Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
»Jeder Mensch hat dunkle Gedanken. Wie lauten deine?«
Lisa und Mara sind zwei ungleiche Schwestern. Lisa ist eine erfolgreiche Ärztin, führt eine liebevolle Ehe und hat zwei kleine Kinder. Mara ist Single und lebt von Gelegenheitsjobs, sie nimmt das Leben, wie es kommt. Doch dann fährt Lisa zu einer Tagung, von der sie nicht zurückkehrt. Während die Polizei nur zögernd ermittelt, macht Mara sich selbst auf die Suche. Dabei erfährt sie seltsame Dinge über ihre Schwester, die offenbar einiges vor ihrer Familie verbarg. Und dann wird eine Tote in einem Waldstück gefunden.
Ein spannender, hintergründiger Kriminalroman über zwei Schwestern und die Frage, was wir wirklich voneinander wissen
Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Lisa und Mara sind zwei sehr unterschiedliche Schwestern. Die vierzigjährige Lisa ist eine erfolgreiche, pflichtbewusste Ärztin, sie hat zwei kleine Kinder und ihren Mann Tim, der sie vergöttert. Die jüngere Mara hingegen ist Single und wechselt Jobs und Liebhaber mit schönster Regelmäßigkeit.
Als Lisa am Wochenende zu einer Fachtagung fährt und Tim einen alten Freund besucht, hütet Mara das Haus und die Kinder, Alma und Hektor. Doch am Montagmorgen stellt sich heraus, dass Lisa gar nicht an der Tagung teilgenommen hat und spurlos verschwunden ist. Weil die Polizei nur zögernd ermittelt, machen sich Lisas Familie und Freunde und vor allem Mara auf die Suche. Schon bald stellt Mara fest, dass Lisa viele Geheimnisse hatte – ebenso wie Tim. Und dann findet sie etwas, das alles verändert.
Petra Johann, Jahrgang 1971, ist promovierte Mathematikerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Forschung und in der Softwarebranche, bevor sie ihre wahre Berufung fand: Menschen umbringen – natürlich nur auf dem Papier. Petra Johann ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, mittlerweile lebt sie in Bayern.
Im Aufbau Taschenbuch ist von ihr »Die Frau vom Strand« und im Verlag Rütten & Loening der Spannungsroman »Der Buchhändler« lieferbar.
Einmal im Monat informieren wir Sie über
die besten Neuerscheinungen aus unserem vielfältigen ProgrammLesungen und Veranstaltungen rund um unsere BücherNeuigkeiten über unsere AutorenVideos, Lese- und Hörprobenattraktive Gewinnspiele, Aktionen und vieles mehrFolgen Sie uns auf Facebook, um stets aktuelle Informationen über uns und unsere Autoren zu erhalten:
https://www.facebook.com/aufbau.verlag
Registrieren Sie sich jetzt unter:
http://www.aufbau-verlage.de/newsletter
Unter allen Neu-Anmeldungen verlosen wir
jeden Monat ein Novitäten-Buchpaket!
Petra Johann
Die Schwester
Kriminalroman
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
Informationen zum Buch
Newsletter
Prolog
Teil I — Mara
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Teil II
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3 — Mara
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil III — Mara
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Teil IV
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil V
Kapitel 1 — Mara
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4 — Mara
Kapitel 5 — Mara
Kapitel 6
Kapitel 7 — Mara
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Teil VI
Kapitel 1 — Lisa
Kapitel 2 — Lisa
Kapitel 3 — Mara
Kapitel 4 — Mara
Impressum
Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Ich habe schon immer viel gelogen, es macht das Leben einfacher. Es macht Spaß. Außerdem habe ich Talent dazu, und man sagt doch, man solle seine Talente nutzen.
Natürlich habe ich sie immer vorgezogen. Mütter sollten das nicht tun, aber wie sollen wir uns dagegen wehren? Keine Mutter liebt alle ihre Kinder gleichermaßen.
Ich blicke ihr hinterher, wie sie in ihrem Wagen davonfährt, doch ich sehe nichts, nichts als rot, und ich weiß, dass der Punkt erreicht ist, an den ich nie kommen wollte. Ich werde es tun.
Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so empfinden könnte, aber es ist wahr. Ich hasse ihn. Ich hasse ihn, ich hasse ihn, ich hasse ihn.
Heute hat sie mich an der REWE-Kasse wieder abfällig angesehen. Anschließend habe ich sie von draußen durch die Glasscheibe beobachtet und mir meine Rache ausgemalt. Ich habe mir ausgemalt, dass der Bullige mit der Glatze und der Jogginghose sie vergewaltigt. Sie nimmt, wieder und wieder und wieder. Aber vermutlich würde es der Schlampe gefallen.
Am liebsten würde ich mir die Hand abhacken. Wie konnte es dazu kommen? Wie bin ich zu diesem Ungeheuer geworden?
Ich fühle mich wie eine Prostituierte. Ich verkaufe Stücke von mir. Wieso war mir das zuvor nicht klar?
Heute bin ich vor ihm aufgewacht. Die ersten Sonnenstrahlen krochen durch das offene Fenster herein und berührten sein schlafendes Gesicht. Ich bin verrückt nach ihm. Es macht mir Angst. Warum habe ich diese Beziehung mit einer Lüge begonnen?
Wenn ich sie ansehe, wenn ich diese Schlange sehe, die über ihren Nacken zu ihrem Haaransatz hochkriecht, dann will ich ihr die Kleidung vom Leibe reißen und sie ficken, hier auf diesem Parkplatz will ich sie ficken, bis sie um Erlösung winselt. Bis sie zugibt, dass sie mich so sehr will wie ich sie.
Heute war ich froh, dass sie verschwunden ist. Endlich habe ich wieder eine Aufgabe.
Sie hat mich abblitzen lassen, einfach abblitzen lassen. Ich will, dass sie dafür bezahlt.
Ich bin nervös, doch ich habe keine Zweifel mehr. Es ist der einzige Weg hinaus aus der Dunkelheit.
Jeder Mensch hat dunkle Gedanken. Wie lauten deine?
Mara
Ich grüble nie – zumindest habe ich das früher nie getan. Was passiert ist, ist passiert. Über verschüttete Milch zu weinen lohnt sich nicht. Warum sich über die Vergangenheit den Kopf zerbrechen? Früher habe ich auch nie etwas hinterfragt. Schon aus Selbstschutz, weil ich nicht wollte, dass andere mich hinterfragen. Doch seit sie sie gefunden haben, tue ich genau das, ich grüble und hinterfrage alles, bis nichts mehr zusammenhält, bis mein Wissen über Lisa in tausend Stücke zerbröselt und ich vor lauter Staub nichts mehr sehen kann. Ich hasse das. Ich wünsche mir mein altes Leben zurück. Doch das hat irgendwann an dem Wochenende geendet, an dem ich auf Alma und Hektor aufgepasst habe.
Mein Handy klingelt zum ersten Mal, als ich mich gerade in Dessous auf der Motorhaube eines wunderschönen roten Mercedes 300SL Roadster von 1957 räkele. Die Challenge kam von Harv007, und ich habe sofort zugeschlagen. Das heißt, sofort, nachdem ich den Preis in die Höhe getrieben hatte. Mich hat nicht nur das Auto gereizt, mit dem ich eine Vergangenheit habe, sondern die Herausforderung. Ich weiß nur von zwei Mercedes 300SL Roadster. Der eine befindet sich in einer gut gesicherten Privatgarage, der andere steht in der Gesellschaft erlauchter Kollegen in einem Museum. Zwar ist es keins von denen mit Überwachungskameras in jeder Ecke und Berührungssensoren an jedem Ausstellungsstück – Oldtimer kann man schlecht in der Handtasche verstauen –, dennoch gibt es auch hier Sicherheitsmaßnahmen. In jedem Saal ist eine Aufsicht postiert und achtet darauf, dass die Besucher nicht über die putzigen, durchhängenden Absperrkordeln hinwegsteigen und mit ihren fettigen Fingern die auf Hochglanz polierten Wagen betatschen. Frodo und ich haben uns daher Ocean-Eleven-mäßig verschiedene Möglichkeiten überlegt, wie wir die Aufsicht in Saal C ablenken können, und schließlich haben wir uns für die Stürzende-Oma-Variante entschieden und Gesche mitgebracht.
Frodo und ich leben schon ewig zusammen in einer WG, und als die Inflation begann, unser Geld schneller zu fressen, als wir es verdienen konnten, haben wir Gesche aufgenommen. Ein Glücksgriff. Gesche ist lustig und verträglich, kennt mehr Trinkspiele als ich und weiß, wo man den besten Wein für wenig Geld bekommt. Doch vor allem ist Gesche Schauspielerin, und zwar eine verdammt gute, auch wenn sie meistens arbeitslos ist. Sie ist so alt wie ich, zweiunddreißig, doch es war für sie ein Leichtes, sich als gebrechliche Omi zurechtzumachen, mit einem fingierten Sturz die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl der Saal-C-Aufsicht zu wecken und dann den jungen Mann zu überreden, sie zum Café in Saal E zu begleiten. (»Auf den Schrecken hin muss ich mich setzen, und ich benötige ein Glas Wasser. Darf ich mich auf Sie stützen?«)
Kaum sind die beiden weg, legen Frodo und ich los. Ich schlüpfe aus meinem Sommerkleid und werfe es über die nächste Absperrkordel, klettere auf den Roadster und posiere, was das Zeug hält, während Frodo seine Kamera zückt. Als mein Handy klingelt, ignoriere ich es.
