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Spannend, abgründig, überraschend – Petra Johann macht süchtig.
Drei Jahre ist es her, seit Kriminalkommissarin Charly Rumor ihren besten Freund und ehemaligen Kollegen Mick das letzte Mal gesehen hat. Damals jagten sie den sogenannten Axtmörder, der drei Frauen ermordet hatte. Die Ermittlungen endeten traumatisch, Mick musste den Polizeidienst quittieren.
Als im Stadtwald eine Frauenleiche gefunden wird, ist Charly sicher: Der Axtmörder hat wieder zugeschlagen. Sie ahnt, dass sie ihn nur mit Micks Hilfe enttarnen kann, doch sie hatte gute Gründe, seinerzeit den Kontakt abzubrechen. Wäre da nicht die Chance, vergangenes Unrecht wieder gutzumachen.
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Seitenzahl: 674
Buch
Ruth Kettler ist todkrank. Bevor sie stirbt, will sie ein altes Unrecht wiedergutmachen, doch der Versuch endet damit, dass sie erschlagen im Aachener Stadtwald liegt.
Als Hauptkommissarin Charlotte Rumor an den Tatort gerufen wird, weiß sie nicht, wer die Tote ist, ahnt aber, dass sie das vierte Opfer des Axtmörders vor sich hat, den die Kripo seit Jahren sucht. Denn alles weist auf eine Verbindung zu diesem alten Fall hin, und schon bald hat Charlotte keine Zweifel mehr – der Täter von damals hat wieder zugeschlagen.
Während in einem einsamen Blockhaus in der Eifel ein junges Mädchen verzweifelt auf Ruths Rückkehr wartet, versucht Charlotte mit ihrem jungen Kollegen Benny den Mörder zu entlarven. Doch dazu muss sie sich den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen – denn zu einem der früheren Opfer hatte sie eine besondere Beziehung.
Autorin
Dr. Petra Johann, Jahrgang 1971, ist Mathematikerin, promovierte in Aachen, arbeitete im Forschungsbereich und in der Software-Branche und schreibt seit mehreren Jahren. Für ihre Krimirecherche führte sie u.a. ausführliche Gespräche mit Kriminalpolizisten und Rechtsmedizinern. Schatten der Schuld ist ihr erster Roman bei Blanvalet.
Petra Johann
Kriminalroman
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1. AuflageOriginalausgabe Dezember 2015bei Blanvalet Verlag, einem Unternehmen derVerlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © 2015 by Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische AgenturThomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Umschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotive: plainpicture/Mira; www.buerosued.deRedaktion: Marie KüsterLH · Herstellung: samSatz: DTP Service Apel, HannoverISBN: 978-3-641-16051-7www.blanvalet.de
Für Burkhard, der so vieles möglich macht
Inhalt
Prolog: Am Ende aller Dinge
Teil I
Das vierte Opfer
Das erste Opfer
Schweigen
Sprung ins Nichts
Das zweite Opfer
Prinzessinnenhochzeit
Das dritte Opfer
Am Rande der Welt
Mad Mick
Freddy
Alexa
Miranda
Ungebetener Besuch
Déjà-vu
Drachengrollen
Wie Vater und Sohn
Mick
Dammbruch
Hans
Drachenfeuer
Rettung
Auferstehung
Erkenntnis
Bestätigung
Chris
Teil II
Asche
Ruth
Widersprüche
Rauch
Im Abgrund
Das fünfte Opfer
Schwesternliebe
Das Jüngste Gericht
Im Schutz des Drachen
Danksagung
Prolog: Am Ende aller Dinge
Ruth Kettler war sicher, dass sie nicht zurückkehren würde, dennoch sagte sie dem Mädchen nichts davon. Der Arzt hatte von einer neunzigprozentigen Chance gesprochen, dass Ruth die Operation überleben würde, doch er hatte ihr dabei nicht in die Augen gesehen. Und so hatte sie daraus eine achtzigprozentige Chance gemacht – oder auch nur fünfzig zu fünfzig. Sie traute Ärzten nicht – genauso wenig wie Sozialarbeitern, Therapeuten, Polizisten oder dem Schicksal. Genau genommen vertraute sie niemandem und hatte es nie getan.
»Und wenn etwas passiert, während du im Krankenhaus bist?«, fragte Lilli mit weit aufgerissenen Augen.
Sie standen auf der Wiese vor dem Blockhaus im Nieselregen. Eigentlich hatte Ruth sich schon verabschiedet, doch Lilli war ihr nachgelaufen und trat nun von einem nackten Fuß auf den anderen. Sie trug nur Jeans und ein T-Shirt, und auf ihren dünnen Armen hatte sich in der feuchtkalten Herbstluft eine Gänsehaut gebildet.
»Es wird nichts passieren. Was sollte denn passieren?«
»Bertie könnte krank werden.«
»Unsinn. Bertie war noch nie krank.«
»Und wenn ich eine Frage habe? Kann ich dich dann nicht doch anrufen?«
»Das habe ich dir doch erklärt, Liebes. Ich darf im Krankenhaus mein Handy nicht einschalten. Es ist verboten.« Ruth wusste nicht, ob das tatsächlich noch zutraf, aber es lieferte ihr einen willkommenen Vorwand. Sie fasste das Mädchen sanft an den Schultern. »Geh wieder hinein, du wirst ja ganz nass.«
Doch Lillis Furcht war größer als ihre Folgsamkeit. »Und was ist, wenn er wiederkommt?«, flüsterte sie.
»Er wird nicht kommen.«
»Letzten Sonntag war er auch hier. Und gestern noch einmal. Ich habe ihn gesehen, als ich aus dem Wald zurückkam. Ich habe extra gewartet, bis er weg war.«
Ruth seufzte. Sie hatte gehofft, Lilli hätte es nicht mitbekommen. Wie seltsam das Schicksal manchmal spielte! Als sie dieses Haus entdeckt hatte – in Pendelnähe zu ihrer Arbeit in Aachen, dennoch einsam gelegen, am Rande des kleinen Ortes im Wald versteckt –, hatte sie gedacht, den perfekten Hafen für Lilli gefunden zu haben. Wie man sich irren konnte.
»Ich habe ihm gesagt, dass wir ihn hier nicht sehen wollen«, behauptete sie. »Ich bin sicher, er wird nicht mehr kommen.«
»Und wenn doch?«
»Dann musst du es ebenso machen. Du sagst ihm einfach …« Ruth brach ab. Sie wusste nur zu genau, dass dies keine Option war. Lilli würde keines ihrer Worte wiederholen können. Die Sprache war immer einer ihrer Feinde gewesen. »Oder besser noch, du gehst erst gar nicht zur Tür, wenn es klingelt. Tu so, als seist du nicht zu Hause.«
»Und wenn er mich durchs Fenster sieht?«
»Dann gehst du ebenfalls nicht zur Tür. Wir haben das Haus von ihm gekauft. Er hat kein Recht, hier einzudringen.«
»Und wenn ich ihm irgendwo draußen begegne? Was ist, wenn er mich erkennt?«
Lillis Augen wurden noch größer, und fast hätte ihr flehentlicher Blick Ruth veranlasst, ins Haus zurückzukehren, ihre Tasche mit dem Nachthemd und der Zahnbürste auszupacken und die Operation abzusagen. Doch was würde dann passieren? Sie würde hier sterben, nicht schnell wie bei der Operation, sondern langsam und qualvoll für sie beide. Der Tumor in ihrem Kopf würde weiterwuchern und in kürzester Zeit nicht nur ihre Persönlichkeit zerstören, sondern auch ihre letzten gemeinsamen Momente. Lilli würde vollkommen überfordert sein, und das wollte Ruth nicht. Es war weit besser, wenn sie morgen im Krankenhaus auf einem sterilen OP-Tisch starb. Doch vorher musste sie noch etwas erledigen.
