurde er ausfallend und laut: »Bin ich denn hier im Kindergarten?« So ließen sie ihn ziehen. Mit der Bahn ging’s bis in die Kreisstadt, dann im Taxi über Fallberg und Tannkirchen hierher ins triste Ackerland, das nur von vereinzelten Gehöften besiedelt ist. »Ein wenig solider sehen die Häuser jetzt aus. Sonst hat sich nichts verändert«, fällt ihm auf. Sein Chauffeur ist jung. Zu jung, um Bescheid zu wissen. Und er spricht ostdeutschen Dialekt.
Jetzt sieht der alte Mann nur noch die Rückleuchten des Taxis in der Ferne. Er saugt die Landluft in sich ein. Sein Atem kondensiert. Es ist kalt, aber nicht eisig. Ganz so wie damals. Schnee liegt auch, aber nur auf schattigen Hängen und an den Waldrändern. Schon fängt er an zu schlottern. Kein Wunder, da er seit Minuten reglos steht, als habe ihn der Mut verlassen. Er schultert seine Umhängetasche, geht ein Stück und zweigt ab auf eine noch engere Straße, die erst seit Kurzem asphaltiert ist. Räder der Landmaschinen haben sie mit Erdbrocken besudelt. Sicheren Schrittes – dank seines guten Schuhwerks – strebt er weiter auf ein Anwesen zu, das sich nur als Silhouette im Dunst hervorhebt.
Er schluckt, als er plötzlich neben dem steinernen Marterl steht. Der verwitterte Gedenkstein weist auf ein scheußliches Verbrechen hin, das bereits 48 Jahre zurück liegt. Wie die Zeit allmählich die Erinnerung verwischt, so nagt sie an der Inschrift. Auch das Glas vor der Nische mit der Muttergottes-Figur ist längst verschwunden. Nur die in Keramik eingebrannte Reproduktion eines Fotos hat Nässe und Frost fast schadlos überstanden. Es zeigt eine hübsche junge Frau mit dunklem Haar und einem schwarzen, hochgeschlossenen Festtagskleid. Mit der Andeutung eines Lächelns blickt sie in die Kamera.
Neben ihr der Gatte. Er trägt eine Wehrmachtsuniform. Das Schiffchen, lässig schief am Haupte sitzend, darunter ein vorbildlicher militärischer Haarschnitt. Der schmale Schnauzbart erinnert an jenen Diktator, für den er in den Krieg gezogen war. Im Juni 1945 kehrte er unbeschadet in die Heimat zurück – auf seinen Einödhof zu Frau und Kindern.
Der alte Mann kniet nieder und versucht, die Inschrift zu entziffern. Der erste Teil davon ist noch leidlich zu erkennen:
»Zum Gedenken an die Landwirtseheleute
Karl und Kathi Hartl aus Öd am Wald,
gest. d. Mörderhand am 5. November 1950«.
Unter dem Foto geht es weiter in kleineren Lettern. Der alte Mann streicht Lehm über den Stein, um sie sichtbar zu machen:
»Wir waren gerne hier,
mussten zu früh geh’n.
Vergesst uns nicht.
Auf Wiederseh’n!«
Die Kinder der Hartls haben das Marterl in den 50er-Jahren errichten lassen. Das Kreuz weist zum Tatort, ein Gehöft im Hintergrund, etwa hundert Meter entfernt in einer Senke liegend. Über eine unbefestigte Zufahrt gelangt man dorthin. »Öd 3« lautet die Adresse jetzt. Ein Hofhund schlägt an, und dem Betrachter wird schnell klar: Das Gebäude ist nicht viel älter als 20 Jahre.
Erstmals seit Beginn der Reise zweifelt der alte Mann am Sinn seines Vorhabens. Aber er ist schon zu weit gegangen. Er muss es zu Ende bringen. Und er marschiert weiter, auf den Hof zu, wo ihn niemand erwartet.
5. November 1950, Öd am Wald
Zwei schwere BMW-Motorräder knatterten durch die Dämmerung. Männer, der eine ganz in Leder gekleidet, der andere in Pluderhosen und Wehrmachts-Parka, saßen auf ihnen und spritzten durch die Pfützen. Es war ein zersiedeltes Ackerland, durchsetzt mit kleineren Waldstreifen, das sie befuhren. Sie rollten nebeneinander und hatten Gelegenheit, sich immer wieder etwas zuzurufen. Es war Sonntag und eben schlugen die Kirchenglocken zum Rosenkranz.
Bei Oberambach hielten die beiden an, denn hier trennten sich ihre Wege. »Oiso dann, pfürt di, Karl«, verabschiedete sich Rudi Fichtel von seinem Begleiter. »Und grüß mir d’Frau. Mir ham uns gar scho lang nimma gsehn.«
Der Jüngere, mit den Pluderhosen, Karl Hartl, stellte den Motor ab und nickte Rudi verschmitzt zu. »Könnt’st di ruhig wieder mal blickn lassn bei uns am Hof.« Nun brachte auch Rudi seine Maschine zum Schweigen. »Ja, de Kathi is scho a fesch’s Weib. Wenn i nur zehn Jahr jünger wär«, seufzte er.
Sein Parteifreund musste schmunzeln. »Dös würd dir so passn. Aber lass guat sei. Am Wahlabend bring i s’Kathl mit nach Steinbach. Sie kummt ja gar nimma naus in letzter Zeit.« »Koa Wunda, bei all dem Verdruss«, sagte Fichtel und bedauerte es im gleichen Moment. Er wusste, dass er mit solcherlei Reden schnell Wunden aufreißen konnte. Karl war dabei, wieder langsam der Alte zu werden, sich zu »derappeln«, wie man hier in Niederbayern sagt. Innerhalb von eineinhalb Jahren zwei Kinder auf so tragische Weise zu verlieren, das hinterließ Spuren.
Doch Karl winkte nur ab. »Jammern nutzt nix. Nur wenn i no länga säum, werd mei Frau grantig«, entgegnete er mit einem unguten Gefühl, denn es war längst Zeit, die Tiere im Stall zu füttern. Kathi hatte schon geknurrt, als er gleich nach dem Mittagessen aufgebrochen war. »Kannst net amal am Feiertag dei Politik vergessn?«, hatte sie ihm vorgeworfen. »Grad do ham d’Leut Zeit, in unser Versammlung z’geh«, war seine Antwort gewesen. Und Kathi, brüsk: »Bringt doch eh nix.«
Sicher, den Ausgang der Landtagswahl konnten sie im kleinen Marktflecken Steinbach nicht beeinflussen. Aber wenn jeder so denken würde! Jetzt war die heiße Phase und jetzt traten bisweilen auch namhafte Leute ans Rednerpult – solche, die wirklich reden konnten, nicht bloß dampfplaudern in Stammtischmanier. Und Hartl als bodenständiger Mensch setzte voll auf die Bayernpartei, die er auch Bauernpartei nannte. Der Münchinger Sepp – seines Zeichens Bezirksvorsitzender – hatte diesen Nachmittag selbst die phlegmatischen Steinbacher mit einem Referat von den Sitzen gerissen. Rudi als Bayernpartei-Ortsvorsitzender war natürlich vollauf zufrieden. Gerne hätte er noch mit Karl und den anderen Freunden bei einem Bier weiter diskutiert, aber auch am Fichtel-Hof warteten eine Frau mit dem Abendessen und ein Stall hungriger Tiere.
Hartl fuhr weiter zu seinem Anwesen. Ein Gehöft mit zwölf Tagwerk Grund, abseits gelegen im Hügelland. Der 38-jährige Zimmerer und Landwirt drosselte das Tempo, denn Schnee und Regen hatten die Straße rutschig gemacht. Es war ein garstiger Novembersonntag, grad passend zum Totenmonat. Am Pfarrfriedhof von Rammbach war die Erde, die über dem kleinen Sarg von Gertrud lag, noch frisch. Kathi hatte bei der Beerdigung geweint, bitter und herzzerreißend wie schon lange nicht mehr. Die Leute hatten gegafft und sich schäbige Bemerkungen zugeflüstert. Und er hatte sich geschämt. Doch langsam wuchs seine Kathi wieder in die Rolle der tapferen, pflichtbewussten Ehefrau und war den Kindern eine liebe Mutter. Da sie ihnen predigte, Regeln einzuhalten, hätte Karl pünktlich zurückkehren sollen. Münchinger hatte länger als geplant gesprochen, doch das war keine Ausrede.
Fast im Schritttempo rollte der Bauer über die gekieste Einfahrt, schob seine Maschine in den Geräteschuppen, ließ das mächtige Vorhängeschloss schnappen und strebte dem Hauseingang zu. Weniger grantig als befürchtet empfing ihn dort die Kathi, die sich eine Schürze umgebunden hatte. Die Lampe hinter ihr an der Wand zeichnete ihr hübsches Gesicht als Schattenriss. »Da bist nacher endlich«, sagte die 37-Jährige leicht vorwurfsvoll. Hartl murmelte eine Entschuldigung und machte sich gleich auf in Richtung Stall. Es war 18 Uhr.
