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Petra Johann

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Beschreibung

Unter Verdacht.

Nach einem einschneidenden Ereignis verlässt der vierunddreißigjährige Erik seine Heimat und übernimmt in einer bayrischen Kleinstadt eine Buchhandlung. Der Neustart scheint zu gelingen. Erik fühlt sich in Neukirchen wohl – bis die Tochter eines seiner neuen Freunde verschwindet. Die Grundschülerin hat in aller Frühe ihr Elternhaus verlassen und ist nicht zurückgekehrt. 

Eine groß angelegte Suche beginnt. Hauptkommissarin Judith Plattner, die nach einem persönlichen Schicksalsschlag nie wieder eine Ermittlung leiten wollte, übernimmt den Fall. Nach und nach verdichten sich die Hinweise, dass jemand aus dem Umfeld des Mädchens für sein Verschwinden verantwortlich ist. Schon bald richten sich alle Augen auf Erik, den Neuen. Und dann macht jemand eine Entdeckung – mit fatalen Folgen ... 

Ein hintergründiger Thriller über eine Gemeinschaft, in der die Angst die Macht übernimmt.

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Seitenzahl: 596

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Über das Buch

Nach einem Vorfall, der sein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt hat, verlässt der vierunddreißigjährige Erik Lange seine Heimat und wagt einen Neustart. Im idyllischen bayrischen  Neukirchen kauft er die Buchhandlung am Marktplatz. Die Bewohner der Kleinstadt nehmen Erik freundlich auf, er lebt sich gut ein. Doch dann verschwindet die Tochter eines seiner neuen Freunde. Die Grundschülerin hat in aller Frühe ihr Elternhaus im abgelegenen Ortsteil Schönblick auf einem Tretroller verlassen und ist nicht zurückgekehrt.

Besorgt rufen die Eltern die Polizei. Hauptkommissarin Judith Plattner, die nach einem Schicksalsschlag an ihren kriminalistischen Fähigkeiten zweifelt, übernimmt mit ihrer jungen Kollegin Pia Meyer die Ermittlungen. Eine groß angelegte Suchaktion beginnt.

Auch Erik beteiligt sich an der Suche und unterstützt die Eltern des vermissten Mädchens – so wie die befreundeten Nachbarn in Schönblick. Zunächst sind alle voller Zuversicht, das Kind schnell zu finden, doch je länger die Suche dauert, desto mehr schwindet die Hoffnung. Stattdessen wächst das Misstrauen, als Judith und Pia Hinweise finden, dass jemand aus dem nahen Umfeld des Mädchens für sein Verschwinden verantwortlich ist. Die Stimmung in Schönblick wird immer explosiver. Und dann gerät Erik unter Verdacht …

Über Petra Johann

Petra Johann, Jahrgang 1971, ist promovierte Mathematikerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Forschung und in der Softwarebranche, bevor sie ihre wahre Berufung fand: Menschen umbringen – natürlich nur auf dem Papier. Petra Johann ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, mittlerweile lebt sie in Bayern.

Im Aufbau Taschenbuch erscheint zeitgleich »Die Frau vom Strand«.

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Petra Johann

Der Buchhändler

Thriller

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Prolog

Teil I — Erik

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Teil II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

5 : Erik

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

12: Erik

Kapitel 13

Teil III

1: Erik

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

5: Erik

Kapitel 6

Kapitel 7

8: Erik

Kapitel 9

10 : Erik

Kapitel 11

12: Erik

Impressum

Wer von diesem spannenden Roman begeistert ist, liest auch ...

Prolog

Die Pausen zwischen den einzelnen Schlägen wurden immer länger, doch der Mann, der gefesselt am hölzernen Stützbalken der alten Scheune hing, nahm es kaum noch wahr. Sein ganzer Körper brannte vor Schmerzen, als würde er in Flammen stehen, und er hatte längst aufgehört, seine Verletzungen zu zählen. Er ahnte, dass er mehrere gebrochene Rippen hatte, vielleicht einen gebrochenen Kiefer und ein gebrochenes Jochbein. Er fürchtete, dass er innere Verletzungen von den Schlägen in die Magengrube davongetragen hatte. Aus einer Platzwunde auf der Stirn sickerte beständig Blut und verklebte sein linkes Auge. So sehr der Mann auch blinzelte, sah er doch nichts außer roten Schlieren. Das andere Auge konnte er gar nicht mehr öffnen, es war zugeschwollen.

Ein weiterer Schlag traf den Mann gegen den Kiefer, sein Kopf wurde zur Seite geschleudert.

»Wo ist sie?« Die Frage begleitete jeden Schlag. »Wo ist sie? Sag mir, wo sie ist!«

Der Mann antwortete nicht. Selbst wenn er hätte antworten wollen, hätte er es nicht geschafft. Das Blut sammelte sich schneller in seinem Mund, als er es ausspucken konnte. Auch zwei Zähne hatte er schon ausgespuckt.

Ein weiterer Schlag. Sterne tanzten vor den Augen des Mannes. Verzweifelt kämpfte er dagegen an, das Bewusstsein zu verlieren. Er ahnte, dass er aus der Dunkelheit einer Ohnmacht nicht zurückkehren würde. Mit dem Bewusstsein würde sein letztes bisschen Lebenswillen erlöschen, und er würde hier sterben.

Doch er wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er aufgeben wollen. Stattdessen hatte er mit dem Monster gekämpft und es besiegt. Er hatte alles richtig gemacht. Er hatte nicht versagt. Wieso war er dann jetzt hier?

Ein weiterer Schlag ließ den Mann aufstöhnen, Blut quoll aus seinem Mund, lief über sein Kinn.

»Wo ist sie?«

»Ich weiß es nicht«, versuchte er zu flüstern, brachte jedoch nur ein Gurgeln hervor.

»Was hast du mit ihr gemacht?«

Sein Peiniger stand plötzlich so dicht vor ihm, dass der Mann dessen keuchenden Atem spüren konnte. Seine Angst verdoppelte sich. Er wollte den anderen anflehen aufzuhören, wollte um Gnade für sein Leben winseln, doch wieder brachte er nur ein Gurgeln zustande. Er begann zu weinen. Tränen quollen aus seinen Augen, vermischten sich mit dem Blut. Mit größter Anstrengung öffnete der Mann das linke Auge, und für einen Moment konnte er klar sehen. Er sah genau in das Gesicht seines Peinigers. Er sah dessen Hass und dessen Angst, die genauso groß war wie seine eigene. Dann sah er erneut eine Faust auf sich zu fliegen und verlor das Bewusstsein.

Der Mann tauchte aus der betäubenden Dunkelheit auf, ging wieder unter, tauchte wieder auf. Vor seinen Augen zogen bunte Bilder in zuckenden Blitzen vorbei. Vertraute Orte, vertraute Gesichter. Erinnerungsfetzen. Sein Vater, der eine Bücherkiste in die Buchhandlung trägt. Seine Mutter, die sich über die Abrechnungen beugt. Seine Schwester Klara, die den Siebtklässler ohrfeigt, der ihn Brillenschlange genannt hat. Sein bester Freund Ralf, der beim Volleyball den entscheidenden Punkt erschmettert und die Hand zum High five hebt.

Der Mann wusste, was die Erinnerungsfetzen bedeuteten. Sagte man nicht, im Sterben zog das gesamte Leben an einem vorbei? Jetzt war es also so weit.

Als Nächstes sah er Tamara, mit irgendeinem Typen knutschend, dann nackt unter sich, dann mit weit aufgerissenen Augen im Kreißsaal. Joelle, immer wieder Joelle. Blutverschmiert, winzig und lauthals brüllend aus Protest, dass man sie aus dem warmen Kokon von Tamaras Gebärmutter gerissen hat. Dann ruhig in ein weiches Handtuch gehüllt in seinem Arm. Joelle stolz mit ihrer Schultüte. Zärtlich mit ihrem Pflegepferd. Verzweifelt, als er ihr sagt, dass er gehen müsse …

Er hätte sie nie verlassen dürfen! Er hätte sich von Tamara nicht verjagen lassen dürfen! Er hätte nicht an diesen verfluchten Ort kommen dürfen!

Die Bilder zogen immer schneller an dem Mann vorbei. Weil er sich dem Ende näherte? Joelles fünfzehnjähriges Gesicht verschwand, wurde ersetzt durch ein Kindergesicht. Braune vorstehende Augen hinter dicken Brillengläsern. Eine blutige Nase. Ein Kinderarm mit blauen Flecken. Die Flecken verschwammen zu zwei Augen, kornblumenblauen Augen.

Nein, er hätte nicht hierherkommen dürfen.

Teil I

Erik

1

Nachfolger gesucht für Buchhandlung in Neukirchen.

Kleinstadt mit 10 000 Einwohnern.

Einzige Buchhandlung vor Ort.

80 m² Verkaufsfläche.

Stabiler Umsatz > 400 000 €/Jahr.

Viele Stammkunden.

Kontaktaufnahme über …

Drei Tage nachdem ich die Anzeige gelesen habe, fahre ich zum ersten Mal nach Neukirchen, doch die Fahrt steht von Beginn an unter keinem guten Stern. Erst komme ich zu spät los, weil Klara unerwartet auftaucht, um mich noch einmal vor dieser Schnapsidee zu warnen (»Wir finden eine andere Lösung.«), und mir dann, als ich nicht nachgebe, ihr Navigationsgerät in die Hand zu drücken. (»Bei deinem Orientierungssinn verliere ich dich sonst endgültig.«) Dann bremst mich ein Stau aus, und schließlich zwingt mich eine Baustelle auf eine lausig ausgeschilderte Umleitung, die vor einer zweiten Baustelle endet. Ich programmiere Klaras Navi neu, wende meinen Opel Corsa und fahre weiter. Als ich an einem Kreisverkehr in die einspurige Straße einbiege, die Bruce Willis (Klaras Wahl) mir ansagt, ist es zehn vor drei, und ich bin ziemlich nervös. Laut Navi dauert die Fahrt zwar nur noch acht Minuten, aber ich hasse es, abgehetzt zu Terminen zu kommen.