»Du wirst ihm nicht begegnen. Warum solltest du? Die Vorräte reichen für eine Woche, du musst also nicht ins Dorf. Wenn du mit Bertie Gassi gehst, geh in den Wald, dort triffst du bei diesem Wetter keine Menschenseele. Und in ein paar Tagen komme ich ja wieder. Es ist schließlich nur eine Routineoperation.«
»Und dann suchen wir uns etwas Neues?«
»Natürlich, Liebes.« Ruth lächelte das Mädchen aufmunternd an. Lilli war sechzehn Jahre alt, doch Ruth sah in ihr nie die erwachende junge Frau. Sie wusste, dass dies auch ihre eigene Schuld war, denn seit sie Lilli vor drei Jahren bei sich aufgenommen hatte, hatte sie deren Unselbstständigkeit und Abhängigkeit von ihr unbewusst gefördert. Oder vielleicht sogar bewusst? Seit dem Besuch beim Arzt betrachtete Ruth ihr Leben mit neuer Klarheit, und was sie da sah, war nicht immer schön. Doch für Schuldgefühle war es längst zu spät. Es gab nur noch eine Sache, die sie für Lilli tun konnte. »Wir suchen uns etwas Neues. Wir ziehen irgendwohin, wo dich niemand kennt.«
Es waren die richtigen Worte in der falschen Situation. Ruth sah, wie die Angst aus Lillis Blick wich und durch Hoffnung ersetzt wurde, als das Mädchen sich an die Lüge klammerte.
»Ich muss fahren, Liebes.«
»Lass mich dich noch mal drücken.« Lilli beugte sich zu ihr herunter und schlang ihre langen Arme um sie. Selbst wenn Ruth sich zu ihrer vollen Größe hätte aufrichten können, wäre sie einen Kopf kleiner gewesen als das Mädchen.
Eine Weile standen sie stumm da, eng umschlungen. Bertie, Lillis Bernhardinermix, kam durch die offene Haustür getrottet und schmiegte sich an ihre Beine. Dann löste Ruth sich von Lilli, drehte sich um und ging zu ihrem alten Fiesta. Als sie sich anschnallte, sah sie Lilli im Rückspiegel winken, doch sie richtete den Blick starr geradeaus. Ab sofort musste sie sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Bevor Ruth am nächsten Morgen ins Krankenhaus fuhr, hatte sie noch etwas zu erledigen. Sie musste einen Menschen von den Toten auferwecken.
Fünf Stunden später war Ruths Plan fehlgeschlagen. Nur der erste Teil ihrer Voraussage war korrekt gewesen: Sie würde nicht zu dem Mädchen zurückkehren, das sie die letzten drei Jahre Lilli genannt hatte. Doch in anderer Hinsicht war ihre Voraussage falsch gewesen: Ruth war nicht auf einem OP-Tisch gestorben, weil eine Diamantfräse ein kreisrundes Loch in ihren Schädel gefräst hatte. Sie war gestorben, weil sich auf einem trüben, nassen Weg im Aachener Stadtwald die Klinge einer Axt wieder und wieder in ihren Hinterkopf gefressen hatte.
Teil I
Das vierte Opfer
Der Anruf kam gegen halb acht Uhr am Sonntagabend, als Erster Kriminalhauptkommissar Frank Quirin und seine Frau Backgammon spielten. Bea hatte gerade auf Acht verdoppelt und sich dann eine Champagnertrüffel in den Mund gesteckt. Jetzt schob sie sie in ihre linke Backe.
»Falls es eine Leiche ist, sag ihnen, du seist gerade unabkömmlich«, verlangte sie von ihrem Ehemann.
Frank konnte sie nur allzu gut verstehen. Acht Punkte würden Bea zum endgültigen Sieg verhelfen, und sie hatten verabredet – das heißt, Bea hatte bestimmt –, dass der Sieger der Backgammonpartie die Haushaltspflichten für die Woche einteilen durfte. Unter anderem standen ein Besuch beim TÜV und Kücheputzen auf dem Programm, und Bea hatte beim Abendessen schon verkündet, ihren Kopf lieber unter eine schmutzige Motorhaube als unter eine schmutzige Spüle stecken zu wollen.
»Es kann keine Leiche sein, zumindest nicht für mich«, entgegnete Frank entspannt und verschob zwei schwarze Steine. »Die MK1 hat Bereitschaft. Vermutlich ist es Tante Gerda.«
»Oh Gott, dann geh erst recht du dran.«
»Es ist deine Tante.«
»Aber sie will sowieso dich sprechen. Bestimmt steht wieder ein imaginärer Einbrecher in ihrem Bad.« Bea drückte sich aus ihrem Sessel hoch und reichte Frank das Telefon vom Sideboard. »Erzähl ihr einfach, dass sie den Kerl in den Duschvorhang wickeln und mit Klopapier verschnüren soll. Ich hole uns noch eine Flasche Wein.«
Sie verschwand in der Küche. Frank lehnte sich auf der Couch zurück und nahm das Gespräch an. Doch statt der aufgeregten, altjüngferlichen Stimme von Beas Patentante hörte er eine aufgeregte, tiefe, eindeutig männliche Stimme, die er im ersten Moment nicht identifizieren konnte, weil er noch nie erlebt hatte, dass der phlegmatische Kommissar Kurt Randerath vom Kriminaldauerdienst sich aufregte.
»Sag das noch mal langsamer«, verlangte Frank schließlich.
Am anderen Ende der Leitung atmete Kurt vernehmlich ein und aus. Dann rülpste er. »’tschuldigung. Ich bin etwas durch den Wind. Wir haben eine Leiche, weiblich, im Aachener Stadtwald. Eine Spaziergängerin hat sie vor einer Stunde entdeckt. Tötungsdelikt, kein Zweifel. Sie wurde erschlagen. Kannst du herkommen?«
Ich kann schon, dachte Frank, aber ich will nicht. Er sah auf das Spielbrett. Er hatte sich auf einen ruhigen Abend mit Bea und Backgammon gefreut. Oder mit Bea und einer Flasche Wein. Oder nur mit Bea. »Warum ich? Was ist mit Jens? Die MK1 ist dran.« Zur Aachener Kripo gehörten drei Mordkommissionen, die sich mit dem Bereitschaftsdienst abwechselten. Frank leitete die MK2.
»Er ist einverstanden. Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist der Meinung, du sollst das übernehmen. Das finden wir beide.«
»Und warum?«
Am anderen Ende der Leitung entstand eine Pause. »Das würde ich dir lieber zeigen, wenn du hier bist.« Dann fügte Kurt hinzu: »Frank, du solltest wirklich dringend kommen.«
Frank überlegte kurz. »Nun gut, gib mir eine Viertelstunde. Wo ist es genau?« Er griff zum Notizblock mit dem Backgammonstand und notierte die Wegbeschreibung. Die Tote war am Rand des Stadtwaldes in der Nähe eines Wanderparkplatzes entdeckt worden. Frank kannte die Stelle, Bea und er waren dort schon spazieren gegangen.
»Die Jungs vom Erkennungsdienst sind schon informiert«, schloss Kurt. »Soll ich noch jemanden aus deinem Team anrufen?«
»Nein. Falls nötig, erledige ich das selbst.« Es reichte, wenn sein freier Sonntagabend ausfiel. Außer vielleicht … »Du kannst Benny Bescheid sagen.« Kriminalkommissar Benjamin Kämpfer war der jüngste Neuzugang der MK2 und hatte bisher erst an einer Mordermittlung teilgenommen. »Bis gleich.« Frank stand auf und legte das Telefon auf die Basisstation.
