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Viele träumten schon den großen Traum vom Fliegen. So auch die Brüder Quimby aus Texas, die in Paris das Luftschiff Ikarus bauen lassen. Von Frankreich aus begibt es sich auf seine Jungfernfahrt nach New York. Mit an Bord befinden sich auch der Abenteurer Phileas Fogg, seine Frau Aouda und ihr gemeinsamer Diener Passepartout. Zunächst sieht alles nach einer reibungslosen Fahrt aus, doch schon bald werfen entsetzliche Ereignisse ihre Schatten voraus. An Bord ist offensichtlich nicht jeder, der er vorgibt zu sein. Die Geschehnisse beginnnen zu eskalieren, als eine Leiche gefunden wird, in deren Besitz sich eine geheimnisvolle schwarze Perle befand. Diese ist seitdem spurlos verchwunden. Noch während sich Phileas Fogg in die Ermittlungen einschaltet, ertönt aus dem Maschinenraum ein Alarmschrei. Die Ikarus treibt kurz darauf manövrierunfähig einem ungewissen Schicksal entgegen. Und für die Passagiere an Bord beginnt der Kampf um das nackte Überleben.
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Seitenzahl: 150
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In dieser Reihe bisher erschienen:
4901 Die schwarze Perle des Verderbens
4902 Verschollen unter dem Meer
4903 Die vergessene Kolonie
4904 Die Söhne des Abgrunds
4905 Weiße Hölle – schwarzes Gold
4906 Gefahr für Eden 2
JULES VERNE – DIE NEUEN ABENTEUER DES PHILEAS FOGG
BUCH EINS
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Personenregister
© 2024 Blitz Verlag & martim eBooks
Ein Unternehmen der SilberScore Beteiligungs GmbH
Mühlsteig 10 • A-6633 Biberwier
Redaktion: Danny Winter
Titelbild: ??
Logogestaltung: ??
Alle Rechte vorbehalten
eBook Satz: Gero Reimer
www.BLITZ-Verlag.de
ISBN 978-3-689-84096-9
4901 vom 22.07.2024
Phileas Fogg starrte auf den kleinen Gegenstand in seiner rechten Handfläche, während die Welt um ihn herum aufhörte zu existieren.
Zumindest für eine gewisse Zeitspanne.
Wer war Fogg? War er noch der Abenteurer und Weltenbummler, der es vollbracht hatte, in achtzig Tagen um die Welt zu reisen?
Nein. In diesem Augenblick, in dem er an einem der Fenster des vornehmen Londoner Reform Clubs stand, um das Ding in seiner Hand zu begutachten, wurde er auf das reduziert, was er einmal war. Und was noch immer in ihm steckte. Irgendwo, in den dunkelsten Tiefen seiner Seele verborgen.
Er nahm keine Eindrücke mehr wahr, keine Bilder und keine Geräusche. Fogg war woanders. Seine Gedanken hatten sich verselbständigt und auf eine Reise begeben.
Ein Ort im Norden der Insel. Weit oben. Abgelegen.
Eine Stelle, an der das Schicksal entschieden hatte, zuzuschlagen.
Und es hatte die Foggs unvorbereitet und mit voller Wucht getroffen.
Sieben Minuten früher.
Ein livrierter Butler bahnte sich mit einem silbernen Tablett einen Weg durch die Clubräume. Sein Gang war federnd, beinahe tänzelnd, aber doch stets von jener unauffällig vornehmen Art, wie sie eben nur englischen Dienstboten zu Eigen ist.
Albert, so der Name des Mannes mit der hohen Stirn und dem durchgedrückten Kreuz, blieb vor einem der Clubsessel stehen, in dem sich dem ersten Blick nach zu urteilen eine ausgebreitete Zeitung befand, die von gepflegten Fingern gehalten wurde.
Da es in diesem speziellen Lesezimmer so etwas wie reservierte Sitzplätze nicht gab, gehörte es zu Alberts Fertigkeiten, die Clubmitglieder anhand ihrer Finger zu erkennen und auf die Art und Weise, wie sie ihre Zeitung hielten.