»Wie wär’s mit ein paar Aufnahmen hinterm Steuer?«, schlägt Frodo vor, während er gleichzeitig mich und den Durchgang zum Nachbarsaal im Auge behält.
Ich rutsche von der Motorhaube, öffne die Fahrertür und posiere mit zurückgeworfenem Kopf, während Frodo auf den Auslöser drückt. Dann schlüpfe ich hinters Lenkrad, hänge jedoch meine nackten Beine über die Fahrertür, damit auch etwas von mir zu sehen ist. Dabei winke ich den wenigen anderen Museumsbesuchern zu, die an diesem heißen Freitagmorgen im Juli hier sind und mir teils begeistert, teils konsterniert zusehen. Aber natürlich gehen alle davon aus, dass wir eine offizielle Genehmigung für unser kleines Fotoshooting haben. Dreistigkeit siegt. Immer.
Ich überlege gerade, welche Pose ich einnehmen könnte, um mein Schlangentattoo besser zur Geltung zu bringen, da zischt Frodo: »Er kommt zurück.«
Kein Problem, wir haben genug Material, also hüpfe ich wieder aus dem Roadster und schnappe mir mein Kleid. Als der Museumsmitarbeiter in seiner smaragdgrünen Uniform im Saaleingang erscheint, stehe ich bereits andächtig vor einem Borgward Hansa 1500, während Frodo einen Aston Martin DB4 fotografiert. Wie um seine kurze Abwesenheit wettzumachen, marschiert der Museumsmann einmal quer durch den Saal. Als er an mir vorbeigeht, lächle ich ihn verschwörerisch an, woraufhin er erst einen verwirrten Blick auf meine Haare, dann einen begeisterten auf meine Beine wirft.
In dem Moment klingelt mein Handy erneut. Ich sehe aufs Display. Es ist meine Schwester Lisa. Während der Museumsmann weitergeht und Frodo seine Kamera einpackt, nehme ich den Anruf an.
»Mara, wie gut, dass ich dich erwische, ich habe es schon einmal probiert. Kannst du mir einen Riesengefallen tun?«
Einige Stunden später befestige ich meine Hecktasche an der Gepäckplatte meiner Triumph Tiger, setze meinen Motorradhelm auf, drehe den Schlüssel im Zündschloss und kann mir einen entzückten Seufzer nicht verkneifen, als die Maschine losschnurrt. Ich besitze sie erst seit drei Wochen. Natürlich habe ich sie gebraucht gekauft, doch sie klingt und sieht aus wie neu. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so verliebt war. Vermutlich nie.
Ich bin unterwegs nach Neustadt, wo ich aufgewachsen bin und wo meine Schwester mit ihrer Familie noch immer wohnt. Lisa hat mich gebeten, übers Wochenende auf meine Nichte Alma und meinen Neffen Hektor aufzupassen, weil sie an einer Fachtagung für Onkologie teilnimmt und ihr Mann Tim einen Termin in Hamburg hat.
Die spontane Bitte kam überraschend. Lisa und Tim sind eines dieser Powerpaare, deren Leben bis ins Kleinste durchorganisiert ist, weil sie ansonsten zwischen Arbeit, Kindern, Haushalt und gesellschaftlichen Verpflichtungen untergehen würden. Die Wochenenden der Familie Bader-Menzel sind normalerweise Monate im Voraus verplant, inklusive Babysitter und Ersatzbabysitter. Doch natürlich habe ich zugesagt. Lisa ist die beste Schwester der Welt, und Tim als Schwager ist auch nicht übel.
Es ist schon nach acht, als meine Tigerin die ruhige Wohnstraße entlangschnurrt, in der Lisa und Tim mit ihren Kindern, Multikrise und Weltlage zum Trotz, noch immer an ihrem bildungsbürgerlichen Heile-Biowelt-Traum festhalten. Es ist eine der besten Wohngegenden von Neustadt mit individuellen Einfamilienhäusern auf großen Grundstücken mit Doppelgaragen und Klettergerüsten für den Nachwuchs, der üblicherweise ebenfalls im Doppelpack daherkommt. Ich passe so gut hierher wie eine Currywurst in ein veganes Fünf-Sterne-Menü, aber das stört mich nicht. Ich bin gern der Stachel im Fleisch des Establishments. Die Gesellschaft hat mich lange genug damit gequält, dass ich bitte ihren Normen entsprechen möge, ich gebe gern etwas von der Irritation zurück.
Als ich vor dem Drosselweg zwölf den Motor abstelle und meinen Helm abnehme, öffnet sich auch schon die Haustür, doch nicht Lisa tritt hindurch, sondern Tim. Wie immer zieht er dabei den Kopf ein – bei ein Meter achtundneunzig Körpergröße vermutlich keine verkehrte Angewohnheit –, und wie meistens trägt er eine karierte Küchenschürze über seinen Chinos und dem weißen Hemd. Er sieht irritiert auf meine neue Haarfarbe, dann sagt er: »Mara, danke fürs Kommen, du bist eine Lebensretterin.«
Er lächelt mich an, ich lächle zurück. Wir haben einander gern, neigen aber beide nicht dazu, uns um jeden Hals in Reichweite zu wickeln.
Tims Blick fällt auf die Tigerin. »Wow. Neu? Hast du eine Bank ausgeraubt?«
»Sie gehört einem Freund, der sie übers Wochenende nicht braucht. Ich dachte, ich mache mit den Kindern eine Spritztour.« Ich warte, bis Tims Gesicht sich zu einer entsetzten Grimasse verzieht. »Entspann dich, nur ein Scherz. Wo sind die zwei? Bereits im Bett?«
Normalerweise hüpfen Alma und Hektor immer schon vor dem Haus herum, wenn ich angekündigt bin. Sie lieben mich heiß und innig – was allerdings auch daran liegen kann, dass Lisa nur mich und Tim gar keine Geschwister hat. So bekomme ich die geballte Tanten-und-Onkel-Liebe ihrer Kinder ab.
»Ja, aber sie sind noch wach. Ich habe ihnen versprochen, dass du ihnen eine Geschichte vorliest. Ich warne dich, Hektor wird vermutlich drei Wiederholungen von Der kleine dicke Traktor verlangen.«
»Nur gut, dass ich alles liebe, was PS hat. Und Lisa?«
»Noch im Krankenhaus. Wo sonst?«
Lisa ist Oberärztin am Neustädter Klinikum, was bedeutet, dass sie im Gegensatz zu mir zwar nie Geldprobleme hat, andererseits aber einen Berg an Überstunden, neben dem sich der Mount Everest wie ein Pickel ausnimmt.
Ich greife zu meiner Tasche und folge Tim ins Haus, wo ich meine Lederjacke an einen Garderobenhaken hänge. Als ich das Tapsen nackter Kinderfüße die Holztreppe vom ersten Stock herunterkommen höre, drehe ich mich um, und schon fliegt mir von der vierten Stufe ein froschgrünes Bündel geballter Energie entgegen. Ich fange Hektor auf, zum Dank schlingt er seine Arme um meinen Hals und beginnt mich zu würgen. »Tami!« Seine Form von Tante Mara. Er ist zweieinhalb und sein Wortschatz begrenzt.
»Hallo, Klammermonster!«
Ich drücke ihn fest und ziehe Alma mit meinem freien Arm an mich. »Hallo, Tänzerin!« Tanzen ist Almas Lieblingsbeschäftigung, genau wie meine, aber da endet die Ähnlichkeit. Alma ist eins dieser Mädchen, die man kaum sieht und hört, die jedoch umso mehr wahrnehmen. Sie neigt dazu, mit großen Augen still die Welt zu bestaunen und niemandem zu verraten, was dabei in ihrem kleinen Kopf vorgeht.
Alma schmiegt sich an mich, dann blickt sie zu mir hoch. »Deine Haare sind blau.«
»Ich weiß.«
»Warum?«
»Weil mir jemand tausend Euro dafür bezahlt hat, dass ich sie so färbe.«
»Das glaube ich nicht.«
So geht es mir oft, wenn ich die Wahrheit sage. »Es stimmt.«
»Und wer war das?«
»Niemand, den du kennst.« Und niemand, den ich persönlich kenne. Das Einzige, was ich von ihm weiß, ist sein Username auf OnlyFans: TrueBlue. »Ich habe gehört, oben wartet eine Geschichte auf mich?«
Eine halbe Stunde später, nach drei Runden mit dem kleinen dicken Traktor und einer Begutachtung der Schätze, die Alma in den zwei Monaten seit meinem letzten Besuch gesammelt hat – zwei Tankquittungen, ein Einkaufszettel, eine Postkarte und einige Seiten aus einem Manuskript, das Tim lektoriert hat; Alma hat einen Papierspleen –, gehe ich die Treppe wieder hinunter.
Tim steht an der Arbeitsplatte in der Küche und hält mir ein Glas Rotwein entgegen. »Noch einmal danke fürs Kommen.«
Wir stoßen an. Der Wein ist exzellent.
»Hast du auch Hunger? Hast du schon zu Abend gegessen?«
»Nur eine Tüte Chips.«
Tim runzelt missbilligend die Stirn. »Ich bereite gerade etwas für Lisa vor, soll ich dir auch etwas machen?«
Ich nicke prompt. Nicht nur, weil ich Hunger habe und Tim ein begnadeter Hobbykoch ist, sondern weil ich es liebe, bekocht und bemuttert zu werden. Deshalb bin ich ein so hervorragender Gast. Ich bin keiner von der Sorte, die möglichst wenig Mühe machen will, sondern von der, für die ein Gastgeber sich so richtig reinhängen kann.