Bea kam mit einer geöffneten Flasche Shiraz zurück. Sie warf ihm einen Blick zu. »Doch der Job?«
Frank antwortete nicht sofort. Sein Blick war auf eins der zahlreichen Fotos gefallen, die auf dem Sideboard standen. Frank und Bea hatten keine Kinder, doch viele Menschen, die ihnen nahestanden und die ihren Platz in einem der kunterbunt zusammengewürfelten Rahmen gefunden hatten. Frank starrte auf ein Hochzeitsbild, wenn auch auf ein reichlich unkonventionelles. Der Bräutigam hatte sein Jackett abgelegt, darunter trug er eine mit einem silbernen Drachen bestickte Weste. Er hatte sich seine Braut über die Schulter geworfen, sodass hauptsächlich ihr schmaler, in weiße Seide gehüllter Po zu sehen war. Er grinste breit in die Kamera, im Gesicht die pure Lebensfreude. Frank betrachtete das Bild, und plötzlich hatte er eine Ahnung, was er am Tatort vorfinden würde. Der Gedanke war so erschütternd, dass er ihm für einen Moment die Sprache raubte.
»Ich glaube eher, das war das Schicksal.«
Im Wald war es kalt und nass und ungemütlich. Die Tote lag auf der Seite auf einem Bett aus welken Blättern und abgebrochenen Zweigen. Die Stelle war nur wenige Meter von einem der Wege entfernt, die vom Wanderparkplatz wegführten, jedoch durch Büsche und Bäume vor den zufälligen Blicken Vorbeigehender verborgen. Ein Labrador, der seiner Nase folgte, hatte die Leiche aufgespürt und durch aufgeregtes Bellen sein Frauchen alarmiert. Dieses war, über Äste und Wurzeln stolpernd, in den Wald vorgedrungen, um den Hund zu holen. Sie hatte vor Sonnenuntergang zu Hause sein wollen, weil sie sich – wie sie Kurt Randerath später erklärte – bei Dunkelheit im Wald fürchtete. Doch was sie dann gesehen hatte, hatte ihr noch weit mehr Angst gemacht.
Mittlerweile herrschte finstere Nacht, doch der Fundort der Leiche war hell erleuchtet. Bevor er Frank anrief, hatte Kurt das THW alarmiert, und die Helfer hatten einen Lichtmastkraftwagen so nahe wie möglich an den Fundort herangefahren. Im Schein seiner 1000-Watt-Halogenstrahler glänzten die Blätter, die noch hier und dort an Büschen und Bäumen hingen. Die Stämme der Bäume warfen schmale Schattenstreifen auf die Szenerie. Ein solcher schwarzer Streifen fiel auch über die Beine der Toten, doch ihr Oberkörper war in kaltes Licht getaucht.
Frank musste nur einen kurzen Blick auf diesen Oberkörper werfen, um seine düsteren Ahnungen bestätigt zu sehen. Einen Augenblick stand er wie erstarrt, dann griff er zu seinem Handy und wählte die Nummer von Kriminalhauptkommissarin Charlotte Rumor. Er wartete ungeduldig und unterdrückte einen Fluch, als er auf die Mailbox umgeleitet wurde. Er sprach nur sechs Worte: »Charly, ruf mich an! Egal wann.«
Frank steckte das Handy wieder weg und wandte sich an Benjamin Kämpfer, der gleichzeitig mit ihm am Tatort eingetroffen war und wartend neben ihm auf dem Trampelpfad stand, den die Polizisten zu der Toten gebahnt hatten. Normalerweise hätte Frank sich jetzt Zeit für Benny genommen, schließlich war es erst dessen zweite Leiche. Stattdessen sagte er:
»Benny, ich will, dass du Charly findest und hierherbringst. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie meldet sich nicht. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, aber ich will sie innerhalb der nächsten Stunde hierhaben. Verstanden?«
Benny sah ihn erstaunt an. »Aber Charly hat Urlaub.«
Das hatte Frank völlig vergessen. »Das ist mir egal.«
Bennys Kinderaugen rundeten sich noch mehr. »Aber vielleicht ist sie weggefahren.«
»Charly fährt nie weg. Also, ab mit dir! Ich brauche sie hier.«
»Aber wenn du nicht weißt, wo sie ist …«
Frank riss der Geduldsfaden. »Benny, spar dir deine Aber«, schnauzte er. »Fahr zu ihr nach Hause. Sie wohnt in der Arndtstraße. Klingle. Wenn sie nicht da ist, frag die Nachbarn, wo sie sein könnte. Klappere alle möglichen Orte ab. Frag meinetwegen einen Polizisten oder auch deinen lieben Gott, aber schaff sie her.«
Er wusste, dass er übertrieben hatte, als sich Bennys Gesicht zu einer Grimasse aus Schmerz und Staunen verzog. Bevor er zur Polizei ging, hatte Benny in seiner Heimatstadt Köln zwei Semester Theologie studiert. Es gab Kollegen, die sich darüber lustig machten, aber Frank wäre das unter anderen Umständen nie eingefallen. »Entschuldige. Finde sie einfach, okay?«
Benny nickte, öffnete noch mal den Mund, überlegte es sich offenbar anders und verschwand. Frank schloss kurz die Augen, bevor er sich wieder zu der Toten umwandte.
Sieh sie dir an wie jede andere Leiche, sagte er sich im Stillen. Vergiss für jetzt die Implikationen. Vergiss die anderen.
Doch das gelang ihm nicht. Die Frau, die auf dem kalten, matschigen Waldboden lag, verschwamm vor seinen Augen. Dafür tauchte das Bild einer anderen Toten vor ihm auf. Und das Bild des Mannes, der sie in den Armen hielt. Seine geröteten starren Augen. Seine Zähne, die er fletschte wie ein wildes Tier. Und dann gellte Frank der Schrei dieses Mannes in den Ohren, und am liebsten hätte er sie zugehalten.
Kriminalkommissar Benjamin Kämpfer hatte schon zu Beginn seiner Ausbildung in Köln erkannt, dass das Schicksal ihm drei große Nachteile für eine Polizistenkarriere mit auf den Lebensweg gegeben hatte: Ein Posaunenengelgesicht, mit dem er aussah wie zwölf statt neunundzwanzig. Einen Kleine-Jungen-Vornamen, bei dem Kollegen unweigerlich an eine alberne Kindersendung dachten. Und die Neigung, in Stresssituationen hysterisch zu kichern. Gegen die Nachteile Nummer eins und drei hatte er bisher keine wirksamen Gegenmittel gefunden. Doch um wenigstens Nummer zwei zu beheben, hatte er sich vor einigen Wochen bei seinem Dienstantritt bei der Aachener Kripo mit Ben Kämpfer vorgestellt und sich fest vorgenommen, sich jegliche Verniedlichung seines Namens zu verbitten. Leider hatte der Vorsatz nicht lange gehalten. Irgendein Kollege hatte schnell seinen tatsächlichen Vornamen herausgefunden und ihn daraufhin jedes Mal mit einem trompeteten »Töröö« begrüßt und ihn Benji Blümchen genannt. So lange, bis Frank das unterbunden hatte. Dennoch war aus Benji Benny geworden, und so nannte ihn inzwischen jeder, inklusive Frank.
Doch abgesehen davon, dass er Benny gerufen wurde und derjenige war, der immer zum Kaffeekochen und Pizzaholen geschickt wurde, gefiel es Benny gut bei der MK2. Das lag besonders an Frank Quirin, den Benny – ohnehin stets auf der Suche nach Vorbildern – sogleich zu einem solchen erkoren hatte. Er bewunderte Franks Durchsetzungskraft, deren Quelle er noch nicht entdeckt hatte. Er bewunderte die Tatsache, dass Frank jeden – von den Bürokräften bis zum Polizeipräsidenten – mit der gleichen Höflichkeit behandelte. Vor allem aber bewunderte er die Gelassenheit, mit der Frank auf jegliche Krise reagierte. Normalerweise. Doch wie sein Chef gerade auf den Anblick der Toten im Wald reagiert hatte, war alles andere als gelassen gewesen. Benny fragte sich, was in ihn gefahren sein mochte.