Der Dienstbote räusperte sich dezent.
„Mister Fogg, Sir?“
Der Angesprochene knickte die obere rechte Ecke seiner Lektüre um, eine australische Gazette mit gestrigem Datum.
„Albert, was gibt es?“, flüsterte der Zeitungsleser zurück.
„Dies wurde soeben für Sie abgegeben, Sir“, flüsterte der Mann in Livree, während er sich zu dem Herrn im Sessel herunterbeugte.
Fogg warf einen Blick auf das schlichte, weiße Briefkuvert, das sich auf dem Tablett befand.
„Was ist das?“, fragte Fogg.
„Nun, ich würde sagen, ein Briefkuvert, Sir.“
„Das sehe ich. Gut, ich ziehe die Frage zurück. Bitte lassen Sie den Brief hier, ich werde ihn später lesen. Oder wartet der Bote etwa draußen auf eine Antwort?“
„Nein, Sir.“
Fogg nickte dem Angestellten zu. „Legen Sie ihn nur hierher, Albert. Besten Dank.“
Der Butler legte den Brief auf das kleine Tischchen, unter das Fogg seine mit Lackschuhen versehenen Füße gestellt hatte. Albert deutete eine Verbeugung an und entfernte sich genauso unauffällig, wie er gekommen war.
Phileas Fogg las weiter in seiner Zeitung, stellte jedoch schnell fest, dass er sich nicht so recht auf den zu langatmig geratenen Artikel über das Leben in den Outbacks von Australien konzentrieren konnte.
Er legte die Gazette beiseite, stützte seine Ellenbogen auf den Lehnen des Sessels ab und legte die Finger beider Hände sorgfältig gegeneinander. Sein Blick fixierte das weiße Kuvert, auf dem offenkundig sowohl die Daten des Empfängers als auch die des Absenders fehlten.
Mehrere Minuten vergingen, bis Fogg sich vorbeugte und den Umschlag mit einer eleganten Handbewegung vom Tisch griff. Ein für genau solche Fälle bereitliegender Brieföffner sorgte für einen fein säuberlich geschnittenen Schlitz.
Bereits beim Aufnehmen des Kuverts hatte sich Fogg über das ungleich verteilte Gewicht darin gewundert. Es hatte ihm niemand einen Brief geschrieben, sondern lediglich eine kurze Notiz beigefügt. Der hauptsächliche Inhalt des Kuverts war die Hälfte einer Münze. Es handelte sich um eine Sonderprägung, die auf der Vorderseite eine eingravierte Inschrift besaß, während auf der Rückseite die Hälfte eines Raubvogels abgebildet war – ein stattlicher Falke mit majestätischem Blick und scharfem Schnabel.
Foggs Blick fiel auf die sauber durchtrennte Münze, und danach war nichts mehr wie es war.
Ein imaginärer Blitz durchzuckte ihn und spaltete die Realität um ihn herum. Bilder tauchten aus dem Nichts vor seinem geistigen Auge auf. Bizarre Szenen wechselten einander ab, ohne dass es Fogg gelang, auch nur eine von ihnen festzuhalten, um sie näher zu betrachten. Dazu erfüllte ein unheimliches Rauschen seinen Kopf. Wie ein Sturm, der in seinem Innern heraufzog, ohne jegliche Vorwarnung.
Immer schneller wechselten die phantastischen Bildfetzen, bis er spürte, dass ihm schwindlig wurde. Er musste aus dieser aberwitzigen Irrfahrt aussteigen.
Jetzt!
Fogg wandte den Blick von der Münze, schloss seine Finger fest darum und spannte seinen Körper. Für einen Moment schloss er seine Augen in höchster Konzentration.
Die Bilder verblassten nach und nach, und auch das tosende Rauschen verschwand.