Die Straße windet sich durch einen lichten Mischwald. Es ist Februar, die Bäume sind unbelaubt, Sonnenlicht fällt zwischen den Stämmen hindurch. Der Anblick entspannt mich ein wenig, was man vom Zustand der Straße nicht sagen kann. Sie wird immer schmaler und holpriger. Bin ich hier wirklich richtig?

Ich werfe einen Blick auf das Navi. Es teilt meine Zweifel nicht. Der kleine rote Pfeil, der meine Position anzeigt, befindet sich genau auf der hellblauen Route. Allerdings ist der Bildausschnitt zu klein, um mir zu zeigen, ob die hellblaue Route wirklich an mein gewünschtes Ziel führt oder doch vielleicht in die Hölle oder in eine der anderen zehn Gemeinden namens Neukirchen, die es in Deutschland gibt.

Ich beuge mich vor, tippe auf das Navi, um aus der Karte herauszuzoomen, da passiert es. In meinem rechten Augenwinkel blitzt etwas auf. Ich sehe nicht viel mehr als eine gelbe Bewegung, da stehe ich auch schon auf der Bremse. Ich war nicht sehr schnell unterwegs, dennoch werde ich nach vorn geschleudert und dann vom Sicherheitsgurt zurückgerissen. Eine Schrecksekunde lang sitze ich starr da, dann löse ich den Gurt, drücke die Fahrertür auf und laufe um meinen Wagen herum. Direkt vor dem rechten Vorderreifen liegt ein Kind in einem sonnengelben Sweatshirt.

Shit! Habe ich es angefahren? Wieso habe ich keinen Aufprall gespürt?

Das Kind liegt still, doch als ich mich nähere, hebt es den Kopf und funkelt mich aus braunen, leicht vorstehenden Augen an.

»Die Straße ist nur für Forstfahrzeuge!«

Das Kind ist ein Mädchen, vielleicht zehn oder elf, mit einer auch in dieser Situation kräftigen Stimme. Mir fallen tonnenweise Steine vom Herzen.

Die Kleine macht Anstalten aufzustehen, doch ich strecke meine Hand aus. »Warte, wir sollten erst sehen, ob du verletzt bist. Tut dir etwas weh?«

»Das geht Sie nichts an.« Sie schlägt meine Hand weg und rappelt sich auf. »Mir geht’s gut.«

»Deine Nase blutet, und deine Knie sind aufgeschürft.«

»Das hatte ich schon vorher.«

Meine Erleichterung verfliegt. Die Kleine hat offenbar einen Schock erlitten. Oder hat sie eine Gehirnerschütterung? »Ich habe dich angefahren«, erkläre ich behutsam.

Sie schüttelt den Kopf, dass Blutstropfen in alle Richtungen spritzen. »Das ist nicht wahr. Ich bin ausgerutscht. Aber nur, weil Sie mich erschreckt haben«, fügt sie anklagend hinzu. Und wiederholt dann: »Die Straße ist nur für Forstfahrzeuge.«

Der Hinweis scheint ihr wichtig zu sein. »Das wusste ich nicht. Und es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe. Soll ich mir mal deine Nase ansehen?«

»Fassen Sie mich nicht an!«

»Natürlich nicht, wenn du nicht möchtest, aber …« Ich bin ein wenig ratlos. Ihre Reaktion ist eigentlich vernünftig, auch ich habe Joelle wieder und wieder eingebläut, sich nicht von fremden Männern ansprechen zu lassen. Die Nase sieht jedoch nicht aus, als würde die Blutung von allein stoppen. »Dann lass mich dir wenigstens ein Taschentuch geben.« Ich greife in meine Hosentasche, doch sie wartet nicht ab.

»Brauch ich nicht.« Sie wischt mit dem sonnengelben Ärmel ihres Sweatshirts über ihre Nase, dann rennt sie über den Waldweg davon.

Ich blicke ihr nach. Ein seltsames Kind. Allein mitten im Wald. Und woher das Nasenbluten und die aufgeschürften Knie? Ich sehe mich um. Mein Blick fällt auf ein Holzkreuz, das am Wegesrand steht. Eine frische, leicht zerdrückte Tulpe liegt davor. Laut Inschrift ist das Marterl einer Renata gewidmet, die vor einem Jahr im April gestorben ist. Eine Verwandte des Mädchens?

Ich setze mich wieder in den Wagen und fahre weiter, langsam, damit die Kleine nicht denkt, ich verfolge sie.

Zwei Wochen später stehe ich an der Kasse der Buchhandlung Brandl am Neukirchener Marktplatz und versuche einer älteren Dame mit unordentlichem grauem Haarknoten zu erklären, dass ich ihr auf ein Hardcover keinen Rabatt geben kann, nur weil die Folie, in die das Buch eingeschweißt ist, angerissen ist. Ich habe die Frau noch nie gesehen, vermute jedoch, dass ich Marga Grandauer vor mir habe, vor der Georg Brandl mich gewarnt hat.

Georg Brandl und ich sind uns bereits bei unserem ersten Treffen handelseinig geworden. Ich werde seine Buchhandlung am ersten April übernehmen, doch schon im März mitarbeiten, so dass er mich einweisen und den Kunden vorstellen kann. Letzteres ist mir wichtiger als Ersteres. Ich habe in den letzten Jahren in der Buchhandlung meiner Eltern mitgearbeitet, ich weiß, wie der Hase läuft. Doch in einer Zehntausend-Seelen-Gemeinde wie dieser ist ein guter Draht zu den Menschen vor Ort für jeden Geschäftsinhaber überlebensentscheidend. Und wenn Georg Brandl vielleicht auch nicht jeden Neukirchener persönlich kennt, so doch jeden zweiten. In den vergangenen drei Tagen hat er mir so viel über die Menschen hier erzählt, dass ich die Stammbäume der meisten Familien herunterbeten könnte. Marga Grandauer ist die Witwe eines Urologen, die darauf besteht, mit Frau Doktor angeredet zu werden, mit wahrem Sherlock-Holmes-Gespür ein Haar auch in der klarsten Suppe findet und generell nur das Haus verlässt, um Angst und Schrecken über ihre Mitmenschen zu bringen. Ihr letztes Lebensziel ist es, niemals den vollen Preis für irgendetwas zu zahlen.

»Es tut mir leid«, versuche ich es erneut. »Ich darf Ihnen wirklich keinen Rabatt geben. Die Buchpreisbindung verhindert das.« Und der gesunde Menschenverstand!

»Aber die Buchpreisbindung gilt wohl kaum für Folien.«

»Das ist korrekt, aber der Preis bezieht sich nur auf das Buch. Die Folie ist gratis.«

Ich erkläre ihr das nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal. Fünf Minuten später verabschiedet sie sich endlich, ohne das Buch gekauft zu haben. Ich bezweifle, dass sie es überhaupt lesen wollte, und wende mich der Schlange der wartenden Kunden zu, die das Gespräch augenverdrehend verfolgt haben. Ich verkaufe einem jungen, übernächtigt aussehenden Vater mit Zwillingskinderwagen den bestellten Baby-Schlaf-Ratgeber, einer Grundschülerin das geheime Sternenschweif-Zauberbuch und berate eine hektische Mittvierzigerin, die ein Geschenk für eine »anspruchsvolle, literarisch gebildete Freundin« sucht. Dann ist der Laden leer, ich atme tief ein und spüre, wie sich ein ungewohntes Gefühl der Ruhe in mir ausbreitet. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal richtig durchgeatmet habe. In den vergangenen zwei Monaten – mit Tamaras Ultimatum im Nacken – hatte ich ständig das Gefühl zu ersticken, und die letzten vierzehn Tage verliefen so hektisch, dass ich kaum zum Schlafen kam. Der Papierkram wegen der Übernahme; Vorwürfe von Freunden, dass ich verrückt sei, einfach so mein Leben von heute auf morgen umzukrempeln; der Umzug in die kleine Wohnung, die über der Buchhandlung liegt; der schmerzvolle Abschied von Joelle …

Doch daran möchte ich nicht denken, lieber blicke ich mich in der Buchhandlung um. Mir gefällt, was ich sehe. Die deckenhohen Holzregale, die sich an den Wänden entlangziehen. Die zwei gemauerten Säulen, die die gewölbte Decke stützen. Der blaue abgewetzte Teppich. Die Nischen, die dem Laden eine urige Gemütlichkeit verleihen – und vermutlich der Traum eines jeden Ladendiebes sind. Ich mag mein zukünftiges Geschäft jetzt schon, und was mir nicht gefällt, werde ich nach und nach ändern, angefangen mit dem Ausmisten der Ladenhüter in den obersten Regalreihen, die dort seit Jahren vor sich hin stauben. Insbesondere die im Heimatsegment!