Doch darüber konnte er später nachdenken. Jetzt sprintete er erst einmal los wie Usain Bolt, hechtete hinter das Steuer seines Golfs wie Manuel Neuer und brauste zur Arndtstraße wie Sebastian Vettel. So weit, so James Bond. Doch dann wurde sein Vormarsch gestoppt. Er klingelte zweimal bei Charly, vergeblich. Er versuchte noch einmal, sie auf dem Handy zu erreichen, ebenfalls vergeblich. Und jetzt?
Ein drittes Mal presste Benny seinen Daumen auf die Klingel neben dem Namen Rumor, den er im Schein der Straßenlaterne gerade so lesen konnte, doch wieder antwortete ihm nur Stille. Er starrte an dem braun verklinkerten Mietshaus hoch. Im dritten Obergeschoss rechts brannte Licht. Wenn die Anordnung der Klingelschilder etwas besagte, musste das Fenster zu Charlys Wohnung gehören. Hatte sie vergessen, das Licht auszuknipsen, oder saß sie dort oben und hatte lediglich keine Lust auf Besuch? Sollte er in dem Fall wirklich bei den Nachbarn klingeln, wie Frank es vorgeschlagen hatte? Und wenn die bestätigten, dass Charly zu Hause war? Sollte er dann so lange an ihre Tür hämmern, bis sie öffnete?
Es war keine angenehme Vorstellung.
Benny kannte Charly seit einigen Wochen, doch weil sie so unnahbar wirkte und so wenig von sich preisgab, fühlte es sich eher nach einigen Tagen an. Er wusste nicht viel mehr über sie, als dass sie achtunddreißig war und einen Ruf als sehr gute Kriminalerin hatte. Schon deshalb hatte er einen Heidenrespekt vor ihr. Doch dieser Respekt war durchaus mit Angst vermischt. Charly hatte eine scharfe Zunge, die sie ohne Zögern einsetzte, wenn ihr jemand zu nahe trat. Benny konnte sich ihre Reaktion vorstellen, wenn er ausgerechnet sie, die so viel Wert auf ihre Privatsphäre legte, sonntagabends im Urlaub störte.
»Können wir dir helfen?«
Benny drehte sich um. Hinter ihm stand ein Pärchen Anfang zwanzig, Studenten vermutlich.
»Ich möchte zu Frau Rumor. Wisst ihr zufällig, wo sie ist? Es ist ziemlich dringend.«
Der Student sah am Haus hoch. »Bei ihr brennt Licht. Hast du schon geklingelt?«
Benny nickte.
»Dann ist die Klingel vermutlich mal wieder im Eimer. Komm mit rein, dann kannst du raufgehen und klopfen. Ganz oben rechts.«
Der Student sperrte die Haustür auf. Benny wunderte sich nicht über das vertrauensselige Verhalten. Es war der einzige Vorteil seiner kindlichen Gesichtszüge.
Die Treppe war steil, und Benny keuchte leicht, als er im dritten Stock ankam. Charly galt als Sportskanone, kein Wunder. Benny wartete kurz, weil er ihr nicht ins Gesicht schnaufen wollte, dann klopfte er. Kurz darauf wurde die Tür aufgerissen.
»Hi, Charly …«, begann Benny. Mehr brachte er nicht heraus, weil ihr Anblick ihm die Sprache verschlug.
Er hatte Hauptkommissarin Charlotte Rumor eine Woche nicht gesehen, doch so, wie sie sich verändert hatte, hätten es Jahre sein können. Bei der Arbeit trug Charly stets die gleiche Kluft: Jeans, Trekkingschuhe, farbloses Oberteil und bei Bedarf eine abgewetzte schwarze Lederjacke. Dazu weder Make-up noch Schmuck. Jetzt sah sie aus, als wäre sie zu einer Fashionshow unterwegs. Sie trug ein feuerrotes Etuikleid, das kurz über dem Knie endete und den Blick auf zwei ausgesprochen hübsche Beine und High Heels freigab. Außerdem war Charly offensichtlich beim Friseur gewesen. Die herausgewachsene Kurzhaarfrisur war durch etwas ersetzt worden, das Benny für einen topmodischen Pixie hielt – vier ältere Schwestern hielten ihn in Modefragen auf dem Laufenden –, und um allem die Krone aufzusetzen, war Charly geschminkt.
Mit Mühe klappte Benny seinen Mund zu. »Hi«, wiederholte er dann.
Charly kniff ihre Smokey Eyes zusammen. »Was machst du denn hier?«
»Ich will zu dir. Frank schickt mich.«
»Du kannst nicht zu mir wollen. Ich habe Urlaub. Urlaub heißt, dass ich vor den Nachstellungen meiner Kollegen sicher bin. Hast du das im Polizeikindergarten nicht gelernt?«
Wenigstens hat sie nicht auch ihr Verhalten einer Schönheits-OP unterzogen, dachte Benny. »Frank schickt mich wirklich. Wir haben einen Mord, ich soll dich holen.«
»Blödsinn. Das könnt ihr doch wohl ohne mich regeln. Außerdem ist die MK1 dran.«
»Stimmt, aber die wollen, dass wir das übernehmen. Und Frank wollte, dass ich dich hole.«
»Warum?«
Gute Frage, dachte Benny. »Keine Ahnung. Es scheint aber wirklich dringend zu sein. Er hat nur einen Blick auf die Tote geworfen und sofort zum Handy gegriffen. Als er dich nicht erreichte, hat er mich losgeschickt. Er schien ziemlich durch den Wind zu sein.«
»Frank?« Charlys Stimme klang ungläubig. »Machst du Witze?« Doch sie trat einen Schritt zurück in die Wohnung und griff zu ihrem Handy, das auf einer Kommode im Flur lag. Sie tippte kurz darauf herum, bis Franks Stimme ertönte: »Charly, ruf mich an! Egal, wann.«
»Es ist wirklich kein Witz«, bemerkte Benny unnötigerweise.
Charly legte das Handy weg. Einen Moment stand sie unschlüssig da. Während sie überlegte, versuchte Benny einen Blick in die Wohnung zu erhaschen, doch er entdeckte nur einen nichtssagenden, weiß gestrichenen Flur. Dann jedoch trat Charly einen Schritt zur Seite, und er stellte fest, dass sie nicht allein war. Hinter ihr lehnte eine zweite Frau an einem Türrahmen.
Benny richtete sofort seine volle Aufmerksamkeit auf sie, denn sie sah umwerfend aus. Sie trug ein schwarzes Kleid, das bedeutend kürzer war als Charlys. Auch sie war perfekt gestylt und trug einen Pixie, nur in Platinblond statt in Schwarz. Doch obwohl Charly gut aussah, stellte die Frau sie fraglos in den Schatten. Bei ihren Kurven wäre einem Slalomfahrer schwindelig geworden, und sie besaß einen Mund, von dem Benny geschworen hätte, dass er exakt zu seinem eigenen passen würde.
Charly drehte sich zu ihr um. »Jill, es tut mir leid, ich muss noch mal weg.«
Jill trat näher. »Jetzt? Ernsthaft? Wir sind schon seit einer Viertelstunde überfällig, und außerdem bin ich kurz vorm Verhungern.«
»Es tut mir leid, es geht nicht anders. Ein Mordfall.«
»Ich dachte, du hast Urlaub.« Sie warf Benny einen unfreundlichen Blick zu.