Tim legt los, und da ich ihn höchstens behindern würde, verziehe ich mich mit meinem Weinglas auf die Terrasse, schnappe mir einen von Lisas bequemen Korbsesseln und scrolle durch die Nachrichten, die während der Fahrt hierher auf meinem Handy eingegangen sind. Als ich die fünfte lese, höre ich, wie hinter mir die Terrassentür geöffnet wird, dann ertönt die Stimme meiner Schwester.
»Meine Güte, Mara, das glaube ich jetzt nicht. Versprich mir bitte, dass ich nicht dabei sein muss, wenn du das Mutter zeigst.«
Ich drehe mich um. Lisa steht hinter mir, eine Hand vor den Mund geschlagen, im Gesicht einen Ausdruck theatralisch übertriebenen Entsetzens, das nur zur Hälfte gespielt ist.
Ich grinse sie an. »Keine Chance! Ich werde dich als Leibwächterin benötigen. Sie reißt mir sonst den Kopf ab.«
»Oder sie schert ihn kahl.« Lisa berührt vorsichtig meine blauen Haare. Dann drückt sie mich fest. »Hallo, Kleine, schön, dich mal wiederzusehen.«
Ich drücke zurück. »Es ist eine Weile her.«
»Und wessen Schuld ist das?«
»Deine. Du hast mich seit deinem Geburtstag nicht eingeladen.«
»Weil du eine Dauereinladung hast.«
Auch wieder wahr.
Ich mustere meine Schwester. Sie sieht wunderschön aus, wie immer, aber noch müder als sonst. »Wie geht es dir? Anstrengende Woche?«
Lisa verdreht die Augen. »Frag nicht – oder zumindest nicht, bevor ich nicht auch ein Glas Wein intus habe. Ich sehe nur nach den Kindern und hole uns Nachschub.«
Sie verschwindet. Als sie zehn Minuten später wiederkommt, hat sie eine Flasche Rioja unter dem Arm, ein leeres Weinglas in der Hand und ihr Handy am Ohr. »Ja, Peter, ich verspreche es hoch und heilig. Ich werde schweigen wie ein Grab.« Sie stellt Glas und Flasche auf den Tisch. »Ja, wir sehen uns morgen.« Sie beendet das Gespräch und zieht sich einen Korbsessel heran.
»Was verschweigst du wem?«, frage ich neugierig. Peter Stoika ist Lisas bester Freund, sie haben zusammen studiert.
»Peter will nicht, dass sein neuester Schwarm von seiner bewegten Vergangenheit erfährt.«
Ich pruste los. »Wenn Peter nicht halb Neustadt zum Schweigen bringt, dürfte das schwierig werden.«
»Absolut.« Lisa prostet mir zu. »Auf dich. Vielen Dank, dass du es so kurzfristig eingerichtet hast.«
»Jetzt erzähl mal von Tims dringendem Termin. Ich wusste gar nicht, dass Lektoren und Übersetzer spontan am Wochenende Termine reingedrückt bekommen. Muss Tim sich auf die Suche nach irgendeinem längst vergessenen Dialekt machen, den nur noch die Hamburger Hafenarbeiter beherrschen?«
»Es ist nichts Berufliches. Ein Freund von ihm heiratet in zwei Wochen, morgen ist sein Junggesellenabschied.«
»Tim geht zu einem Junggesellenabschied?« Ich bin baff. »Spontan? Was ist passiert? Hat die Braut unerwartet festgestellt, dass sie im achten Monat schwanger ist, und will in letzter Sekunde einen Bastard verhindern?«
Lisa lacht. »Nein, die Sache ist schon länger geplant. Tim hatte eigentlich schon abgesagt, Junggesellenabschiede sind nicht so sein Ding. Aber dann hat der Freund angerufen und gesagt, ohne Tim sei es nicht dasselbe. Na ja, er kennt ihn schon lange.«
Ich verstehe. Nein zu sagen, gehört nicht zu Tims Stärken, schon gar nicht zu Freunden. Allerdings kann ich mir meinen Schwager beim besten Willen nicht auf einer Junggesellenabschiedsparty vorstellen. Tims Vorstellung von einem lustigen Abend beinhaltet eher eine Runde Scrabble auf Französisch oder eine Diskussion über zeitgenössische finnische Literatur.
»Auf jeden Fall sind wir dir wirklich dankbar, dass du auf die Kinder aufpasst. War es kein Problem, im Café freizubekommen?«
Seit ich mit meinem OnlyFans-Profil Geld verdiene, arbeite ich nur noch sporadisch in der Zimtblüte, aber das habe ich Lisa noch nicht erzählt, und ich möchte es auch jetzt nicht tun. Andererseits ist sie der einzige Mensch, den ich nie anlüge. Doch bevor ich mir eine Antwort ausdenken muss, erscheint Tim mit zwei Tellern, die er vor uns abstellt. Er berührt Lisa zart an der Schulter und setzt sich neben sie. Obwohl die beiden seit zehn Jahren verheiratet sind, sucht er immer noch wie ein Frischverliebter ständig ihre Nähe.
Ich inspiziere meinen Teller. Couscoussalat, Antipasti, Käse und Baguette. »Das sieht lecker aus.«
»Immerhin rettest du unser Wochenende.«
Ich verdrehe die Augen. »Okay, ihr zwei, das reicht. Wenn ihr euch noch ein einziges Mal für mein Kommen bedankt, fahre ich zurück nach München. Ich bin gern mit Alma und Hektor zusammen. Liegt für das Wochenende etwas Besonderes an?«
»Nur eine Sache«, sagt Lisa. »Alma ist morgen Nachmittag zum Geburtstag bei ihrer besten Freundin eingeladen. Halb drei, die Adresse steht im Familienplaner.«
»Und vielleicht eins noch.« Tim reibt sich nervös über sein Kinn. »Hektor ist zur Zeit in der Autonomiephase.«
»Was soll das sein?«
»Früher nannte man sie die Trotzphase. Was ich damit sagen will: Er kann zurzeit etwas schwierig sein.«
Als selbstständiger Übersetzer und Lektor legt Tim Wert auf einen präzisen Umgang mit Sprache, daher nehme ich seine Warnung vor Hektors möglichen Trotzanfällen nicht ernst. Etwas schwierig – damit komme ich klar. Meine Mutter behauptet immer, ich sei »das schwierigste Kind, das man sich vorstellen kann« gewesen. Vermutlich hält sie mich noch heute dafür.
Wie erwartet verläuft der Samstagvormittag mit Alma und Hektor entspannt. Nachdem Lisa und Tim losgefahren sind, spiele ich mit den Kindern im Garten. Erst Monsterfangen (ich bin das Monster auf der Suche nach fressbaren Häppchen in Kindergröße), dann Verstecken, dann Rumrollen. Als Hektor gegen eins verkündet, dass er Hunger hat, marschieren wir zu dritt in die Küche, wo mich allerdings eine unliebsame Überraschung erwartet: Es gibt einen Laib Biovollkornbrot, und der Kühlschrank ist voll mit Biogemüse, Biokäse, Biojoghurt, aber offenbar haben Lisa und Tim vergessen vorzukochen – was sie sonst tun, um ihre Kinder davor zu bewahren, aufgrund meiner gastronomischen Unfähigkeit ein lebenslanges Trauma zu erleiden.
»Wer möchte ein Brot?«, frage ich, nachdem ich auch das Gefrierfach überprüft habe, ob es nicht zufällig einige Fertiggerichte enthält.
Alma, brav und genügsam, nickt stumm, Hektor protestiert lautstark.
»Eine Banane?«
»Nein.«
»Einen Joghurt?«
»Nein.«
»Tja, dann könnte es schwierig werden. Was möchtest du denn?«
»Pommes.«
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen und überrascht mich. Lisa und Tim legen Wert auf eine gesunde Ernährung, ich hätte nicht gedacht, dass Hektor weiß, was Pommes sind.
»Pommes gibt’s leider nicht.«
»Pommes!«
»Nein, Hektor, wir haben keine Pommes.«
Im nächsten Moment bricht die Hölle los, und ich erkenne, dass auch Lektoren hin und wieder zu Euphemismen greifen. Hektor hält die Luft an, bis seine Wangen knallrot sind, und kneift die Augen zusammen, bis dicke Tränen daraus hervorquellen.
»Pommes!« Er stampft mit den Füßen auf, dann beginnt er, mit den Fäusten auf einen Küchenstuhl zu trommeln. »POMMES!«
»Hektor, es gibt keine …«
»POMMES! POMMES! POMMES!«, schreit Hektor wie am Spieß.
Ich starre ihn hilflos an, dann sehe ich zu Alma hinüber, die ihren Bruder aus großen dunklen Augen betrachtet. Sie sagt etwas, das im Gebrüll untergeht. Ich sage etwas Beruhigendes, das ebenfalls untergeht. Schließlich lege ich Hektor eine Hand auf den Rücken, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Es gelingt. Hektor vergisst den Stuhl und boxt stattdessen auf mich ein.
»Spinnst du?«, brülle ich nun meinerseits. Ich umschlinge Hektors Arme und Oberkörper, woraufhin er versucht, mich zu treten.