Für die Dauer von mehreren Sekunden war Phileas Fogg unfähig, zu sprechen oder sich zu bewegen. Er war von etwas überrollt worden, von dem er keine Ahnung hatte, was es war.
Nur eines stand bereits jetzt für ihn fest: Es war von immenser Wichtigkeit. In erster Linie für ihn, mit ziemlicher Sicherheit aber auch für jene, die ihm nahe standen.
„Albert!“, rief Fogg, ohne sich von der Stelle zu rühren.
Er erntete eine Mixtur aus Geraschel von Zeitungen und bösen Blicken, die ihm die ehrwürdigen alten Herren aus ihren Sesseln heraus zuwarfen.
„Albert!“, wiederholte Fogg und setzte endlich wieder einen Fuß vor den anderen, als müsse er das Gehen erst wieder erlernen.
Der Butler kam ihm dienstbeflissen entgegengeeilt.
Fogg fing ihn an der Tür zur Eingangshalle ab.
„Sir?“
„Wer hat Ihnen das gegeben, Albert? Bitte antworten Sie schnell, es ist dringend.“
Der Livrierte hob fragend die Augenbrauen, als er antwortete. „Ein Gentleman brachte den Brief vor ein paar Minuten persönlich vorbei. Er verlangte ausdrücklich, dass ich ihn Mister Phileas Fogg und niemand anderem übergeben solle.“ Albert räusperte sich dezent und fügte hinzu: „Er gab mir im Übrigen ein reichliches Trinkgeld dafür. Eine Fünfpfundnote.“
„Ein Gentleman?“, wiederholte Fogg. „Hat er seinen Namen genannt?“
„Bedaure, Sir“, erklärte Albert, „ich fragte ihn zwar danach, aber er antwortete mir nicht.“
Wilde blickte zur Eingangstür hinüber, hinter der ein Portier in seiner gläsernen Loge saß.
„Wie hat er ausgesehen? Ist ihm irgendetwas an ihm aufgefallen?“
Alber zögerte einen Moment. Er hob den Kopf und blickte ziellos gegen die Decke, vermutlich um sich das Bild des Mannes in Erinnerung zu rufen.
„Er war von normaler Statur. Vielleicht ein kleines Stück kleiner als Sie, Sir. Er trug einen tadellosen grauen Anzug und einen Zylinder. Er hatte buschige, graue Koteletten, Sir. Und ebensolche Augenbrauen. Ich schätze sein Alter auf etwa sechzig Jahre, Sir.“
Fogg ging in Gedanken die Personen durch, die er in seinem Leben bisher kennengelernt hatte und die diesem Erscheinungsbild annähernd entsprachen. Er kam zu zwei bis drei Ergebnissen, die er allerdings sofort wieder verwarf.
Er ließ Albert stehen und eilte über den roten Läufer bis zur Eingangstür, die er im nächsten Augenblick aufriss.
In seiner Abendgarderobe trat er auf die Straße, die um diese Zeit noch mäßig belebt war. Es war ein dunkler Dezemberabend, nur wenige Tage vor Weihnachten.
Der Schnee fiel in dicken Flocken und verschleierte die Sicht. Die meisten Passanten hatten es eilig, zu ihrem Bestimmungsort zu gelangen.
Wer auch immer der geheimnisvolle Besucher gewesen war, er hatte es vorgezogen, zu verschwinden.
Fogg kehrte in den Reform Club zurück und klopfte sich den Schnee von den Schultern.
Nachdenklich kehrte er zu seinem Platz im Lesesaal zurück, um das Kuvert an sich zu nehmen. Die halbe Münze hingegen verwahrte er in seiner rechten Hosentasche.
Im Saal angekommen stellte Fogg fest, dass sowohl seine Zeitung als auch der Briefumschlag verschwunden waren.
Er hastete erneut in die Halle hinaus und entdeckte Albert am Ende eines Korridors.
Fogg hastete auf ihn zu.