Ich schiebe den Tritthocker vor das Regal, auf dessen unteren Borden Wanderkarten der Umgebung liegen, und greife mir wahllos ein Buch aus der obersten Reihe. Es trägt den Titel »Eine kleine Geschichte Neukirchens« und ist vom Leiter des Heimatmuseums verfasst worden. Ich schlage es auf, werfe einen Blick auf den ersten Satz und erschauere. Der Satz zieht sich über zehn Zeilen, verschachtelt sich über vier Ebenen und stellt sieben Personen mit vollem Namen vor. Nur ein masochistischer Deutschlehrer würde so etwas freiwillig lesen. Ich klappe das Buch wieder zu, als ich eine Stimme höre.

»Wie viele Bücher sind in diesem Laden?«

Ich zucke zusammen. Ich hätte geschworen, dass ich allein bin. Mit dem Buch in der Hand schaue ich nach unten, direkt in ein Paar braune, durch dicke Brillengläser vergrößerte Augen. Sie gehören zu einem Mädchen, dessen Kopf sich im Moment auf Höhe meiner Oberschenkel befindet.

»Wo kommst du denn her?«, frage ich scharf.

»Na, von da.« Das Mädchen deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger zu der Leseecke im hinteren Teil des Geschäfts, die aus zwei schäbigen alten Sesseln besteht, die durch ein Bücherregal abgeschirmt sind. »Wussten Sie das etwa nicht?«

»Nein.«

Sie starrt mich streng an. »Aber Sie müssen wissen, wie viele Leute da sind. Sie hätten mich einschließen können.«

»Das ist ja zum Glück nicht passiert.«

Ihr Blick bleibt streng. Ihr Gesicht eignet sich gut für strenge Blicke. Sie hat dichte dunkelbraune Augenbrauen, die sich dabei über ihrer Nase vereinigen. »Sie sind der Nachfolger«, stellt sie fest.

»Von Herrn Brandl? Ja.«

»Warum?«

»Warum was?«

»Warum wollen Sie den Buchladen kaufen? Meine Mutter sagt, nur Idioten übernehmen heute noch Buchläden.«

Charmante Mutter, charmante Tochter. Wobei die Mutter nicht unrecht hat. »Dann bin ich wohl ein Idiot. Und jetzt muss ich weiterarbeiten.« Ich quetsche die kleine Geschichte Neukirchens ins Regal zurück.

»Sagen Sie mir erst, wie viele Bücher es sind.«

»Wie viele Bücher was sind?«

»In diesem Laden.«

»Das weiß ich nicht.«

Wieder der strenge Blick. »Aber Sie müssen es wissen, wenn Sie den Laden kaufen.«

»Muss ich nicht.« Noch nicht. Erst nach der Inventur, die zusammen mit dem Umbau ansteht.

»Doch. Herr Brandl hat gesagt, ich soll Sie fragen.«

Na, vielen Dank, Herr Brandl, denke ich, doch dann dämmert mir etwas. In seinen ausführlichen Erklärungen zu den Neukirchener Biografien hat Georg Brandl auch eine gewisse Pauline erwähnt, eine von ihrem Vater vernachlässigte Zehnjährige, die regelmäßig die Geschäfte am Marktplatz heimsuche und eine kleine Nervensäge sei.

»Bist du Pauline?«

Sie nickt, und ich betrachte sie näher. Sie ist kein hübsches Kind. Dunkelbraune Haare, die strähnig an ihrem Kopf herunterhängen, die vorstehenden Augen hinter den dicken Brillengläsern, die Balkenaugenbrauen. Dazu der strenge Gouvernantenblick. Der Blick kommt mir bekannt vor, und dann erinnere ich mich endlich.

Ich steige von meinem Hocker. »Du bist das Mädchen aus dem Wald. Ich habe dich fast angefahren.«

»Das waren Sie?«

»Erkennst du mich nicht?«

»Ich hatte keine Brille auf.«

Was vermutlich der eine Grund ist, dass ich sie ebenfalls nicht gleich erkannt habe. Der andere ist, dass sie jetzt kein Blut an der Nase hat.

»Geht’s deiner Nase wieder gut?«

Pauline nickt.

»Prima. Tja, es freut mich, dich kennengelernt zu haben, Pauline.«

Doch so leicht lässt sie mich nicht davonkommen. »Wie viel kostet der Laden?«

In den nächsten Wochen lerne ich viele weitere Stammkunden kennen, und auch Pauline schneit regelmäßig herein, allerdings nicht um zu lesen, sondern um mir durch den Laden zu folgen und mich mit Fragen zu löchern, am liebsten mit solchen, deren Antworten sie nichts angehen. (»Haben Sie eine Frau? Kinder? Geschwister? Wie alt sind Sie? Warum sind Sie nach Neukirchen gezogen? Woher?«) Pauline verschont mich mit ihren Besuchen nur während der ersten zwei Aprilwochen, in denen ich die Buchhandlung für einige Umbaumaßnahmen schließe, doch am Tag der Wiedereröffnung, einem Samstag, stürmt sie als Erste durch die Ladentür, um die veränderte Anordnung der Abteilungen zu kritisieren und mir mitzuteilen, dass ihr der neue Kassentresen nicht gefällt. Vermutlich würde sie noch mehr kritisieren, doch mehr habe ich nicht geändert, dazu fehlt mir das Geld.

Zum Glück scheinen die anderen Gäste der Eröffnungsfeier ihre Ansichten nicht zu teilen. Bereits um halb zehn ist die Buchhandlung rappelvoll. Zahlreiche Neukirchener drängeln sich vor den Regalen, greifen zu den Gläsern mit Sekt und Orangensaft, knabbern Chips und Salzstangen. Es gibt ein bisschen Verwirrung über die Neuanordnung der Abteilungen, Begeisterung über das deutlich angewachsene Krimi-Thriller-Segment und viel Lob für den neuen Kassentresen. Gegen elf Uhr erscheint die Bürgermeisterin, der Reporter der Lokalzeitung – den Kontakt hat Georg Brandl hergestellt – macht einige Fotos, danach flaut der Ansturm ab. Ich greife zu einem Glas Orangensaft und proste Christa Baumann zu, meiner einzigen Mitarbeiterin, die ich von Georg Brandl übernommen habe, als ich hinter mir eine ungeduldige Stimme höre.

»Und wo finde ich nun die englische Literatur?«

Ich drehe mich um. Vor dem neuen Kassentresen steht eine große schlanke Frau um die vierzig in einem feuerroten taillierten Kurzmantel. Sie hat eine asymmetrische Kurzhaarfrisur von der Sorte, die vermutlich mithilfe eines Geodreiecks gestylt wird, und kühle graue Augen.

»Hallo. Kann ich Ihnen helfen? Darf ich Ihnen zur Feier des Tages ein Glas Sekt anbieten?« Ich nehme ein volles Sektglas und halte es ihr hin.

»Keine Zeit. Ich suche …« Sie unterbricht sich und mustert mich näher. Es ist ein intensiver Blick, abschätzend, als wollte sie im nächsten Moment ein Bewertungskärtchen zücken. Ihr scheint zu gefallen, was sie sieht, denn ihre gereizte Miene verschwindet, und sie lächelt mich an. »Warum nicht? Wenn Sie mittrinken.«

Sie nimmt das Glas, wobei ihre kühlen Finger meine berühren. Ich greife zu einem der Gläser mit alkoholfreiem Sekt und stoße mit ihr an.

»Nora Vogt.«

»Erik Lange.«

»Ich weiß. Erwarten Sie nicht, dass Sie in einem Nest wie diesem die Buchhandlung übernehmen können, ohne dass jeder über fünf ihren Namen buchstabieren kann. Es wurde Zeit, dass jemand den Laden entstaubt. Ich bezweifle, dass Georg Brandl je etwas gelesen hat, das nach der Jahrtausendwende erschienen ist.« Sie mustert mich wieder intensiv. »Sie sind aber ursprünglich nicht von hier, oder?«

»Ich komme aus Altenstein.«

»Und was treibt Sie hierher?«

Ich mache eine Handbewegung, die den Laden umfasst.

Sie zieht ihre Augenbrauen hoch. »Sie sind hergezogen, um die Buchhandlung zu übernehmen? Ich dachte, Buchläden sterben heutzutage wie die Fliegen. Hätten Sie in Altenstein keinen finden können, der auf dem Totenbett dahinsiecht?«

Ich finde den Vergleich nicht sehr geschmackvoll, lächle jedoch mein freundlichstes Der-Kunde-hat-immer-recht-Lächeln. »Keinen so hübschen. Also, was kann ich für Sie tun? Englische Literatur finden Sie hier.« Ich gehe zu dem entsprechenden Regal voraus. »Was suchen Sie?«

»Etwas für meine Tochter. Sie geht in die vierte Klasse und hat seit zwei Jahren Englischunterricht. Nicht, dass sie in der Grundschule wirklich viel lernt, ich dachte, man könnte das vielleicht beschleunigen. Aber kommen Sie mir nicht mit irgendwelchen Lerntrainern, die haben wir schon durch. Vielleicht …« Sie unterbricht sich und hebt dann die Stimme. »Pauline, wo willst du hin?«, ruft sie quer durch den Laden.

Pauline? Überrascht folge ich Nora Vogts Blick und sehe meine persönliche Nervensäge Pauline, die gerade auf die Ladentür zusteuert. Beim Klang der lauten Stimme dreht sie sich um und macht ein schuldbewusstes Gesicht. Auf eine Handbewegung von Nora Vogt hin trottet sie mit hängenden Schultern zu uns herüber.