Drei Kühe, ebenso viele Schweine, ein Käfig voller Hühner und eine Ziege waren zu versorgen. Karl beendete sein Tagwerk mit einem kurzen Rundgang um das Anwesen. Der Schnee, der zwei Tage zuvor das Land eingezuckert hatte, schmolz dahin. Auf den Feldern fanden sich braune Flecken, und die verbliebene weiße Pracht war nur noch ein nasser Brei. Abwechselnd hatte es an diesem Tag geregnet und geschneit, oftmals begleitet von böigen Winden. »’s is noch z’früh fürn Winter«, sorgte sich Karl, obwohl die Ernte längst eingebracht war. Er musste Nebentätigkeiten übernehmen, um die Familie ernähren zu können, denn was der Hof abwarf, reichte gerade für den Eigenbedarf. Ein Teil des Ertrags diente zum »Tauschhandel«. Das Wort »Schwarzgeschäfte« gefiel Karl nicht.
Wie dem auch sei, er kontrollierte alle Türen, schloss die Fensterläden und ließ einen langen Blick hoch zur Straße schweifen. Kein Fuhrwerk und keine Person mehr unterwegs. Auch die Lichter der drei Nachbarhöfe, die man von hier aus sehen konnte, waren erloschen. Als Karl zurückkam und seine Joppe ablegte, dampfte bereits das Essen am Herd. Die Kinder huschten aus der Stube und begrüßten ihren Vater. »Verzähl von da Versammlung, Pap!«, bedrängte ihn Sepp. Der aufgeweckte Zwölfjährige nahm Anteil an allem, was Karl trieb. Was die Arbeit am Hof betraf, sah sein Erzeuger einen tüchtigen Nachfolger heranreifen. Nur für die Politik, dafür hielt er den Buben noch zu jung. »Gibt nix zu verzähln«, bemerkte er deshalb leicht abweisend. »Geht’s, lasst’s an Vater doch erst mal hinsitzn. Er werd müd sei«, warf die Kathi ein und lächelte, ganz als habe sie Karl die Unpünktlichkeit schon verziehen.
»Hilf da Mutter auftrag’n!«, wies Karl die ältere Tochter an. Maria war elf und schon ein fesches Mädel. Dass sie noch immer mit Puppen spielte, lag an der jüngsten Tochter. Resi, erst vier, wollte unterhalten werden. Während Maria auch fleißig der Mutter half, genoss Resi alle Freiheiten der kurzen Kindheit auf einem Bauernhof. Sie war ein richtiges Lausdirndl, das die gleichen Rechte wie Sepp und Maria für sich einforderte. Aus dem Trotzalter schien sie heraus, glaubte ihr Vater. Aber die Mutter wusste es besser. »Die lasst si nix gfalln«, bemerkte sie einmal. »A richtiger Besn.« Karl war alles andere als streng. Seine Strafen erschöpften sich meist in Schelte und Stubenarrest. Mit kleinen Belohnungen, zum Beispiel für gute Noten in der Schule, hob er die Stimmung der Kinder.
Diese »moderne« Art von Erziehung resultierte aus leidvollen Erfahrungen aus der eigenen Kindheit des Ehepaares. Auf dem Geburtshof von Karl Hartl war kein Tag vergangen, an dem der Vater nicht seinen Ledergürtel aus der Hose gezogen und damit die Kinder verdroschen hätte. Kathi mochte es kaum besser ergangen sein. Aber sie sprach nicht gern von früher. Bis zu ihrer Heirat wurde sie wie eine Dienstmagd gehalten. Und so manches Gerücht machte die Runde, dass die Eltern aus Kathis Schönheit Kapital schlagen wollten. Die Verkuppelung mit dem Sohn eines Großbauern scheiterte am Widerstand der Tochter, die sich für den armen Karl entschied und damit bei ihrer Familie in Ungnade fiel.
Nun schienen sie ihr Leben ohne den Rückhalt ihrer Familien zu meistern. Nach den harten Jahren seit Kriegsende ging es sichtlich aufwärts, und die Hoffnung, es zu echtem Wohlstand zu bringen, sie wuchs. Ja, mit ein bisschen Glück konnte man Resi sogar auf eine höhere Schule schicken.
Derlei Träume gingen Karl an Abenden wie diesem durch den Kopf. Jetzt aber wirkte er auf andere Art abwesend. Als habe sich sein Gemüt unheilvoll verdüstert, kam es seiner Frau vor, während er am Tisch in der Wohnstube Platz nahm. Sein Versuch, es zu verbergen, scheiterte. Zu gut kannte sie ihn mittlerweile. Und es bekümmerte sie, dass er solche Anwandlungen in letzter Zeit häufiger zeigte – was sicher nicht am grauen Novemberwetter lag. »Hatt’s Ärger auf da Versammlung gem?«, fragte sie und platzierte den Suppentopf in die Mitte des Tisches. Karl zuckte unmerklich zusammen und meinte: »Das übliche G’schmatz.« Um das Thema zu beenden, sprach er schnell das Tischgebet.
Ihm war aufgefallen, dass Kathi in letzter Zeit starkes Interesse an seinen Nebentätigkeiten zeigte. Früher konnte er hingehen, wo er wollte. Da genügte es, wenn er nur kundgab, wie lange er ausbleiben werde. Doch es gab nichts, was er ihr verheimlichen musste – nichts mehr, um genau zu sein.
Wie auch immer, sie beließ es bei dieser Frage und brach sich ein Stück Brot ab, das sie in die Suppe tunkte. Es wurde schweigend gegessen.
»Sie wird wohl nie drüber hinwegkommen«, dachte Karl im Stillen und warf über den Löffelrand einen verstohlenen Blick zu seiner Frau, die jetzt, im faden Schein der Karbidlampe, beinahe jugendlich wirkte. Während andere Bäuerinnen in ihrem Alter schon Falten und graue Haare hatten, war sie immer noch eine liebreizende Frau, um die Karl viele beneideten. »Tapfer möchst du’s vor mir verberg’n, Kathi, dei Last, seit aa die Gertrud von uns ganga is. Sie war dei Liabste«, dachte er bei sich. Trotz des Freispruchs vor Gericht fühlte sich Kathi verantwortlich für das Unglück. Schwer lasteten die Schicksalsschläge auf ihr, und – als habe sie das zweite Gesicht – sah sie weiteres Unglück auf sich zu kommen. Einmal hatte sie ihn darauf angesprochen: »Lass die G’schäfte, Karl! Lass die Politik! Des duat koa Guat.« Karl selbst glaubte nicht an Gespenster, aber er wusste, dass in dieser Einöde alles passieren konnte. Mehrmals schon war versucht worden, bei ihnen einzubrechen.
Dann, mit dem nächsten Biss in das aufgeweichte Brot, verscheuchte er die schwermütigen Gedanken. Er war endlich mit sich selbst im Reinen und wollte sich den gemütlichen Feierabend nicht verderben lassen. Tatsächlich wirkten die Kinder heute ruhiger als sonst. Nachdem das Geschirr abgetragen war, begab sich Sepp mit der kleinen Resi auf den Teppich und holte die Kiste mit dem Holzspielzeug unter der Bank hervor. »Komm, wir bauen uns eine Burg.« Resi freute sich über die architektonischen Fähigkeiten ihres großen Bruders – und darauf, die Türme nachher mit einem Schlag umwerfen zu dürfen. Darüber vergaß sie sogar ihre Lieblingspuppe, die achtlos am Fensterbrett liegen blieb.
Vor diesem Fenster, auf der gemütlichen Eckbank, hatte sich’s Karl mit der Zeitung bequem gemacht. Es war die Samstagsausgabe, zu deren Lektüre er jetzt erst Zeit fand. Maria spülte das Geschirr, ihre Mutter hängte die nassen Lappen über den Ofen und legte noch ein paar Holzscheite nach, obwohl es schon mollig warm in der Stube war. Dann nahm Kathi ihr Strickzeug und setzte sich etwas abseits in den Schaukelstuhl. Der Pullover, an dem sie gerade arbeitete, war nur eins von vielen Kleidungsstücken, mit denen sie ihre Lieben zu Weihnachten verwöhnen wollte.