»Hektor!«
»Pommes!«
»Durchatmen.« Diesmal verstehe ich, was Alma sagt. »Das sagt Mama immer.«
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Hektor sich bei Lisa so aufführt, dennoch versuche ich, den Tipp zu beherzigen, atme tief ein und wieder aus und zähle im Kopf bis zwanzig. Dann gebe ich auf.
»Okay, wir holen Pommes.«
Eine Viertelstunde später sind wir unterwegs zum Kiosk am Ausee. Der Aufbruch hat sich verzögert, weil Hektor – wieder ganz Sonnenschein – darauf bestand, mit dem Laufrad zu fahren, und weil wir noch einmal umkehren mussten, um das Geburtstagsgeschenk für Almas Freundin zu holen. Der Ausee liegt in den Neustädter Auen, einem Naherholungsgebiet am Fluss nicht weit von Lisas und Tims Haus entfernt. Natürlich ist es an diesem Hochsommersamstag eine Woche vor Ferienbeginn proppenvoll dort, und die Schlange vor dem Kiosk zieht sich bis zum Spielplatz hin, doch ich habe Glück. Vor uns wartet ein einbeiniger Mann. Er trägt T-Shirt und Shorts, und die Tatsache, dass nur aus einem der beiden kurzen Hosenenden ein Bein hervorschaut, fasziniert Hektor so sehr, dass er vergisst, wegen der Warterei zu quengeln. Auch Alma starrt den Einbeinigen interessiert und schweigend an, so dass ich die Gelegenheit nutze, mich umzusehen und die Aussicht zu genießen – insbesondere die auf einen knackigen Hintern in einer knappen, leuchtendblauen Badehose. Der knackige Hintern geht nach unten über in zwei muskulöse, dunkelbehaarte Beine, nach oben in eine schmale Hüfte, einen muskulösen Rücken und breite Schultern. Mit anderen Worten: das perfekte Y. Das Y geht nicht weit von mir entfernt Richtung Wasserkante, und ich versuche gerade, es per Telepathie dazu zu bewegen, sich umzudrehen, damit ich auch seine Vorderseite bewundern kann, da bemerke ich aus dem Augenwinkel, dass Hektor sich dem Einbeinigen nähert und in die Hocke geht in dem Versuch, von unten einen Blick in das ungefüllte Shortsbein zu werfen. Solange er nur guckt …
Doch in dem Moment streckt Hektor eine kleine Hand aus. Ich reiße mich von Y los und ziehe meinen Neffen aus der Gefahrenzone. Kurz darauf kauft der Einbeinige sich ein Eis, ich kaufe drei Portionen Pommes und zwei Flaschen Apfelschorle und bugsiere das Tablett, Alma und Hektor zu einer der Bierbänke. Kaum steht das Essen vor ihm, konzentriert Hektor sich ausschließlich darauf, bis …
»Nein!«
Der Schrei geht mir durch Mark und Bein. »Was ist denn los?«, frage ich meinen Neffen erschrocken.
»Will Pommes!«
»Das sind Pommes.«
»Nein! Will Pommes! POMMES!«
Innerhalb von drei Sekunden sind wir wieder da, wo wir vor drei Viertelstunden schon einmal waren. Hektor schreit und schluchzt, trommelt mit den Händen auf den Tisch und produziert Tränen so groß wie Tischtennisbälle. Nur, dass das Ganze dieses Mal vor Publikum stattfindet.
»Weißt du, was er hat?«, frage ich Alma verwirrt.
»Ich glaube, er mag kein Ketchup«, flüstert Alma.
Echt jetzt? »Hektor, stimmt das? Magst du dein Ketchup nicht?«
»Pommes!«
»Das sind Pommes. Pass mal auf, wenn dich das Ketchup stört, dann tue ich es weg. Okay?«
Ich greife nach Hektors Teller, doch Hektor schlägt meine Hand weg und jault noch lauter. Ich beiße die Zähne zusammen. Wie war das? Durchatmen und bis zwanzig zählen?
Als ich bei vierzig bin, brüllt Hektor immer noch, und die Missbilligung in den Augen der Umsitzenden ist auf Rekordhoch.
»Kann ich helfen?«
O ja, bitte, denke ich und blicke auf – und im nächsten Moment verschlägt es mir den Atem. Vor mir steht der Typ mit der leuchtendblauen Badehose. Doch es ist nicht die Vorderseite von Y, die mir die Luft raubt, sondern die Tatsache, dass ich Y kenne.
»Oliver.«
Er erkennt mich ebenfalls. »Mara.« Einen Moment lang starren wir einander verblüfft an, bevor Oliver den Blick auf meinen Arm senkt und meine Schlange mustert. »Es ist eine Weile her. Du siehst gut aus. Auffallend.« Das Letzte mit Blick auf meine Haare.
»Das musst du gerade sagen. Wenn du deine Badehose über den Kopf ziehst, können wir als Zwillinge durchgehen.«
Meine Witze sind normalerweise besser, und Oliver muss erst an sich hinuntersehen, bevor er diesen kapiert. Dann: »Wow, du hast dich überhaupt nicht verändert. Es kann dir offenbar immer noch nicht schnell genug gehen, mich aus meinen Klamotten zu bekommen. Soll ich schon mal zu den Umkleidekabinen vorausgehen?«
Er grinst breit, und ich lächle schwach zurück, weil mir keine passende Erwiderung einfällt, zumindest keine, die ich in Almas und Hektors Hörweite aussprechen möchte. Es gab tatsächlich eine Zeit, in der ein Blick auf ihn genügte, dass ich Oliver an die Wäsche wollte. Und wir haben es auch einmal in der Umkleidekabine hier am Ausee getrieben, genauso wie im Mercedes 300SL Roadster seines Großvaters. Allerdings ist das lange her.
Ich mustere Oliver. Er hat sich äußerlich wenig verändert, die Muskeln sind noch ein wenig ausgeprägter, ebenso die Ähnlichkeit mit Harvey Specter, dem supercoolen Anwalt in Suits. Oliver hat sogar seine Haare blondiert und nach hinten gegelt.
»Und wer sind deine charmanten Begleiter?« Oliver guckt von Alma, die aus ihren unergründlichen Augen zu ihm hochsieht, zu Hektor, der sein Gebrüll eingestellt hat und lieb lächelt.
Ich stelle die beiden vor. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, sie als meine Kinder auszugeben, nur um Olivers Gesichtsausdruck zu sehen, doch Alma würde es sofort richtigstellen, die kleine Genauigkeitsfanatikerin.
»Ich passe übers Wochenende auf sie auf, weil meine Schwester auf einer Tagung ist und ihr Mann in Hamburg.«
»Arbeitet Lisa noch am Neustädter Klinikum?«
»Sie ist da Oberärztin.«
»Beeindruckend. Und was machst du?«
»Viel. Und selbst? Sorgst du noch dafür, dass die Neustädter nachts sicher in ihren Betten schlafen können?« Das hat Oliver tatsächlich einmal als Grund für seinen Wunsch, Polizist zu werden, angegeben. Er hat es immer verstanden, seine Motive in ein altruistisches Mäntelchen zu hüllen.
»Ich bin mittlerweile bei der Kripo. Kommissariat für Vermisstenfälle. Solltest du mal verloren gehen …«
»… würdest du dich auf meine Fährte setzen? Gut zu wissen.«
»Nicht wahr?«
Wieder starren wir uns an.
»Tja«, sagt Oliver dann. »Ich möchte nicht länger stören. Ich wollte nur fragen, ob ich helfen kann, aber da das nicht mehr nötig ist … War schön, dich wiederzusehen.«
»Gleichfalls.«
»Man sieht sich.«
Das bezweifle ich.
Einer der Gründe, warum ich nur nach Neustadt fahre, um Lisa und ihre Familie zu besuchen, ist, dass ich dort immer Gefahr laufe, Bekannte von früher zu treffen. Nicht, dass ich nur schlechte Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend habe, doch mein Leben hat sich radikal verändert, seit ich mit einundzwanzig weggezogen bin. Ich habe nichts mehr gemeinsam mit meinen ehemaligen Schulkameradinnen, die alle denselben Karriere-Partner-Kinder-Haus-Lebensplan verfolgen. Ich teile diese Ziele nicht – ich habe überhaupt keine Ziele. Ich wechsle ständig meine Jobs oder jongliere mit mehreren gleichzeitig, weil ich Lust auf Abwechslung habe. Ich war vom Aktmodell an der Kunsthochschule über bofrost-Fahrerin bis zur Zooführerin schon alles Mögliche. Zurzeit gebe ich Kurse in einem Poledance-Studio, helfe noch gelegentlich in der Zimtblüte aus und habe natürlich meinen OnlyFans-Account. Einen festen Partner hatte ich seit Oliver nicht mehr, und ich wüsste auch nicht, wozu ich einen bräuchte. Wenn ich Sex will, schleppe ich jemanden ab; wenn ich Nähe will, habe ich Frodo und Gesche und ein Dutzend anderer guter Freunde; wenn ich mich nach Familienanschluss sehne, fahre ich zu Lisa und Tim. Ich hänge an Alma und Hektor, aber bei dem Gedanken, für eigene Kinder mein ganzes Leben umzukrempeln, graut es mir, und ein Haus wäre zwar schön, aber die WG tut’s auch. Außerdem müsste ich für ein Haus so viel arbeiten, dass ich keine Zeit hätte, es zu genießen.
