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Er wird nicht ruhen, ehe er bekommt, was er fordert – und er hat deine Tochter …
Als im September 2000 die Unternehmerstochter Lena und ihre beste Freundin Ronja Opfer einer Entführung werden, beginnt ein erbitterter Nervenkrieg zwischen dem Entführer, der sich »Der Vollstrecker« nennt, und den Familien der Mädchen. Obwohl die beiden Münchner Kripobeamten Eva Schaller und Jakob Schuster alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Mädchen zu retten, endet die Entführung in einer Katastrophe mit zwei Toten. Siebzehn Jahre später brechen alte Wunden wieder auf, als in einem Waldstück eine skelettierte Leiche gefunden wird. Plötzlich erscheinen die Ereignisse von damals in einem noch viel erschreckenderen Licht.
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Buch
Als im September 2000 die Unternehmerstochter Lena und ihre beste Freundin Ronja Opfer einer Entführung werden, beginnt ein erbitterter Nervenkrieg zwischen dem Entführer, der sich »Der Vollstrecker« nennt, und den Familien der Mädchen. Obwohl die beiden Münchner Kripobeamten Eva Schaller und Jakob Schuster alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Mädchen zu retten, endet die Entführung in einer Katastrophe mit zwei Toten.
Siebzehn Jahre später brechen alte Wunden wieder auf, als in einem Waldstück eine skelettierte Leiche gefunden wird. Plötzlich erscheinen die Ereignisse von damals in einem noch viel erschreckenderem Licht.
Autorin
Petra Johann, Jahrgang 1971, ist promovierte Mathematikerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Forschung und in der Softwarebranche, bevor sie ihre wahre Berufung fand: Menschen umbringen – wenn auch nur auf dem Papier. Petra Johann liebt Krimis und hasst unlogische Auflösungen. Aufgewachsen ist sie im Ruhrgebiet, mittlerweile lebt sie in Bayern.
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Petra Johann
Die Entführung
Kriminalroman
Prolog
Der verfallene Hof lag am Ende einer Sackgasse, in einer Gegend, in die selten jemand kam. Die Gebäude waren schon vor vielen Jahren aufgegeben und der Natur überlassen worden. Das Mauerwerk der Ställe war brüchig, Krähen nisteten im eingesunkenen Dachfirst des ehemaligen Wohnhauses. Unkraut spross zwischen den Pflastersteinen hervor, über die einst Pferde getrappelt waren. Menschen kamen nur selten an diesen vergessenen Ort, selbst für jugendliche Vandalen waren die Gebäude ohne Reiz. Sie hatten schon vor langer Zeit gestohlen, was sie zu stehlen für wert befunden hatten, zerstört, was zerstörbar war, und den Rest mit Graffitiobszönitäten beschmiert. Der einzige Mensch, den die Tiere in den letzten Jahren mehr als einmal hier gesehen hatten, war eine Frau. Sie kam jedes Jahr am selben Tag, einem Tag im September. Seltsamerweise war das Wetter immer schön, wenn sie kam. Vielleicht wollte es einen Kontrapunkt zur Miene der Frau setzen, die bei ihren Besuchen unendlich traurig war.
Die Frau kam stets in einem Wagen – anders war dieser Ort nicht zu erreichen – und stellte ihn stets an derselben Stelle ab, bevor sie den Hof betrat. Für das Außengelände selbst schien die Frau kein Ritual zu haben. Manchmal besuchte sie zuerst das Wohnhaus, blickte vielleicht durch eine der zerstörten Fensterscheiben in das fast leere Wohnzimmer, in dem ein einzelner Sessel vor sich hin moderte, nur noch als Anknüpfungspunkt für Spinnweben dienend, die sich quer durch den Raum zogen. Manchmal ging sie zunächst am Stallgebäude entlang, schwang die Fensterläden zu und wieder auf, die in verrosteten Angeln hingen. Dort hatten einmal Pferde ihre Köpfe aus ihren Boxen gesteckt. Allerdings war das schon lange her, die Frau kannte den Hof nur in verlassenem Zustand. Schon als sie zum ersten Mal hergebracht worden war, war das Gehöft verfallen gewesen – auch wenn sie das damals mit verbundenen Augen nicht gesehen hatte.
Doch wohin ihr erster Weg die Frau auch führte, am Ende suchte sie stets denselben Ort auf. Der weiß verputzte Raum mit den stumpfen, gesprungenen rotbraunen Fliesen war bar jeder Einrichtung, bis auf ein Waschbecken mit einem verrosteten Wasserhahn. Das einzig Bemerkenswerte waren einige Eisenstangen, die waagerecht aus einer der Wände ragten, und eine kleine bronzene Plakette, die in die Wand neben der Metalltür eingelassen war. Darin waren die Worte Ruhe in Frieden eingraviert, darunter ein Name und darunter ein Datum: 14. September 2000.
Teil 1
Montag, 11. September 2000
1
Der Tag, an dem es geschah, war zu heiß für einen elften September. Die ganze letzte Woche war außergewöhnlich trocken und warm gewesen. Badewetter, Eisdielenwetter, Im-Gras-liegen-und-in-die-Sonne-blinzeln-Wetter. Entgegen der Vorhersage, aber Leni hatte gewusst, dass die letzten zwei Ferienwochen schön werden würden. Das Wetter spielte immer mit, wenn sie mit Ronja zusammen war. Im Sommer war dann alles in süße goldene Farben getaucht, im Herbst in warme bronzene, im Winter in glitzernde silberne. Und im Frühling in irgendein strahlendes, duftendes Gemisch. Ronja besaß die Gabe, die Elemente zu beeinflussen. Ronja besaß viele Gaben.
»Wer zuerst an der Abzweigung zum Wald ist, darf nachher vorn sitzen«, rief Ronja, während sie die Tür des Schuppens zuwarf, der zum Ferienhaus gehörte.
»Hey, das ist unfair«, protestierte Leni. »Du bist viel schneller als ich.«
»Dafür hast du das bessere Rad und ich den Ballast.« Ronja schnappte sich die Tasche mit den Badesachen und klemmte sie auf den Gepäckträger des uralten Herrenrades, das in der Tat noch mindestens zehn Jahre älter war als Lenis Hollandrad mit der Drei-Gang-Schaltung. »Und los!«
Ronja schwang das Fahrrad herum und ihr langes rechtes Bein über den Sattel. Mehr sah Leni nicht, weil sie bereits selbst im Sattel saß und losrollte. Sie wusste: Wenn sie den Vorsprung nicht nutzte und ihre Freundin vorbeiließe, würde sie sie nie wieder einholen, und wenn sie nachher auf der Rückfahrt nach München in Birgits Wagen hinten sitzen müsste, würde sie sich übergeben. Garantiert! Das passierte ihr immer, zuletzt an dem Abend, als Tessas Mutter sie von Tessas Geburtstagsfeier nach Hause gefahren hatte. Es war die einzige Party einer Schulkameradin gewesen, zu der sie im vergangenen Jahr eingeladen worden war. Der Nachmittag war ein Fiasko gewesen und ihre Kotzerei der krönende Höhepunkt der demütigenden Peinlichkeiten.
Leni schoss aus der Ausfahrt in die ruhige Nebenstraße, schaltete in den zweiten Gang und strampelte los, dass das Tretlager bedenklich knackte. Die Nebenstraße mündete in die sogenannte Hauptstraße des kleinen Ortes im Chiemgau, doch Leni warf nur einen flüchtigen Blick nach links und verzichtete auf ein Handzeichen, bevor sie nach rechts abbog. Hier war nie viel los, und nachdem die wenigen Urlauber die Ferienwohnungen geräumt hatten und die meisten Dorfbewohner gerade arbeiteten, rechnete sie höchstens mit einem Traktor, und dessen Knattern hätte sie gehört.
Leni schaltete in den dritten Gang und bemühte sich, noch fester in die Pedale zu treten. Hinter sich hörte sie die Kette von Ronjas Rad rasseln und knirschen. Ronja hatte sie zwar geölt, doch dadurch eigentlich nur den Rost etwas besser verteilt. Die Straße führte jetzt aus dem Ort hinaus und verwandelte sich in eine ruhige Landstraße. Lenis Oberschenkel begannen zu brennen, vor Schweiß klebte ihr das T-Shirt am Rücken fest. Doch Kneifen galt nicht. Die Abzweigung zum Wald war vielleicht noch achthundert Meter entfernt.
Leni bückte sich noch tiefer über den geschwungenen Lenker, umklammerte die Griffe noch fester und strampelte weiter. Doch ihre Beine wurden müde, und das Gerassel von Ronjas Kette kam stetig näher. Leni biss die Zähne aufeinander, konnte jedoch nicht verhindern, dass Ronja sich langsam neben sie schob. Als ihre Lenker fast gleichauf waren, schoss von hinten ein Wagen heran und überholte sie laut hupend, während der Beifahrer sein Fenster hinunterkurbelte und »Nebeneinander fahren verboten!« schrie.
»Wichser!«, revanchierte Ronja sich lautstark, und Leni musste grinsen, obwohl sie zu Hause in Grünwald vor Scham und Schreck vom Fahrrad geplumpst wäre.
»Wichser!«, rief sie ebenfalls, allerdings nur so laut, dass Ronja es hören konnte.
Die warf ihr einen verblüfften Blick zu und fiel prompt ein Stück zurück. Leni frohlockte und konzentrierte sich auf den Rest der Strecke. Die Abzweigung lag noch ungefähr zweihundert Meter entfernt, und Leni strampelte jetzt noch heftiger. Hundert Meter. Ihre Oberschenkel explodierten fast. Fünfzig Meter.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ronja wieder herankam, doch sie wusste, dass es reichen würde. Mit einem Triumphschrei bog sie in den Waldweg, rollte noch einige Meter aus und lehnte ihr Rad dann erschöpft gegen einen Baum.