Karl hatte den Lokalteil aufgeschlagen und überflog die Überschriften. Aus der kleinen, zersiedelten Gemeinde Rammbach, zu der auch ihr Anwesen gehörte, stand nur selten eine Meldung drin, dafür umso mehr aus dem benachbarten Steinbach, ein Markt mit über 4000 Einwohnern. Dorthin zog es die Bauern, wenn sie Geschäfte machen oder sich vergnügen wollten. »Lies mir ein wenig vor, Karl«, bat ihn Kathi. Karl schob sich die Lampe zurecht und kam ihrer Bitte nach. Unterdessen purzelten die Bauklötze auf dem Teppich. Resi kicherte nur kurz. Sie wusste, dass Vater sie bei anhaltendem Lärm ins kalte Kinderzimmer schicken werde.
Draußen herrschte jetzt, um 18.40 Uhr, vollkommene Dunkelheit. Auch in den benachbarten Höfen saß man in gemütlicher Runde zusammen. Nur ein Licht, angetrieben durch einen Fahrraddynamo, zog mit leichten Zuckungen seine Bahn. Jemand keuchte den verschlammten Feldweg von Kreuzstrassl hoch, erreichte die Senke zwischen Oberambach und Heuwies, kreuzte den Auenweg und steuerte schließlich auf ein Waldeck zu, das sich Öd bis auf drei Steinwürfe näherte. Dort stellte der Unbekannte sein Rad ab und band seinen Begleiter an. Es war ein Hund, der brav wartete. Schemenhaft erkannte der Unbekannte die Umrisse des Anwesens. Zielsicher marschierte er darauf zu und verfehlte dabei nicht den kleinen Steg über den Sickergraben. Unter seinem Mantel verbarg sich eine Armeepistole P08, Kaliber 9 Millimeter.
Karl Hartl las laut und konnte deshalb die Schritte auf dem Hofweg nicht hören. Der Unbekannte nahm Deckung unter dem Vordach der Scheune und inspizierte die Lage. Alle Fenster waren geschlossen. Seinen an die Dunkelheit gewöhnten Augen entging dennoch nicht der schmale Lichtstrahl, der zwischen den Läden zweier Fenster an der Westseite heraus stach. Mit wenigen schnellen Sätzen war er dort und schmiegte sich dicht an die Fassade zwischen den beiden Fenstern.
Es hatte wieder zu regnen begonnen, doch der ungebetene Besucher kümmerte sich nicht darum. Er griff in seine Manteltasche, holte die geladene Waffe hervor, näherte sich einem Fenster.
»Da hams ja wieder an schön Mist gschriebn«, ärgerte sich Karl Hartl über einen böse kommentierenden Artikel und begann vorzulesen. Unterdessen spähte der Besucher durch den Spalt zwischen den Läden ins Zimmer. Es war jenes Fenster, hinter dem der Bauer saß. Die Scheibe war nicht beschlagen. Die Zeitung verdeckte zum Teil den Blick auf andere Personen. Trotzdem wurde dem Unbekannten schnell klar, dass hier womöglich die ganze Familie versammelt war. Doch jener, auf den er es abgesehen hatte, er wurde ihm förmlich auf dem Präsentierteller serviert. Leise schnappte der Entsicherungsstift der Pistole. Die linke Hand griff nach dem Hebel, mit dem sich der Fensterladen öffnen ließ.
Hartl hielt inne. Das Quietschen des Scharniers war nicht zu überhören. Alle anderen im Raum hatten sich so sehr in ihre Tätigkeiten vertieft, dass es ihnen nicht aufgefallen war. Und Karl blieb keine Zeit zum Nachdenken. Instinktiv wollte er sich umdrehen, da folgte ein ohrenbetäubender Krach. Während schon der Schall wie ein Hammerschlag wirkte, bohrte sich gleichzeitig ein glühendes Stück Eisen durch den Körper des Bauern. Stechender Schmerz durchdrang seine Lunge und raubte ihm die Sinne.
Manch einer hätte nicht begriffen, wie ihm geschah. Er, Karl Hartl, wusste es in seinem letzten lichten Moment. Dieses Geräusch war ihm als Frontsoldat mehr als vertraut. Nicht so die vernichtende Wirkung des Geschosses – zumindest nicht am eigenen Leib. Immer wieder hatte er im Kugelhagel zu Gott gebetet, er möge ihm solch ein grausames Ende ersparen. Und Gott hatte ein Einsehen. Außer wund gelaufenen Füßen und zwei abgefrorenen Zehen trug Hauptgefreiter Hartl keine Verletzungen aus dem Schlachtfeld davon.
Es war die Wucht des Geschosses, das in seiner Wirbelsäule stecken blieb, welche ihn nun vornüber auf den Tisch sacken ließ. Geschockt starrten Frau und Kinder auf dieses unwirkliche Bild. Der Fensterladen schloss sich. Keiner hatte die Person im Dunkeln erkannt.
Instinktiv packte Kathi ihre jüngste Tochter und rief: »Ois aussi, schnell!« Zu viert eilten sie in den Hausflur. »Rührt’s euch net weg do!«, beschwor die Mutter ihre Schützlinge. Mittlerweile hatte sie die Lage begriffen: Ein Fenster in Scherben, Pulverdampf, ihr Mann offenbar schwer verletzt. Ungeachtet der Gefahr stürmte sie zurück, um ihn aus der Schusslinie zu bringen.
»So a Gemeinheit. Des hätt’s aa net braucht«, hörten die Kinder sie rufen. Und Maria glaubte noch mehr zu vernehmen: »Du Bazi! I hob di scho kennt!« Mit solcherlei Reden brachte sich die Frau ungewollt in Lebensgefahr. Beim Versuch, ihren Karl vom Tisch wegzuziehen, öffnete sich der Laden erneut. Das zweite Geschoss drang in den Rücken des Bauern. Dann hob sich der Lauf, um eine mögliche Zeugin zu beseitigen. Kathi wurde im Unterleib getroffen, torkelte, blieb mühsam auf den Beinen und erkannte erst jetzt, dass es unmöglich war, Karl zu bergen. Im nächsten Moment wurde ihr bewusst: »Dös war’s. Dös kannst net überleb’n.«
Nur der Gedanke an die Kinder hielt sie aufrecht. »De brauchan doch ihr Muata. I kann sie net alloa lassn.« Wie in Trance standen die drei in der Diele, während sich die Frau blutend über die Schwelle schleppte, beide Hände gegen den Bauch gedrückt. Darunter verbarg sich eine fingerdicke Öffnung, aus der Blut und Mageninhalt quollen. »I hob an Bauchschuss, i muass sterm«, ächzte sie und bereute diese Worte, kaum dass sie ausgesprochen waren. Sepp und Maria erstarrten, Resi weinte. Sterben? Ihre Mutter konnte doch nicht einfach sterben. Und der Vater? Was war mit ihm? Keiner wagte danach zu fragen, keiner traute sich zurück in die Wohnküche.
Der Schütze – war er etwa noch da? Wollte er sie alle niedermachen? Brach er gleich die Tür auf? Gab es ein Versteck vor ihm? Im Schlafzimmer waren die Läden von innen verriegelt. »Helft’s ma da nei!«, bat Kathi ihre beiden Ältesten. Sepp und Maria stützten sie, halfen ihr aufs Bett, rissen Fetzen aus einem sauberen Laken, die sich die Frau dann gegen die Wunde presste. Doch es kam immer mehr Blut. Alles wurde besudelt.
»Mama, was soll ma macha?«, wimmerte Sepp. »Wos is mit’m Babba?«
»Geht’s do net eini! Holt’s lieba an Doktor!«
Doch wie? Telefon gab’s keines im Haus. So weit war hier die Technik noch nicht vorgedrungen. Blieb die Hoffnung, dass Nachbarn Rettung bringen konnten. »Lauft’s los! Holt’s Hilfe!«, wiederholte die Mutter ihre Bitte. Weitere Worte stoppte ein Hustenanfall. Der Auswurf bestand aus saurer Flüssigkeit und zwang die Frau, sich trotz der Schmerzen etwas aufzurichten. »Bitte, macht’s schnell! I kann bald nimma.«
Sepp und Maria blickten sich an, erkannten ihre Angst. Er könnte noch draußen stehen, der böse Mann, auf sie warten und ihnen ein Leid antun. Aber das erbärmliche Klagen der Mutter trieb sie schließlich doch aus dem Haus. Hals über Kopf stürmten sie in die Dunkelheit. Sie rannten, als liefen sie vor dem Leibhaftigen selbst weg, und waren sich nicht einmal bewusst, dass sie nur Strümpfe an den Füßen trugen. So strebten sie über die Felder dem nächstgelegenen Hof zu.