„Stimmt etwas nicht, Sir?“
„Der Briefumschlag“, gab Fogg hastig zurück. „Was ist damit passiert?“
Albert zog ein Bündel Papier unter seinem linken Arm hervor. „Verzeihung, Sir. Ich hatte angenommen, dass Sie Ihre Zeitung ausgelesen haben und wollte sie soeben zum Hausmeister geben.“
„Seit wann liest Mister Groanes Zeitungen?“, fragte Fogg.
„Er verbrennt sie, Sir“, lautete Alberts Antwort.
„Das Kuvert“, fuhr Fogg fort. „Wo … ah, da ist es ja.“
Fogg zog den Briefumschlag zwischen zwei Zeitungen heraus. Um ein Haar hätte er vergessen, dass er beim Herausnehmen der Münze noch einen kleinen Notizzettel entdeckt hatte.
Mit leicht zitternden Fingern öffnete Fogg das Kuvert. Der Zettel war noch da. Er nahm ihn heraus und drehte ihn in der Hand.
Phileas Fogg verengte die Augen leicht zu Schlitzen, um das Geschriebene zu entziffern:
Die Erinnerungen sterben nie.
Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten nahm Phileas Fogg an diesem Abend keine Droschke, die ihn nach Hause brachte.
Er ging zu Fuß. Er hatte das Bedürfnis, für einen Moment noch allein zu sein. Ein Spaziergang in der klirrenden Kälte würde ihm gut tun, dachte er. Doch dem war nicht so.
Foggs Gedanken rasten und schienen sich doch immer nur in einer endlosen Schleife zu bewegen.
Wer war der Mann, der ihm die halbe Münze hatte übergeben lassen? Und was hatte es damit auf sich?
Fogg fand keine Antworten darauf, obwohl er sich sicher war, dass sich die Lösung in greifbarer Nähe vor ihm befand.
Er zog den Kragen seines Mantels fester. Es hatte wieder zu schneien begonnen, und er war auf einen solchen Fußmarsch nicht vorbereitet. Es hatte wieder zu schneien begonnen, als er sein Anwesen in Mayfair, mitten im Londoner Stadtteil City of Westminster erreichte.
Fogg hatte es für sich und seine Frau Aouda gekauft, nachdem sie beide von der legendären Weltreise zurückgekehrt waren. Aouda war eine parsische Prinzessin, die Fogg und sein Diener Passepartout im Dschungel außerhalb von Kalkutta vor einer brahmanischen Sekte und vor dem Scheiterhaufen gerettet hatten. Sie hatte die beiden Männer nach England begleitet und entschieden, bei Phileas Fogg zu bleiben. Längst war aus ihrer anfänglichen Zuneigung eine tiefe Liebe gewachsen, die von Fogg bedingungslos erwidert wurde.
Fogg blieb vor seinem Haus stehen und blies eine Atemwolke in die Luft, die sich gegen den Schein der Straßenlaterne an der Ecke abzeichnete.
Seine Füße schmerzten. Das war immerhin eine Erkenntnis, die ihn von den jüngsten Erlebnissen im Reform Club ablenkten.
Fogg trat über die unversehrte Schneedecke des Vorgartens auf die Haustür zu, über der ein Mistelzweig hing.
Er zog seinen Haustürschlüssel aus der Tasche seines Mantels, klopfte sich den Schnee von den Schultern und öffnete die Tür. In der Halle brannten noch zwei Öllampen, die Aouda für ihn angelassen hatte.
Fogg fand seine Frau schlafend in einem Sessel im Salon. Sie war vollständig angekleidet und hatte offenbar versucht, sich die Zeit des Wartens auf seine Rückkehr mit einem Buch zu vertreiben.
Das Feuer im Kamin war einem dunkelroten Glühen gewichen.
Fogg begab sich zum Holzkorb und legte zwei große Scheite in die ersterbende Glut.
Er breitete eine Wolldecke aus und legte sie seiner Frau behutsam über die Beine.
Für eine Weile stand Fogg in Gedanken versunken da und betrachtete die schlafende Aouda. Sie wirkte so rein und unschuldig.