Aus all diesen Gründen verbuche ich Treffen mit Bekannten von früher daher meistens unter »fünf langweilige Minuten meines Lebens, die ich nicht zurückbekomme«. Nach der Begegnung mit Oliver hingegen bin ich nicht gelangweilt, sondern positiv überrascht. Ich hatte vergessen, wie schlagfertig er sein kann. Seit unserer Trennung sind wir uns nur drei- oder viermal begegnet. Die ersten Male hat Oliver mich ignoriert, das letzte Mal, das auch schon einige Jahre zurückliegt, hatte er irgendeine Vorzeigeblondine am Arm, die zweifellos besser zu ihm passt als ich.
Ich frage mich flüchtig, ob die beiden noch zusammen sind, bevor ich mich wieder auf Alma und vor allem Hektor konzentriere, der sein Ketchup-Trauma vergessen zu haben scheint. Er stopft Pommes in sich hinein, als gäbe es kein Morgen, und weil er danach satt und zufrieden und vor allem kooperativ ist, schaffen wir es tatsächlich, Alma pünktlich beim Kindergeburtstag ihrer Freundin abzuliefern.
Anschließend machen wir uns zu zweit auf den Heimweg, auf dem Hektor immer müder wird, so dass ich ihn schließlich auf den Arm nehme. Als wir zu Hause ankommen, schläft er so fest, dass ich ihn einfach auf seinen Spielteppich im Wohnzimmer lege. Dann beschließe ich, es ihm gleich zu tun. Ich gehe auf die Terrasse, ziehe mich bis auf den Slip aus, schiebe eine von Lisas Gartenliegen in die Sonne und bin innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Von gemeinsamen Familienurlauben weiß ich, dass Lisa einen leichten Schlaf hat, sich vom kleinsten Geräusch wecken lässt und dann in jeder Hinsicht sofort auf der Höhe ist – zweifellos eine nützliche Eigenschaft für eine Mutter kleiner Kinder oder eine Ärztin in Bereitschaft. Ich dagegen schlafe wie ein Murmeltier, und wenn ich damit aufhöre, muss ich mich immer erst mühsam ins Bewusstsein zurückkämpfen.
Als ich im Schlaf Geräusche höre, dauert es daher eine Weile, bis ich sie einordnen kann. Zuerst denke ich, dass ich zu Hause in meinem Bett liege und dass Gesche mit irgendeinem Typen nebenan Sex hat, denn ich höre Keuchen und Stöhnen, ein männliches Oh-ja-ich-komme-Stöhnen, das Frodo ausschließt, denn der ist asexuell.
Na, dann weiterhin viel Spaß! Ich wälze mich zur Seite und will mir die Decke über die Ohren ziehen, stelle jedoch fest, dass da keine Decke ist. Da sind nur Sonnenstrahlen, die mich wärmen, denn ich bin nicht in meiner WG, sondern in Lisas Garten und … Ja, ich bin im Garten meiner Schwester, und irgendein Kerl hat gerade einen Orgasmus, und die Terrassentür ins Wohnzimmer, in dem mein kleiner Neffe schläft, steht sperrangelweit offen!
Mit einem Schlag bin ich hellwach. Ich schnelle von der Sonnenliege wie ein Springteufel, haue mir einen großen Zeh an einem Blumentopf an und flitze über die Terrasse ins Wohnzimmer. Hektor liegt friedlich auf seinem Teppich, er ist auf die Seite gerollt, einen Daumen im Mund. Ein strenger Geruch hängt in der Luft, ein Hinweis, dass seine Windel voll ist.
Ich atme einmal tief durch, dann kehre ich auf die Terrasse zurück. Das Geräusch ist verstummt, und ich komme mir albern vor. Jemand hat nachmittags Sex, na und? Habe ich geglaubt, ein Pädo würde sich an Hektor vergreifen?
Dennoch geht mir das Stöhnen nicht aus dem Kopf. Waren das wirklich zwei Partner beim Sex? Gehört habe ich nur einen. Und welches Paar geht in diesem hochanständigen Wohngebiet an einem Samstagnachmittag zum Vögeln in den Garten? Dabei bin ich mir sicher, dass das Geräusch aus der Nähe kam, nicht durch ein Fenster. Und dann fällt mein Blick auf die Liege, und mir kommt ein anderer Verdacht. Hat irgendein Kerl mich beim Oben-ohne-Sonnenbad beobachtet und sich darauf einen runtergeholt?
Ich blicke mich um. Der Garten ist nur von den Nachbargärten aus einzusehen. Zur Linken wohnt eine alleinerziehende Lehrerin mit Teenagerzwillingen. Hat deren Sohn beim Anblick meiner Titten abgespritzt? Doch warum habe ich ihn dann nicht gesehen, als ich aufgewacht bin? Der Garten ist von der übersichtlichen Sorte, Terrasse und Rasen ohne Büsche oder Bäume.
Also der Nachbar zur Rechten? Von Lisa weiß ich, dass das Haus im letzten Jahr den Besitzer gewechselt hat, allerdings fällt mir gerade nicht ein, wer jetzt darin wohnt. Es ist eins dieser hässlichen Architektenhäuser, die aussehen, als hätte jemand zwei überdimensionierte Schuhschachteln übereinandergestapelt. Der Garten ist von Lisas Garten durch einen Maschendrahtzaun getrennt, der stellenweise von Büschen und auf Höhe der Terrasse von einem üppigen Rhododendron verdeckt wird. Ich starre den Rhododendron an, er starrt zurück, als hätte er Augen, und plötzlich bin ich sicher, dass das Geräusch von dort gekommen ist. Ich streife mein Kleid über, gehe auf den Rhododendron zu – und bekomme prompt die Bestätigung, dass etwas im Busch ist. Von hinter dem Rhododendron höre ich Schritte, die sich hastig entfernen, und ich sehe etwas Weißes durch die Blätter schimmern.
Zorn schießt in mir hoch. Ich renne den Maschendrahtzaun entlang zu einer Stelle, die auf beiden Seiten frei von Gebüsch ist, und schwinge mich in den Nachbargarten hinüber. Von dem Wichser ist nichts mehr zu sehen. Bestimmt hat er sich im Haus versteckt, deshalb stürme ich quer über den Rasen zur Terrasse, rüttele an der verschlossenen Fenstertür und presse mein Gesicht gegen die Glasscheibe. Nach einem kurzen Augenblick kann ich eine teure, maskuline, ziemlich langweilige Inneneinrichtung erkennen, aber keine Spur des Wichsers. Vermutlich hat der Typ sich nach oben verzogen, doch wenn er denkt, ich gebe auf, hat er sich geschnitten. Ich laufe ums Haus herum zur Eingangstür und schlage mit der Faust auf die Klingel. Ich kann den Ton draußen hören, eine nervtötende elektronische Melodie, die so wenig einladend klingt wie das Haus aussieht. Pech!
Ich drücke wieder auf die Klingel unter der Nummer vierzehn und wieder und wieder und wieder. Ich bin wild entschlossen, das zu tun, bis der Typ endlich aufmacht, selbst wenn es mir eine Sehnenscheidenentzündung einbringt. Ich hasse Männer, die meinen, sie können Frauen nach Belieben benutzen. Ich habe das Recht, mich oben ohne zu sonnen, ohne als Wichsvorlage missbraucht zu werden.
Also läute ich weiter, doch irgendwann vergeht mir die Lust. Was, wenn der Wichser sich in seinem Haus auf meine vergebliche Klingelei noch einen runterwedelt?
Ich denke über andere Möglichkeiten nach, dem Typen die Hölle heiß zu machen, als ein weißes Mercedes-E-Klasse-Cabriolet den Drosselweg hochkommt und in die Auffahrt von Nummer vierzehn einbiegt. Auf der Rückbank thront eine Golftasche, am Steuer sitzt ein Typ mit kurzen silberweißen Haaren und Riesensonnenbrille. Bei meinem Anblick öffnet er die Fahrertür und kommt auf diese extra dynamische Weise auf mich zu, die manche Männer über sechzig an den Tag legen, um zu beweisen, dass sie noch nicht zum alten Eisen gehören.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Die Frage ist höflich formuliert, doch der Ton fragt eher, was zum Teufel eine Fremde auf seinem Grund und Boden verloren habe. Allerdings sind wir uns nicht fremd. Lisa hat uns einander auf ihrer Geburtstagsparty vor zwei Monaten vorgestellt. Der Mann heißt Lutz Weller, er ist vor einem halben Jahr hierhergezogen.
»Hallo, Lutz«, sage ich daher, und als er verdutzt guckt: »Mara Bader, Lisas Schwester. Wir haben uns an ihrem Geburtstag kennengelernt.«
Lutz schiebt seine Sonnenbrille hoch und mustert mich. Seine Augen leuchten ungefähr so blau wie meine Haare. Für einen Mann Anfang sechzig ist er ziemlich attraktiv. Dann lächelt er. »Klar. Ich erinnere mich. Was machst du hier? Ist etwas passiert?« Sein Blick wandert an mir hinunter. »Du blutest.«
Ich stelle fest, dass mein großer Zeh, den ich mir angehauen habe, tatsächlich blutet. »Das ist nichts. Weswegen ich hier bin …«
Doch ich spreche den Satz nicht zu Ende. Nicht, weil es mir peinlich wäre, in Gegenwart eines Fastfremden übers Masturbieren zu sprechen, sondern weil mir in dem Moment Zweifel an meiner Theorie kommen, dass der Wichser in dieses Haus geflohen ist. Denn ich erinnere mich, dass Lutz geschieden ist und allein lebt. Irgendeine Nachbarin hat sich auf Lisas Geburtstagsfeier darüber echauffiert, dass ein so großes Haus einer Familie mit Kindern vorbehalten sein sollte.