Er gehörte den Obers, jungen Bauersleuten ohne Kinder, die mit den Hartls nur wenig Kontakt hatten. Aus Angst vor dem scharfen Wachhund pochten Sepp und Maria gegen ein rückwärtiges Fenster. Nichts rührte sich und sie fürchteten schon, es sei keiner zu Hause. »Komm, schau ma weiter«, drängte Sepp, während im Hof der Hund anschlug. »Helft’s uns!«, schrie das Mädchen. Der von innen verschlossene Fensterladen öffnete sich – doch nur so weit, dass der Bewohner mit seiner Lampe die unerwarteten Gäste erkennen konnte. »Was wollt’s denn ihr no so spät?«, herrschte er sie an. Nun betrat auch Frau Ober den Raum, der sich als Schlafzimmer entpuppte. »De Hartl-Kinder sind’s«, erklärte ihr der Mann kurz. Das überraschende Pochen hatte beide in höchsten Aufruhr versetzt. Erst jetzt erkannte Josef Ober die dürftige Bekleidung der Kinder, die noch völlig außer Atem waren.
»Bei uns hams reingschossn«, stöhnte Sepp mit Tränen in den Augen. »Pap und Mam san troffa.« Ober begriff den Ernst der Lage. »Lauft’s glei nüber zum Kampinger. Der hat a Telefon«, rief er und gab seiner Frau einen Wink, sie solle ihm Mantel und Stiefel bringen. »I komm nach!«
Zum Kampinger Fritz waren es nur zwei Steinwurf weit. Er war der wohlhabendste Landwirt in der Gegend und verfügte über Elektrizität im ganzen Haus. Sein Knecht hatte das Geschrei von nebenan schon vernommen und den Herrn verständigt. Dieser stand nun mit einer großen Stabtaschenlampe im Eingang und empfing die Hilfe Suchenden. Ein Blick genügte, um zu wissen, dass etwas Grauenhaftes geschehen sein musste. »Mir brauchan an Doktor. Muata und Vata sterm sonst«, ächzte Maria. »Kommt’s erst mal rein. Ihr holt’s euch ja no den Tod«, sagte Kampinger und gab die Kinder in die Obhut seiner Frau. »Jessas – ohne Schuh und nur im Hemd. Nochan hot’s oba pressiert«, entsetzte sich die Bäuerin. Ihr Mann, ein stämmiger Mittvierziger, eilte sofort zum Telefon in der Diele, hob ab, ließ den Hörer wieder sinken. »Wer weiß d’Nummer vom Doktor Stockinger?« Der Knecht zuckte nur mit den Schultern, und die Frau war mit den Kindern bereits in der Wohnstube. Mit molligen Decken und einem heißen Fußbad wollte sie die Ärmsten wieder auf Temperatur bringen.
Wohl oder übel kramte Fritz Kampinger ein Telefonbuch aus der Kommode und fing an zu blättern. Unterdessen stürmte Josef Ober herein. »Gschossn hams bei de Hartls!«, brüllte er völlig außer sich. Kampinger forderte Ruhe, fand die Nummer, wählte und verwählte sich prompt. Erst als ihm Ober diktierte, klappte es. Das Freizeichen ertönte.
»Geh scho hi, verdammt nomal!«
»Was is denn g’schehn?«, wollte Ober wissen.
»Frag d’Kinder«, schnauzte ihn Kampinger an und deutete zur Tür in die Stube. Immer noch hob niemand am Ende der Leitung ab. Gerade in dem Moment, als Kampinger einen anderen Arzt rufen wollte, knackte es im Hörer. »Bei Doktor Oswin Stockinger. Was kann ich für Sie tun?«, meldete sich eine nuschelnde Frauenstimme. »Wo is da Doktor?« »Im Kino.« »Er muss glei her komma. Sagen’s ihm …«
»Jetzt sagt’s, was gscheng is?«, bedrängte Ober unterdessen die Kinder. Beide weinten hemmungslos. Die Bäuerin hatte deshalb nur einen verachtenden Blick für den so rüde hereinplatzenden Nachbarn übrig. »Einer hat durchs Fenster gschossen. Pap und Mam hat’s derwischt. Mehr wiss ma net«, antwortete Sepp zögernd. »Is der Schütz no da?« »Wiss ma net.«
In der Ecke standen die halbwüchsigen Söhne von Kampinger und verfolgten das Schauspiel mit Interesse. Einer von ihnen wäre am liebsten gleich losgelaufen, um den Schützen zu stellen. Doch der Vater hatte ihnen schon eine andere Aufgabe zugedacht. Eben polterte er in den Raum und gab den Schlachtplan aus: »Ihr Buam lauft’s zum Mayer Willy. Er soll glei her komma. Zu dritt wern mir dem Gangster leicht Herr. I ruf d’Polizei. Ober, du holst a paar saftige Prügl aus der Scheun.« Mit dieser Bewaffnung wollte man dem Täter heimleuchten. Für Kampinger stand fest: Es war ein Räuber, der sich mit den Schüssen Zutritt ins Haus verschafft hatte. Als die Kinder losgelaufen waren, konnte der Schuft eindringen und einpacken, wonach ihm gelüstete – auch wenn bei den Hartls nicht viel zu holen war.
Mit etwas Glück, so hoffte Kampinger, würde man den Unbekannten noch fassen oder zumindest in die Flucht schlagen. Dass es ihnen an gleichwertigen Waffen fehlte, spielte keine Rolle. Die Übermacht wog vieles auf, weshalb man erst starten wollte, wenn Willy Mayer, ein weiterer Nachbar, bei ihnen war.
19.11 Uhr, Fallberg
Im kleinen, muffigen Dienstzimmer der Fallberger Landpolizei, eingerichtet im Verkaufsraum eines ehemaligen Kramerladens, kondensierte der Atem an den verschmierten Scheiben. Der Qualm amerikanischer Zigaretten verstärkte die Sichtprobleme, was die beiden Raucher nicht sonderlich störte. Morgen würde die Putzfrau kommen und hier für Hochglanz sorgen. Morgen wechselte die Schicht – und sie hatten dann drei Tage frei.
Fridolin Wick und Herbert Spangl hatten ein ausgesprochen ruhiges Wochenende hinter sich. Der Bereitschaftsdienst hier draußen beschränkte sich gewöhnlich auf das Absitzen der Zeit. Höchstens mal eine Wirtshausschlägerei, mal ein Betrunkener, der zur Räson gebracht werden musste, mal ein nächtlicher Ruhestörer oder eine Katze, die sich nicht mehr vom Baum heruntertraute. Und jetzt im trüben Novembergrau, eingemottet in die Lethargie des beginnenden Winters, vom wohligen Duft des Holzes im Kamin fast eingelullt, erschöpfte sich das Glück dieser Erde auf ein anregendes Gespräch über Frauen und ihre diversen Vorzüge.
Wick und Spangl waren ein eingespieltes Team – so eingespielt, dass sie wussten, wie weit sie mit ihren Dienstverfehlungen gehen durften. Neben dem Schnaps in der verschließbaren Schublade lag gleich ein starkes Mundwasser. Der Wirt hatte ihnen wie immer Rauchfleisch und Bauernbrot vorbeigebracht, damit er die Sperrzeit verkürzen konnte. Während im Hintergrund leise der alte Volksempfänger dudelte, spielten die Männer Karten. Beide hatten den gleichen Dienstrang, den niedrigsten, den die Polizei zu vergeben hatte, beide hatten aber bereits das dreißigste Lebensjahr überschritten und trugen schon ein ansehnliches Bäuchlein mit sich herum.
Ihre Eintracht wurde jäh zerstört, als das Telefon klingelte. Murrend beugte sich Fridolin Wick vor, griff den Hörer und versuchte, seiner Stimme die nötige Kraft zu geben. »Polizeistation Fallberg. Grüß Gott!« Die nach unten gehenden Mundwinkel und der starre Blick seines Kollegen verdeutlichten Spangl, dass er die Karten wohl einsammeln konnte. Wick schwieg, nickte ein paar Mal ergeben und deutete schließlich zum Kleiderhaken an der Tür, wo sie ihre Uniformjacken hängen hatten. »Öd am Wald, ja. Wir schauen uns um.«
»Was’n los?«, fragte Spangl, während er Wick die Jacke zuwarf. Jener deutete auf die Pistolengürtel, die dort hingen. »Wir könnten sie brauchen. Es wurde geschossen.« »Geschossen? Wo?« »Draußen in Öd, bei einer Familie Hartl. Unsere Wache ist vom Nachbarn verständigt worden. Angeblich zwei schwer Verletzte.« »Raub?« »Kann schon sein.« Sie schnürten sich die Stiefel, schlossen ihre Hemdenknöpfe, krempelten die Ärmel herunter, benutzten das Mundwasser und einen Kamm.