Charly stellte ihn nicht vor, sondern sagte bloß: »Das ist ein Kollege von mir. Mein Chef hat ihn extra losgeschickt, um mich zu holen.«
Jill sah nicht so aus, als hielte sie das für ein schlagendes Argument, doch sie sagte: »Tja, da kann man nichts machen. Romantisches Abendessen ade. Oder lässt du mir stattdessen den kleinen Welpen da? Er sieht aus, als bräuchte er ein Frauchen, das sich um ihn kümmert. Oder wird er noch gesäugt? Das würde erklären, warum er so hungrig auf meinen Busen starrt.«
Sie sagte es in zuckersüßem Ton, doch Benny schoss die Röte ins Gesicht.
Charly erwiderte: »Ich fürchte, ich muss ihn mitnehmen. Aber nicht so. Ich muss mich umziehen. Benny, ich bin in fünf Minuten unten.«
Damit schlug sie ihm die Tür vor der Nase zu.
Charly benötigte tatsächlich nur fünf Minuten, um sich abzuschminken, ihr Kleid und Jills Schuhe auszuziehen und sich in ihre gewohnte Kluft zu werfen. Im Stillen verfluchte sie Jill, die sie überredet hatte, sich für den Abend so aufzumotzen.
Jill hatte in der Zwischenzeit eine Flasche Rotwein geöffnet – von dem, den sie mitgebracht hatte, da sie Charlys Auswahl für eine Zumutung hielt. Mit einem gut gefüllten Glas erschien sie in der Schlafzimmertür. »Wenn du so herumläufst, ist es kein Wunder, dass deinem Kollegen fast die Augen aus dem Kopf gefallen sind. War das der Neue, von dem du erzählt hast?«
»Mmh«, erwiderte Charly, den Kopf in einem Wollpullover. Es war kalt draußen, und sie war froh, nicht in einem Kleid hinauszumüssen.
»Erstaunlich, dass der im Dunkeln schon allein rausdarf. Er sieht aus wie fünfzehn, Babyspeck inklusive. Aber warum hast du behauptet, er sei harmlos?«
Charly schob ihren Kopf durch die Halsöffnung. »Weil er es ist. Harmlos und naiv. Zu naiv. Ich glaube nicht, dass er es lange bei der Mordkommission aushält. Hat er dir übrigens wirklich auf den Busen gestarrt? Das hätte ich ihm nicht zugetraut.«
»Sonst hätte ich es nicht gesagt.«
Charly war sich da nicht so sicher. Sie schätzte Jill wie kaum einen anderen Menschen – der Einzige, der ihr spontan einfiel, war Frank. Aber Jill hatte manchmal Vorurteile gegenüber Männern, bei denen selbst radikale Feministinnen nach Luft schnappten. Zweifelnd betrachtete sie die Freundin.
Jill fing an zu lachen. »Na gut, nur in Gedanken. Aber ich dachte mir: Wehret den Anfängen! Außerdem hat er uns den Abend versaut, und es wundert mich, dass du sofort rennst, wenn dein Chef pfeift. Das passt nicht zu dir.«
»Es scheint wichtig zu sein.«
»Das ist es bei Chefs angeblich immer.«
Charly fischte ein Paar Socken aus der Kommode. Dann hielt sie nachdenklich inne. »Nicht bei Frank. Er würde uns nie ausnutzen. Er ist nicht der Typ, der Mitarbeiter ohne Not aus dem Wochenende holt. Oder gar aus dem Urlaub. Das hat er noch nie gemacht. Es muss wirklich wichtig sein.« Erst als sie es aussprach, wurde ihr klar, wie wichtig, und sie fragte sich, was passiert sein mochte.
Sie zog die Socken an und streckte Jill die Hand hin, ein Friedensangebot. Jill nahm das Weinglas in die linke Hand und zog Charly mit der rechten Hand auf die Füße. Einen kurzen Augenblick standen sie dicht voreinander, dann trat Charly einen Schritt zurück.
»Das sollte dir dein dritter Jahrestag auch sein«, sagte Jill leise. »Wichtig, meine ich.«
»Das ist er doch«, behauptete Charly. »Sonst hätte ich mich von dir nicht so aufmotzen lassen. Ich hätte zum Thronjubiläum der Queen gehen können.«
»Nur weil ich dich gezwungen habe.«
Das stimmte. Charly hatte sich zuletzt als Teenager geschminkt und dann beschlossen, dass sie ihre Zeit lieber anders nutzte. Zunächst hatte sie sich auch geweigert, ihr einziges Kleid – sie hatte es vor Jahren für eine Hochzeit gekauft, an die sie lieber nicht mehr erinnert werden wollte – zu tragen und sich von Jill stylen zu lassen. Doch Jill hatte sie schließlich überredet mit der Begründung, sonst würde man sie nicht in das teure französische Restaurant lassen, in dem sie einen Tisch reserviert hatte. Charly wäre zwar ohnehin lieber zum Italiener um die Ecke gegangen, hatte aber nachgegeben, weil sie wusste, dass sie es Jill schuldete.
Jetzt sagte sie: »Hey, wenn du möchtest, können wir das Essen beim Franzosen ja morgen Abend nachholen.«
»Heißt das, du rechnest damit, länger wegzubleiben?«
Charly ging in den Flur und schlüpfte in ihre bequemen Schnürboots. Sie trauerte Jills High Heels nicht eine Sekunde lang nach. »Ich fürchte ja.«
»In dem Fall gehe ich lieber allein essen. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass wir für morgen noch einen Tisch bekommen? Aber was ist mit dir? Du hast seit dem Frühstück nichts gegessen.«
»Kein Problem.« Charly lief in die Küche und nahm sich einen Müsliriegel aus dem Schrank.
Jill kommentierte das mit einem Kopfschütteln. »Du weißt wirklich, wie man es sich gut gehen lässt. Und ich bin mit dem Gedanken aus Hamburg angereist, dir zu zeigen, dass das Leben schön sein kann. Offensichtlich habe ich meine Mission schon erfüllt.«
Charly grinste. Dann schnappte sie sich ihre Schlüssel und verschwand durch die Wohnungstür. Doch auf dem Weg nach unten hallten Jills Worte in ihrem Kopf nach. Konnte das Leben wirklich schön sein? Es war kein Gedanke, der sich ihr in den letzten drei Jahren aufgedrängt hatte, aber vielleicht war es an der Zeit, ihn wieder zuzulassen?
Der Gedanke war so gegenwärtig, dass Charly sogar Benny anlächelte, als sie zu ihm ins Auto stieg.
»Okay, jetzt noch mal ohne zivile Zeugen. Warum will Frank, dass ich komme?«
Benny tippte den Blinker an und fuhr los. »Ich weiß es nicht. Das sagte ich doch schon.«
»Dann erzähl mir alles, was du weißt.«
Benny tat das, während er den Wagen durch die dunklen, einsamen Straßen lenkte. Im Licht der Scheinwerfer glänzten die Pfützen. Seit dem letzten Regenguss vor zwei Stunden waren die Straßen noch nicht getrocknet.
Was Benny erzählte, war nicht sehr aufschlussreich. Gegen halb sieben hatte eine Spaziergängerin im Stadtwald eine weibliche Leiche entdeckt. Die Tote hatte mehrere Verletzungen an Nacken und Hinterkopf, die offensichtlich stark geblutet hatten. Die Spaziergängerin war nach Hause gelaufen und hatte 110 gewählt, woraufhin ein Notarzt und Kurt Randerath vom KDD gekommen waren. Kurt hatte dann erst den Leiter der MK1 angerufen und später Frank informiert.