»Ich bin hier, weil uns die Milch ausgegangen ist. Hast du einen Liter übrig?«
Kurz darauf kehre ich über die Terrasse in Lisas Haus zurück. Hektor schläft und müffelt immer noch friedlich vor sich hin. Ich gehe in die Küche, wo ich den Tetra Pak Milch, den Lutz mir gegeben hat, in den Kühlschrank stelle und stattdessen einen Joghurt herausnehme. Während ich ihn leerlöffele, denke ich darüber nach, wohin der Spanner verschwunden sein könnte – und wer er gewesen sein mag. Irgendein Halbwüchsiger aus der Nachbarschaft? Aber warum schleicht er zum Spannen in einen fremden Garten, warum hält er nicht am Ausee Ausschau nach nacktem Fleisch? Das sollte erfolgsversprechender sein, als darauf zu warten, dass eine Nachbarin zufällig im richtigen Moment auf ihrer Terrasse blankzieht. Oder war der Spanner gezielt auf der Suche nach mir? Doch das ergibt noch weniger Sinn, oder?
Ich schüttele den Kopf und werfe den leeren Joghurtbecher weg. Schluss mit der Grübelei, es wird schon irgendeine Erklärung geben.
Der Rest des Nachmittags verläuft ereignislos. Um sechs hole ich mit Hektor Alma von ihrer Geburtstagsfeier ab. Alma ist ungewöhnlich aufgedreht und berichtet atemlos von ihren nachmittäglichen Vergnügungen. Als Hektor ebenfalls etwas erzählen will, unterbricht sie ihn ziemlich rabiat, was zu einem neuen Wutausbruch führt. Ein weiterer folgt, als ich Hektor vor dem Zubettgehen baden will, aber frevelhafterweise die Zutaten (Badeschaum, Quietscheentchen, Plastikboot, Badeschwamm) nicht in der korrekten Reihenfolge (Badeschaum, Badeschwamm, Plastikboot, Quietscheentchen) in die Wanne gebe. Als er endlich sauber, satt und frisch gewickelt einschläft, ist es bereits fast neun, und ich frage mich, wieso Eltern zu Beginn der Trotzphase ihrer Kinder nicht von staatlicher Seite eine schalldichte Gummizelle zugeteilt wird. Ich schmuse noch mit Alma, damit sie neben ihrem anspruchsvollen kleinen Bruder nicht völlig zu kurz kommt, dann stelle ich mich unter die Dusche.
Als ich anschließend die Treppe hinuntergehe, fühle ich mich wieder halbwegs menschlich, und um die Menschwerdung zu vollenden, schenke ich mir ein großes Glas Rioja ein. Ich will es mit ins Wohnzimmer nehmen, da klingelt das Festnetztelefon im Hausflur. Ich werfe erst einen Blick aufs Display und gratuliere mir dann für die weise Voraussicht, denn es ist meine Mutter. Ich warte, bis die Mailbox sich einschaltet, dann setze ich meinen Weg ins Wohnzimmer fort. Die Stimme meiner Mutter schallt mir hinterher.
»Hallo? Tim? Warum gehst du nicht ans Telefon, du musst schließlich da sein, und die Kinder sind hoffentlich längst im Bett. Ich weiß, ihr seht das nicht so streng, aber es ist schon halb zehn, ich habe extra mit meinem Anruf gewartet. Ich mache mir Sorgen um Elisabeth. Ich kann sie nicht erreichen. Ich weiß, dass sie auf einer Konferenz ist, aber sie hat gesagt, sie würde mich zurückrufen und …«
»Hallo, Mutter, was ist mit Lisa?«
Meine Mutter redet noch eine Weile weiter, bevor sie merkt, dass sie nicht mehr mit der Mailbox spricht. »Wer ist denn da?«, fragt sie schließlich.
»Mara. Deine zweite Tochter, falls du es vergessen hast. Was ist mit Lisa?«
»Mara? Was machst du denn dort? Wo ist Tim?«
»Ich passe auf die Kinder auf, weil Lisa und Tim übers Wochenende weg sind.«
Meine Mutter nimmt Behauptungen anderer selten widerspruchslos hin, schon gar nicht meine. »Unsinn, Elisabeth ist auf einer Konferenz, Tim ist zu Hause.«
»Ist er nicht. Er hat einen dringenden geschäftlichen Termin.«
»Und warum bist du nicht sofort ans Telefon gegangen?«
»Ich habe gespült und musste meine Hände erst abtrocknen.«
»Gespült? Du?« Der ungläubige Tonfall wäre vielleicht verletzend, wenn Gisela Marga Bader die Fähigkeit, mir wehzutun, nicht schon vor langer Zeit verloren hätte. »Elisabeth besitzt eine Spülmaschine.«
»Die ist kaputt. Was ist mit Lisa? Du sagtest, du machst dir Sorgen?«
Meine Mutter kann eine harmlose Bemerkung über eine Spülmaschine in eine mehrstündige Inquisition verwandeln, doch zum Glück macht sie den Themenwechsel mit. »Sie geht nicht an ihr Handy. Ich habe es schon dreimal versucht.«
»Sie ist auf einer Tagung. Sie sitzt vermutlich in einem späten Vortrag oder beim Tagungsdinner oder mit Kollegen an der Bar.«
»Ich weiß, dass sie auf einer Tagung ist«, erwidert meine Mutter gereizt. »Ich habe sie heute Morgen dort angerufen, aber sie hat mitten im Gespräch aufgelegt. Sie sagte, sie würde mich zurückrufen, aber das hat sie nicht getan.«
»Das ist doch kein Grund, sich Sorgen zu machen. Lisa wird beschäftigt sein. Ging es bei eurem Telefonat um etwas Dringendes?«
»Es ging um den Sommerurlaub. Elisabeth hat die seltsame Idee, in diesen Ferien nicht wegzufahren, aber ich habe eine Bekannte getroffen, die hat ein Haus an der Ostsee, das zufällig noch frei ist, und …«
Ich schalte ab. Lisa hat mir gestern Abend erzählt, dass sie die Sommerferien zu Hause verbringen möchte, weil sie keine Lust auf den zusätzlichen Stress durch die Organisation einer Urlaubsreise hat. Angesichts von Lisas vollgestopftem Terminplan erscheint mir das vernünftig, aber meine Mutter sieht das anders, und natürlich hält die bloße Tatsache, dass es sie nicht das Geringste angeht, sie nicht davon ab, sich einzumischen. Ich verstehe nur zu gut, warum meine sonst so pflichtbewusste Schwester beschlossen hat, auf einen Rückruf zu verzichten, der ihr nichts als Stress einbringen würde.
Da auch ich gerne Stress vermeide, spreche ich den Gedanken nicht laut aus, sondern sage nur gelegentlich: »Ja, ja«, während ich an meinem Wein nippe und darauf warte, dass meiner Mutter die Puste ausgeht. Da das nicht passiert, unterbreche ich sie schließlich.
»Ich muss Schluss machen, Alma ruft nach mir.«
Damit lege ich auf, hole mir noch ein Glas Wein und gehe ins Wohnzimmer hinüber, wo ich einen Thriller auf Netflix einschalte und mich auf die Couch fallen lasse. Nach Gesprächen mit meiner Mutter habe ich immer das Bedürfnis, meine Gehörgänge mit anderen Stimmen durchzuspülen. Das mache ich schon seit Jahren so, die Zeiten, in denen ich meiner Mutter zugehört und mich von ihren Vorwürfen habe kleinmachen lassen, liegen lange zurück. Und Zeiten, in denen sie mir etwas anderes an den Kopf geworfen hat als Forderungen oder enttäuschte Erwartungen, hat es kaum je gegeben.
Meine Mutter hat es zwar nie zugegeben – mein Vater deswegen auch nicht –, dennoch bin ich überzeugt, dass ich ein Unfall war, ungeplant und ungewollt. Denn wieso hätte meine Mutter ein weiteres Kind planen sollen, wo sie schon ein perfektes hatte, eins, in das sie all ihre Träume und Hoffnungen pressen konnte wie in ein kleines Sparschwein und das diese Hoffnungen und Träume mit Zins und Zinseszins und rauschenden Dividenden zurückzahlte?
In den Augen meiner Mutter war ich vom Beginn meiner Existenz an ein Störfaktor. Tatsächlich kam ich drei Wochen zu früh zur Welt und damit ausgerechnet an dem Tag, an dem eine diplomierte Psychologin Lisa offiziell als hochbegabt diagnostizierte, ein Ereignis, auf das meine Mutter wochenlang hingefiebert hatte, und sie hat es mir bis heute nicht verziehen, dass sie nicht dabei sein konnte. Doch das war das letzte Mal, dass ich Vorrang vor Lisa bekam. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, wie ich in den Kindergarten kam. Ich war aufgeregt und wollte, dass meine Mutter mit mir dort bleibt, doch sie hatte keine Zeit, denn an dem Tag musste sie Lisa zur Schule bringen, weil diese zum ersten Mal eine Klasse übersprang. Als ich eingeschult wurde, drehte sich ebenfalls alles um Lisa, weil die in ein spezielles Hochbegabtenprogramm aufgenommen wurde. Als ich aufs Gymnasium kam, wurde das Ereignis in den Schatten gestellt von der Tatsache, dass Lisa ihr Medizinstudium begann. Als ich Abitur machte, interessierte meine Mutter das ebenfalls nur am Rande.