»Wo, sagtest du?«, fragte Spangl, eifrig nach dem Autoschlüssel suchend. »Da unter der Zeitung«, half ihm Wick, der etwas hellere von beiden Köpfen. »Ich meinte, wo wir hin müssen. Wo liegt dieses Öd am Wald?« »Du kommst doch aus dieser Gemeinde.« Spangl schüttelte den Kopf. »Schon, aber ich kenne nicht jede verdammte Einöde da draußen. Hättest dir eben den Weg beschreiben lassen sollen.« »Wie steh ich jetzt da, wenn ich noch mal anrufe?«, ärgerte sich Wick und wies Spangl an, im Schrank nach einer Landkarte zu suchen. Bis die Lokalität geortet war, vergingen fünf Minuten. »Der Schütze ist doch längst über alle Berge.« »Wollen wir’s hoffen«, entgegnete Wick. »Bin nicht erpicht auf ein Loch im Kopf. Und das hast du schnell, wenn dich so ein Bazi aufs Korn nimmt.«
Spangl wunderte sich, dass man nicht die Steinbacher Dorfpolizei verständigt hatte. Der Grund: Für Kapitalverbrechen war die Inspektion der Kreisstadt zuständig. Dies wissend hatte Kampinger natürlich gleich dort angerufen. Und Fallberg lag nur sieben Kilometer von Öd entfernt, also etwas näher als Steinbach. »Arzt ist schon verständigt«, sagte Wick im Hinausgehen. »Wir nehmen Rolf mit.«
Rolf war der beste Spürhund Niederbayerns. Diese Ehre wurde ihm dank einiger Siege auf diversen Wettbewerben zuteil. Doch mittlerweile hatte auch Rolf sich der hier herrschenden Lethargie angepasst und zeigte längst nicht mehr den Biss früherer Jahre. Jetzt döste er im Stroh und hoffte insgeheim auf Futter, als Wick die Tür des Zwingers öffnete. Kaum war die Leine um seinen Hals, wusste Rolf Bescheid und fügte sich in sein Schicksal. Alle drei wünschten sich ein möglichst schnelles Ende des Einsatzes, um in dieser Nacht noch eine Mütze Schlaf zu bekommen.
Der Motor des Streifenautos, ein klappriger Volkswagen, hustete bereits verdächtig und lief alles andere als rund. Dies mochte mit dem nasskalten Wetter zu tun haben, glaubten die Polizisten. »Das renkt sich schon wieder ein.« Einen Kilometer später gab der Motor den Geist auf. Kein Mucks mehr beim Betätigen der Zündung, als sei die Batterie leer. Die Batterieanzeige leuchtete jedoch und auch die Scheibenwischer und das Licht funktionierten einwandfrei. »Das hatte er schon mal, wenn ich mich recht erinnere«, bemerkte Wick leicht vorwurfsvoll. Rolf gab ein bestätigendes »Wuff« dazu und Spangl bejahte ebenso. »Er sollte in die Werkstatt, aber dazu war noch nicht Zeit.« »Schöne Bescherung.« Wick trommelte gegen das Lenkrad. »Kriegen wir das hin?« »Woher soll ich das wissen?«
Der Wind hatte wieder aufgefrischt. Entendaunengroße Schneeflocken landeten auf der Windschutzscheibe und schmolzen in Sekundenschnelle. Spangl öffnete die Motorhaube, leuchtete mit der Taschenlampe in jeden Winkel und auf jedes Teil. Vier weitere Vergewaltigungen des Zündschlosses brachten die Erkenntnis, dass es wohl an den Kerzen liegen musste – oder an den Zündkabeln. Wie dem auch sei, sie mussten sich um ein anderes Fortbewegungsmittel umsehen. Missmutig knöpften sie ihre Mäntel zu und trabten los, zurück in den Ort.
Dieser Tage waren die üblichen Fortbewegungsmittel auf dem Lande Pferdefuhrwerke. Nur äußerst wohlhabende Bürger konnten sich ein Auto oder einen Traktor leisten, und weil es solcherlei Leute im kleinen Fallberg nicht gab, mussten sich die Polizisten notgedrungen an den Feuerwehrkommandanten Alois Wirzingel wenden. Er und Herbert Spangl waren alte Schulfreunde und hatten sich schon öfter mit Material ausgeholfen. Der nagelneue Mannschaftskombi der Fallberger Wehr sollte sie schneller ans Ziel bringen als ihr klappriges Automobil. Außerdem sank dank dieser Panne das Risiko, dem Räuber am Tatort noch vor die Flinte zu laufen.
Wirzingel empfing die Polizisten mit skeptischem Blick, bevor er erkannte, dass sie nicht seinetwegen gekommen waren. »Ihr habt’s Glück g’habt. Grad wollt i in d’Wirtschaft«, tönte er und ließ sich erklären, was der Grund des Einsatzes sei. »In Öd am Wald? Ja is des net der Hartl-Bauer, dem de zwoa Kinda gstorbn san? Dem klebt des Pech an de Füaß.« Fast hätte er die Uniformierten noch zu einem Schnaps eingeladen, doch denen war nicht nach Konversation. Wäre Wirzingel ihrer Bitte nachgekommen, sie zum Tatort zu chauffieren, sie hätten noch lange über Hartl und sein Pech sprechen können. Der Durst des Kommandanten machte dies zunichte. Er schlüpfte in seine Joppe, nahm die Schlüssel fürs Gerätehaus und begleitete die Männer dorthin.
Weitere Zeit verstrich mit der technischen Einweisung, die Wirzingel notgedrungen geben musste, um zu verhindern, dass sein modernes Vehikel zu Schrott gefahren wurde. Kurz darauf erreichten Spangl und Wick ihr Auto, luden die nötigen Utensilien wie Absperrmaterial und Lampen um, ebenso den Hund. Um 19.45 Uhr wurde die Fahrt fortgesetzt, um 19.50 Uhr, irgendwo auf freier Pläne, endete sie. Es war wie verhext: Kein Benzin mehr. Entsetzt starrte Wick auf die Anzeigenadel. »Der Depp hätt auch was sagen können.« »Trinkt die Feuerwehr neuerdings Sprit?«, versuchte Spangl zu scherzen und handelte sich prompt eine unter die Gürtellinie gehende Erwiderung ein. Diesmal trommelte sein Kollege so fest gegen das Lenkrad, dass es abzubrechen drohte.
Eine Minute lang saßen beide wie festgenagelt. »Was jetzt?«, wagte Spangl endlich zu fragen. Wick meinte, sie würden wohl wieder frische Luft schnappen dürfen. »Was schluckt denn die Kiste? Benzin oder Diesel?«, fragte Spangl. »Diesel, nehme ich mal an.« »Dann könnten wir bei den Bauern was bekommen.« Wick hustete. »Sieh zu, ob du hinten einen Reservekanister findest!« Spangl wurde fündig. Mit dieser Sammelbüchse erledigten sie ihrem Bittgang von Hof zu Hof. Es dauerte sehr, sehr lange, bis sie jemanden fanden, der ihnen ein paar Liter abgeben wollte. »Erzähl das keinem Menschen!«, ächzte Wick, als sie nach über einer Stunde wieder zurück waren und ihre Fahrt fortsetzen konnten.
19.17 Uhr, Öd am Wald
Josef Ober, Fritz Kampinger und Willy Mayer spritzten über den Feldweg zur Straße und weiter die Einfahrt zum Anwesen der Hartls hinunter. Des jungen Mayers Tempo konnten die beiden etwas betagteren Herren nicht folgen, weshalb sich ersterer immer wieder umblickte und seine Schritte zügelte. Sie trugen Sturmlampen und je einen Knüppel. Mistgabeln und Äxte hätten ihnen sicher bessere Dienste getan, doch waren diese als Waffen zu schwer oder zu unhandlich, um gegen den Einbrecher bestehen zu können. Falls er sich noch im Haus aufhielt, mussten sie sich ohnehin vor seiner Flinte in Acht nehmen. Nach Lage der Dinge aber sollte er jetzt, eine halbe Stunde nach dem Überfall, verschwunden sein.
Kurz vor dem Haus sammelten sich die Bauern zu einer Unterredung. »Mit Hurra eini! Mir überrumpln eam«, schlug Kampinger, der nicht die geringste Furcht zu haben schien, vor. Die anderen nickten gefällig und ließen ihm den Vortritt. Wenig Widerstand bot ihnen die nur angelehnte Haustür. Polternd stürmten sie über die Schwelle: Kein Licht, wie es schien. »Saukrüppel, jetzt hat’s di!«, schrie einer der drei. Alles suchte sich seitlich eine Deckung, was nicht viel geholfen hätte, denn mit den Lampen boten sie ein hervorragendes Ziel.
Der »Saukrüppel« meldete sich nicht. Stattdessen vernahmen die Männer das leise Wimmern eines Kindes. »Da!« Mayer deutete zur offenen Tür ins Schlafzimmer. Der matte Schimmer einer Kerze verlieh den Holzdielen noch schwache Konturen und zeichnete dunkle Flächen, die sich als Blut entpuppten. Den Nachbarn stockte der Atem ob des entgeisterten Blickes der kleinen Resi, die auf dem Rücken ihrer Mutter saß. Da sie ja nicht wusste, um wen es sich bei diesen drei lärmenden Eindringlingen handelte, da sie ihre Knüppel missdeutete, wimmerte sie jetzt »Mammi, Mammi« und zog an Kathis Weste.