»Super! Du hast tatsächlich gewonnen!« Ronja ließ ihr Rad auf den Waldboden fallen, sprang auf Leni zu und umarmte sie. Sie waren beide schweißnass, doch Leni schoss der Gedanke durch den Kopf, dass Ronja selbst verschwitzt gut roch.
Ronja trat einen Schritt zurück und musterte Leni. »Super!«, wiederholte sie. »Du bist in den letzten zwei Wochen richtig fit geworden. Du hast sogar abgenommen.«
Vor Freude schoss Leni das Blut in den Kopf. Sie hatte gehofft, dass Ronja es bemerken würde.
»Und dass du tatsächlich Wichser gesagt hast … Wow! Magdalena Festing, die schüchternste Maus des Etepetete-Gymnasiums – wir machen doch noch was aus dir! Und dein Tommi wird Augen machen, wenn er dich morgen sieht.«
»Er ist nicht mein Tommi.«
Lenis Freude kühlte sich jäh um einige Grade ab. Sie wollte nicht daran erinnert werden, dass heute der letzte Ferientag mit Ronja war. Morgen begann wieder die verhasste Schule, dann würde sie ihre Freundin wochenlang nicht sehen. Und wieso nur hatte sie ihr gesagt, dass sie für Tommi Breitsteiger schwärmte? Doch in dem Moment, als Ronja von ihrer Knutscherei mit diesem Niko erzählte, hatte sie einfach kopflos reagiert.
Leni ging zu ihrem Fahrrad zurück, während Ronja die Tasche mit den Badesachen aufhob, die von ihrem Gepäckträger gefallen war. Sie fuhren weiter, gemütlicher jetzt, sodass sie sich unterhalten konnten.
»Du musst mir aber versprechen, dass du endlich dafür sorgst, dass Tommi dich bemerkt«, spann Ronja ihren Gedanken weiter. »Gleich morgen gehst du zu ihm hin und fragst ihn, ob er nicht Lust hat, etwas mit dir zu machen.«
»Was denn?«, fragte Leni, obwohl sie lieber das Thema gewechselt hätte.
»Was du halt nachmittags so tust.«
Hausaufgaben. Klavierspielen. Einsame Spaziergänge am Isarufer.
»Vorschlag: Nimm ihn mit zur Eisdiele. Gib den Tussis aus deiner Klasse was zum Glotzen.«
Leni schüttelte nur stumm den Kopf. Die Eisdiele in Grünwald war der letzte Ort, an den sie freiwillig gehen würde, ob mit Tommi oder ohne. Unter den Blicken von Cathy und Tessa und ihrem Gefolge, deren Jeans so tief auf ihren knochigen Hüften hingen, dass ihre Spitzentangas hervorblitzten, würde sie sich keine einzige Kalorie gönnen. Außer sie käme mit einem bewaffneten Sondereinsatzkommando. Für einen Augenblick ergötzte Leni sich an der Vorstellung, dass Cathy und Tessa von den Beamten abgeführt und bei Wasser und Brot und ohne ihre heiß geliebten Schminkspiegel in Zellen gesperrt würden. Es war für sie ein ausgesprochen martialischer Gedanke.
»Ich wette, du bist Tommi sowieso schon aufgefallen«, fuhr Ronja unbeirrt fort. »Du bist viel hübscher, als du meinst. Und Jungs stehen auf blond.«
»Dein Niko offensichtlich nicht.«
»Ach was, da läuft nix Großes … Oh, verdammt, was soll denn der Scheiß?«
»Was?«
»Da vorn! Der Idiot parkt mitten auf dem Weg. Hätte der sich nicht woanders hinstellen können?«
Jetzt bemerkte Leni es auch. Etwa fünfzig Meter weiter stand ein weißer Lieferwagen auf dem Waldweg. Der Weg war ohnehin nicht breit, doch der Fahrer hatte sich eine besonders schmale Stelle ausgesucht, die rechts von einem Stapel Brennholz, links von Büschen und Bäumen begrenzt wurde. Zwischen dem Wagen und dem Holzstapel war kaum ein halber Meter Platz, zu wenig für ein Fahrrad. Auf der anderen Seite war es noch enger, weil die offene Fahrertür in die Büsche ragte.
»Na toll.« Ronja stieg vom Rad. »Und wie kommen wir da jetzt vorbei?«
»Zwischen den Bäumen durch?«
»Ich schleppe doch nicht mein Rad quer durch die Pampa, weil irgend so ein Idiot zu doof zum Parken ist. Wahrscheinlich pinkelt der Kerl nur. Hey! Jemand hier? Können Sie vielleicht Ihre Karre wegfahren?«
Die Antwort kam völlig unverhofft und so schnell, dass Leni nicht einmal Zeit fand, Angst zu verspüren. Kaum hatte Ronja ihre Frage gestellt, schwangen die Hecktüren des Lieferwagens auf und zwei Männer sprangen heraus. Sie waren schwarz gekleidet und trugen schwarze Masken. Im selben Moment hörte Leni ein Knacken hinter sich und fuhr herum. Auf dem Waldweg, den sie gerade entlanggeradelt waren, standen zwei weitere vermummte Gestalten. Sie schienen sich aus dem Nichts heraus materialisiert zu haben, und Leni erstarrte vor Schreck. Dann ließ sie ihr Rad fallen und stieß einen spitzen Schrei aus. Zeitgleich hörte sie auch Ronja neben sich schreien und spürte, wie ihre Freundin heftig an ihrer rechten Hand zerrte. »Weg, Leni! Wir müssen hier weg!« Dann rannte sie los und riss Leni mit sich.
Leni wäre vermutlich bis in alle Ewigkeit wie versteinert auf dem Waldweg stehen geblieben, hätte Ronja nicht die Initiative ergriffen. Aber jetzt gab sie dem Zug an ihrer Hand nach und rannte der Freundin hinterher.
Doch weit kamen sie nicht, die Angreifer hatten den Platz zu gut gewählt. Auf drei Seiten war der Weg versperrt, durch den Lieferwagen, durch den Holzstapel und durch die Männer, also lief Ronja auf die Büsche zu. Aber die zwei Vermummten aus dem Wagen schnitten ihnen den Weg ab. Einer stürzte sich auf Ronja, doch bevor Leni sehen konnte, was mit der Freundin geschah, wurde sie selbst von hinten gepackt. Zwei kräftige Arme umschlangen ihren Oberkörper und zogen sie zurück, während Ronjas Hand sie immer noch in die andere Richtung zerrte. Panisch versuchte Leni, ihren Angreifer abzuschütteln. Sie holte mit dem rechten Bein aus und kickte mehrfach nach hinten. Sie traf auch – ein Schienbein? –, und der Mann hinter ihr stieß einen Fluch aus, doch die Tritte behinderten ihn offensichtlich kaum. Leni fühlte, wie seine Arme sie fester umschlossen. Dann wurde sie hochgehoben und herumgeschwungen, ein kurzer Ruck und Ronjas Hand entglitt ihr.
»Ronja!«
Leni stieß einen gellenden Schrei aus, ruderte mit den Armen und zappelte, um sich zu befreien, bis eine Stimme direkt an ihrem Ohr raunte: »Halt still oder ich bring dich um!«
Leni gab sofort auf und ließ sich schlaff hängen. Ihr Angreifer schien damit nicht gerechnet zu haben, denn für einen Moment lockerte sich sein Griff, und sie fiel unsanft in das Gestrüpp am Boden, das sie in ihre nackten Arme und Beine piekte. Doch bevor sie sich aufrappeln konnte, war ihr Angreifer schon wieder bei ihr. Leni ließ sich widerstandslos packen, drehte nur hektisch den Kopf, um zu sehen, was mit Ronja geschah.
Sie erblickte ein sich windendes Knäuel, das aus schwarz vermummten Gliedmaßen und Ronjas langen braunen Armen und Beinen bestand. Und sie hörte Ronjas Schreie und das Fluchen ihres Angreifers, der jetzt Hilfe von einem zweiten bekam: Dieser hielt einen Gegenstand in der Hand, der in der Sonne blitzte. Er holte damit aus und hieb mit einem mächtigen Schlag mitten in das Knäuel. Leni hörte ein Wimmern und noch einen Fluch, dann war Ronja still.
Birgit Aurich war erleichtert, als sie die letzte Steigung vor ihrem Ziel hinauffuhr. Die Hundert-Kilometer-Fahrt von München hierher war die Hölle gewesen. Der Subaru hatte keine Klimaanlage, sodass Birgit sich fühlte wie in einer rollenden Sauna. Sie hatte zwar probeweise das Fenster heruntergekurbelt, es jedoch gleich wieder geschlossen. Es war ohnehin nur heiße Luft hereingekommen, und der Zug hätte ihren empfindlichen Nacken gereizt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es im September je so heiß gewesen war.
Birgit gab etwas Gas, um ihr altersschwaches Gefährt die letzten Meter zur Kuppe hochzuschieben. Oben angekommen nahm sie das Gas weg und schaltete einen Gang rauf. Auf diese Weise konnte sie gemütlich rollend Benzin sparen und würde am Ortseingangsschild genau die vorgeschriebenen fünfzig Stundenkilometer fahren. Doch natürlich sah der drängelnde Mercedes-Fahrer hinter ihr das anders. Kaum hatte er erkannt, dass sie noch langsamer wurde, scherte er aus und zog an ihr vorbei, nur um vor dem Ortseingang heftig abzubremsen, bis er bei sechzig war.