»Ich wollte nach draußen, vor dem Laden ist so ein süßer Hund angebunden.«

»Du kannst nicht einfach rausrennen, ohne Bescheid zu sagen. Außerdem möchte ich dir jemanden vorstellen. Herr Lange, meine Tochter Pauline.«

Pauline streckt gehorsam die Hand aus. »Guten Tag, Herr Lange.«

Sie ist so brav, dass ich mir ein Lachen verkneifen muss. Und ich gebe zu, ich bin überrascht. Ich hätte diese elegante Frau nicht mit dem plumpen zehnjährigen Mädchen in Verbindung gebracht. »Hallo, Pauline, schön dich wiederzusehen.«

Nora Vogt runzelt die Stirn. »Sie kennen sich schon?«

Ich will das bestätigen, doch Pauline macht einen Schritt zurück halb hinter ihre Mutter, starrt mich an und schüttelt heftig den Kopf.

»Nun, ich …«

Pauline schüttelt den Kopf heftiger und zwinkert mit beiden Augen. Dann schaut sie zu ihrer Mutter hoch. »Ich war doch schon heute Morgen hier, Mama, als du beim Friseur warst. Da habe ich schon mit Herrn Lange geredet.«

»Ach so. Ich hoffe, du hast ihn nicht genervt.« Nora Vogt sieht mich fragend an.

Ich versichere, dass Pauline ganz reizend gewesen sei, fühle mich jedoch nicht wohl dabei. Dann werde ich durch einen Ruf abgelenkt.

»Mama, da ist Pauline!«

Im nächsten Moment stürmt ein Mädchen auf uns zu, dessen Anblick mir schier den Atem verschlägt. Ich schätze sie auf neun Jahre, und sie ist so schön, dass es fast schmerzt. Kornblumenblaue strahlende Augen, honigblonde Locken, die ihr bis auf den Rücken fallen, ein kleines rundes Kinn mit einem Grübchen.

Dann blicke ich hoch und frage mich, ob ich vielleicht den ganzen Morgen doch Sekt statt Orangensaft getrunken habe, denn ich sehe doppelt. Hinter dem Mädchen kommt seine Kopie auf uns zu. Sie ist dreißig Zentimeter größer und fünfundzwanzig Jahre älter, hat jedoch die gleichen kornblumenblauen Augen, die gleichen Haare, das gleiche Grübchen. Sie trägt sogar ähnliche Kleidung: blaues Kleid, helle Strickjacke, Stiefel.

Ich spüre Nora Vogts Hand auf meinem Arm. »Erik, darf ich Ihnen meine Freundin vorstellen.«

Ich bin so überwältigt von der feenhaften Schönheit vor meinen Augen, dass ich gar nicht richtig mitbekomme, was Nora Vogt sagt. Zwei Namen, Viola und Theresa, doch ich kann nicht zuordnen, welcher zur Mutter gehört, welcher zur Tochter. Die Tochter sagt flüchtig und etwas atemlos »Hallo!«, bevor sie Pauline ein Stückchen zur Seite zieht, um ihr irgendetwas zu erzählen. Die Mutter schüttelt meine Hand, ihre ist warm und weich, doch ich ziehe meine schnell zurück, damit sie nicht merkt, wie mir der Schweiß ausbricht. Sie sagt etwas, das ich nur zur Hälfte mitbekomme, dann sieht sie mich erwartungsvoll an. Ich reiße mich zusammen.

»Das ist sehr nett von Ihnen.« Ich glaube, sie hat die Veränderungen im Laden gelobt. Sicher bin ich nicht, aber die Antwort scheint zu passen, denn sie fährt fort:

»Und der Tresen passt wunderbar hier rein. Tessi wollte ihn unbedingt sehen, deswegen sind wir gekommen. Sie ist keine große Leseratte.« Die Frau streicht flüchtig über den Kopf ihrer Tochter.

Ich starre auf die Hand in den Haaren, an ihrem rechten Ringfinger glänzt ein schwerer goldener Ehering. Ich suche nach einer passenden Antwort, als Nora Vogt sich wieder einmischt.

»Apropos Leseratte, haben Sie jetzt einen Tipp für mich?«

Dankbar wende ich mich ihr zu. Ich bin froh, das Gespräch mit der Feenmutter abbrechen zu können. Noch lieber würde ich allerdings in diesem Moment davonlaufen. Denn mir ist das schon einmal passiert: nicht Liebe auf den ersten Blick, daran glaube ich nicht, doch Anziehung auf den ersten Blick, Begehren auf den ersten Blick, sich rettungslos verknallen auf den ersten Blick. Ich wollte das nie wieder erleben.

2

Die Eröffnung der Buchhandlung Lange – vormals Bücherstube Brandl – ist ein voller Erfolg. Der Umsatz am Eröffnungstag liegt vierzig Prozent über dem eines normalen Samstags, und auch in den Wochen danach verkaufen Christa Baumann und ich mehr als üblich. Ob das allerdings ein dauerhafter Trend ist oder nur ein kurzfristiger Effekt, weil die Neugier auf den Neuen die Neukirchener in den Laden treibt, kann ich nicht sagen.

Die Neukirchener sind aber nicht nur neugierig auf mich, sondern auch sehr willkommen heißend. Ich lebe jetzt seit über zwei Monaten hier und fühle mich erstaunlich wohl – angesichts der Tatsache, dass ich nicht freiwillig umgezogen bin. Allerdings hätte ich ohnehin wenig Zeit, mit der Entscheidung zu hadern.

Wenn ich nicht in der Buchhandlung bin – von montags bis samstags, von morgens bis abends –, renoviere ich meine Wohnung. Sie liegt über der Buchhandlung, ich habe sie zusammen mit dieser gemietet. Da sie jahrelang leer stand, war sie bei meinem Einzug nicht in bestem Zustand. Mittlerweile habe ich die alten Böden herausgerissen und Laminat verlegt, außerdem eine Ikeaküche eingebaut und die Wände gestrichen. Beim Einbau der Küche hat mir Marco Brunner geholfen, einer der drei ortsansässigen Schreiner, der auch den neuen Kassentresen für die Buchhandlung gebaut hat. Christa Baumann hatte ihn mir empfohlen, er sei der Beste.

Nun, ich kann nicht beurteilen, wie gut die anderen Schreiner sind, doch Marco ist sehr gut. Darüber hinaus ist er ein ausgesprochen angenehmer Zeitgenosse. Er ist wie ich Mitte dreißig und einer dieser glücklichen Menschen, die genau wissen, wo sie herkommen und wo sie hingehören. Seine Familie besitzt seit Generationen einen Bauernhof in Schönblick, dem südlichsten Ortsteil von Neukirchen. Sein älterer Bruder hat den Hof übernommen, Marco hat auf dem Grundstück eine erfolgreiche Schreinerei aufgebaut. Er hat eine Frau und zwei Kinder und sitzt für die CSU im Stadtrat. Auf den ersten Blick haben wir nicht viel gemeinsam, dennoch haben wir uns angefreundet, weil wir eine Leidenschaft teilen: Volleyball. Beim Kücheneinbau hat Marco mir vom Neukirchener Sportverein erzählt und mich zum Training der Ü30-Freizeitmannschaft eingeladen. Seitdem spiele ich an jedem Donnerstag Volleyball. Da wir anschließend immer auf ein Bier in den Ratskeller gehen, kenne ich die Mitspieler mittlerweile auch ein wenig privat, und heute werde ich sie noch besser kennenlernen, denn ich bin unterwegs zu Marcos Geburtstagsfeier.

Es ist der zweite Samstag im Mai. Das Wetter ist zu warm für die Jahreszeit. Fünfundzwanzig Grad, Sonnenschein, strahlend blauer Himmel. Ich fahre mit dem Rad. Schönblick liegt etwa ein Kilometer südlich von Neukirchen. Im Ort heißt es, dort zögen die Bonzen hin, und seit das so sei, gehörten auch die Brunners zu den Bonzen. Marco behauptet, das sei maßlos übertrieben. Zwar hat seine Familie vor zehn oder zwölf Jahren einen Teil ihres Grundes verkauft, aber darauf hätten ganz normale Familien ganz normale Häuser gebaut.

Als ich kurz darauf durch Schönblick radle, muss ich Marco recht geben. Hier stehen keine Bonzenvillen, sondern Einfamilienhäuser. Allerdings große Einfamilienhäuser auf großen Grundstücken mit großen Autos davor. Irgendwie merkt man ihnen an, dass sie von doppelt verdienenden Akademikerpaaren mit ein bis drei Kindern bewohnt werden.

Marcos Haus ist ebenfalls nicht klein, besitzt ein tiefgezogenes Dach und einen rundumlaufenden Balkon, an dem Kästen mit Petunien und Zauberglöckchen hängen. Als ich ankomme, stehen ein Mann in den Vierzigern und ein Teenager davor, eine hübsche Sechzehn- oder Siebzehnjährige mit langen, glatten, braunen Haaren. Sie lacht über etwas, das der Mann sagt, schallend, mit nach hinten geworfenem Kopf. Ich muss an Joelle denken, und der altbekannte Schmerz durchzuckt mich. Denn so beschäftigt ich in Neukirchen auch bin: Natürlich vermisse ich meine Tochter jeden Tag, und unsere heimlichen wöchentlichen Telefonate sind nicht genug.

Das Mädchen sieht mich, und ihre gute Laune verfliegt. Sie zieht einen Flunsch, sagt etwas zu dem Mann und verschwindet dann durch ein Gartentor ums Haus herum. Der Mann kommt auf mich zu. Es ist Matthias, kurz Mats, unser Volleyballtrainer.