Kathi Hartl hatte sich auf den Bauch gedreht, als könne sie die Blutung damit stoppen. Das ganze Bett war rot gefärbt, und immer mehr Mageninhalt quoll aus der Wunde. Der Gestank des halb verdauten Essens erzeugte Brechreiz. Mühsam wandte nun die Verletzte den Männern ihr Gesicht zu. »Bitte erschreckt’s mir die Kleine nicht«, röchelte sie, wobei jedes Wort schleppend und kaum verständlich herausgewürgt wurde. Schwarzes Blut tropfte von ihren vollen Lippen, was Josef Ober zwang, kurz die Augen zu schließen.
Als Einziger behielt Kampinger einen klaren Kopf, indem er Resi beruhigte: »Kennst uns net, Reserl? Mir san’s, de Nachbarn. Brauchst koa Angst z’ham. Wir bringan Hilf.« Und wirklich gelang es ihm, die Kleine von ihrer Mutter loszueisen. Onkel Sepp sollte mit ihr aufs Kinderzimmer gehen und aus einem Märchenbuch vorlesen. Dieser dankte insgeheim seinem Nachbarn, ihn so elegant aus dem Schlachtfeld gelotst zu haben. Es gab wahrlich bessere Dinge, als Menschen beim Sterben zuzusehen oder ihre klaffenden Wunden verarzten zu müssen. »Gell, bei uns schaugt’s schön aus«, sagte Kathi, als das Kind weg war. Es klang nach Galgenhumor und war doch nur eine Entschuldigung für die Umstände, die sie den Helfern machte. Ihr Versuch, sich aufzurichten, um sich ihnen nicht länger in dieser entwürdigenden Haltung zu präsentieren, er misslang infolge mörderischer Schmerzen. Reglos am Bauch liegend hatte sie es leidlich ertragen und dabei dem Kind noch Mut zusprechen können.
»Kreizack! Sie verliert z’vui Bluat«, bemerkte Mayer. Kampinger, der als Soldat Grundkenntnisse in erster Hilfe erlernt hatte, wusste das selbst. »Was is mit deim Mo?«, wollte er wissen. »Liegt in da Wohnküch. Eam hot’s bös dawischt.«. Da die Bauern glaubten, dass Kathi nicht in akuter Lebensgefahr schwebte, folgten sie den Blutspuren. In der Stube brannte immer noch die Karbidlampe, doch das Feuer im Ofen war erloschen. Der Wind hatte den Fensterladen aufgeweht, und penetrant kalt pfiff es durch die zerschossene Scheibe. Karl Hartl, am Boden liegend, fröstelte und schien vor Schmerzen halb hinüber. Er lag in einer Lache Blut.
Kampinger versuchte ihn anzusprechen: »Heast mi, Karl. I bin’s, da Kampinga Fritz. Wos is gschehn?« Als keine Antwort kam, packte ihn der stämmige Nachbar am Oberarm und rüttelte ihn. »Karl, hoit durch! Da Notarzt is bald do. Unkraut vergeht net.« Der Verletzte registrierte seine Besucher, versuchte etwas zu sagen und verfiel dann in einen schrecklichen Schüttelfrost. »So koit, so koit! I hob koa Gfühl mehr im Boa«, glaubte Mayer zu vernehmen. Er holte die Decken von der Eckbank und aus dem Schaukelstuhl, breitete eine am Boden aus. Gemeinsam hoben sie an, um Hartl darauf zu betten. Sie deckten ihn zu, legten Holz im Ofen nach.
»Wo is mei Kathi?«, fragte Karl plötzlich mit Tränen in den Augen. »Hot er sie aa troffa?« Großen Sinn, ihm Lügen aufzutischen, sahen die Helfer nicht. Dennoch beschrieben sie ihm das Ausmaß ihrer Verletzungen als vergleichsweise harmlos. »Sie kommt gwiss durch – und du aa, Karl. Beiß nur de Zähn zam.« Während Mayer wieder nach Frau Hartl sah, fand Kampinger Zeit, sich genauer im Zimmer umzusehen. Ein Räuber auf der Suche nach Wertgegenständen hätte alles durchwühlt. Hier aber herrschte Ordnung. Die feigen Schüsse von draußen hatten offenbar allein den Zweck, Menschenleben auszulöschen.
Hartl verlangte nach etwas zu trinken, was ihm Kampinger nicht verwehrte. In der Kanne befand sich noch Tee. Als ihm der Nachbar eine halbe Tasse davon eingeflößt hatte, ging es dem Verletzten sichtlich besser. So wiederholte Kampinger seine Frage von vorhin: »Wos is gschehn?« »Gschossn … durchs Fenster hot oana. Mir sitzn do olle beinand, auf oamoi …« Ein stechender Schmerz stoppte seine Rede. Dennoch hätte Kampinger gerne gewusst, ob Karl den Schützen womöglich erkannt hatte, ob er sich zumindest denken könne, wer so einen Hass gegen ihn hegen würde, dass er zum Äußersten ging.
Aber jetzt platzte Mayer herein und bat, ihm beim Verarzten der Frau zu helfen, denn inzwischen hatte er den Verbandskasten gefunden. »Die geht uns drauf, wenn mir nix doan.« »Wo bleibt denn da Doktor, verfluacht!«, ärgerte sich Kampinger lautstark, bevor er seinem Nachbarn assistierte. Bald kam ein weiterer Nachbar hinzu – Michael Schenk, den die Kampinger-Buben ebenfalls alarmiert hatten.
Trotz des Verbandes spürte Kathi ihre Kräfte mehr und mehr schwinden. Der Tod trug ihr auf, sich bereit zu machen: »’s ist Zeit, Kathi. Doch es gibt noch was zu regeln.« Und als treu sorgende Mutter wusste sie, was zu tun war. »Ruft’s glei bei meiner Schwägerin Mathilde Bauer in Straubing aa. Die soll si um d’Kinder kümmern. Sie ham ja …« Ein langes Zögern bis zu dieser ungeheuren Erkenntnis. »Sie ham ja iaz gar koan mehr.«
Diesen braven Kindern die Eltern wegzuschießen war in Kampingers Augen das schlimmste Verbrechen. Nicht zwei, fünf Opfer hinterließ der heimliche Schütze. Und wenn Gott ein gerechter Mann war, so verhinderte er, dass jener ungeschoren davonkam.
Mitten in die grimmigen Gedanken des Bauern hinein brach das Tuten einer Autohupe vor dem Haus. Der klapprige VW des Steinbacher Arztes Dr. Oswin Stockinger kam nur mit Mühe über die aufgeweichte Einfahrt und würde wohl hinterher zwei kräftige Anschieber benötigen. Den Ausgehmantel, welchen der Arzt zum Kinobesuch benutzt hatte, trug er immer noch. Es war gerade mal Zeit geblieben, den Notfallkoffer zu holen, nachdem seine Haushälterin mitten in die Vorführung geplatzt war. Immerhin war sie so umsichtig gewesen, ihm die Neuigkeit ins Ohr zu flüstern, zumal die Kunde von Schüssen auf ehrbare Leute wie die Hartls sicher schnell die Runde gemacht hätte. Es wäre hier innerhalb kürzester Zeit zu einem Volksauflauf gekommen.
»Sanka muss gleich kommen«, sagte Doktor Stockinger in seinem typischen Autogrammstil, während ihm Kampinger den Weg ins Haus leuchtete. Der Mediziner hatte trotz seiner erst 40 Jahre bereits eine Glatze, und die dicken Brillengläser deuteten an, dass er kaum besser als ein Maulwurf sah. Nur seine drahtige, sportliche Figur war sichtbares Zeichen seiner ungebrochenen Jugendlichkeit. Üblicherweise brachte ihn nichts aus der Ruhe. In Unkenntnis über das Ausmaß der Verletzungen jener beiden Opfer hatte er Kopf und Kragen auf der Fahrt hierher riskiert. Als Leiter eines Lazaretts im Russlandfeldzug war er auf Schusswunden spezialisiert. Es bedurfte wahrlich nur eines kurzen Blickes, um zu erkennen, wie ernst es um die beiden Eheleute stand. »Sind Kinder im Haus?«, fragte er beim Aufziehen einer Spritze. Kampinger nickte. »Die kleine Resi. Mei Nachbar is bei ihr.« »Wie geht’s ihr?« »Geht scho, glaub i.« »Werde sie mir gleich anschauen.«
Doktor Stockinger musste nicht viel tun, denn schon kam der Sanka, der dicht vor der Haustür parkte. Zwei Sanitäter und ein Hilfssanitäter bildeten die Besatzung. »Enormer Blutverlust. Frau schaut ganz schlecht aus, Mann vielleicht zu retten«, informierte der Arzt die Helfer. Sofort war man mit zwei Tragen zur Stelle und verfrachtete die Verwundeten ins Innere des Kastenwagens, welcher bald mit laut aufheulendem Motor zur Straße hoch schlitterte.