Idiot!, dachte Birgit und wünschte für einen Moment, der Fahrer möge bei der nächsten Gelegenheit seiner Raserei und seinem Leben ein Ende an einem Baum setzen. Als Krankenschwester musste sie zu oft Menschen pflegen, die von anderen zu Krüppeln gefahren worden waren.
Der Mercedes verschwand aus Birgits Blickfeld, und sie zockelte durch den Ort, bog ab und parkte schließlich vor dem kleinen Haus, das einem Freund gehörte und in dem sie mit ihrer Familie jahrelang Teile des Sommers verbracht hatte. Während sie wartete, dass jemand auf ihr Klingeln reagierte, sah sie sich um. Der Rasen vor dem Haus war zu lang und sah ziemlich vertrocknet aus. Offenbar hatte Stefan vergessen, sich um ihn zu kümmern.
Birgit klingelte erneut. Dann hörte sie Schritte, und ihr Exmann öffnete die Tür.
»Oh, hallo Birgit! Du bist schon da. Bist du zu früh?«
Es war ein typischer Stefan-Satz. Birgit würde nie begreifen, wieso er jedes Mal mit Überraschung auf die Tatsache reagierte, dass andere auf die Minute pünktlich zu Verabredungen erschienen. Doch sie schluckte den aufkeimenden Groll sofort hinunter. Sie hatte sich fest vorgenommen, heute nicht mit Stefan zu streiten. Nicht mit ihm, mit niemandem – auch wenn ihr das in letzter Zeit immer schwerer fiel.
»Es ist genau drei Uhr.«
»So spät schon? Die Mädchen sind noch nicht da. Komm erst mal rein.«
Er öffnete die Tür weit, und Birgit ging an ihm vorbei in den engen, kühlen Flur. Als sie Stefan im Vorbeigehen berührte, bekam sie eine Gänsehaut. Sie erhaschte einen Blick in den Garderobenspiegel und sah schnell weg. Ihre schweißfeuchten Haare krausten sich um ihr von der Hitze gerötetes Gesicht. Furchtbar! Stefan dagegen sah seit langer Zeit mal wieder etwas besser aus. Er war braun gebrannt und wirkte für seine Verhältnisse geradezu entspannt.
»Was heißt, die Mädchen sind noch nicht da? Wo sind sie denn?«
»Am Chiemsee. Sie wollten noch ein letztes Mal schwimmen.«
Birgit spürte, wie ihr guter Vorsatz prompt ins Wanken geriet. »Aber du wusstest doch, dass ich um drei komme. Hast du es ihnen nicht gesagt?«
»Doch, natürlich …«
»Dann hättest du dich darum kümmern müssen, dass sie auch hier sind. Mein Gott, Stefan, ich kann vor Arbeit kaum aus den Augen gucken! Ich habe den ganzen Vormittag geputzt und dann nach Frau Gerber von nebenan gesehen. Um halb sieben beginnt meine Spätschicht. Ich habe kaum die Zeit gefunden herzukommen. Wieso kannst du nicht einmal …?«
Er unterbrach sie. »Du lässt dich von der alten Hexe ausnutzen. Und ich habe dir gesagt, ich kann die Mädchen auch in den Zug setzen.«
»Das ist doch jetzt nicht der Punkt. Wir hatten verabredet …« Birgit stoppte sich, indem sie sich auf die Unterlippe biss.
Stefan legte eine Hand auf ihre Schulter. »Sie kommen bestimmt bald. Jetzt mach mal ’ne Pause. Ich mache uns einen Kaffee. Du bist ja ganz verschwitzt.«
Natürlich, dachte Birgit, welche arbeitende alleinerziehende Mutter ist das nicht? »Haben die Mädchen denn wenigstens schon gepackt?«
»Natürlich.« Stefan bugsierte sie durch die Küchentür und zum Esstisch, auf dem ein aufgeklappter Laptop stand, und drückte sie auf einen Stuhl. »Warum setzt du dich nicht? Ich suche nur eine saubere Tasse …« Er begann, wahllos Schränke zu öffnen. Birgit warf einen Blick auf den schmutzigen Geschirrberg in der Spüle, stand seufzend wieder auf und griff zum Schwamm.
»Du musst das nicht machen.«
»Wenn ich einen Kaffee will, schon.« Sie ließ Wasser ins Spülbecken laufen und begann, Tassen und Teller abzuschrubben.
Stefan nahm sich ein Geschirrtuch. Doch nachdem er drei Tassen abgetrocknet hatte, sagte er mit Blick zum Laptop: »Hast du was dagegen, wenn ich kurz den Absatz zu Ende tippe? Ich war gerade mittendrin, als du geklingelt hast.«
Das Brummen eines Motors versuchte, Leni zu wecken, doch sie wollte nicht aufwachen. Alles, nur nicht aufwachen! Es war etwas Schreckliches geschehen. Sie wusste nicht mehr, was, aber sobald sie aufwachte, würde sie sich daran erinnern. Und sie wollte sich nicht erinnern. Deshalb nur nicht aufwachen! Bleib da, wo du jetzt bist, Leni!
Aber wo war sie? War sie tot? So musste es sein. Oh gut, dann war alles vorbei. Dann konnte ihr niemand mehr etwas tun. Erleichtert ließ Leni sich in die Dunkelheit zurückfallen.
Birgit trank ihren Kaffee, während sie Stefan beobachtete, der sie seinerseits vergessen zu haben schien. Völlig in sein Tun versunken starrte er auf den Bildschirm seines Laptops, während seine Finger über die Tastatur huschten. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war Birgit eifersüchtig auf diese Tasten gewesen, die so viel mehr Zuwendung und Berührung bekamen als sie selbst. Doch dann hatte sie entdeckt, dass weit schlimmere Dämonen um Stefans Aufmerksamkeit buhlten.
Sie trank noch einen Schluck Kaffee und ließ ihren Blick durch die offene Terrassentür über das wellige Voralpenland gleiten, während sie versuchte, sich zu entspannen. Von hier konnte sie bis zum Chiemsee sehen und auf die Berge dahinter. Als Ronja klein gewesen war, waren sie an jedem Urlaubstag zum See gefahren. Stefan hatte Ronja das Schwimmen beigebracht, sie hatten gebadet, Beachball gespielt oder ein Ruderboot gemietet. Als Ronja älter war, hatten sie auch Bergtouren unternommen, Stefan und Ronja immer mit überschäumender Energie vorneweg. Birgit hatte die Urlaube hier geliebt. Sie hatte gedacht, nichts könne ihr kleines Familienidyll zerstören. Doch sie hatte sich geirrt. Nichts war unzerstörbar, gar nichts. Es gab keine Gerechtigkeit auf der Welt, hier und heute im Westen genauso wenig wie früher im Osten.
Birgit spürte, wie die Wut und die Verzweiflung, die seit Monaten in ihr brodelten wie in einem Kochtopf, wieder an die Oberfläche schäumen wollten. Sofort presste sie den Deckel darauf. Sie musste ruhig bleiben. Sie musste sich entspannen, an etwas Positives denken. Ärzte und Kolleginnen erklärten es ihr seit Monaten mit zermürbender Regelmäßigkeit.
Ihr Blick fiel auf ihre Armbanduhr. Halb vier. Wo blieben Ronja und Leni?
»Ich kann nicht länger warten. Ich fahre ihnen entgegen.«
Stefan tauchte aus seiner Versunkenheit auf. »Aber sie kommen bestimmt bald.«
Der Deckel auf Birgits Gefühlen begann zu klappern. »Ich habe Spätschicht. Ich muss pünktlich in München sein.«
»Dann ruf sie doch an.«
»Sehr witzig. Wie um alles …?«
Stefan klappte seinen Laptop zu. »Leni hat zum Geburtstag ein Handy bekommen.«
»Wozu braucht sie ein Handy? Sie ist erst fünfzehn. Und wieso hast du das nicht eher gesagt?«
»Ich hab’s vergessen. Warte.«
Stefan zog sein eigenes Handy aus der Hemdtasche, tippte darauf herum und reichte es Birgit. Sie nahm es kopfschüttelnd. Handys waren ihrer Ansicht nach etwas für reiche Angeber, auch wenn sie zugeben musste, dass es für Stefan in seinem Job als Journalist nützlich war. Vorsichtig hielt sie das kleine Ding an ihr Ohr. Das Freizeichen ertönte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Außerdem hatte Birgit den Eindruck, eine Art Echo zu hören, ein leises entferntes Bimmeln nach jedem Freizeichen. Dann kapierte sie.
»Leni hat ihr Handy nicht mitgenommen. Es liegt hier irgendwo herum.«
Sie stand auf. Immer noch das Handy an ihr Ohr haltend ging sie in den Flur. Das Bimmeln wurde lauter. Es kam von oben.
Birgit stieg die knarrende Holztreppe hinauf und blieb einen Moment lauschend stehen. Das Klingeln kam aus dem größeren der beiden Schlafzimmer. Sie öffnete die Tür, und tatsächlich lag Lenis Handy auf einem der Kopfkissen auf dem Doppelbett. Ronja hatte Birgit am Telefon erzählt, dass sie dort mit Leni schlief, während Stefan das ehemalige Kinderzimmer mit dem Einzelbett bezogen hatte. Birgit ließ ihren Blick über das ungemachte Bett und das gemütliche Chaos gleiten, das in Ronjas Hälfte des Zimmers herrschte. Sie konnte sich gut vorstellen, wie die Mädchen hier die ganze Nacht miteinander wisperten und kicherten.