»Erik, schön dich zu sehen. Hätte ich gewusst, dass du kommst, hätten wir zusammen fahren können.« Er grinst breit, das macht er bei den meisten Anlässen.

»Nein, danke, nach hundert Metern hätte ich nur noch deine Staubwolke gesehen.«

Das ist die reine Wahrheit. Mats ist Sportlehrer am Neukirchener Gymnasium, und zwar keiner von der Sorte, die nur Anweisungen erteilt, sondern von der, die immer vorneweg rennt.

»Deine Tochter mag mich anscheinend nicht sonderlich«, fahre ich fort, während ich mein Rad absperre. Von unseren Ratskellerabenden weiß ich, dass Mats ein Exschönblicker ist. Vor einem Jahr hat er Frau und Tochter verlassen – oder sie haben ihn hinausgeworfen, so genau weiß ich das nicht – und ist in eine Zweizimmerwohnung überm Ratskeller gezogen.

Mats schüttelt den Kopf. »Marie ist nicht meine Tochter, meine ist erst zehn. Marie gehört zu Jens. Er hat mich gebeten, mal mit ihr zu reden. Er ist sauer, weil sie sich Fridays for Future angeschlossen hat.«

»Hat er was gegen die Rettung unseres Planeten?«

»Er hat was dagegen, dass Marie freitags die Schule schwänzt. Er macht sich Sorgen um ihren Abischnitt – obwohl sie erst in der Zehnten ist.«

Das ist typisch für Jens, den ich ebenfalls vom Volleyball kenne. Jens ist besessen von Leistung. Er ist der Einzige im Team, dem ausgearbeitete Trainingspläne lieber sind als eine Runde lockeres Spiel.

»Und hast du bei Marie etwas erreicht?«

Mats zieht seine Basecap vom Kopf, um sich durch seine Haare zu fahren. Ich glaube, er trägt die Basecap, weil er am Hinterkopf langsam kahl wird, was seiner Coolness allerdings keinen Abbruch tut. Mit den schulterlangen zotteligen Haaren und dem Vollbart sieht er aus wie ein Aussteiger, der einen Surfladen auf Hawaii aufgemacht hat. »Ich hab’s gar nicht versucht. Ich habe sie zum Lachen gebracht, ich wette, das hat Jens das letzte Mal versucht, als sie drei war. Also, dann stürzen wir uns mal ins Gewühl.«

Er öffnet das Gartentor, durch das Marie verschwunden ist, und geht voraus über einen gepflasterten Weg und an hübsch gepflegten Blumenbeeten vorbei. Ich höre Lachen und Rufen, und als wir um die Hausecke biegen, wird mir klar, wieso Mats von Gewühl gesprochen hat. Schätzungsweise fünfzig Personen stehen in kleinen Grüppchen im Garten der Brunners herum, sitzen auf Bierbänken oder liegen im Gras. In einer Ecke ist eine behelfsmäßige Bar aufgebaut, daneben ein Tisch mit einem Dutzend Kuchenplatten. Es geht zu wie an einem Feiertag im Biergarten, dabei hatte Marco etwas von einer kleinen Grillparty im engen Freundeskreis gesagt.

Ich halte Ausschau nach dem Gastgeber und sehe ihn mit einer Gruppe von Leuten zusammenstehen. Ein finster dreinblickender, grauhaariger Hüne, ein Jugendlicher mit mürrischem Gesichtsausdruck, ein älteres Paar in Tracht und Nora Vogt mit Pauline. Als wir uns nähern, winkt Marco uns zu sich.

»Erik, Mats, endlich ist das Team komplett.«

Es klingt, als hätte er sehnsüchtig auf uns gewartet, und mir wird klar, dass das einer der Gründe ist, warum ich Marco mag. Er gibt sich immer Mühe, damit andere sich wohlfühlen. Eigentlich ist das eher ein Frauending – oder ein Politikerding. Vielleicht stimmt doch, was Mats mal angedeutet hat, dass Marco Ambitionen auf das Bürgermeisteramt hegt, sobald die jetzige Amtsträgerin in Ruhestand geht.

Ich überreiche mein Mitbringsel, eine Flasche Wein, und Marco macht mich mit den anderen Gästen bekannt. Der grimmige Hüne entpuppt sich als sein fünfzehn Jahre älterer Bruder Josef, der mürrische Teenager als sein Sohn Leon, das ältere Paar sind Marcos Schwiegereltern.

»Und Nora und Pauline«, sagt Marco schließlich. »Nora ist …«

»Wir kennen uns schon. Hi, Erik, schön, dich zu sehen.« Nora begrüßt mich mit Wangenküsschen, was ich nach einer einmaligen Begegnung etwas übertrieben finde. Dann lässt sie ihren Blick an Mats abwärts wandern, über dessen verwaschenes T-Shirt mit AC/DC-Aufdruck, die abgeschnittene, ausgefranste Jeans und die offenen Flipflops. »Mats, wie immer passend zum Anlass gekleidet.«

Mats’ Dauergrinsen gefriert, während er einen abschätzigen Blick in den tiefen Ausschnitt von Noras rotem Cocktailkleid wirft. »Wir haben es halt nicht alle nötig, unsere Waren auszustellen.«

»Und das sagt der Mann, der seine Ware jeder aufdrängt, die nicht bei drei auf dem Baum ist.«

»Wenigstens ist meine Ware gefragt. Hallo, Kleine!«

Das Letzte gilt Pauline, die ihn mit einem vorwurfsvollen Blick empfängt. Ich frage mich, was der Blick über Paulines Beziehung zu Mats aussagt, da geht mir reichlich verspätet ein Licht auf, und prompt bestätigt Pauline meinen Verdacht.

»Du hast gesagt, du kommst um drei bei uns vorbei, Papa.«

»Ich wurde aufgehalten.«

»Aber ich wollte dir etwas zeigen.«

»Was denn?«

»Das sage ich jetzt nicht mehr.«

Pauline presst ihre Lippen zusammen zum Zeichen, dass es ihr ernst ist. Mats reagiert mit einem typischen genervten Elternblick. Mehr bekomme ich von der familieninternen Debatte nicht mit, denn Marco fasst mich am Arm. »Und das ist der Rest meiner Familie.«

Ich drehe mich um und erstarre zur Salzsäule. Über den Rasen kommen Viola und Theresa auf uns zu, die Feenwesen aus dem Buchladen. Sie sehen noch schöner aus als bei unserer ersten Begegnung. Beide tragen weiße, weit schwingende Sommerkleider, die Haare glänzen offen in der Sonne, darauf tragen sie Blumenkränze, als wären sie zu einer schwedischen Sonnwendfeier unterwegs.

»Erik, meine Frau Viola, meine Tochter Theresa. Ihr zwei, das ist Erik Lange.«

»Ja, wir sind uns schon begegnet, als wir den neuen Kassentresen bewundert haben.« Viola lächelt mich an. »Ich freue mich, dich wiederzusehen.«

Ich versuche zurückzulächeln, produziere jedoch eher eine entsetzte Grimasse. Ich hatte nicht damit gerechnet, die beiden hier zu sehen, und obwohl ich in den letzten Wochen einige Male an sie denken musste, wollte ich sie auch ganz bestimmt nicht hier treffen. Und ich wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, sie könnten zu Marco gehören. Ich möchte nicht gemein sein, Marco ist ein prima Kerl, aber niemand würde ihn für einen gut aussehenden Mann halten. Er ist kaum ein Meter siebzig groß, hat einen Bauchansatz und höchstens noch die Hälfte seiner Haare. Neben seiner Frau wirkt er wie einer von Schneewittchens Zwergen.

Ich reiße mich zusammen. »Hallo!« Dann sehe ich zu Theresa hinunter und sage noch einmal: »Hallo!«

Sie sagt ebenfalls »Hallo!« Sie hat eins von diesen dünnen, hauchigen Stimmchen wie viele Mädchen ihres Alters. Sie scheint schüchtern zu sein, denn sie sieht mich nur ernst an und sagt kein weiteres Wort.

Ich blicke wieder zu ihrer Mutter hoch. »Die Blumenkränze sind wunderschön. Haben Sie … Hast du sie selbst gebunden?«

Sie freut sich sichtlich über das Kompliment. »Ja. Tessi hat neulich eine Dokumentation über Mitsommerfeiern in Schweden gesehen. Und da ich Floristin bin …«

»Viola arbeitet bei Anschnitt in der Hauptstraße«, wirft Marco ein, »aber eigentlich träumt sie davon, ein eigenes Geschäft aufzumachen.«

»Tatsächlich?«, frage ich höflich.

Viola neigt den Kopf zur Seite. »Na ja, es ist nur ein halber Traum. Vielleicht, wenn Tessi groß ist.«

»Ich bin schon groß«, haucht Theresa prompt.

»Klar, entschuldige.«

»Also, ich finde, Viola sollte lieber ein Café aufmachen, für ihre Erdbeerrolle würde ich morden«, mischt Mats sich ein. Er nimmt Viola in den Arm. »Du siehst toll aus.«

»Danke, du auch.« Sie macht sich los, recht schnell, wenn ich das richtig deute. »Apropos Erdbeerrolle, ich glaube, die erste ist schon weg. Ich habe noch eine zweite im Kühlschrank, ich hole sie schnell. Tessi, hilfst du mir?«

Zehn Minuten später sitze ich auf einer Bierbank im hinteren Teil des Gartens, vor mir ein Stück Erdbeerbisquitrolle und eine Tasse Kaffee. Nach der Begegnung mit Marcos Familie möchte ich erst einmal in Ruhe meine Gedanken sortieren, bevor ich mich unter die anderen Gäste mische, doch ich bleibe nicht lange allein. Ich habe gerade meinen zweiten Bissen Kuchen im Mund, da steht Nora Vogt vor mir, in jeder Hand ein Glas Aperol Spritz. Eins drückt sie mir in die Hand, mit dem anderen prostet sie mir zu.