So weit, so ungewöhnlich, dachte Charly. Es kam ausgesprochen selten vor, dass eine Mordkommission einer anderen eine Leiche wegschnappte. Doch selbst wenn: Warum forderte Frank ausgerechnet sie an?
»Du warst doch auch schon am Tatort und hast die Leiche gesehen. Ist dir irgendetwas Besonderes aufgefallen? Was war denn überhaupt die Tatwaffe?«
»Wir haben sie noch nicht gefunden. Kurt meinte, es könnte eine Axt gewesen sein. Und da war tatsächlich etwas Seltsames … Alles okay?«
Nein, dachte Charly, nein. Bei dem Wort Axt hatte sie unwillkürlich die Arme schützend vor der Brust gekreuzt. Jetzt spürte sie einen immensen Druck hinter den Rippen. »Das Seltsame«, fragte sie gepresst, »was war das?«
»Nichts Schlimmes«, antwortete Benny hastig. Offensichtlich wollte er sie beruhigen. »Ich meine, nichts wirklich Schlimmes. Keine Verstümmelung oder so. Es sah nur so aus, als habe der Mörder dem Opfer die Haare abgeschnitten.«
Doch Charly wusste, etwas Schlimmeres hätte nicht passieren können.
Frank Quirin hatte seine Fassung wiedergefunden, bevor Charly ihre verlor, doch es war ihm erst gelungen, als einer der Kollegen vom Erkennungsdienst ihn von der Leiche weggeholt hatte.
»Frank, kommst du mal? Ich glaube, ich habe den Tatort gefunden.«
Frank ging über den Trampelpfad, den die Polizisten zu der Toten gebahnt hatten, zurück zum Wanderweg. Der Trampelpfad war nicht die kürzeste Verbindung zum Weg, sondern entsprach der Route, die die Hundebesitzerin genommen hatte. Auf diese Weise versuchten die Ermittler, möglichst wenige Spuren zu zerstören.
Dass dieses Vorgehen sinnvoll gewesen war, zeigte sich, als der Erkennungsdienstler Frank zu der Stelle des Wanderweges führte, die der Leiche am nächsten lag, und auf einen hellen Stein deutete, auf dem dunkle Tropfen zu sehen waren.
»Blut?«, fragte Frank.
Der Erkennungsdienstler bejahte. »Es sieht so aus, als sei sie hier erschlagen und dann auf dem direkten Weg zum Fundort geschleift worden. Siehst du den Eindruck hier am Wegrand? Sie könnte hier hingefallen sein, zumindest sieht es so aus, als sei hier vor Kurzem ein schwerer Gegenstand hingefallen oder hingeworfen worden. Und hier sind Knick- und Bruchspuren, und das dort sieht nach einer Schleifspur aus.«
Er wies auf mehrere Stellen, dann zog er vorsichtig mit den behandschuhten Händen einen Zweig zur Seite und leuchtete zusätzlich mit seiner Taschenlampe. Frank konnte die Schleifspur deutlich erkennen.
»Sehr gut. Was ist mit Fußabdrücken?«
»Bisher haben wir keine klaren Spuren gefunden, es dürfte auch schwierig werden, weil der Boden so matschig ist. Und wenn der Täter schlau war, hat er die Leiche hinter sich hergezogen, sodass sie seine Spuren verwischt hat, und ist auf dem Rückweg auf die dickeren Äste getreten. Sobald ich hier alles gesichert habe, suche ich weiter.«
Frank nickte und überließ den Mann wieder seiner Arbeit. Auf dem Weg und im Wald herrschte mittlerweile reges Treiben. Die Erkennungsdienstler suchten nach Spuren, die Männer vom THW beratschlagten, wie sie den Tatort über Nacht am besten schützen könnten. Es regnete zwar gerade nicht, doch für die Nacht waren weitere Schauer vorhergesagt.
Frank ging die wenigen Meter zum Parkplatz, um sich einen Überblick über die Umgebung zu verschaffen. Der Stadtwald erstreckte sich im Süden Aachens über ein Gebiet von mehr als zwei Hektar. Es gab mehrere Wohnstraßen, die an den Wald angrenzten oder sich ein Stückchen in ihn hineinschlängelten. Der Wanderparkplatz lag am Ende einer solchen Straße. Bei schönem Wetter war er stark frequentiert, jetzt war er leer. Auch die Polizisten hatten ihre Einsatzfahrzeuge ein Stück die Straße hinunter geparkt, um mögliche Spuren nicht zu vernichten.
Frank sah an der Schlange der Fahrzeuge vorbei. Etwa hundert Meter weiter machte die Straße einen Knick, außer Sichtweite standen dort die ersten Einfamilienhäuser. In einem davon wohnte die Spaziergängerin, die die Tote gefunden hatte. Eigentlich hätte Frank mit ihrer Vernehmung beginnen können, doch er wollte erst mit Charly sprechen – falls Benny sie denn fand.
Obwohl Frank behauptet hatte, dass Charly im Urlaub nie wegfuhr, hatte er keine Ahnung, ob das tatsächlich noch zutraf. Er wusste, dass sie früher ihre Urlaube meistens dazu genutzt hatte, etwas Nützliches zu tun: ihre Wohnung zu renovieren, sich weiterzubilden oder für eine Prüfung zu lernen. In den zehn Jahren, die er sie kannte, war sie nur zweimal weggefahren. Einmal hatte Mick, dem ihr Pflichtbewusstsein ein Gräuel war, sie überredet, mit ihm in seinem Pick-up drei Wochen quer durch Europa zu fahren. Charly war entspannt wie nie zurückgekommen. Das andere Mal war sie in einen Sportklub auf Sardinien geflogen. Von da war sie liegend und mit schweren Verletzungen nach Hause transportiert worden. Aber heute?
In den letzten drei Jahren hatte Charly so wenig Interesse an ihrer Karriere gezeigt, dass Frank sich nicht vorstellen konnte, wie sie mit einem Stapel Bücher für angehende Führungskräfte an ihrem Schreibtisch saß. Allerdings hatte sie auch kein Interesse an anderen Dingen gezeigt, sodass sie wohl auch nicht losgezogen war, allein ein fremdes Land zu erkunden. Im Sommer, vermutete Frank, zog es Charly in die Eifel, wo sie auf ihrem Rennrad ihren Dämonen davonzufahren versuchte. Aber was tat sie in einer verregneten Oktoberwoche?
Ich müsste es wissen, dachte er mit einem Mal müde. Früher hatte er solche Dinge gewusst. Früher, als er noch ein väterliches Verhältnis zu den meisten seiner Mitarbeiter gehabt hatte, insbesondere aber zu Charly und Mick. Früher, bevor beide ihm und einander entglitten waren. Früher, bevor ein Mann mit einer Axt drei Frauen erschlagen und mit einem entsetzlichen Hieb auch das Team zerstört hatte, das Frank so sorgfältig aufgebaut hatte.
Frank sah sofort, dass Charly schon Bescheid wusste. Er erkannte es an der Art, wie sie aus dem Golf stieg, den Benny hinter dem Bus des Erkennungsdienstes geparkt hatte. Charly war immer selbstbewusst gewesen, das hatte sich in ihrer aufrechten Haltung und ihrem gelassenen Gang ausgedrückt. In den letzten drei Jahren waren ihre Bewegungen dann noch forscher geworden, sodass sie manchmal geradezu aggressiv wirkten. Doch jetzt bewegte Charly sich, als hätte sie Schmerzen.
Frank ging ihr entgegen. »Danke, dass du gekommen bist.«
Sie nickte bloß. Offenbar hatte es ihr die Sprache verschlagen, was selten genug geschah.
»Hat Benny dir erzählt, was passiert ist?«, fragte er dennoch.