Wenn Sie jetzt glauben, dass ich verbittert bin, weil meine Mutter Lisa stets so offensichtlich bevorzugt hat – das stimmt nicht. Natürlich habe ich mich als Kind nach der Aufmerksamkeit und Anerkennung meiner Mutter gesehnt, aber früh zu lernen, dass das Streben danach vergebliche Liebesmüh wäre, hatte einen Riesenvorteil: Es schenkte mir Freiheit. Die Freiheit zu tun und zu lassen, was ich will, und mich von Erwartungen anderer abzukoppeln. Dieser Freiheit habe ich es zu verdanken, dass ich heute ein Leben führe, das mir Spaß macht, anstatt mich im Hamsterrad gesellschaftlicher und sonstiger Erwartungen abzustrampeln.
Dennoch gibt es eine Sache, die ich meiner Mutter nie verzeihen werde: dass ihre ständigen Vergleiche und Vorwürfe, ich sei nicht so gut wie meine Schwester, mich fast die Beziehung zu Lisa gekostet hätten. Denn natürlich habe ich irgendwann angefangen, Lisa dafür zu hassen. Wir sind nur deshalb heute Freundinnen, weil Lisa tatsächlich wunderbar ist. Nicht weil sie einen IQ nahe unendlich hat oder in allem brilliert, was sie anpackt – das tut sie wirklich, und es ist zum Kotzen –, sondern weil Lisa mich von meiner Geburt an mit Schwesterliebe überschüttet hat. Von Tag eins an war sie immer für mich da. Ich habe Alma und Hektor sehr gern, doch Lisa ist der einzige Mensch auf der Welt, über den ich sagen würde, dass ich ihn liebe.
Während es im Thriller eine Schießerei gibt, checke ich mein Smartphone. Frodo hat mir die bearbeiteten Fotos aus dem Automuseum gemailt. Die Bilder von mir auf dem Mercedes 300SL Roadster sind super geworden, witzig, sexy, nicht zu erotisch. Frodo wird am Montag das erste bei OnlyFans hochladen, weitere im Laufe der Woche, je nachdem, wie meine Fans reagieren. Ich wette, sie werden begeistert sein, und es wird Trinkgeld regnen – warum auch immer. Es ist mir ein Rätsel, warum Leute Geld für Dessousfotos von mir bezahlen, wenn jede GoogleSuche ihnen Nacktfotos tausender Frauen gratis einbringt. Aber ich hinterfrage das nicht, sondern kassiere ab. Auf die Sache mit dem OnlyFans-Account sind Frodo und ich eher zufällig gekommen, als es selbst nach Gesches Einzug um unsere Finanzen echt mies stand. Erst war es nur ein Witz. Wir dachten, wir posten einfach mal ein sexy Unterwäschefoto von mir und sehen, was passiert. Die Resonanz war verblüffend, deswegen haben wir weitergemacht. Mittlerweile habe ich über dreihundert Fans, die alle fünfzehn Euro im Monat zahlen, um mir folgen zu können. So einfach habe ich noch nie Geld verdient.
Den Anruf meiner Mutter habe ich längst vergessen, als nach zehn erneut das Telefon klingelt. Bestimmt will sie ihren Monolog über die nichtexistenten Urlaubspläne meiner Schwester fortsetzen, also bleibe ich auf der Couch liegen, bis die Mailbox erneut übernimmt. Kurz darauf dringt aus dem Flur allerdings nicht die Stimme meiner Mutter, sondern etwas, das mein geübtes Ohr unschwer als besoffenes Gebrabbel identifiziert. Ein Mann, der offenbar mehr getrunken hat, als er verträgt, aber noch nicht genug, dass er sein Handy nicht mehr bedienen könnte, verkündet, dass er die Zeit seines Lebens habe und sich nur wünschte, ich – beziehungsweise die Person, die er anrufen wollte – würde diese Zeit mit ihm teilen.
Die Stimme ist reichlich vernuschelt, und im Hintergrund sind typische Kneipengeräusche zu vernehmen, so dass ich nur Satzfetzen verstehe. »Soooo geil hier … Die Frauen … Verpasst was … Nächstes Mal …« In dem Moment schreit eine zweite Stimme dazwischen: »Nächstes Mal? Du willst noch ein nächstes Mal?« Offensichtlich ist das ein Megawitz, denn er löst dröhnendes Gelächter aus. Die Stimme brabbelt weiter, es gibt mehr Gelächter, dann ein Klirren, ein vielstimmiger Fluch und schließlich Stille.
Ich kann mir unschwer vorstellen, was passiert ist. Setzt man eine Runde besoffener Kumpels in eine Kneipe oder auf eine Party, dann kommt irgendwann der Moment, in dem irgendjemand meint, irgendeine bedauernswerte abwesende Person anrufen zu müssen, um sie übers Handy wissen zu lassen, was sie verpasst. Und es kommt irgendwann der Moment, in dem irgendein Idiot mit einer ausladenden Geste die Gläser vom Tisch fegt oder beim Aufstehen in sie hineinkracht, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten kann. Ich bin oft genug bei solchen Saufgelagen dabei und bekomme auch manchmal solche Anrufe, wundere mich allerdings, dass es Lisa und Tim ebenso ergeht. Ich hätte ihre Freunde für gediegener gehalten. Neugierig gehe ich in den Flur und werfe einen Blick auf das Display des Telefons. Eine Handynummer, der kein Name zugeordnet ist. Ich gehe jede Wette ein, dass der Anrufer sich verwählt hat.
Ich lösche das Flurlicht und will ins Wohnzimmer zurückkehren, als ich durch die Glasraute in der Haustür sehe, wie draußen vor dem Haus das Licht des Bewegungsmelders angeht, und im nächsten Augenblick taucht ein Schemen vor der Glasraute auf. Dort steht jemand. Ich überlege, wie ich reagieren soll. Habe ich Lust auf Besuch? Hängt davon ab, wer es ist. Wer kann es überhaupt sein um diese Zeit? Meine Mutter? Sie wohnt ebenfalls in Neustadt, eine Autoviertelstunde entfernt. Vielleicht will sie überprüfen, ob ihre Enkel in meiner zweifelhaften Obhut noch atmen?
Ich warte darauf, dass sie klingelt, doch nichts passiert. Dann bewegt sich der dunkle Schemen. Er scheint zu zögern, was mir signalisiert, dass es nicht meine Mutter ist. Warum klingelt der Besuch nicht einfach?
Ich gehe zur Tür und reiße sie auf. Draußen steht Oliver, in der einen Hand eine Flasche Wodka, in der anderen eine Flasche Bitter Lemon.
Verblüfft starre ich Oliver an, der seinerseits so verlegen grinst wie ein Messdiener, der beim Pornogucken erwischt wird.
»Oliver? Was machst du hier?«
»Oh, äh, hallo Mara«, sagt er in einem Ton, als wäre ich überraschenderweise bei ihm aufgetaucht. »Ich wollte …« Er bricht ab, zögert, dann streckt er mir die beiden Flaschen hin.
Ich nehme sie nicht. »Zahlt man bei der Polizei so schlecht, dass du nebenbei Getränke ausliefern musst? Du weißt aber schon, dass man erst wartet, bis eine Kundenbestellung eingegangen ist. Oder soll das eine Gratisprobe sein?«
Er lacht verlegen. »So was in der Art. Ich dachte, ich bringe dir was zu trinken mit für den Fall, dass du mich nüchtern nicht erträgst.«
»Wieso sollte ich dich überhaupt ertragen müssen?«
»Ich hatte gehofft, du würdest es wollen.«
»Wieso?«
»Tja, weil …« Er bricht ab. Er trägt Jeans und ein sehr weißes T-Shirt, das seinen Bizeps betont, und wischt sich mit einem bloßen Oberarm den Nervositätsschweiß von der Stirn. »Okay, du hast recht«, sagt er dann. »Es war eine blöde Idee, einfach hier aufzukreuzen. Ich hätte vorher anrufen sollen, aber … Ich saß vorhin mit ein paar Kumpels in einer Kneipe und musste an dich denken. Dass du an einem Samstagabend allein bei deiner Schwester hockst und wegen der Kinder nicht wegkannst. Ich dachte, du freust dich vielleicht über Gesellschaft. Also habe ich die Adresse gegoogelt, und da die nicht weit weg war …«
»Du bist aus Nächstenliebe hier? Du hättest Sozialarbeiter werden sollen.«
»Ich wollte dich wiedersehen. Ehrlich gesagt habe ich mich gefreut, dass wir uns heute getroffen haben. Ich dachte, wir könnten ein bisschen quatschen. Aber wenn du keine Lust hast …« Er wendet sich ab und geht den Gartenweg hinunter.
»Lass wenigstens die Flaschen da«, rufe ich ihm hinterher.
Er dreht sich um. »Nur die Flaschen?«
Ich überlege. Ich bin neugierig, warum Oliver wirklich gekommen ist, also öffne ich die Tür weit.
Olivers Manieren sind so gut wie eh und je. »Schönes Haus«, kommentiert er, nachdem er seine Schuhe auf der Fußmatte abgestreift hat und an mir vorbeigeht.