»Auf Marco.«

Notgedrungen stoße ich mit ihr an, nippe jedoch nur an dem Drink, bevor ich ihn abstelle und zur Kaffeetasse greife.

Nora bemerkt es. »Nichttrinker?«

»Wenigtrinker.«

Sie zieht ihre Augenbrauen hoch. »Aber kein trockener Alkoholiker, oder?«

Ich bin etwas verblüfft über diese Schlussfolgerung. »Nein, es schmeckt mir nur nicht sonderlich.« Die erste Hälfte der Antwort ist wahr, die zweite ist gelogen. Ich mag Alkohol, tatsächlich hätte ich jetzt Lust auf ein kühles Bier, aber nach dem Abend mit Ralf vor fünf Monaten habe ich mir geschworen, nie wieder auch nur in die Nähe eines Rausches zu kommen.

»Gut«, sagt Nora. »Wenn du ein Problem mit Alkohol hättest, dann müsste ich wieder gehen, denn ich habe vor, jede Menge zu trinken. Nüchtern ertrage ich den Anblick meines Exmannes nicht.«

»Ich wusste nicht, dass Mats dein Exmann ist.«

Sie hebt ihre schmalen Schultern. »Wieso auch? Mats ist ein Meister darin, es sich gut gehen zu lassen und alles zu verdrängen, was ihn daran hindern könnte. Nochehefrau, Tochter, Verpflichtungen allgemein. Wieso sollte er über mich reden, wenn es doch so viele aktuellere Themen gibt – wie zum Beispiel, wen er gerade bumst oder wo ein neuer Stripclub aufgemacht hat?« Ihre kühlen Augen werden schmal, als ich erröte. »Habe ich ins Schwarze getroffen?«

Ich schüttele abwehrend den Kopf.

»Doch. Also, wen bumst er?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung.«

»Dann will Mats mit dir in einen Stripclub?«

Natürlich bestreite ich es, doch sie glaubt mir nicht, und damit liegt sie richtig. Tatsächlich hat Mats uns beim vorletzten Ratskellerabend von einem neuen Erotikclub in Neustadt vorgeschwärmt und vorgeschlagen, gemeinsam hinzugehen. Wir haben abgelehnt.

Ich wechsle das Thema. »Wie hat Pauline eigentlich Alice im Wunderland gefallen?« Ich habe Nora am Eröffnungstag das Buch in einer zweisprachigen Version verkauft.

Nora runzelt die Stirn, wobei sich ihre Augenbrauen zusammenschieben. Ihr kritischer Gesichtsausdruck erinnert mich an den ihrer Tochter. »Die Geschichte an sich hat ihr gut gefallen, aber der Lernerfolg war begrenzt, weil sie immer auf den deutschen Text geschielt hat. Ich hätte doch kein zweisprachiges Buch kaufen sollen.«

Das Letzte klingt vorwurfsvoll, als trüge ich die Schuld an einem monumentalen Fehlkauf. In gewisser Weise stimmt das auch. Als Nora nach englischer Lektüre für Pauline fragte, habe ich sie darauf hingewiesen, dass eine klassische englische Geschichte für eine Viertklässlerin mit nur zwei Jahren Englischunterricht zu früh komme.

»Und The testaments?« Den Roman von Margaret Atwood hat Nora an dem Tag für sich gekauft.

»Den fand ich hervorragend – größtenteils. Sagtest du nicht, du hättest ihn ebenfalls gelesen. Wie fandest du …?«

Die nächsten zwanzig Minuten diskutieren wir diverse Aspekte des mit dem Booker Prize ausgezeichneten Romans. Das Thema scheint Nora sehr zu interessieren, denn sie redet immer schneller, gestikuliert viel und ist von unserer Diskussion so abgelenkt, dass sie unbewusst auch zu meinem Aperol Spritz greift.

»Wow«, sagt sie schließlich, nachdem sie beide Gläser geleert hat. »Das hat richtig Spaß gemacht. Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich das letzte Mal mit jemandem diskutiert habe, der wirklich Ahnung von Büchern hat. Vermutlich während des Studiums. Germanistik und BWL«, fügt sie auf meinen fragenden Blick hinzu.

»Dann liest du gern und viel?«

»Gern ja, viel nein. Zeitmangel. Ich habe die Germanistik an den Nagel gehängt, weil man mit BWL mehr verdient. Und du?«

»Gern ja und viel ja. Trotz Zeitmangel. Das bringt der Job mit sich, ich muss ja wissen, was ich empfehlen kann.«

Nora nickt. »Und wie sieht’s mit anderen Interessen aus? Theater? Kino? Stehst du auf politisches Kabarett? Die Gewinnerin des bayrischen Kabarettpreises kommt nächsten Monat nach Neustadt. Hast du Lust, mit mir hinzugehen?«

Die Frage kommt aus dem Nichts, und ich zögere mit der Antwort. Die Diskussion gerade war wirklich spannend, Nora ist intelligent und schlagfertig, aber das heißt nicht, dass ich einen ganzen Abend mit ihr verbringen möchte. »Ist die nicht längst ausverkauft?«

»Das deichsele ich, ich habe Kontakte.« Nora greift zu den leeren Gläsern und steht auf. »Ich brauche Nachschub. Also, ich kümmere mich um Karten und melde mich bei dir.«

Sie stöckelt über den Rasen davon. Sie trägt zwar High Heels, kann sich jedoch trotz zweier Cocktails und trotz des unebenen Untergrundes elegant bewegen. Ich sehe ihr nach, während ich hoffe, dass wir uns nicht gerade zu einem Date verabredet haben.

»Bleib sitzen!«

Ich will gerade aufstehen, um mich unter die Gäste zu mischen, als Jens sich neben mich setzt, in der Hand ein Glas Mineralwasser. Ich trinke wenig Alkohol, Jens trinkt gar keinen, und ich beneide ihn um die Fähigkeit, das in einer Gesellschaft durchzuziehen, in der Bier und Wein zum guten Ton gehören. Er muss sich an jedem Donnerstagabend im Ratskeller Frotzeleien über seine Abstinenz anhören, doch statt sich unwohl und unzugehörig zu fühlen, wie es mir erginge, lässt er sich jedes Mal über einen anderen schädlichen Aspekt regelmäßigen Alkoholkonsums aus. Jens gehen nie die Argumente aus, bei keinem Thema, und wenn sie es doch tun, fängt er wieder von vorne an. Er ist einer dieser Menschen, die alles bis ins letzte Detail ausdiskutieren müssen. Dass zwei Menschen verschiedener Meinung sein oder gar aufgrund derselben Faktenlage zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen können, gehört zu den vielen Dingen, die für ihn schwer erträglich sind.

Auch jetzt scheint ihm etwas auf der Seele zu liegen, denn nachdem er einen Schluck Mineralwasser getrunken hat, seufzt er tief. »Ich kann nicht glauben, dass ich das sage, aber manchmal wäre ich gerne wie Mats. Wie schafft er das nur?« Er deutet mit dem Glas zum vorderen Teil des Gartens.

Ich weiß sofort, was Jens meint. Mats hat sich von irgendwoher einen Liegestuhl besorgt und auf dem Rasen aufgestellt. Er fläzt darin, ein Bierglas in der rechten Hand, einen Teller mit einem Stück Kuchen balanciert auf seinem Bauch. Um ihn herum sitzen ein halbes Dutzend Jugendliche im Gras, darunter Jens’ Tochter Marie und Marcos Leon. Mats erzählt irgendetwas, und die Teenies hängen an seinen Lippen. Es sieht aus, als würde Mats Hof halten. Oder als wäre er ein Guru, der seine Jünger um sich geschart hat.

»Wie macht er das nur?«, wiederholt Jens. »Wenn ich mit Marie rede, dann sieht sie mich spätestens beim dritten Satz an, als sei ich ein Alien, und spätestens beim fünften schaltet sie geistig komplett ab – wenn sie dann noch im Zimmer ist. Nichts von dem, was ich sage, erreicht sie. Marco geht es mit Leon genauso, aber Mats … Sieh ihn dir doch an!«

Ich sehe mir Mats an, der gerade bei irgendeiner Pointe angelangt zu sein scheint. Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, und die Teenies um ihn herum johlen vor Vergnügen.