Nun konnte sich der Arzt um das Töchterlein kümmern. Er stellte fest, dass hier tröstender Zuspruch, aber keine Medizin nötig war. Josef Ober war in die Vaterrolle geschlüpft und spielte mit Kasperle-Figuren. Zwar konnte Resi über die tolldreisten Sprüche und Gebärden der Darsteller aus Stoff und Pappmaschee nicht lachen, doch schien sie bei diesem Spiel heilsame Ablenkung gefunden zu haben. Der Doktor zollte Ober mit einem aufmunternden Blick Respekt für diese Betreuungsmaßnahme. »Mama und Papa müssen jetzt im Krankenhaus viel schlafen, damit sie wieder gesund werden«, sagte er mit ruhiger Stimme und streichelte dem Mädchen über den Kopf.
»Sie derf heut Nacht bei mir bleim«, teilte Kampinger mit. Ober wurde beauftragt, mit Mayer und Schenk bis zum Eintreffen der Polizei die Stellung zu halten. Kampinger nahm Resi auf den Arm und verließ mit ihr das Haus.
19.33 Uhr, zwischen Öd und Steinbach
Albert Saller hatte sich seinen Aushilfsdienst im Krankenhaus Steinbach anderes vorgestellt. Eigentlich wollte er Sanitäter werden, aber die meiste Zeit hatte er sich nur um sterbende alte Leute und die Entsorgung ihrer Exkremente zu kümmern. Die wenigen Höhepunkte seiner tristen Tätigkeit erschöpften sich in Kaffeepausen mit den Krankenschwestern, die aber bis jetzt jede private Verabredung hartnäckig abgelehnt hatten. Vielleicht, so hoffte er insgeheim, würden sie bald Schlange stehen, um mehr über diese Mordgeschichte zu erfahren. So hatte er sich freiwillig gemeldet, als es hieß, ein Begleiter für das Sanitätsfahrzeug werde noch gesucht.
Saller mit seinen 22 Jahren konnte einiges wegstecken, was Blut und offene Wunden betraf. Selbst abgerissene Gliedmaßen hatten ihm noch nie den Appetit verdorben. Der Tod war für ihn ein rein biologischer Vorgang. So zeigte er auch jetzt kaum Mitleid mit den beiden Bauersleuten, die da rechts und links von seinem Hocker angeschnallt auf den Tragen lagen. Die Frau hatte bereits das Bewusstsein verloren, der Mann war dabei, es wieder zu erlangen. Offenbar hatte ihn das Holpern des Fahrzeuges geweckt, denn gerade passierte man ein arg ramponiertes Stück Straße.
Hartls Blick war glasig, und so ganz schien er seine Umwelt nicht zu registrieren. Sicher hielt ihn die Spritze noch halb im Delirium, doch die Patrone, welche in seinem Rückgrat stecken geblieben war, schmerzte ungemein. Saller, mit den Gedanken gerade abwesend, hörte ihn stöhnen und wandte sich ihm zu.
»Bleiben’s nur ganz ruhig. Mir san glei da«, versuchte er ihn zu beruhigen.
»Des werd nia nimma werdn«, ächzte der Bauer resigniert.
»Feige Schüss von hintn, wie i ghört hab?«, erkundigte sich Saller, der wusste, dass er eigentlich nicht mit dem Verletzten sprechen durfte. Zu verlockend, hier etwas in Erfahrung zu bringen, was er der hübschen Schwester von der Unfallstation nachher brühend heiß auftischen konnte.
»Hat er was mitgnommen, da Räuber?«, wollte er wissen.
»Wos woas i.«
»Und gseng hot eam aa koana?«
»I net.«
»Hast a Ahnung, wer’s gwenn sei kunnt?«
Diesmal ließ sich Karl Hartl lange Zeit mit der Antwort. Er schien plötzlich alle Schmerzen zu vergessen und intensiv nachzudenken, wer denn für eine Tat solcher Tragweite in Frage käme. Manch einer hätte Grund, ihm was wegzunehmen oder sein Vieh zu entführen, manch einer würde ihm wohl gern ein blaues Auge verpassen oder den Hintern versohlen. Aber Mord? Das traute er eigentlich nur einem zu. Einem, der ihn vor kurzer Zeit wieder als Freund gewinnen wollte und stattdessen eine Niederlage bezogen hatte.
»Woast scho, der Bazi«, sagte Hartl mehr zu sich selbst.
»Wos für a Bazi?«, hakte Saller sofort nach und beugte sich dicht über den Bauern, um beim Lärm des Motors auch jedes Wort zu verstehen.
»Ihr kennts eam guat. Er kommt aus euerm Ort.«
Ein Steinbacher, ein Bazi – da gab’s viele. Doch Albert Saller ahnte, wer gemeint sein könnte. Und bald sollte aus dieser Ahnung Gewissheit werden.
Spuren im Schnee
5. November 1950, Landpolizei Steinbach
Ein Kapitalverbrechen musste die Polizeidienststelle der Kreisstadt sofort an die übergeordnete Behörde weitermelden. In diesem Fall war das die Polizeidirektion Landshut, welche natürlich Sonntagabend auch nur mit einer Notbesetzung Dienst leistete. Der Telefonposten schrieb später in sein Bereitschaftsbuch, dass die Schüsse am Hartl-Hof um 19.10 Uhr gemeldet wurden. Nachdem sich der Posten das Was, Wann und Wo notiert hatte, blieb ihm die unangenehme Aufgabe, jemanden zu finden, der die weiteren Schritte koordinieren konnte. Dies stellte sich als äußerst diffizil heraus, zumal der zuständige Bereitschaftsleiter gerade außer Haus war. Immerhin offenbarte der Telefonposten so viel Intelligenz, gleich die Landpolizei Steinbach anzurufen.
Um 19.16 Uhr klingelte dort bei Wachtmeister Johann Völz das Telefon. Er vernahm die Kunde vom feigen Mordanschlag. »Was sollen wir tun?«, fragte der 30-jährige Polizist, der durchaus nüchtern auf seinem Posten war – ganz im Gegensatz zu seinem Kollegen, der sich im Ruheraum ausgestreckt hatte und dem Dienstschluss entgegendöste. Völz strich sich nervös über den Schnauzbart und vernahm mit Genugtuung, dass bereits Beamte aus Fallberg zum Tatort unterwegs seien. »Solange nichts Näheres bekannt ist, halten Sie sich in voller Stärke bereit für eine eventuelle Fahndung. Sie hören wieder von uns«, lautete das Kommando des Telefonpostens. Völz bestätigte mit einem strammen »Jawohl«, legte auf und wählte die Nummer seines Chefs, Oberkommissar Alois Benner, der sich um diese Zeit erwartungsgemäß zu Hause bei seiner siebenköpfigen Familie befand.
»Schüsse am Hartl-Hof in Öd am Wald, offenbar zwei schwer Verletzte. Fallberger Kollegen schon am Tatort. Ganze Mannschaft soll hier anrücken und auf weitere Befehle warten«, berichtete Völz, diensteifrig und korrekt wie immer. Wenig erpicht auf einen Einsatz an seinem ersten freien Abend seit zwei Wochen war der pummelige Benner. »Wo um Himmels willen liegt Öd am Wald? Ist das überhaupt noch unser Bereich?« »Ich müsste erst nachschauen. Denke aber, es gehört zur Gemeinde Rammbach. Und da gibt’s keine Polizei.« »Schön. Ich bin gleich da. Trommle den Rest der Mannschaft zusammen!«, gab sich Benner geschlagen.
Zur gleichen Zeit kontaktierte der Telefonposten in Landshut den Bereitschaftsleiter der Kripo und las ihm seine Notizen vor. Der Bereitschaftsleiter stellte fest, dass irgendjemand das Oberkommando übernehmen müsse. Das Bestreben, seinen Vorgesetzten zu erreichen, scheiterte. Um zu ergründen, ob überhaupt Eile geboten sei, wurde versucht, eine Verbindung zu den Fallberger Polizisten herzustellen. Die hatten zwar Funk in ihrem Auto, doch bekanntermaßen stand dieses jetzt – um 19.25 Uhr – nach einer Panne einsam am Straßenrand. So konnte also nicht festgestellt werden, ob Verstärkung am Tatort nötig sei. »Sie werden wohl schon eifrig die Spuren sichern«, bemerkte der Telefonposten, was mit einem Aufatmen des Bereitschaftsleiters quittiert wurde.