»Das Wohnzimmer ist geradeaus durch die Glastür.«
Ich nehme Oliver die Flaschen ab, die sogar recht kalt sind – von einer Tankstelle? –, und gehe in die Küche, um zwei Wodka Lemon zu mixen. Ich habe ewig keinen getrunken, doch früher waren Oliver und ich süchtig danach.
Als ich ins Wohnzimmer komme, sitzt Oliver auf dem Sofa, in der Hand das Buch vom kleinen dicken Traktor.
»Ich sehe, dein literarischer Geschmack hat sich nicht weiterentwickelt.« Ich reiche ihm ein Glas.
Er grinst. »Warum auch, wenn man US-Präsident werden kann, ohne je ein Buch gelesen zu haben? Solange Autobilder drin sind, gefällt mir alles. Wie bei dir. Oder hast du die Auto, Motor, Sport mittlerweile gegen Wendy-Comics getauscht?«
»Gegen die Motorrad.«
»Dann gehört die Triumph in der Einfahrt dir? Eine Schönheit.«
Das Kompliment geht mir runter wie Öl, vermutlich fühlt meine Schwester sich genauso, wenn jemand etwas Nettes über Alma oder Hektor sagt.
»Cheers.« Ich setze mich und ziehe meine nackten Füße aufs Sofa. Wir stoßen an, dann mustere ich Oliver über den Rand des Glases hinweg. »Und? Warum bist du wirklich hier?«
Er zuckt mit den Achseln. »Kein Hintergedanke. Ich fand es schön, dich heute zu treffen, und wollte quatschen. Es war Scheiße, wie das zwischen uns geendet hat.«
»Ich würde sagen, es war ein ziemlich klassisches Beziehungsende. Einer macht Schluss, der andere hat’s nicht kommen sehen, reagiert wütend, sagt ein paar fiese Sachen …«
»Ziemlich fies.«
Jetzt zucke ich mit den Achseln. »Es ist zwölf Jahre her, längst vergessen.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Dann lass uns darauf anstoßen.«
»Und was machst du jetzt?«, fragt Oliver. »Ich meine beruflich? Irgendwer hat mir damals erzählt, du hättest nach unserer Trennung dein Studium geschmissen. Was war es noch?«
Wir sind beim zweiten Wodka Lemon. Den ersten haben wir mit Small Talk über gemeinsame Schulfreunde runtergekippt. Es ist ein seltsames Gefühl, mit Oliver zusammen auf der Couch zu sitzen. Seltsam, aber irgendwie auch sehr vertraut.
»Soziologie.«
»Ach ja. Hattest du nicht vor, irgendetwas im Strafvollzug zu machen? Bewährungshelferin?«
Das war tatsächlich früher einer meiner Berufswünsche, hauptsächlich, weil es meine Mutter geärgert hätte. Sie wollte, dass ich »auf der richtigen Seite« des Gesetzes arbeite und Richterin oder wenigstens Staatsanwältin werde. Zum Glück habe ich rechtzeitig gemerkt, dass mir Sozialarbeit so sehr liegt wie Tim ein Junggesellenabschied.
»Erinnerst du dich noch an den Abend, als wir so betrunken waren, dass wir nicht mehr Auto fahren konnten und uns für den Heimweg von Jörgs Party das Tandem seines Vaters geliehen haben? Und wie wir versucht haben, der Polizeistreife zu entkommen?«
Wir sind beim vierten Wodka Lemon und in der Erinnerst-du-dich-Phase. Ich neige sonst nicht dazu, in der Vergangenheit zu schwelgen, doch mittlerweile habe ich genug intus, um es ausnahmsweise spaßig zu finden.
»Natürlich.« Ich kichere. »Du hast uns an der Kreuzung beim Stadtbäcker in einen dieser riesigen, hässlichen Blumenkübel gesteuert.«
»Nur, weil du hinten so rumgehampelt hast.«
»Von wegen, du warst zu bekifft zum Lenken. Ich habe heute noch die Narbe.« Ich strecke mein nacktes Bein aus. Ich trage nur ein kurzes Sommerkleid.
Oliver begutachtet mein Knie. »Die ist ja kaum noch zu sehen, meine ist viel größer.« Er streicht über sein Kinn. Dann fällt sein Blick auf meinen rechten Fuß, und seine Miene wird ernst. »Du hast es weglasern lassen.«
»Natürlich. Du nicht?«
Er zögert. »Doch. Klar.«
Die Bemerkung bezieht sich auf Tattoos, die wir uns kurz vor dem Abi haben stechen lassen, als wir ein Jahr zusammen und schwer verknallt und einmal ziemlich betrunken waren. Der Name des anderen ein Stückchen oberhalb des Fußknöchels.
Oliver streicht mit dem Daumen zart über die Stelle, an der der Schriftzug war. Die Berührung jagt mir einen Schauer den Rücken hinab und lässt die Innenseite meiner Schenkel angenehm prickeln, doch ich sage ihm nicht, dass er die Hand wegnehmen soll. Mir ist mittlerweile klar, warum er heute gekommen ist, und ich habe nichts dagegen, im Gegenteil. Ich habe mich vor zwölf Jahren von Oliver getrennt, weil wir völlig unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft hatten. Er wollte eine Familie und Kinder, ich meine Freiheit. Die Trennung war eine Erleichterung für mich, ich habe sie keinen Tag bereut, aber manchmal habe ich den Sex mit Oliver vermisst – der in meiner Erinnerung wirklich vermissenswert war. Heute Abend habe ich definitiv genug getrunken, um ein bisschen in Erinnerungen zu schwelgen.
Oliver lässt seine Hand auf meinem Fußknöchel liegen und seinen Blick meinen Körper hochwandern zu meinem linken Arm. »Aber du hast Tattoos nicht komplett abgeschworen. Die Schlange ist wunderschön. Gibt es dazu eine Geschichte?«
Gibt es, aber nicht für Oliver. »Nur die, dass ich das Motiv auf einem Foto gesehen habe und toll fand.«
»Hast du noch andere Tattoos?«
»Möchtest du es herausfinden?«
Oliver will. Seine Hand löst sich von meinem Knöchel und streicht langsam und zart die Innenseite meines Unterschenkels hoch. Die Berührung ist federleicht, und mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln. Ich blicke Oliver an, dessen Mundwinkel sich zu dem siegesgewissen Lächeln verziehen, an das ich mich gut erinnere. Dann gleitet mein Blick über ihn hinweg – und ich sehe Alma in der Wohnzimmertür stehen.
»Ich kann nicht schlafen.«
Am nächsten Morgen werde ich von einem Gewicht geweckt, das schwer auf meine Brust drückt. Zuerst denke ich, Frodo und Gesche hätten beschlossen, die Wohnung aufzuräumen, und erst einmal alles, was im Weg ist, auf mein Bett geworfen – kein sehr naheliegender Gedanke, aber ich sagte ja schon, dass mein Gehirn nach dem Schlafen nicht allzu schnell in Schwung kommt –, doch dann steckt das Gewicht mir einen Finger in die Nase und verkündet: »Mamalad!«, und mir wird klar, dass es sich um Hektor handelt. Ich öffne die Augen und erstarre, als ich sein Gesicht dicht vor meinem sehe, blutverschmiert. Dann kapiere ich, dass die roten Flecke Marmelade sind.
»Guten Morgen, Hektor. Könntest du deinen Finger aus meinem Nasenloch nehmen?«
»Mamalad!«
»Ja, das sehe ich. Hast du etwa schon gefrühstückt?«
Heißt das, Alma hat ihm Frühstück gemacht? Mist, das wäre definitiv meine Aufgabe gewesen. Und selbst mein Gewissen, das im Allgemeinen sehr belastbar ist, findet, dass man seine Aufgaben nicht an Siebenjährige delegieren sollte. Noch dazu an Siebenjährige, die einen vor sich selbst gerettet haben. Im Nachhinein bin ich Alma sehr dankbar, dass sie Oliver und mich letzte Nacht rechtzeitig unterbrochen hat. Mit Oliver zu schlafen wäre selbst für mich eine besonders dämliche Idee gewesen.
Hektor lässt noch einmal seinen Schlachtruf »Mamalad!« ertönen und fügt hinzu: »Kissschacht.«
Kissenschlacht? »Nee, Süßer, jetzt muss ich erst mal aufstehen.«
»Kissschacht!«, verlangt Hektor schon deutlich lauter, worüber mein Kopf sich gar nicht freut. Eigentlich verträgt er Alkohol gut, aber vielleicht gehört Wodka Lemon auf Wein in die Kategorie »Lass das sein«. Doch das ist nicht Hektors Schuld, also gebe ich nach, und wir toben so lange auf dem Bett herum, bis ich ganz wach bin und Hektors Gesicht sauber. Stattdessen klebt die Marmelade jetzt am Bettzeug.
Nachdem Hektor sich bereits am Morgen verausgabt hat, ist er den restlichen Tag ausgesprochen friedlich, was deshalb auch für unseren gemeinsamen Sonntag gilt, den wir auf Almas Wunsch hin wieder am Ausee verbringen. Als wir am Nachmittag zurückkommen, liegt im Hausflur eine Visitenkarte von Oliver auf dem Boden, die er durch den Briefschlitz geworfen hat. Auf der Rückseite steht: »Fand es schön gestern. Hab deine Handynummer nicht. Freu mich, wenn du anrufst.«