»Vermutlich redet er mit ihnen über Themen, die sie interessieren«, mutmaße ich. »Oder er gibt gerade eine seiner Geschichten zum Besten. Du weißt doch, wie Mats ist: der geborene Entertainer.«

Jens schüttelt den Kopf. »Er erreicht die Kids auch bei ernsten Themen. Vor ein paar Monaten war Marie totunglücklich, weil wir ihr verboten hatten, an irgendeinem schwachsinnigen Modelwettbewerb teilzunehmen. Sie heulte den ganzen Tag und wurde jedes Mal aggressiv, wenn Sabine oder ich sie angesprochen haben. Und dann hat Mats mit ihr geredet, und innerhalb kurzer Zeit war sie wie ausgewechselt, besser drauf als je zuvor.«

Ich bin beeindruckt. »Was hat Mats zu ihr gesagt?«

»Er behauptet, nichts Besonderes. Man müsse die Kids und ihre Sorgen einfach nur ernst nehmen. Aber das kann nicht alles sein. Ich nehme Marie ernst, sie mich allerdings nicht. Wenn ich mir Sorgen über ihre Zukunft oder ihre Schulnoten mache, behauptet sie einfach, das ginge mich nichts an.«

»Tja, das ist dann wohl die Pubertät.«

Jens reagiert gereizt auf die Floskel. »Pubertät – das sagen alle. Aber damit ist das Problem höchstens benannt, nicht gelöst. Ich kann doch Marie nicht einfach ein paar Jahre in Ruhe lassen und wieder mit ihr reden, wenn die Pubertät vorbei ist. Bis dahin hat sie ihr Abi versaut und ihre ganze Zukunft und …«

Ich schalte ab, als Jens sich auf sein Steckenpferd schwingt. Ich verstehe zwar, dass er sich Sorgen um die Zukunft seiner Tochter macht, finde aber, dass er maßlos übertreibt. Soviel ich weiß – er redet ja oft genug darüber –, ist Marie eine gute Schülerin, doch Jens reicht das nicht. Meiner Ansicht nach sollte er einfach dankbar sein, dass Marie gesund ist und dass er an ihrem Leben teilnehmen darf. Ich würde sonst was dafür geben, wenn ich nicht zwei Stunden von Joelle entfernt leben müsste.

Ich verkneife mir jedoch einen Kommentar und murmele in den nächsten Minuten nur gelegentlich »Ja, ja«, während ich meinen Blick durch den Garten schweifen lasse. Es ist noch voller geworden. Marco unterhält sich mit Christa Baumann und der Bürgermeisterin, Viola versorgt ihre Eltern mit Kaffee und Kuchen. Ihr Vater sagt etwas, worüber sie herzlich lacht. Theresa fotografiert die Szene mit einem Handy. Ich reiße mich von dem Anblick los und schaue mich weiter um. Nora leert einen weiteren Aperol Spritz, die Gruppe um Mats löst sich auf, als Mats aufsteht. Mats schüttelt den Kopf auf eine Bemerkung eines Teeniemädels hin, das ihn offen anhimmelt, dann stürmt Pauline auf ihn zu und zerrt ihn am Arm weg. Leon zieht Marie auf die Füße, sie boxt ihm freundschaftlich gegen den Arm. Mein Blick schweift weiter, kehrt jedoch immer wieder zur Kuchentheke zurück. Jetzt hat Marcos Bruder Josef sich zu Viola und Theresa gesellt – wenn man von gesellen reden kann. Er steht einfach neben den beiden und schaut grimmig drein. Ich frage mich, ob das sein üblicher Gesichtsausdruck ist.

»Erde an Erik. Bist du noch da?«

»Bitte? Entschuldige, Jens, was sagtest du gerade?« Ich drehe mich zu ihm um.

Er grinst mich süffisant an. »Pass bloß auf, dass Marco dich nicht erwischt.«

»Bitte?«

Jens nickt in Richtung Kuchentheke. »Marco neigt zur Eifersucht. Oder möchtest du behaupten, dass deine sehnsüchtigen Blicke nicht Viola galten, sondern der Obsttorte?«

»Ich habe nicht …« Ich schlucke den Rest hinunter, als Jens’ Grinsen breiter wird. »Was ist eigentlich mit Marcos Bruder los?«, frage ich stattdessen. »Guckt der immer so grimmig, oder hasst er einfach Partys?«

»Beides.« Jens’ Miene wird ernst. »Er hat vor einem Jahr seine Frau und seine Tochter verloren. Traurige Geschichte.« Er schweigt einen Moment lang. »Sag mal, stimmt es, dass du auch eine Tochter hast? Marco erwähnte es.«

Mir stockt kurz der Atem. »Das stimmt. Joelle.«

»Ich dachte, du lebst allein.«

»Sie lebt bei ihrer Mutter in Altenstein.«

»Ihr seid geschieden?«

»Wir waren nie verheiratet.« Da Jens fragend guckt, füge ich hinzu: »Es ist eine komplizierte Geschichte.« Was die Untertreibung des Jahres sein dürfte.

»Das ist es immer, oder?« Jens seufzt. »Wie alt ist denn deine Tochter?«

»Fünfzehn.«

»Und ist sie gut in der Schule?«

Ich unterdrücke ein Stöhnen. »Ich glaube, ich muss mal den Kaffee wegbringen.«

Es ist nicht nur eine Ausrede, ich muss wirklich, also gehe ich über die Terrasse ins Haus. Doch als ich mir einige Minuten später im Gäste-WC die Hände wasche, kann ich mich plötzlich nicht mehr aufraffen, in den Garten zurückzukehren. Vielleicht, weil Jens von Joelle und Josefs verstorbener Tochter im selben Atemzug gesprochen hat. Ich starre mein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken an und frage mich, was zum Teufel ich hier tue. Ja, ich bin in einer hübschen Stadt gelandet, ja, ich bin auf einer Party mit lauter netten Menschen, aber nein, ich gehöre nicht hierher. Ich bin zwei Stunden entfernt von meinem Zuhause, von meiner Tochter, von meinen Eltern und meiner Schwester, von meinen Freunden. Zwei Stunden entfernt von meinem Leben. Nur, dass das nicht mehr mein Leben ist – dafür hat Tamara gesorgt. Mein Leben ist jetzt hier.

Ich trockne mir die Hände ab und lasse mich gegen die Tür sinken, während die Depression meine Schultern tiefer und tiefer drückt. Einige Minuten verharre ich so, dann beschließe ich, das Einzige zu tun, was ich in dieser Situation tun kann. Ich verlasse das Gäste-WC und gehe durch die Haustür hinaus vor das Haus. Ich ziehe mein Handy aus der Gesäßtasche meiner Jeans, doch bevor ich Klaras Nummer wählen kann, poppt eine SMS auf. »Können wir reden? Ralf.« Ich lösche die SMS meines ehemals besten Freundes sofort. Ralf ist der einzige Mensch, mit dem ich noch weniger sprechen möchte als mit Tamara.

Ich wähle Klaras Nummer, doch sie geht nicht ran, stattdessen lausche ich ihrer Stimme auf der Mailbox. Sofort fühle ich mich besser. Noch besser würde ich mich fühlen, könnte ich mit Joelle reden, doch Tamara kontrolliert ihr Handy, deswegen haben wir ausgemacht, dass immer sie mich anruft und anschließend den Anruf aus ihrer Anrufliste löscht.

Ich stecke mein Handy wieder weg. Und jetzt? Mein Blick fällt auf mein Fahrrad. Ich könnte zu meiner Wohnung über der Buchhandlung zurückradeln, zuvor muss ich mich allerdings von Marco verabschieden.

Doch als ich mich umdrehe, um in den Garten zurückzugehen, sehe ich Leon auf einer Bank vor dem Haus. Er sitzt so still da, dass ich ihn gar nicht bemerkt habe. Umgekehrt muss er mich gesehen oder wenigstens gehört haben, doch er ignoriert mich und starrt mürrisch auf das Gras zwischen seinen Füßen, das Bild eines frustrierten, mit sich und der Welt hadernden Teenagers. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, dass Leon nicht ganz zu Unrecht hadert. Die Pubertät kann eine grausame Zeit sein, doch zu ihm ist sie besonders unfreundlich. Er trägt eine Zahnspange, und seine Stirn ist übersät von Pickeln, die von den strähnigen Ponyfransen seines Undercuts nur teilweise verdeckt werden. Außerdem sind seine Augen gerötet, als hätte er Heuschnupfen.

Ich will ihn ebenfalls ignorieren, doch irgendetwas an seiner Miene rührt mich. Leon sieht weniger mürrisch aus als unglücklich. Einem Impuls gehorchend, spreche ich ihn an. »Hi. Leon, nicht wahr?«

Er reagiert nicht, zieht lediglich ziemlich geräuschvoll die Nase hoch.

»Alles okay?«

Er reagiert wieder nicht, und ich gebe auf.

»Tja, dann …«

In dem Moment springt Leon auf. »Alles wäre okay, wenn es keine perversen alten Säcke wie euch gäbe.« Dann stößt er mich zur Seite und rennt in Richtung Wald davon, der direkt hinter dem Haus der Brunners beginnt.

Ich blicke ihm nach, perplex und etwas beunruhigt. Alte Säcke okay, aber pervers? Wen meint Leon damit? Und was meint er damit? Oder ist pervers mittlerweile eine ähnlich inhaltsfreie unspezifische Schulhofbeleidigung wie Schwuchtel?

Nachdenklich gehe ich zurück in den Garten, wo ich vergeblich Ausschau nach Marco halte. An einem der Biertische unterhalten sich Viola und Nora mit Jens und einer mütterlich wirkenden Rothaarigen, vermutlich seiner Frau. An einem anderen prostet Mats mit erhobenem Weißbierglas ein paar Jungs vom Volleyball zu. Ich beschließe, mich zu ihnen zu gesellen, als ich streitende Stimmen zu meiner Rechten höre. Zwischen einigen Johannisbeer- und Himbeersträuchern windet sich ein mit Steinplatten belegter Pfad hindurch. Ich folge ihm und stehe in einem Gemüse-Obst-Garten. Unter einem blühenden Apfelbaum streiten sich Pauline und Theresa.

»Ich sag’s dir nicht.«

»Aber das ist unfair. Es geht mich auch was an.«

»Er hat gesagt, es geht niemanden etwas an. Es ist sein Geheimnis.«

»Aber ich will es wissen. Zeig es mir!« Pauline versucht, Theresa etwas aus der Hand zu reißen, doch Theresa zieht die Hand weg.