Und doch konnte sie wie eine Löwin kämpfen, wenn er oder Passepartout in Gefahr waren. Ihre Kraft und Ausdauer hatte sie in dieser Hinsicht schon häufig unter Beweis stellen müssen. Im Grunde häufiger, als es Fogg lieb war.
Für einen Augenblick stand er gedankenverloren da, bis das wohlige Feuer und das gemütliche Knistern im Kamin ihre Wirkung taten.
Fogg schleppte sich, von einer bisher kaum gekannten Trägheit gepackt in das Schlafzimmer im Erdgeschoss, zog die Vorhänge zu und ließ sich, nahezu vollständig angekleidet, auf das Bett sinken.
Er holte die halbe Münze hervor, drehte sie in den Händen und schlief darüber ein.
Der bunte Papierdrachen flatterte im Wind. Der kleine Junge am Boden hielt die Leine fest in seiner Hand. Er wusste, dass all die Mühe vergebens gewesen wäre, wenn er jetzt zuließ, dass die Naturgewalten ihn mit sich rissen.
Der Junge stemmte sich dagegen, zog dann und wann an der Leine, ließ ihr mehr Spiel oder zog den Drachen ein Stück weit zu sich herunter. Er besaß an seinem unteren Ende eine lange Schnur, an die bunte Schleifen aus Papier gebunden waren. Sie raschelten und knisterten, wenn der Wind sie zu fassen bekam.
„Sieh her, Papa“, rief der Junge, „er reicht schon fast bis zur Sonne.“ Ein helles Kinderlachen folgte, während der Junge mit dem Drachen an der Schnur auf seinen Vater zu rannte.
Der Vater stand am Rand der Klippen und winkte seinem Sohn zu. Er hatte seine Mütze in die Hand genommen, damit sie ihm nicht ins Meer geweht wurde.
„Pass nur auf, dass du nicht zu weit raus läufst, Phileas“, ermahnte der Vater, als der kleine Junge an ihm vorbei rannte, den Blick stets nach oben gerichtet. Der Vater hielt seinen Sohn demonstrativ am Kragen seiner Jacke fest und drehte ihn einmal um die eigene Achse.
Phileas lachte laut auf, riss sich los und lief weiter, in die Richtung, aus der er gekommen war.
Sein Blick erfasste seine Mutter, die sich mit einem Korb unter dem Arm und einer großen Decke näherte. Der Saum ihres hellen Kleides flatterte im Wind, und sie hatte Mühe, überhaupt voranzukommen, zumal sie mit der freien Hand ihren Hut auf den blonden Lockenkopf drückte.
Und dann war da plötzlich noch jemand.
Er tauchte wie aus dem Nichts hinter der Frau mit dem Picknickkorb auf. Ein dreizehnjähriger Junge mit glattem, schwarzen Haar, einer Hose mit Trägern, einem blütenweißen Hemd und einer geflochtenen roten Krawatte, die ähnlich wie Phileas‘ Drachenschnur lustig im Wind flatterte.
Woher kam er? Sie alle schienen so vertraut miteinander. Der Junge grinste Phileas zu, während er von einem Bein auf das andere trat. Er schien aufgeregt. Sehr sogar. Etwas lag in der Luft.
Phileas spürte es. Er riss die Augen auf. Auch sein Mund blieb offen stehen, als er das Ding erkannte, das der Junge hinter sich über das Gras zog.
Die Schnur in Phileas‘ Hand spannte sich. Der Drache zog und zerrte, als wolle er die verloren gegangene Aufmerksamkeit seines Besitzers zurückerlangen. Doch der kleine Junge hatte nur Augen für jenen anderen Drachen. Das Gebilde, das der Junge mit den schwarzen Haaren nun hinter sich aufrichtete.