Und dann hob sich der Deckel auf ihren angestauten Gefühlen erneut. Das Chaos. Die verstreut liegenden Sachen. Der offene Koffer. Stefan hatte behauptet, Ronja und Leni hätten bereits gepackt, doch zumindest in Ronjas Fall stimmte das nicht.
Schweiß brach Birgit aus allen Poren, als sie die Treppe hinunterrannte. »Verdammt, Stefan, was soll das?«
Stefan hatte den Laptop wieder aufgeklappt. »Was?«
»Wieso lügst du mich an? Ronja hat noch nicht gepackt. Du hast behauptet, sie hätte es getan, aber das stimmt nicht. Wann wollte sie das denn verdammt noch mal tun?«
Stefan sah unruhig auf seine Uhr. »Sie sagte, sie kämen spätestens um zwei zurück.«
»Und das sagst du erst jetzt?« Doch dann wurde Birgit klar, was er da sagte. Zwei Uhr. Jetzt war es nach halb vier. Eineinhalb Stunden!
Angst fegte ihren Ärger hinweg wie ein Sturm einige lästige Blätter. Vor einem halben Jahr hätte Birgit vielleicht gedacht: Eineinhalb Stunden– na und? Es wird schon eine gute Erklärung geben. Doch in den letzten Monaten hatte sie gelernt, dass es nie eine gute Erklärung gab.
»Wir müssen sie suchen. Sofort!«
Stefan rieb über die Stoppeln seines Dreitagebarts. »Du glaubst doch nicht, dass ihnen etwas zugestoßen ist?«
»Sofort!«
Ohne seine Reaktion abzuwarten, drehte sie sich um, lief durch den Flur und nach draußen zu ihrem Wagen. Sie startete bereits den Motor, als Stefan die Beifahrertür aufriss.
»Birgit, jetzt warte doch mal! Wo willst du denn hin?«
»Zum See, Ronja suchen.«
»Ich komme mit.« Er ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten.
Birgit legte den Rückwärtsgang ein, um den Wagen in der Auffahrt vor dem Schuppen zu wenden, und trat so heftig aufs Gaspedal, dass der Wagen einen Satz rückwärts machte. Sie griff zum Schaltknüppel und drückte den ersten Gang rein, doch Stefans Hand legte sich auf ihre.
»Birgit, jetzt beruhige dich erst mal. Du weißt doch gar nicht, ob etwas passiert ist. Es sind erst eineinhalb Stunden. Es gibt nun wirklich keinen Grund, das Schlimmste anzunehmen.«
»Und was war mit Renate? Und mit Jens? Da gab es auch keinen Grund, und das Schlimmste ist dennoch passiert.«
»Das war doch etwas anderes. Wahrscheinlich hatte eins der Mädchen einen Platten, und jetzt müssen sie schieben.«
»Dann wären sie längst hier«, herrschte sie ihn an. »Ich muss jetzt fahren. Ich muss Ronja suchen.«
»Das werden wir auch. Aber wenn du schon einen Unfall baust, bevor wir aus der Straße heraus sind …«
Birgit wusste, dass Stefan recht hatte, und sie atmete tief durch, obwohl es ihr schwerfiel. Wenn die letzten Monate sie eins gelehrt hatten, dann dass es immer richtig war, mit dem Schlimmsten zu rechnen. So war es bei ihrer Mutter gewesen. Und bei ihrem Bruder.
»Welchen Weg haben sie genommen?«, fragte sie, als sie auf die Hauptstraße einbog. »Über die Straße oder die Abkürzung durch den Wald?«
»Ich vermute, die Abkürzung. Aber wir sind schneller am See, wenn wir die Straße nehmen.«
»Ich nehme denselben Weg, den die beiden genommen haben. Vielleicht begegnen wir ihnen unterwegs.«
Hoffentlich!, dachte sie und drückte aufs Gaspedal. Erst als rechter Hand der Wald begann, bremste sie den Subaru herunter und bog kurz darauf in den gekiesten Waldweg ein, der die kürzeste Verbindung zum Chiemsee beschrieb. Im Schatten unter den Bäumen war es kühler, doch Birgits Hände krampften sich schweißnass ums Lenkrad. Sie beugte sich etwas vor, um besser sehen zu können. Das Sonnenlicht, das durch das Blätterdach der Bäume hindurchfiel, erzeugte ein Wechselspiel von Licht und Schatten, das die Augen anstrengte. Deshalb entdeckte Birgit erst spät die Fahrräder, die mitten auf dem Weg lagen. Abrupt bremste sie ab.
»Was?«, japste Stefan, als er nach vorne in seinen Gurt geworfen wurde.
»Die Räder. Sind das nicht die alten Räder aus dem Schuppen?«
»Scheiße!« Stefan löste den Gurt und sprang aus dem Wagen.
Birgit stieg ebenfalls hastig aus und trat zu ihm, als Stefan das rostige alte Herrenrad an einen Stapel mit Brennholz lehnte.
»Das ist das Rad, das Ronja immer nimmt. Leni fährt mit dem Hollandrad.«
Birgit sah sich hektisch um. Der Weg war hier schmal, auf der dem Holzstapel gegenüberliegenden Seite waren einige Büsche niedergedrückt. Frisch abgebrochene Zweige lagen herum. Birgits Brust wurde eng. »Aber wo sind die Mädchen?«, flüsterte sie. »Wo ist Ronja?«
Stefans Hand zitterte, als er ihr durchs Haar strich. »Wir finden sie, Birgit. Keine Sorge, wir finden sie.« Doch seine Stimme war nur ein Krächzen.
Bleib in der Dunkelheit, dort bist du sicher! Öffne nicht deine Augen! Halt sie fest geschlossen, wenn du niemanden sehen kannst, kann auch niemand dich sehen!
Alberner Kinderglaube, Leni! Du weißt, dass das nicht stimmt.
Das Brummen des Motors wurde immer lauter, und ihr Bewusstsein zerrte unerbittlich an Leni, versuchte, sie ins Hier und Jetzt zu holen. Leni hielt die Augen fest zusammengepresst in dem verzweifelten Bemühen, sich zu wehren. Sie wollte nicht dahin, wo ihr Bewusstsein sie haben wollte. Wo immer das auch sein mochte.
Doch ihr Bewusstsein zerrte weiter, und es hatte Helfer. Es schickte ihr Empfindungen. Schmerz. Leni fühlte Schmerz, auch wenn sie nicht sagen konnte, wo genau. Irgendetwas tat schrecklich weh. Doch das war nicht das Schlimmste. Das waren die Erinnerungen. Der Lieferwagen. Die Männer. Die Masken. Und dann hatte sich eine der Masken über sie gebeugt und ihr etwas eingeflößt. »Trink das!«
Was war es nur gewesen? Du musst es ausspucken, Leni, sofort, bevor es wirkt!
Leni fuhr sich mit der Zunge durch den Mund. Er war zu trocken. Hatte sie es geschluckt? Was war es gewesen? Leni bewegte ihren Mund, um so viel Spucke zu sammeln wie möglich. Dann spitzte sie die Lippen, um auszuspucken, doch sie presste vergeblich. Sie versuchte, ihren Mund zu öffnen, doch es gelang ihr nicht. Sie brachte ihre Lippen nicht auseinander. Jemand hatte ihr den Mund zugeklebt.
Du musst dich befreien, Leni, sonst wirst du ersticken!
Mit geschlossenen Augen hob sie die Hände zum Mund, um den Kleber – ein Klebestreifen? – zu entfernen. Zumindest wollte sie das tun, doch ihre Arme gehorchten ihr nicht. Wo waren ihre Arme? Sie konnte sie nicht fühlen. Aber sie brauchte doch ihre Arme, sie brauchte doch ihre Hände!
Öffne die Augen, Leni, du musst die Augen öffnen und schauen, was hier los ist!
Nein, alles nur das nicht. Sie musste im Dunkeln bleiben, nur die Dunkelheit war sicher. Da konnte man sie nicht sehen, da konnte man sie nicht finden. Dahin konnten sie ihr nicht folgen. Wer immer sie waren. Was immer sie von ihr wollten.
Und was ist mit Ronja?
Ronja! Wo war Ronja? Sie hatten sie geschlagen, ihr wehgetan. Sie musste nach Ronja sehen.
Leni riss die Augen auf. Das klappte. Wenigstens ihre Augen konnte sie kontrollieren. Doch es half ihr nicht, denn alles, was sie sah, war Finsternis.
Sie begann zu weinen.
Die Nachricht erreichte Karl Festing und Nathan Müller auf der Baustelle im künftigen Wellnessbereich des Bavaria Royal, wo Karl gerade eine Verhandlung ganz eigener Art führte. Nathan hatte schon oft gedacht, dass sein Chef, wenn er verärgert war, Besprechungen genauso abhielt, wie er früher seine Boxkämpfe bestritten hatte. Karl hatte dann nur ein Ziel: Er wollte gewinnen, am liebsten durch Knock-out. Bei Verhandlungen bedeutete das, dass er seine Vorstellungen zu hundert Prozent durchsetzen musste, nicht etwa zu neunzig oder gar nur zu achtzig. Es bedeutete, dass er seinem Gegner keinen Punktgewinn gönnte, keine Luft zum Atmen ließ, nicht den kleinsten Raum.
Nathan hatte einmal versucht, seinen Chef davon abzubringen und ihn dahingehend zu beeinflussen, in einem vergleichsweise unbedeutenden Punkt nachzugeben, um einem Verhandlungspartner die Möglichkeit zu geben, wenigstens sein Gesicht zu wahren. Vergeblich. Nathan hatte sich damals beinahe eine blutige Nase geholt – im wörtlichen Sinne –, deshalb griff er jetzt nicht ein, als Karl dabei war, eine langjährige Geschäftsbeziehung zu zertrümmern.