»Nein.«

»Doch!«

»Nein, aua, lass das!«

»Aber ich will …«

In dem Moment bemerkt Pauline mich und hält inne. Theresa nutzt die Gelegenheit und sucht das Weite. Als sie an mir vorbeiläuft, sehe ich, dass sie in ihrer Hand ein Handy hält.

Pauline sieht mich vorwurfsvoll an. »Das war eine private Unterhaltung!«

»Das konnte ich nicht wissen. Alles klar?«

Ich frage das, weil Pauline überhitzt und zerzaust aussieht. Der Schnürsenkel an ihrem linken Turnschuh ist offen, und ihr T-Shirt steckt halb in der Hose, halb hängt es heraus.

Sie furcht ihre Stirn. »Tessi hat ein Geheimnis und will es mir nicht sagen.«

»Na ja, das ist bei Geheimnissen so. Wenn man sie jedem erzählt, sind sie nicht mehr geheim.«

»Aber es geht mich auch etwas an.«

Die Antwort verwundert mich nicht, Pauline ist grundsätzlich der Meinung, dass alles sie etwas angeht. Ich überlege, ob ich den Pädagogen heraushängen lassen und ihr erklären soll, dass auch die beste Freundin ein Recht auf Privatsphäre hat, habe aber keine Lust, die Erziehungsarbeit von Mats und Nora zu leisten. Außerdem fällt mein Blick in dem Moment auf Paulines Oberarm.

»Was hast du da?«

»Nichts.« Sie schiebt hastig den T-Shirt-Ärmel hinunter, der hochgerutscht war.

»Das ist nicht nichts. Das ist ein ziemlich dicker blauer Fleck.«

»Ist es nicht.«

»Ist es doch. Woher hast du den?«

»Das geht Sie nichts an!« Sie lässt mich stehen und läuft ebenfalls zurück in den Garten.

3

»Mats, können wir reden?«

Es ist Donnerstagabend nach dem Volleyballtraining. Mats und ich sind allein in der Umkleidekabine, die anderen sind schon zum Ratskeller vorgegangen. Zu der kleinen Turnhalle der Grundschule, in der wir spielen, gehören nur zwei Duschen. Mats duscht immer als Letzter, heute habe ich auf ihn gewartet.

»Klar. Worum geht’s?« Mats knöpft seine Jeans zu, setzt sich auf die Bank und zieht seine Socken an.

»Um Pauline. Ich will mich nicht einmischen, aber mir ist am Samstag etwas aufgefallen. Pauline hatte einen dicken blauen Fleck am Oberarm.«

»Ach ja? Und?«

»Er war ziemlich groß. Ich dachte, das solltest du wissen.«

Mats greift zu seinen Schuhen und wirft mir von unten einen Blick zu. »Kein Grund zur Sorge, Mann. Pauline bekommt schnell blaue Flecken. Sie tobt gern herum, wenn Nora sie lässt – was viel zu selten vorkommt. Wenn’s nach Nora ginge, würde Pauline den ganzen Tag lernen. Sie ist fast so schlimm wie Jens.«

»Aber der Fleck war ziemlich groß. Es sah aus, als hätte jemand Pauline fest gepackt. Und neulich habe ich sie allein mitten im Wald getroffen, da hatte sie Nasenbluten.«

Jetzt reagiert Mats doch. Er hat seine Schuhe zugebunden und lehnt sich an die Wand. »Allein, mitten im Wald? Da hat sie nichts verloren. Wo war denn das?«

»Auf der Straße nach Neustadt. Bei dem Marterl.«

»Welches Marterl?«

»Ich vermute, es ist für irgendein Unfallopfer. Renata oder so.«

»Renata? Ach, du meinst Josefs Frau, Marcos Schwägerin. Die hatte keinen Unfall, sie hat sich das Leben genommen.« Er überlegt einen Moment. »Allerdings würde ich das nicht ›mitten im Wald‹ nennen. Es ist an der Straße, nur einen halben Kilometer von Schönblick entfernt.«

»Aber findest du’s okay, dass Pauline da allein herumläuft? Und wie gesagt, sie hatte Nasenbluten. Oder neigt sie dazu?«

Mats schüttelt langsam den Kopf. »Normalerweise nicht, nein. Hast du sie gefragt, woher sie es hatte und was sie da wollte?«

»Sie sagte, es ginge mich nichts an.«

Mats grinst. »Das klingt sehr nach ihr. Okay, danke für die Info, ich werde sie mal fragen.« Er greift zu seiner Tasche. »Oder ist sonst noch was?«

Eigentlich wollte ich Mats noch darauf ansprechen, dass Pauline anscheinend heimlich in die Buchhandlung kommt, doch in dem Moment klingelt mein Handy. Ich ziehe es sofort aus meiner Gesäßtasche. Joelles Anruf ist seit zwei Tagen überfällig.

»Oh, Papa, rate, was passiert ist! Rate, rate, rate!«

Joelle ist so aufgeregt, dass ihre Stimme regelrecht quietscht, aber ich höre ihr an, dass es eine positive Aufregung ist. Erleichtert lasse ich mich auf die Bank in der Umkleidekabine sinken.

»Heißt das, ich darf dreimal raten?«

Joelle lacht glockenhell. »O nein, nur einmal. Länger halte ich es nicht aus, dir davon zu erzählen.«

»Es ist also etwas Tolles?«

»Etwas genial gigantisch Tolles!«

»Tja, das klingt doch sehr nach … Tommy?«

»Oh, ich wusste, du würdest es erraten«, sprudelt sie los. »Er hat mich endlich gefragt, ob wir zusammen zum Abschlussball gehen. Am Montag schon. Und dann meinte er, wir sollten uns mal zum Extratanztraining treffen. Aber das war nur ein Vorwand. Wir haben uns in der Eisdiele verabredet, und dann waren wir im Kino, und dann, als es gruselig wurde, hat er behauptet, dass er Angst hat, und hat meine Hand genommen, und dann, als die Lichter wieder angingen, hat er gesagt, dass er am liebsten ewig so sitzen bleiben würde, und dann habe ich ihn geküsst und dann …«

Während der nächsten zehn Minuten sitze ich vollkommen glücklich in einer nach Männerschweiß stinkenden Umkleidekabine und höre zu, während meine Tochter alles vom ersten Abend mit ihrem zweiten Freund erzählt. Zumindest alles, was sie mir erzählen möchte, und das ist ziemlich viel. Joelle und ich hatten immer ein enges Verhältnis. Wäre es weniger eng, wäre Tamara vielleicht weniger eifersüchtig und weniger besessen von dem Verlangen, es zu zerstören.

»Und deshalb habe ich dich nicht angerufen, weil ich doch vorgestern mit Tommy zusammen war – und gestern natürlich auch«, sagt Joelle schließlich atemlos. »Aber du bist nicht sauer, oder?«

»Nein, mein Schatz, ich habe mir allerdings Sorgen gemacht. Könntest du mir bitte beim nächsten Mal eine kurze SMS schreiben?«

Sie verspricht es. »Und wie geht es dir? Wie war die Party von deinem Freund?«

Ich erzähle Joelle ein bisschen von Marcos Geburtstagsfeier, und sie erzählt mir von den – im Vergleich zu Tommy natürlich megaunwichtigen – Dingen, die sie seit unserem letzten Telefonat sonst noch erlebt und gedacht hat. Seit ich in Neukirchen lebe, ist dies meine einzige Möglichkeit, an Joelles Leben teilzuhaben, und ich lechze nach Details.

»Und ach ja, am Montag nach der Schule habe ich zufällig Ralf an der Bushaltestelle getroffen.«

Mir wird schlagartig erst heiß, dann kalt. »Und?«

»Er hat gesagt, dass er lange nichts von dir gehört hat. Ich soll dich grüßen, du sollst ihn anrufen. Alles okay, Paps?«

Joelle hat unglaublich feine Antennen, selbst in einem Schweigen kann sie die Zwischentöne hören.

»Ja, alles bestens«, sage ich ruhig, obwohl ich vor Wut zittere. »Ich hatte nur in letzter Zeit viel zu tun, ich rufe Ralf gleich mal an.«

Doch das tue ich nicht. Stattdessen schreibe ich ihm eine SMS, sobald Joelle aufgelegt hat.

»Halt dich von meiner Tochter fern, du Arschloch!«

In den folgenden Tagen höre ich nichts von Ralf, und auch Joelle begegnet ihm nicht mehr scheinbar zufällig. Dafür begegne ich Nora. Sie kommt zwei Wochen nach Marcos Geburtstag in die Buchhandlung, um mir zu sagen, dass sie Tickets für die Kabarettpreisträgerin besorgt habe. Außerdem sei es ihr gelungen, eine Tischreservierung bei einem angesagten französischen Restaurant gleich neben der Veranstaltungshalle zu ergattern. Ob ich sie am achtzehnten Juni um halb sechs abholen könne?

Ich hatte Noras Idee eines gemeinsamen Kabarettbesuchs total vergessen. Als sie jetzt die Abendplanung herunterrattert, klingt das für mich mehr denn je nach einem Date, und ich frage mich, wie ich aus der Nummer herauskomme. Doch Nora scheint nicht in meinem Laden aufgetaucht zu sein, um mich vor eine Wahl zu stellen, und da zwei Kunden unser Gespräch interessiert verfolgen, stimme ich ihren Vorschlägen zu.