»Nicht viel. Aber er hat erzählt, wie die Tote aussieht. Dass ihr die Haare abgeschnitten wurden und dass die Tatwaffe vermutlich eine Axt war. Ich nehme an, das stimmt?«
»Ja.«
Sie wandte sich von ihm ab und blickte in Richtung des hell erleuchteten Tatorts. Ein Eichhörnchen glitt von einem Baum, huschte über den Parkplatz, schlug einen Haken und flitzte unter einen der Dienstwagen.
Dann sagte Charly: »Hast du einen Schutzanzug für mich?«
»Natürlich.«
Er ging zum Bus der Spurensicherung und reichte ihr einen Schutzanzug und ein Paar Gummistiefel. Er selbst hatte seinen Schutzanzug angelassen und zog nur den Mundschutz wieder hoch. Dann führte er sie wortlos zu der Leiche, und gemeinsam betrachteten sie die Tote.
Die Frau war klein, vielleicht eins sechzig. Sie sah nicht so aus, als sei sie für einen längeren Spaziergang in den Wald gekommen. Zwar trug sie einen schwarzen Anorak, dazu aber eine hellgraue Wollhose und altmodische schwarze Schnallenschuhe, die nur bedingt regentauglich aussahen. Die Frau lag auf der linken Seite und hatte den Oberkörper leicht gekrümmt. Der Kopf war in Richtung Boden gedreht, sodass Frank nur einen Teil der rechten Gesichtshälfte sehen konnte. Die Erdspuren und kleinen Kratzer auf dem Gesicht waren möglicherweise entstanden, als die Leiche über den Waldboden geschleift worden war. Das Gesicht war ungeschminkt.
Selbst im Tod wirkte die Frau müde und erschöpft, und Frank fragte sich, was sie so erschöpft haben mochte. Sie erinnerte ihn an die erste Tote, die er je gesehen hatte, seine Großmutter. Auch sie hatte so müde ausgesehen, nach einem langen Leben, das nur an Entbehrungen reich gewesen war. Aber Franks Großmutter war bei ihrem Tod achtundachtzig Jahre alt gewesen, während er diese Frau auf Ende vierzig schätzte. Und seine Großmutter war eines natürlichen Todes gestorben, während diese Frau erschlagen worden war.
Frank hatte an der Todesursache wenig Zweifel. Die Hiebe einer Axt oder eines Beils hatten sich in Nacken, Hals und Hinterkopf gefressen und klaffende Wunden hinterlassen. Das war besonders gut zu erkennen, weil der Täter der Toten die Haare bis fast auf die Kopfhaut abgeschnitten hatte. Diese Haare, nass und von einem fahlen Blond mit grauen Strähnen und vorher etwa schulterlang, lagen auf der Toten, auf ihrem Anorak und ihrer Wollhose und ringsum verstreut. Einzelne Strähnen hingen an abgebrochenen Ästen und kringelten sich im Matsch.
Frank spürte, wie Charly neben ihm mehrmals tief ein- und ausatmete. »Das mit den Haaren ist neu«, sagte sie schließlich. »Bei Bettina Kersthoff hat er sie zwar abgeschnitten, dann aber ordentlich neben die Leiche gelegt. Und hier sieht es so aus, als hätte er die Haare zwischendurch abgeschnitten und dann noch mindestens einmal zugeschlagen. Der Hieb am Ohr.« Sie deutete darauf.
»Du hast keinen Zweifel, dass er es war?«
Sie musterte ihn. »Du etwa? Aachen ist doch wohl etwas zu klein für zwei Mörder, die ihre Opfer mit einer Axt oder einem Beil erschlagen und ihnen dann die Haare abschneiden.«
Frank nickte. Natürlich hatte er es gewusst, aber aus irgendeinem Grund hatte er Charlys Bestätigung gebraucht. Dabei hatte er auch gewusst, dass es nicht vorbei war. Ein Serienmörder hörte erst auf zu töten, wenn er gefasst wurde. Nur dass sie es hier nicht mit einem gewöhnlichen Serienmörder zu tun hatten.
»Sie sieht ganz anders aus als die früheren Opfer. Weniger auffallend.« Weniger attraktiv, dachte er, doch er sprach es nicht aus. Schließlich hätte er das auch der lebenden Frau nicht ins Gesicht gesagt, und er versuchte immer, die Würde der Toten so lange wie möglich zu wahren.
Charly nickte zustimmend. »Weißt du schon, wer sie ist?«
»Nein.« Soweit sie das bisher überprüft hatten, trug die Tote keine Ausweispapiere bei sich. Auch eine Handtasche oder Ähnliches hatten sie nicht gefunden. »Wir wissen überhaupt sehr wenig. Ich schätze, sie liegt seit mindestens zweieinhalb Stunden hier, weil sie bestimmt schon hier lag, als es noch regnete. Vermutlich wurde sie aber nicht hier erschlagen, sondern auf dem Weg. Rolf hat dort Blut- und Schleifspuren gefunden.« Er deutete in die Richtung.
»Liegen dort auch Haare?«
»Nein. Die wurden definitiv erst hier abgeschnitten, sonst wären sie überall verstreut. Wenn du recht hast, dann hat unser Mörder auf dem Weg zum ersten Mal zugeschlagen, die Frau dann hierhergezogen, die Haare abgeschnitten und erneut zugeschlagen. Ich frage mich, wieso.«
»Vielleicht hat er gemerkt, dass sie noch nicht tot war. Oder aus Wut.«
Frank blickte auf die Tote hinunter. Sie sah unglaublich harmlos aus, nicht so, als hätte sie jemanden zu blindem Zorn anstacheln können. Aber natürlich konnte man das nie wissen.
Charly fragte: »Was ist mit der Frau, die sie gefunden hat?«
»Jutta Wittig, achtundsechzig. Sie ging mit ihrem Hund spazieren. Sie wohnt weiter unten an der Straße. Ich habe noch nicht mit ihr gesprochen.«
»Warum nicht?«
»Ich wollte dich dabeihaben.« Er räusperte sich. »Und ich möchte auch Benny mitnehmen. Er soll das Gespräch leiten, zumindest am Anfang.«
Charly sah ihn überrascht an. »Er hat das noch nie gemacht. Und sind drei nicht ein bisschen viel?«
»Wir fragen die Frau, ob sie einverstanden ist. Ich fände es gut, wenn zunächst jemand die Fragen stellt, der nichts über die anderen Morde weiß. Oder hast du Benny davon erzählt?«
»Bisher hatte ich keine Gelegenheit dazu. Aber er hat doch bestimmt schon davon gehört. Die Zeitungen waren voll davon.«
»Aber der letzte Mord ist drei Jahre her, und da war er noch in Köln. Und selbst wenn, hat er vermutlich noch nicht die Verbindung zu ihr«, er blickte auf die Tote zu seinen Füßen, »hergestellt. Ich hoffe, er ist unbefangen. Das kann man von uns beiden nun wirklich nicht behaupten.«
Benny war begeistert, die Vernehmung der Zeugin leiten zu dürfen, die das Opfer gefunden hatte. Es war erst sein zweiter Mordfall, und bei dem ersten hatte er im Wesentlichen nur zugehört und zugesehen. Er hatte gehofft, diesmal eine aktivere Rolle zu bekommen, und dass er gleich die erste Vernehmung leiten sollte, schien ihm ein gutes Zeichen zu sein.
Die Freude wurde allerdings gedämpft, als Frank ihm mitteilte, dass er und Charly auch dabei sein würden.
»Zu dritt?«, fragte er verwundert.
»Ja«, erwiderte Frank freundlich, ohne seine Entscheidung zu erläutern. »Das macht dir doch nichts aus?«
»Nein, natürlich nicht«, behauptete Benny. Aber es verunsicherte ihn. Was sollte das? War das ein Test? Wollten Frank und Charly ihn beobachten? Aber warum gleich beide?