Es bestand zu großen Teilen aus zwei großen Flügeln, allerdings nicht aus einfachem Papier gefertigt, sondern aus einem festeren, pergamentartigem Material. Der Drachen besaß sogar so etwas wie ein Skelett. Es war aus Holzleisten gefertigt, zog sich bis in die Flügelspitzen und endete in einem u-förmigem Gestell unterhalb der Flügelkonstruktion.
Die gewaltigen Seitenteile überragten den Jungen mit der flatternden Krawatte um mindestens eine Kopflänge.
Phileas spürte, wie sein Vater ihn sanft beiseite nahm, um den Weg freizumachen. Den Weg, der hinaus auf die Klippen und geradewegs auf einen fünfzig Meter tiefen Abgrund zuführte.
Phileas wurde erst jetzt klar, was der Junge vorhatte. Er hatte einen Drachen gebaut, ja, aber er würde ihn nicht steigen lassen, so wie die Miniaturausgabe in Phileas‘ Hand. Er würde selbst fliegen, in seiner selbst gebauten Konstruktion.
Phileas suchte den Blick seiner Mutter, doch sie schien ihm auszuweichen. Ein besorgter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht.
Der kleine Junge mit der Drachenschnur in der Hand fühlte sich plötzlich zum Außenseiter degradiert. Das war nicht einmal schlimm, denn er spürte, dass sich im Moment alle Konzentration auf das Vorhaben jenes anderen Jungen richtete. Einen Jungen, den Phileas hätte kennen sollen, doch er hätte schwören können, den anderen noch niemals zuvor im Leben gesehen zu haben.
Die Eltern stritten sich. Nicht lange oder gar laut, das taten sie nie.
Doch Phileas hatte seit jeher ein feines Gespür für Stimmungen und Spannungen, die in der Luft lagen. So wie jetzt.
Seiner Mutter war es nicht recht, dass der andere Junge seinen Versuch wagte.
„Er hat so lange darauf hingearbeitet“, hörte Phileas seinen Vater sagen. „Und all seine vorangegangenen Versuche sind geglückt. Mach dir keine Sorgen, der Junge weiß, was er tut.“
Der Junge.
Wer um alles in der Welt war er? Phileas wusste, dass es nur eine einzige logische Antwort auf diese Frage gab. Aber wenn der andere sein Bruder war, warum konnte er sich dann nicht mehr an ihn erinnern?
Phileas holte seinen Drachen ein und klemmte ihn sich vorsichtig unter den Arm. Als er damit fertig war, hatte auch der große Junge seine Vorbereitungen beendet. Er hatte die Drachenkonstruktion jetzt mit beiden Armen angehoben, und selbst durch das Hemd des Jungen hindurch erkannte Phileas dessen kräftigen Bizepse.
Der Wind hatte gedreht, er wehte jetzt von Land her. Günstige Bedingungen, um sich in die Luft zu schwingen.
Fliegen.
Phileas dachte an dieses eine Wort. Es füllte sein ganzes Denken aus, in diesem einen Moment, als der Junge das Gestell noch weiter nach oben stemmte, es kurz mit den Knien abstützte und dann Anlauf nahm.
Phileas wurde von seinem Vater zu sich heran gezogen. Er stand jetzt zwischen seinen Eltern und sah mit atemlosem Staunen zu, was der andere Junge tat.
„Du schaffst es, Aaron“, rief sein Vater. „Und denk daran: keine Experimente! Wenn dir etwas komisch vorkommt, kehrst du sofort wieder um, hast du mich verstanden?“
„Natürlich, Dad“, rief der Schwarzhaarige. Er besaß einen Namen.
Aaron.
Eine dünne Stimme begann in Phileas‘ Kopf zu wispern. Sie flüsterte ihm den Namen seines Bruders zu. Wieder und wieder.
Der kleine Junge versuchte, sie auszublenden. Er starrte auf den Jungen, wie er Anlauf nahm.
Die ersten Schritte schienen ihm schwerzufallen. Dreck spritzte auf. Doch dann bekam der kräftige Wind die beiden Flügel zu fassen. Er strömte darunter und gab dem Drachengleiter den nötigen Schub.