»Es interessiert mich einen Scheißdreck, wie Sie das anstellen!«, brüllte Karl. »Sie haben die verdammten falschen Scheißfliesen an die Wände gepappt, Sie werden sie wieder entfernen und die richtigen verlegen! Und das bis übernächsten Freitag! Am übernächsten Samstag wird das Hotel eröffnet, und es wird zusammen mit meinem Fitness- und Wellnessbereich eröffnet!«
Nathan konnte die Ausrufezeichen nach jedem Satz förmlich aus Karls Mund springen sehen.
»Aber das wird nicht möglich sein. Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, ist die Zeit zu kurz. Selbst wenn ich die Männer nachts durcharbeiten lasse …«
»Selbst wenn? Wollen Sie damit sagen, Sie denken darüber nach, es nicht zu tun?«
Die Drohung in Karls Stimme war unüberhörbar. Obwohl er den Kopf wie zum Angriff senkte, schien er zu wachsen. Sein Gegenüber, der bis vor zehn Minuten noch ach so smarte studierte Sohn des mittelständischen Unternehmers, mit dem Karl seit Jahren zusammenarbeitete, wich noch weiter zurück. Jetzt stand er am Rande des in den Boden eingelassenen nierenförmigen Beckens, in dem sich demnächst die Reichen und Wichtigen vergnügen sollten.
Der Mann tat Nathan fast leid. Allerdings nur fast, schließlich trug er selbst die Hauptschuld daran, dass die Lage so eskaliert war. Als er Karl vor einer Stunde am Telefon die fatale Nachricht überbracht hatte, dass seine Männer die Fliesenlegerarbeiten verpfuscht hatten, hatte er im selben Atemzug versucht, das Problem herunterzuspielen. Außerdem hatte er Karl darauf hingewiesen, dass dieser dank gewisser Last-Minute-Sonderwünsche doch eigentlich eine Mitschuld für die Verspätung trage. Vielleicht hatte der Mann das für eine geschickte Verteidigungsstrategie gehalten, vielleicht hatte er auch einfach gedacht, sich am Telefon etwas Dreistigkeit erlauben zu können. Doch Karl, der um die einschüchternde Wirkung seiner Erscheinung wusste, war sofort hierhergerast. Nathan war mitgefahren, weil es das war, was Karls Angestellte taten: Sie ließen sich von der immensen Bugwelle mitreißen, mit der ihr Chef durch die Geschäftswelt pflügte.
Der Sohn des Mittelständlers versuchte es erneut. »Ich darf die Männer nicht durcharbeiten lassen. Das Arbeitszeitgesetz verbietet das. Außerdem müssen wir die richtigen Fliesen erst bestellen …«
Er brach ab, als ein Handy klingelte, laut genug, um seine Stimme und das Hämmern der Arbeiter im Hintergrund zu übertönen, die bereits begonnen hatten, die falschen Fliesen von den Wänden zu schlagen. Es war Karls Handy, doch der ignorierte es.
»Dann sollten Sie nicht hier herumstehen, sondern die neuen Fliesen eigenhändig holen! Und das Arbeitszeitgesetz interessiert mich einen Scheißdreck! Übernächsten Samstag kommt der Oberbürgermeister persönlich und wird die rote Schleife vor dem Hoteleingang zerschneiden. Und er wird auch den Wellnessbereich betreten, und ihm werden die Augen übergehen. In den Zeitungen wird stehen, dass der Wellnessbereich seinesgleichen sucht, und nicht, dass er sich noch im Rohbau befindet, weil Karl Festing einen Idioten engagiert hat, der trotz Diplom umbra oriental nicht von umbra italiano unterscheiden kann.«
Die Fliesennamen bellte er so laut, dass sämtliche Arbeiter für einen Moment mit dem Hämmern aufhörten und wie ein Mann die Köpfe Richtung Kampfgebiet verdrehten. Es herrschte für einen Moment Stille, doch Nathan wusste, dass es nur die Stille zwischen zwei Runden im Ring war, die Ruhe vor dem nächsten Angriff.
In diese Ruhe hinein klingelte erneut ein Handy. Diesmal war es Nathans. Er sah, wie sich alle Blicke auf ihn richteten, und verließ hastig die künftige Wohlfühloase, während er das Handy aus der Tasche seines Jacketts zog. Er ging einen Gang hinunter, dessen Wände frisch verputzt waren. Leitern, Eimer und Maurerkellen standen und lagen noch herum.
»Ja? Gloria?«
Die Stimme von Karls Haushälterin klang eine halbe Oktave zu hoch. »Nathan, ich versuche Karl zu erreichen, aber er geht nicht an sein Handy.«
»Er ist gerade beschäftigt. Kann ich dir helfen? Was gibt es denn Dringendes?« Dass es dringend war, daran zweifelte Nathan nicht. Gloria war keine Frau unnötiger Worte. Wenn sie Karl etwas mitteilen wollte, das nicht warten konnte, bis dieser abends nach Hause kam, dann war es sowohl wichtig als auch eilig.
»Es geht um Leni. Sie ist verschwunden.«
Nathan hatte das Gefühl abzusacken, als hätte der frische Estrich unter seinen Füßen nachgegeben. Mit der freien Hand stützte er sich an der Wand ab. »Erzähl!«
Wenige Minuten später lief Nathan zurück in den unfertigen Wellnessbereich. Karl drosch immer noch verbal auf sein Gegenüber ein. Er reagierte nicht, als Nathan seinen Namen rief, deshalb legte Nathan ihm eine Hand auf die Schulter. Karl fuhr sofort herum, als wollte er zum Schlag ausholen.
»Loslassen! Sofort!«
Nathan gehorchte augenblicklich. »Karl, wir müssen reden. Es ist etwas passiert.«
»Nicht jetzt.«
»Sofort. Es ist dringend.«
Karl pumpte langsam Luft in seinen mächtigen Körper, sein Gesicht lief rot an. Für einen Augenblick dachte Nathan, sein Chef würde explodieren, doch dann herrschte Karl den Unternehmersohn ein letztes Mal an. »Verschwinden Sie, und beseitigen Sie das Chaos, das Sie angerichtet haben!«
Der Mann warf Nathan einen neugierig verschreckten Blick zu, bevor er sich zu seinen Arbeitern verzog.
Nathan senkte seine Stimme zu einem Flüstern. »Birgit Aurich hat bei Gloria angerufen. Leni und Ronja sind verschwunden.«
»Los! Bringen wir sie rein!«
Die gedämpfte Stimme riss Leni aus der Dunkelheit, und sie wusste instinktiv, dass sie diesmal nicht dorthin zurückkehren würde. Seit dem ersten Aufwachen war sie immer wieder weggedämmert, zwischen Bewusstsein und Dunkelheit hin und her geworfen wie ein Ertrinkender, der immer wieder untergeht. Im Dunkeln hatte sie Luft holen können, in den Phasen des Wachseins hatten immer neue Erkenntnisse sie erschreckt. Sie wusste jetzt, warum ihr Körper sich so merkwürdig anfühlte. Nach und nach hatte sie wieder alle Teile gespürt und festgestellt, dass sie gefesselt war. Ihr Mund war mit Klebeband verklebt, ihre Hände waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden, und auch ihre Füße waren verschnürt. Ihre Augen waren zwar nicht verklebt, doch ein Tuch oder ein Stück Stoff war davor, das muffig roch und kratzte und sie am Sehen hinderte. Sie vermutete, dass man ihr einen Sack über den Kopf gezogen hatte. Und sie vermutete, dass sie in dem Lieferwagen war. Das Brummen des Motors hatte es ihr verraten, das Vibrieren der Bodenplatte, auf der sie lag, das Rumpeln, als der Wagen eben angehalten hatte. Aber nichts hatte ihr verraten, ob sie allein in dem Wagen gefangen war. Wo war Ronja?
Ein klapperndes Geräusch wie vom Öffnen einer Tür erschreckte Leni, und vor ihren Augen wurde es ein kleines bisschen heller. Dann packte jemand ihre Füße. Sofort wollte sie sie wegziehen, doch eine Stimme schnauzte: »Halt still, sonst …«
Die Stimme war so rau, dass es sich anfühlte, als fahre ein Reibeisen durch Lenis Magen. Als würde der Mann jeden Tag unzählige Zigaretten rauchen und gleichzeitig eine schwere Erkältung haben. Leni erstarrte sofort. Sie spürte, wie sich jemand an ihren Fußgelenken zu schaffen machte, und hörte ein scharfes Schnappen, als würde etwas zerreißen. Der Jemand befreite ihre Füße, dann packte er sie an den Fußgelenken und zerrte Leni unsanft über den Boden des Lieferwagens. Ein harter Gegenstand drückte erst in ihre Oberschenkel, dann auf ihren Hüftknochen. Leni wimmerte hinter ihrem Klebeband und wurde steif wie ein Brett. Schließlich hing sie halb im Freien – sie spürte die Sonne auf ihren nackten Beinen und auf dem Hintern ihrer Shorts –, und ihre Fußspitzen berührten etwas, vielleicht den Boden.
»Los jetzt!«
Leni hielt den Atem an. War sie gemeint? Und falls ja – was bedeutete das? Sollte sie versuchen aufzustehen? Doch wie? Sie blieb still liegen.