Alois Benner als Chef der Landpolizeistation Steinbach betrat sein muffiges Dienstzimmer kurz nach 19.30 Uhr und schlüpfte dort erst einmal in seine zu eng gewordene Uniformjacke, bevor er den fünf angetretenen Untergebenen gegenübertrat. Diese hielten es mit der Kleiderordnung nicht ganz so genau, sahen aber zumindest halbwegs wie Polizisten aus. Zwei rochen nach Bier, drei trugen Stoppelbärte zur Schau, einer war total verschwitzt und ungekämmt, alle hatten irgendwelche Knöpfe offen, und alle – außer Völz – konnten ein leises Murren nicht unterdrücken.
»Leute, wenn ihr glaubt, ich weiß mehr als ihr, muss ich euch enttäuschen. Uns wurde aus Landshut mitgeteilt, hier die Stellung zu halten und auf weitere Befehle zu achten.«
»Eben ist ein Sanka durch den Ort gedonnert«, schaltete sich Völz ein. »Sollten wir nicht gleich ins Krankenhaus fahren und mit den Verletzten reden?« Benner winkte ab. »Man braucht uns vielleicht zur Verfolgung des Täters.« Ein kurzes Kichern bescherte dem Oberkommissar einen hochroten Kopf, und er beschloss, selbst initiativ zu werden – sprich, die Kripo zu befragen, was denn nun Sache sei. Doch in Landshut bekam er zuerst die Vermittlung an die Strippe. Von ihr ging’s nach dem Buchbinder-Wanninger-Prinzip reihum durch alle besetzten und nicht besetzten Abteilungen, bis sich der Bereitschaftsleiter meldete. »Gedulden Sie sich! Wir rufen sofort zurück, wenn es etwas Neues gibt«, raunzte er Benner genervt an. Dieser konstatierte, dass sich Eigeninitiative doch nicht lohne und erlaubte seinen Leuten, sich mit Kartenspielen die Zeit zu vertreiben.
Um 19.44 Uhr erreichte die Kripo-Bereitschaft endlich telefonisch den Oberstaatsanwalt. Dieser ordnete an, keine weiteren Polizisten an den Tatort zu schicken, bevor nicht der erste Lagebericht vorliege und man wisse, ob sich der Aufwand überhaupt lohne. Immerhin sehe es so aus, als habe sich der Täter unbehelligt im Schutze der Nacht entfernen können. »Vielleicht gibt es ja schon einen Verdächtigen. Wo wurden die Verletzten hingebracht?«, erkundigte sich der Oberstaatsanwalt bei seinem Bereitschaftsmann. Die Antwort »keine Ahnung« veranlasste ihn, selbst bei der Wache in Steinbach anzurufen. Alois Benner erklärte, es käme nur das örtliche Krankenhaus in Frage. Die Klinik der Kreisstadt läge zwar auch nicht weit entfernt, doch sei der Sanka nachweislich von Steinbach aus gestartet. »Gut«, sagte der Oberstaatsanwalt, wieder ganz die Ruhe selbst. »Dann schicken Sie zwei Mann ins Krankenhaus. Die sollen versuchen, sofort mit den Verletzten zu sprechen.«
Als Freiwilliger für diese Aufgabe meldete sich Johann Völz, dessen Augen förmlich leuchteten, denn dies war sein erstes Kapitalverbrechen. »Ich werde mit ihm gehen«, sagte Josef Pommereder, ein 33-jähriger Hauptwachtmeister, der sonst nicht gerade durch Diensteifer glänzte. Er war am längsten von allen Kollegen in Steinbach tätig, hatte hier schon vor dem Krieg seine Ausbildung absolviert und sich als Dorfsheriff hervorgetan. Anschließend trat er in die Dienste der SS, der Gestapo und der Partei. Erst später, als Gehilfe der amerikanischen Militärpolizei, zeigte er sich als wahrer Sohn dieser Gemeinde, indem er so manche Gaunerei und manchen Schwarzhandel durchgehen ließ.
Der kumpelhafte Umgangston in der Wache, die lockere Art, den Dienst abzuleisten und dabei immer einen beschäftigten Eindruck zu machen, hatten Pommereder allmählich abgestumpft. Er hielt sich zwar weiterhin sportlich fit und absolvierte die Pflicht-Schießübungen, aber den Dienst sah er nur als notwendiges Übel, seine Spielleidenschaft finanzieren zu können. Daneben organisierte er »Warengeschäfte«, wie er es nannte. Und wenn Zeit blieb, hing er in Wirtshäusern herum. Als strammer, blonder und blauäugiger Junggeselle war er auf Weiber aus. Aber da war keine, die länger als ein paar Wochen bei ihm geblieben wäre, weil er zu Gewalttätigkeiten neigte.
Völz mochte Pommereder nicht. In den ersten Wochen als Polizist war er von ihm immerzu gehänselt und schikaniert worden, bis Benner, der als liberal galt, dagegen einschritt. Wenn möglich gingen sich Völz und Pommereder im Schichtdienst aus dem Weg. Heute führte sie das Schicksal wieder zusammen. Wortlos stiegen sie auf ihre Dienstfahrräder und traten in die Pedale, ebenso wortlos trabten sie nebeneinander her über die Eingangstreppe ins Krankenhaus und erkundigten sich am Empfang, ob denn die Verletzten schon eingetroffen seien. »Nein. Warten Sie bitte in der Ambulanz«, teilte die Schwester mit.
An der Auffahrt für den Sanka bequemten sie sich auf eine Bank. Der Wind hatte wieder aufgefrischt. Schneeflocken mischten sich unter den Regen. Völz begann zu frösteln, was nicht verwunderte, war er doch seit Stunden in der Bullenhitze der Wachstube gesessen. Pommereder hielt ihm ein Päckchen amerikanischer Zigaretten entgegen. »Nein danke.« Er steckte sich selbst eine an und blies den Rauch genussvoll in den Abendhimmel. Im Schein einer Karbidlampe warteten zwei Ärzte und eine Schwester. Im Operationsraum war alles vorbereitet.
»Vielleicht sind sie schon tot«, bemerkte Völz, weil ihm das Schweigen seines Kollegen allmählich unangenehm wurde. Dieser zuckte nur mit den Schultern. Dann, weitere zwei quälende Minuten später, hörten sie das Martinshorn. Als der Sanka über die Rampe stach und zielgenau neben der großen Eingangstür hielt, stand fest: Sie lebten noch. Zeitgleich sprangen die Polizisten auf, drängten sich vor die Heckklappe des Kombis, wo sie von einer opulenten, nicht mehr ganz jungen Krankenschwester rüde weggeschoben wurden. Schon bombardierten die Sanitäter den Chirurgen mit einigen Fachtermini, und dieser antwortete aus Sicht von Völz und Pommereder ebenso unverständlich. Dem Tonfall der Mediziner nach zu schließen, stand es äußerst kritisch um die Patienten. Die beiden auf Rollen befestigten Tragen schossen förmlich aus dem Fahrzeug.
Im Laufschritt hasteten die Polizisten hinterher, doch kein Blick auf die Hartls war ihnen vergönnt, geschweige denn ein Wort mit ihnen. Vor einer Tür mit der Aufschrift »Notaufnahme« endete die Hatz. Ärzte, Pfleger, Sanitäter und Schwestern verschwanden hinter ihr. »Wir geben Ihnen gleich Bescheid«, sagte jemand. Wieder nahmen die Uniformierten Platz und stellten fest, wie dehnbar der Begriff »gleich« ist. Geschlagene 15 Minuten dauerte es, bis sich die Tür öffnete. Doktor Oswin Stockinger, der Notarzt, welcher inzwischen zurückgekehrt war, berichtete mit leichenblasser Miene: »Fürchte, die Frau bringen wir nicht durch. Und um den Mann steht es auch ganz schlecht.« »Ist er vernehmungsfähig?«, wollte Pommereder wissen. Der Arzt schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Hat viel Blut verloren, bekommt gerade eine Transfusion. Wenn wir ihn einigermaßen stabilisiert haben, können Sie mit ihm reden.« »Wie lange wird das dauern?« »Eine Stunde, vielleicht auch zwei.« Also zündete sich Pommereder die nächste Zigarette an. Es sollte nicht seine Letzte an diesem Abend sein.
Die Notoperation an Kathi Hartl begann um 20.10 Uhr. Am Ende erkannten die Mediziner, dass all ihre Kunst vergebens war. Die Kugel hatte im Unterleib der Frau schwere Verletzungen hinterlassen. Dünndarm, Magen und eine Hauptschlagader waren betroffen. Zudem hatte sie etwa zwei Liter Blut verloren, und nicht alle Wunden konnten geschlossen werden. Nach der Operation erlangte die 37-Jährige gegen 22 Uhr noch einmal kurz das Bewusstsein, war aber nicht mehr ansprechbar. Der Krankenhausgeistliche fand Gelegenheit, ihr die Sterbesakramente zu erteilen.