»Jetzt stell dich hin! Soll ich dich vielleicht tragen?«
Im nächsten Moment wurde Leni hochgehoben, durch die Luft geschwungen und auf ihre Füße gestellt. Die schnelle Bewegung in der sie umgebenden Dunkelheit verwirrte Leni völlig. Ihr wurde schwindelig, und kaum berührten ihre Füße den Boden, gaben ihre Beine zitternd nach. Sie schwankte und wäre gestürzt, hätte eine harte Hand sie nicht am Oberarm gepackt.
»Verdammt, bist du zu blöd zum Stehen? Tu, was ich dir sage, sonst kannst du was erleben! Und hör auf zu schluchzen!«
Leni nickte unter dem Tuch so heftig sie konnte. Ihre Beine zitterten, doch ihr gelang es irgendwie, dass sie nicht einknickten. Der Mann hielt sie immer noch fest. Er stand dicht neben ihr, sie konnte ihn spüren und selbst durch den Stoff vor ihrer Nase seinen Schweiß riechen. Sie versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, während Tränen über ihre Wangen liefen. Und wo war Ronja? Leni versuchte, all ihren Mut zusammenzunehmen, um nach ihrer Freundin zu fragen, doch sie bekam keinen Ton heraus. Erst dann fiel ihr wieder der Klebestreifen auf ihrem Mund ein.
»Du! Bring sie rein!«
Leni fuhr zusammen, als die Reibeisenstimme an ihrem Ohr den Befehl brüllte. Rein, wo rein?, fragte sie sich panisch. Nein, ich will nicht! Ich will nicht! Ronja, wo bist du? Ich will zu Gloria!
Reibeisen ließ sie los, eine andere Hand packte ihren Oberarm und zog daran. Diese Hand war sanfter, genau wie die zugehörige Stimme. »Kommen. Nix passieren.«
Doch Leni wollte nicht kommen. Was hieß rein? Eine Kiste? Ein Loch im Boden? Ein Grab?
Ihre Beine zitterten so heftig, dass Leni schwankte. Ich darf nicht umfallen!, dachte sie. Ich darf nicht umfallen!
Doch dann schenkte die Reibeisenstimme ihr die Kraft, stehen zu bleiben. »Jetzt die andere!«
Danke!, schoss es durch Lenis Kopf, auch wenn sie nicht wusste, wem sie dankte. Die andere – das konnte nur Ronja sein. Ronja lebte, sie war nicht allein.
»Das ist doch Schwachsinn!« Sie hatten sich in den Gang zurückgezogen, um ungestört reden zu können. Karl lehnte an der Wand, grauer Staub hatte ein abstraktes Muster auf sein blaues Jackett gelegt. »Birgit ist eine hysterische Kuh. Die Mädchen haben einfach die Zeit vergessen. Die sitzen irgendwo im Wald und machen was weiß ich was. Rauchen heimlich. Oder sie haben zwei Jungs getroffen und sind mit denen los, was weiß ich.«
»Sie sind mittlerweile seit drei Stunden überfällig. Und ihre Räder lagen herrenlos mitten auf dem Waldweg.«
»Na und? Drei Stunden sind gar nichts. Unsere Mütter hätten sich nicht mal nach drei Tagen Sorgen gemacht, als wir in dem Alter waren. Erinnerst du dich, als ich …«
Nathan unterbrach ihn, was er nur selten tat. »Meine Güte, Karl! Das waren doch ganz andere Umstände. Leni interessiert sich nicht für Jungs, und rauchen tut sie schon gar nicht. Du warst mit fünfzehn quasi erwachsen, Leni ist ein halbes Kind und ganz anders als du damals: schüchtern, zuverlässig, brav.«
Karl zuckte bei dem letzten Wort zusammen. »Aber Ronja ist all das nicht, und Leni tut immer, was Ronja sagt. Ich mach mich doch nicht zum Affen und ruf die Bullen, nur weil die beiden keine Lust haben, nach Hause zu kommen.«
»Die Aurichs haben längst die Polizei gerufen.«
»Und? Wie haben die reagiert? Bestimmt haben die sie ausgelacht. Außerdem: Wenn die beiden die Polizei schon angerufen haben, was willst du dann von mir?«
Nathan schüttelte ungläubig den Kopf. »Karl, du kennst Leni. Sie ist die Zuverlässigkeit in Person. Wenn sie länger wegbleiben würde, würde sie wenigstens anrufen. Ich mache mir Sorgen. Gloria macht sich Sorgen.« Letzteres war normalerweise ein Argument. Nach seiner Scheidung hatte Karl die Verantwortung für Lenis Wohlergehen weitestgehend an seine Haushälterin delegiert, deren erzieherischen Rat er schätzte.
Doch jetzt schüttelte er den Kopf. »Gloria ist eine Frau. Nun sei kein Waschweib, Nathan! Leni geht’s gut, ich muss mich um diesen aufgeblasenen Universitätsarsch kümmern. Der muss lernen, was Respekt ist. Was ist jetzt wieder?«
Er riss sein Handy aus der Jackettasche. »Ja?« Mehr Brüllen als Begrüßung. »Wer sind Sie? Was soll das heißen? Wollen Sie mich verarschen?« Er warf Nathan einen Blick zu. Besorgnis lag darin, und Nathan hatte erneut das Gefühl, der Boden würde schwanken. Dann wandte Karl sich ab.
»Ich höre«, sagte er ins Telefon. Seine Stimme klang vollkommen ausdruckslos. Nathan sah, wie Karls Schultern sich verspannten, während dieser mindestens zwei Minuten schweigend lauschte. Dann brüllte Karl ein langgezogenes »Scheiße!« und feuerte sein Handy durch den Gang.
»Sitzen!«
Die Hand, die Leni vorwärtsgeschoben hatte – in irgendein Gebäude hinein, wie Leni vermutete –, drückte sie nieder. Panik überfiel Leni, sie hatte das Gefühl, ins Bodenlose zu fallen, doch dann landete ihr Hintern auf einer harten Sitzfläche. Ein Stuhl? Bevor sie sich darüber klar werden konnte, wurde der Sack über ihrem Kopf abrupt weggerissen. Leni erschrak, Helligkeit blendete sie, und sie kniff instinktiv ihre Augen zusammen. Geduckt saß sie da und wartete auf das, was kommen würde. Was wollten diese Männer von ihr? Was würden sie mit ihr tun? Was …
Sie hörte Geräusche, die sie nicht einordnen konnte, dann wurde es blitzartig heller hinter ihren Augenlidern, und sie vernahm ein Klicken. Wurde sie fotografiert? Aber wieso?
Sie bekam keine Antwort, stattdessen wurde der Sack wieder über ihren Kopf gezogen. Leni spürte das Kratzen des groben Stoffes auf ihren tränennassen Wangen und war erleichtert. Ohne den Sack hatte sie sich nackt und noch schutzloser gefühlt. Sie öffnete die Augen. Hinter dem Stoff leuchtete ein grelles Licht. Leni glaubte zu erkennen, dass der Stoff braun war, grob, wie sie gedacht hatte.
»Legen auf Matratze!« Die Hand war wieder da, zog sie hoch, schubste sie vorwärts, drückte sie nieder.
Mit den Knien voran fiel Leni auf etwas Weiches. Ein weiterer Stoß ließ sie zur Seite kippen. Dort lag sie ganz still und lauschte ihrem Herzschlag, der sich mit dem Geräusch sich entfernender Schritte vermischte.
Obwohl sie ihr Zeitgefühl längst verloren hatte, war Leni sicher, nicht lange dort gelegen zu haben, als sie erneut Schritte hörte. Sie kamen näher. Feste Tritte, die auf Stein hallten und weichere, zögernde. Ronjas? Lenis Herz hüpfte.
Ronja schien dasselbe Ritual zu durchlaufen wie sie selbst. »Sitzen!« Ein Blitz, ein Klicken. Dann entstand eine Pause, die von Geräuschen gefüllt wurde, die Leni wieder nicht einordnen konnte. Rascheln. Knistern. Weitere Schritte.
Leni fragte sich, ob Ronja wohl auch aufgefordert werden würde, sich hinzulegen. Würde sie sich vielleicht sogar zu ihr legen dürfen? Hoffnung ließ Lenis Herz schneller pochen bei der Vorstellung, sie könnte der Freundin wenigstens für einen Augenblick nahe sein.
»Hört zu!«, zerstörte die Reibeisenstimme diesen Gedanken.
Und dann ertönte eine neue Stimme, noch unangenehmer als die raue. Blechern, verzerrt und so kalt, dass Leni dachte, ihr müsste tatsächlich das Blut in den Adern gefrieren.
»Leni und Ronja, ihr seid hier, weil Lenis Vater uns Geld schuldet. Sobald er bezahlt, werdet ihr freigelassen. Wenn ihr in den nächsten Tagen brav seid und gehorcht, wird euch nichts geschehen. Wenn ihr nicht gehorcht, werdet ihr sterben. Haltet euch an die Regeln! Ihr werdet diesen Raum nicht verlassen, aber ihr dürft euch bewegen, soweit eure Ketten es erlauben. Wenn ihr allein seid, dürft ihr die Säcke über euren Köpfen abnehmen. Wenn jemand von außen an die Tür klopft, kniet ihr euch auf die Matratzen und zieht die Säcke wieder über. Wenn ihr nicht gehorcht, töten wir euch. Wenn ihr eins unserer Gesichter seht, töten wir euch. Wenn ihr einen Fluchtversuch unternehmt, töten wir euch.« Es folgte ein Klicken, eine kurze Pause, und Leni wurde klar, dass die Person, die gesprochen hatte, gar nicht im Raum war. Die Stimme kam von einem Band. Dann kam ein weiteres Klicken, und die Stimme schepperte erneut in ihren Ohren. »Seid schön brav und freut euch, wir verlängern eure Ferien.«
2
An diesem Montagabend um halb sieben gestand Kriminalhauptkommissar Jakob Schuster sich endlich ein, dass er seine neue Wohnung verabscheute. Es war für ihn eine durchaus monumentale Erkenntnis, weil Abscheu ein für ihn untypisches Gefühl war. Zumindest außerhalb seines Jobs. In den vergangenen fünfundzwanzig Jahren bei der Münchener Polizei hatte Jakob viel gesehen, was verabscheuungswürdig oder gar hassenswert war. Verglichen damit war ihm sein Privatleben immer paradiesisch vorgekommen. Nun ja, vielleicht nicht gerade paradiesisch, aber doch zumindest in Ordnung, akzeptabel, annehmbar. Und selbst als er vor sechs Wochen erkannt hatte, dass auch private Situationen unerträglich werden konnten, hatte er nicht erwartet, dass er auch unbelebte Dinge einmal verabscheuen könnte.
Doch das tat er. Er hasste alles an seiner neuen Wohnung. Die Enge der eineinhalb Zimmer, die Dunkelheit im Bad, die ewig streitenden Nachbarn, deren Stimmen durch die papierdünnen Wände drangen. Der Geruch nach Chemie und Lösungsmittel, den der neue PVC-Boden ausdünstete. Der Geruch nach in Fett gebratenem Fisch, der Tag und Nacht hereinzog, sobald er das Fenster öffnete. Die Treppe bis in den siebten Stock, wenn der Aufzug streikte. Die selbst für dieses Viertel hohe Miete. Das einzig Positive war die Nähe zur U-Bahn-Station Neuperlach Süd. Sie war der Grund, warum Jakob die Wohnung genommen hatte – neben der Tatsache natürlich, dass er nach seinem überstürzten Auszug bei Sylvia dringend ein Dach über dem Kopf gebraucht hatte.
Mit plötzlicher Entschlossenheit schloss Jakob die Bücherkiste mit den gesammelten Werken von Karl May wieder, die er in seiner Jugend verschlungen hatte. Er hatte sie seitdem nicht mehr gelesen, doch er brachte es nicht fertig, sie wegzugeben. Er hatte immer gehofft, sie eines Tages einem Sohn zu schenken. Heute Abend hatte er die Bände in das neue Ikea-Regal einsortieren wollen, doch jetzt erkannte er ganz klar, dass er sich die Arbeit sparen konnte. Ein volles Bücherregal würde die Wohnung nur marginal verschönern. Was er brauchte, war ein neues Zuhause, und dieses Loch würde nie sein Zuhause werden.
Jakob drückte sich vom Boden hoch, und prompt brach ihm der Schweiß aus. Die Luft war stickig, weil er sich gegen den Fisch entschieden hatte. Er riss probeweise das Fenster auf und war angenehm überrascht: Bohneneintopf war wenigstens mal eine Abwechslung. Sein Magen schien das auch zu finden, denn er knurrte prompt.
Jakob ging zur Küchenzeile – in dieser Wohnung alles eine Sache von wenigen Schritten – und warf einen Blick in den Kühlschrank: ein halber Ring Lyoner, ein Stück Emmentaler, ein Glas Gurken, eine Tube süßer Senf, zwei Flaschen Bier. Auf dem Herd lag ein halbes Graubrot in einer Tüte. Vermutlich eine repräsentative Auswahl für einen Junggesellenhaushalt, aber warum ließ er seinen Kühlschrank eigentlich halb leer stehen? Schließlich war er in seiner Ehe fürs Einkaufen und Kochen zuständig gewesen. Er konnte gut kochen. Wieso tat er es hier nicht? Wieso ernährte er sich seit Wochen von belegten Broten und Dosenpampe?
Weil ein Mann, der seine Frau grundlos Knall auf Fall im Stich lässt, nichts Besseres verdient hat, sagte Sylvias Stimme in seinem Kopf. Jakob wusste, dass die Stimme zumindest teilweise recht hatte. Er war ohne Vorankündigung gegangen, doch beileibe nicht grundlos.
Dennoch. Morgen nach Dienstschluss würde er einen Großeinkauf machen und anschließend irgendetwas mit viel Knoblauch, Zwiebeln und frischen Kräutern zaubern, um die Fisch- und Chemie-Gerüche zu überdecken. Und jetzt aß er erst mal seine Reste und ging dabei die Wohnungsanzeigen in der Süddeutschen Zeitung vom Samstag durch. Vielleicht gab es ja eine schöne, bezahlbare Zweizimmerwohnung in guter Lage, die durch ein Wunder nicht schon weg war.
Doch als Jakob zum Brotmesser griff, klingelte das Telefon.
»Jakob? Ferdi hier. Wir haben einen Notfall. Pack ein paar Klamotten und komm umgehend zum Präsidium. Du musst eine Dienstreise antreten.«
Als Jakob im Präsidium eintraf, herrschte dort weit mehr Betrieb als sonst am Montagabend. Es wunderte Jakob nicht. Obwohl Ferdinand Wildenhofer am Telefon keine Details verraten hatte, hatte er ihm angehört, dass etwas Ungewöhnliches passiert war. Jakob gehörte zum Kriminaldauerdienst, war aber zugleich Mitglied in der sogenannten Verhandlungsgruppe, einer Spezialeinheit, die es in jedem bayrischen Polizeipräsidium gab. Sie wurde oft bei Fällen von Geiselnahmen gerufen oder wenn jemand drohte, sich selbst zu töten. Doch heute, da war er sicher, ging es um etwas anderes. Das Wort »Dienstreise« konnte eigentlich nur eins bedeuten.
Vor der Tür zum Besprechungsraum stieß Jakob beinahe mit seiner Kollegin Eva Schaller zusammen. Sie trug eine weiße Hose und einen schmalgeschnittenen Blazer, balancierte auf High Heels und zog einen kleinen Trolley hinter sich her. Als sie seine Reisetasche sah, warf sie ihm einen nervösen Blick aus ihren großen grünen Augen zu. »Du auch?«
Jakob nickte betreten, wie immer bei Evas Anblick in letzter Zeit.
»Oh. Na dann …«
Ein kurzes Schweigen.
»Weißt du, wo es hingeht?«
»Nein, aber wenn wir beide …« Jakob beendete den Satz nicht, weil die Tür zum Besprechungsraum aufgerissen wurde.
»Da seid ihr ja endlich.« Erster Kriminalhauptkommissar Ferdinand Wildenhofer, Leiter der Verhandlungsgruppe des Münchener Polizeipräsidiums, scheuchte sie in den Raum. Zahlreiche angespannte Gesichter wandten sich ihnen zu, registrierten Jakobs Reisetasche sowie Evas Trolley und erhellten sich ahnungsvoll. Jakob und Eva nahmen die letzten freien Stühle.
Ferdi ging zur Stirnseite des Raumes und stellte sich vor ein Flipchart, an dem jemand eine Karte festgeklemmt hatte. Viel Grün und in der Mitte blaues Wasser, der Form nach der Chiemsee. »Danke, dass ihr alle so schnell gekommen seid«, begann Ferdi. »Wir haben einen Entführungsfall. Die fünfzehnjährige Tochter eines Unternehmers aus Grünwald wurde zusammen mit einer Freundin entführt. Die Entführer fordern drei Millionen Mark Lösegeld.«
Für einen kurzen Moment ließ die kollektive Anspannung im Raum nach, als Ferdi verkündete, was alle längst vermutet hatten. Dann stieg sie wieder sprunghaft an. Jakob merkte es an der Stille im Raum. Auch er selbst wagte für einige Sekunden kaum zu atmen, als könnte er allein dadurch das Leben der Mädchen gefährden.
»Der Name des Unternehmers ist Karl Festing.« Ein Raunen ging durch den Raum. »Vielleicht habt ihr von ihm gehört?«
Einige Kollegen, darunter Eva, nickten, während Jakob den Kopf schüttelte.
»Karl Festing war früher Profiboxer«, erklärte Ferdi, »baute dann ein erfolgreiches Security-Unternehmen auf und gründete später eine Kette von Fitnessstudios. Er ist heute etliche Millionen schwer. Er war verheiratet, ist jedoch seit fünf Jahren geschieden. Er hat ein Kind, seine Tochter Magdalena, das Entführungsopfer. Er lebt seit einigen Jahren in einer Villa in Grünwald, Magdalena lebt bei ihm.« Ferdi machte eine kurze Pause. »Die Entführung fand im Chiemgau statt, einige Kilometer außerhalb von Chieming.« Er deutete auf eine Stelle auf der Karte. »Magdalena machte dort die letzten zwei Wochen Ferien mit einer Freundin und deren Vater. Die Freundin heißt Ronja Aurich, ebenfalls fünfzehn. Ronjas Eltern sind Birgit und Stefan Aurich, ebenfalls geschieden, beide wohnhaft in München. Ronja lebt bei ihrer Mutter.«
Ferdi räusperte sich. Es war stickig im Zimmer, das die Sonne den ganzen Tag aufgeheizt hatte.
»Nach unseren bisherigen Erkenntnissen ist Folgendes passiert: Magdalena Festing und Ronja Aurich brachen heute Morgen gegen zehn Uhr mit dem Fahrrad zum Chiemsee auf. Sie sollten spätestens um vierzehn Uhr zurück sein. Es war verabredet, dass um fünfzehn Uhr Birgit Aurich aus München kommen würde, um die Mädchen abzuholen, da morgen die Schule beginnt. Frau Aurich traf um fünfzehn Uhr wie geplant im Ferienhaus ein und machte sich zusammen mit ihrem Exmann gegen fünfzehn Uhr dreißig auf die Suche nach den Mädchen. Sie fuhren mit ihrem Wagen den kürzesten Weg zum See ab und fanden in einem Wald die verlassenen Fahrräder der Mädchen.« Ferdi tippte auf einen dunkelgrünen Fleck auf der Karte.
»Herr Aurich rief sofort die Polizei. Kollegen aus Traunstein waren bereits vor Ort. Sie haben zahlreiche Spuren gesichert. Sie sagen, dass an der Fundstelle der Räder ein großer Wagen geparkt hat, vielleicht ein Lieferwagen. Außerdem hat es möglicherweise Kampfhandlungen gegeben. Es wurden Blutspuren entdeckt.«
Die Anspannung im Raum verdichtete sich. In Gedanken fluchte Jakob leise. Die Vorstellung, dass zwei fünfzehnjährige Mädchen irgendwo festgehalten wurden, war schrecklich genug, der Gedanke, dass eine verletzt oder gar tot war, noch schlimmer.
Ohne dass er es wollte, begann ein Teil von Jakobs Gehirn um die Konsequenzen einer möglichen Verletzung zu kreisen. Wie schlimm war sie? Brauchte das Mädchen ärztliche Hilfe? Würden sich die Entführer adäquat um die Verletzung kümmern? Wie würde diese sich auf das Verhalten der Entführer und deren Verhältnis zu den Mädchen auswirken?
Dabei wusste Jakob natürlich, dass solche Spekulationen zu einem so frühen Zeitpunkt müßig waren. Die Antworten hingen von vielen Faktoren ab. Ob die Entführer professionelle Kriminelle waren oder nicht. Ob sie die Mädchen kannten oder nicht. Wie sich die Mädchen verhalten würden. Die Entführer hatten durch die Entführung eine Gleichung mit zig Unbekannten aufgemacht, deren Auflösung völlig ungewiss war. Jakob hoffte inständig, dass beide Mädchen noch am Leben waren.
»Mehr wissen wir bisher über den Ablauf der Entführung noch nicht«, fuhr Ferdi fort. »Jetzt zu der Lösegeldforderung. Heute um siebzehn Uhr drei erhielt Karl Festing einen Anruf auf seinem Handy. Eine ihm unbekannte Männerstimme meldete sich. Der Mann sagte, er spreche im Auftrag eines sogenannten Vollstreckers und habe Magdalena und Ronja in seiner Gewalt. Er forderte drei Millionen Mark Lösegeld. Herr Festing solle das Geld besorgen, er werde sich wieder melden. Außerdem verlangte der Entführer, dass Herr Festing nicht die Polizei einschaltet. Und das ist alles, was wir bisher wissen.«
Kaum hatte Ferdi seinen Vortrag beendet, schob Eva sich auf ihrem Stuhl nach vorn. Sie war so, immer die Erste. »Gibt es ein Lebenszeichen der Mädchen?«
»Bislang nicht. Aber wir gehen im Moment davon aus, dass sie noch leben.«
Allgemeines Nicken. Was blieb ihnen auch anderes übrig?
»Und gibt es einen Mitschnitt des Gesprächs?«
Ferdi schüttelte den Kopf, und Eva verzog das Gesicht.
Jakob dachte dasselbe wie sie. Ein Mitschnitt hätte der Polizei verschiedene Analysemöglichkeiten geboten. Analyse der Stimmfärbung: War der Anrufer Deutscher? Aus welcher Region kam der Anrufer? Psychologische Analyse: Wie ernst waren Forderung und Drohung zu nehmen? Klang der Anrufer eher nach einem Amateur oder einem Profi? Doch Jakob war sicher, dass sie schon bald Material bekommen würden. Zweifellos hatte Ferdi bereits eine Überwachung von Karl Festings Festnetztelefon beantragt. Und nicht nur von dessen Telefon. In Entführungsfällen war es üblich, die Telefonate sämtlicher Familienangehöriger und anderer Betroffener abzuhören.
Ferdi ergriff wieder das Wort. »Wir wissen bisher nichts über die Entführer, da sie jedoch zwei Mädchen entführt haben, sollten wir davon ausgehen, dass es mindestens zwei Personen sind, vermutlich mehr. Das könnte auf Profis hindeuten, muss es aber nicht. Da sie die Einschaltung der Polizei untersagt haben, werden wir zunächst verdeckt ermitteln. Festing wurde Diskretion zugesagt, es gilt absolute Geheimhaltung. Das Leben der Mädchen hat oberste Priorität. Es wird eine SOKO gegründet, Vizepräsident Edling wird ihr vorstehen, Kriminaloberrätin Gmeiner wird den Führungsstab leiten, der ihn unterstützt. Ich werde den Einsatzabschnitt Verhandlungen leiten. Ihr tut Folgendes …«
Ferdi begann, die Aufgaben zu verteilen. Jakob sollte den Einsatzabschnitt Taktische Betreuung übernehmen, Eva ihn dabei unterstützen. Ihre Aufgabe würde es in den nächsten Tagen sein, die Familien der Entführungsopfer zu betreuen, die Verhandlungen mit den Entführern zu begleiten oder bestenfalls sogar selbst zu übernehmen. Außerdem würde es ihre Aufgabe sein, vor Ort Informationen zu sammeln: über die entführten Mädchen, über die Familien, über mögliche Mitwisser und Mittäter in ihrem Umfeld. Jakob hatte damit gerechnet, als Ferdi zum ersten Mal das Wort »Dienstreise« in den Mund genommen hatte. Eva und er besaßen entsprechende Zusatzausbildungen in Psychologie und Verhandlungsführung. Nur eine Sache irritierte Jakob. Normalerweise übernahmen zwei Beamte gemeinsam die Betreuung einer Familie, doch im aktuellen Fall waren zwei Familien betroffen.
Als Jakob den Punkt ansprach, nickte Ferdi. »Wir haben bereits darüber nachgedacht. Im Moment hoffen wir, dass ihr zwei das zunächst allein stemmen könnt. Ihr sollt jetzt gleich zu Festings Villa fahren. Karl Festing ist dort, ebenso seine Exfrau, Magdalenas Mutter. Festing hat sie bereits informiert. Ronjas Eltern sind zurzeit noch auf der Polizeistation in Traunstein, es ist aber organisiert, dass sie ebenfalls nach Grünwald kommen. Festing hat ihnen Gästezimmer angeboten, sie werden heute in der Villa übernachten. Möglicherweise werden sie auch die nächsten Tage da bleiben. Wenn die Entführer wie angekündigt dort anrufen, werden in der Villa alle Fäden zusammenlaufen, und vermutlich werden Ronjas Eltern dort sein wollen. Wenn nicht, werdet ihr Verstärkung bekommen. Aber darüber reden wir, wenn es soweit ist. Jetzt will ich euch so schnell wie möglich in dieser Villa haben.«
»Und wie kommen wir dorthin?«, fragte Eva. »Geben wir uns als Freunde der Familie aus?«
Es war eine berechtigte Frage. Die Entführer hatten verlangt, dass Karl Festing nicht die Polizei einschaltete. Es war durchaus möglich, dass sie seine Villa überwachten. Wenn sie möglichst lange in dem Glauben bleiben sollten, dass Festing diese Forderung erfüllte, durften Jakob und Eva nicht offensichtlich als Polizeibeamte in Erscheinung treten.
»Ein Mitarbeiter und Freund Festings, Nathan Müller, wird euch hinbringen. Er wartet in meinem Büro. Er war bei Festing, als der Anruf kam. Festing rief daraufhin einen Bekannten im Innenministerium an, der uns informierte. Müller wird euch in seinem Kombi in die Villa schmuggeln.«
Das Gespräch mit Nathan Müller dauerte nur wenige Minuten. Der Mann stellte sich als Karl Festings Buchhalter vor. Jakob fand den Beruf passend. Nathan Müller war ein mittelgroßer, zierlicher Mann in einem langweiligen hellgrauen Anzug. Er hatte ein ernstes, blasses Gesicht und trug eine große Brille, durch die er neugierig die Welt betrachtete. Das einzig Auffällige an ihm war die Tatsache, dass er Fliege statt Krawatte trug. Er machte einen zurückhaltenden, introvertierten Eindruck, war trotz der Situation ruhig und beherrscht. Doch Jakob konnte seine Besorgnis spüren.
Von Ferdis Büro gingen sie direkt in die Tiefgarage des Präsidiums zu Müllers Firmenwagen, einem brandneuen Audi Kombi. Sie verstauten ihr Gepäck im Fußraum, klappten die Rückbank um, dann legten Jakob und Eva sich auf die Ladefläche. Müller warf Decken über sie und fuhr los.
Obwohl Jakob nicht sehen konnte, welche Strecke der Mann nahm, konnte er es sich denken. Quer durch die Münchner Innenstadt und dann über die Grünwalder Straße nach Süden. Grünwald galt als nobelster Vorort Münchens, obwohl es streng genommen eine eigene Gemeinde war. Es war eine der exklusivsten Gemeinden Deutschlands. Hierher zogen die Reichen und Berühmten, Unternehmer, bekannte Schauspieler und Stars des FC Bayern München.
Während der Fahrt schwiegen Jakob und Eva. Sie hatten zwar einiges zu besprechen, doch Jakob wollte nicht riskieren, dass der Mann am Steuer sie hörte. Daher lagen sie still nebeneinander, so dicht, dass Jakob seine Kollegin hätte berühren können, doch natürlich tat er das nicht. Stattdessen fragte er sich, wie es sein würde, in den nächsten Tagen so eng mit ihr zusammenzuarbeiten.