»Du wirst das schon machen«, ermunterte Frank ihn. »Ich möchte, dass Frau Wittig noch einmal erzählt, wie sie die Tote gefunden hat. Und ich möchte wissen, ob ihr etwas Besonderes aufgefallen ist. Aber geh behutsam vor. Sie hat vermutlich einen Schock erlitten.«
Benny nickte. Geh behutsam vor! Das hatte sich längst in sein Gedächtnis gebrannt. Beim Kriminalkommissariat 11 wusste jeder, wie sehr Frank es hasste, wenn ohnehin traumatisierte Zeugen zusätzlich von Kripobeamten bedrängt wurden. Benny nahm sich vor, die Einfühlsamkeit in Person zu sein, hoffte jedoch, dass Jutta Wittig nicht zu verstört sein würde.
Der erste Eindruck der Frau war ungünstig, weil sie weit älter als achtundsechzig wirkte – zumindest weit älter als andere Über-65-Jährige, die Benny kannte. Allen voran seine eigenen Eltern, die seit Jahren mit ihren üppigen Lehrerpensionen die Anti-Aging-Industrie sponserten und sogar einmal in einem Werbefilm für Best Ager für einen Kurztrip nach Sylt inklusive Tanzkurs am Strand geworben hatten.
Jutta Wittig gehörte offensichtlich nicht in diese Kategorie. Ihr Gesicht war runzelig wie eine Walnuss. Sie war klein und vom Alter stark gebeugt und erweckte den Eindruck, als könnte man sie mühelos umhusten. Sie trug eine schwarze Softshellhose, an deren Hosenbeinen Schlammspritzer klebten, und einen bunten Wollpulli, dessen beste Tage genauso lange vorbei schienen wie die seiner Besitzerin. Doch als Benny ihr in die Augen sah, die unter grauen Ponyfransen hervor zu ihnen aufschauten, wurde er zuversichtlicher. Die Augen waren klar und blau und zeigten nur leichte Spuren des Schrecklichen, das sie kurz zuvor gesehen hatten.
Jutta Wittig hörte aufmerksam zu, als Frank den Grund für ihren Besuch erläuterte. »Nein, es macht mir nichts aus, Ihre Fragen zu beantworten.« Ihre Stimme klang dünn, aber nicht zittrig, fast ein wenig barsch. »Ich bin sogar froh, dass Sie hier sind. Kommen Sie herein. Natürlich war es ein Schock, die arme Frau zu finden, und ich habe das Bedürfnis, darüber zu sprechen. Fast hätte ich schon einen Freund angerufen, aber dann erschien es mir selbstsüchtig. Warum sollte ich ihm ebenfalls die Nachtruhe rauben? Setzen Sie sich.«
Sie hatte sie in ihre Wohnküche geführt, einen gemütlichen Raum mit Fenster zur Straße und ungemütlichen Sprossenstühlen. »Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
Die drei Polizisten lehnten ab.
»Aber ich werde noch einen Tee trinken.«
Sie schlurfte zum Herd, wo eine schwere Kanne auf einer Platte bereitstand. Als sie zum Henkel griff, machte Benny eine unwillkürliche Bewegung auf sie zu, überzeugt, ihr dünnes, von Altersflecken gesprenkeltes Handgelenk würde unter dem Gewicht der Kanne zerbrechen wie ein morscher Zweig. Doch Jutta Wittig schenkte sich mühelos eine Tasse ein. Dann setzte sie sich und wies ihren Hund an, neben ihrem Stuhl Platz zu nehmen. Es war ein hübscher goldener Labrador-Retriever, der ihr schon zur Tür gefolgt war und jeden ihrer Schritte begleitet hatte. Selbst Benny, der insgeheim Angst vor Hunden hatte, hatte ihn als harmlos eingestuft.
»Also, was möchten Sie wissen?« Jutta Wittig sah die Polizisten der Reihe nach an.
Benny räusperte sich. »Wir würden gern noch einmal von Ihnen hören, wie Sie die Leiche gefunden haben.«
»Natürlich. Obwohl eigentlich nicht ich sie gefunden habe, sondern Linda.« Sie beugte sich zu ihrer Hündin hinunter und strich ihr kurz über den goldbraunen Kopf. »Wir haben unsere übliche Abendrunde gemacht und waren bereits auf dem Rückweg. Ich hatte Linda von der Leine losgemacht, und sie lief ein Stück voraus. Ich lasse sie im Wald immer los, damit sie sich austoben kann. Meistens bleibt sie auf dem Weg, manchmal läuft sie auch ein Stückchen in den Wald hinein, aber ich achte immer darauf, dass sie in Rufweite bleibt.«
Sie legte eine kurze Pause ein. Ihre Hände umschlossen die Teetasse, als wollte sie sich wärmen. Dann fuhr sie fort: »Wie gesagt lief Linda heute Abend ein Stück voraus und verschwand kurz vor dem Parkplatz im Gebüsch. Als ich dort ankam, rief ich sie, weil ich sie wieder an die Leine nehmen wollte, aber sie kam nicht.« Sie trank einen Schluck Tee. »Beim ersten Mal habe ich mir nichts dabei gedacht. Sonst kommt sie zwar sofort, weil ich sie selbst ausgebildet habe«, ein flüchtiges Lächeln flog über das runzlige Gesicht, »aber natürlich ist und bleibt sie ein Hund und damit für einen Menschen nicht völlig berechenbar. Ich rief also noch einmal. Beim dritten Mal bellte Linda, und da wusste ich, dass etwas nicht in Ordnung war.«
»Woher?«, fragte Benny.
Frau Wittig sah ihn an. »Sie haben offenbar keinen Hund. Man erkennt es an der Art des Bellens.« Sie trank noch einen Schluck Tee. »Ich wusste also, dass etwas nicht stimmte, daher ging ich nachsehen. Und so«, sie starrte in ihre Tasse, »fand ich sie.«
Die letzten Worte hatte sie leise gesprochen, und auch Benny senkte die Stimme. »Das war bestimmt ein schreckliches Erlebnis«, murmelte er und bemühte sich, möglichst viel Mitgefühl auszudrücken. Dann sagte er wieder etwas lauter: »Und was taten Sie dann? Haben Sie die Leiche berührt?«
»Ich habe ihren Puls gefühlt. Am Handgelenk, weil am Hals Blut klebte.« Sie blickte auf ihr eigenes dünnes Handgelenk und schob den Ärmel ihres Wollpullis darüber, als wollte sie es schützen. »Ich glaube, ich wusste sofort, dass sie tot war, aber natürlich musste ich mich davon überzeugen, dass ich ihr nicht mehr helfen konnte. Ich sah auf meine Uhr, es war kurz nach halb sieben. Dann nahm ich Linda wieder an die Leine. Sie sträubte sich nicht. Ich glaube, sie war froh, dass ich das Kommando übernahm. Wir liefen möglichst schnell nach Hause, um Sie anzurufen. Und das war es eigentlich schon.«
Sie schwieg. Ihre Augen blickten erstaunlich ruhig und klar, doch ihre Hand suchte wieder nach der Hündin, die etwas zu spüren schien, denn sie stupste mit ihrer feuchten Schnauze dagegen.
»Vielen Dank, Frau Wittig«, sagte Benny. »Das war ein klarer Bericht.« Er hatte gelernt, dass es immer gut war, Zeugen zu loben. Abgesehen davon entsprach es den Tatsachen. Er warf einen Blick zu Frank hinüber, um zu sehen, wie der mit dem bisherigen Verlauf der Vernehmung zufrieden war, doch auf Franks Gesicht zeigte sich nur gespannte Aufmerksamkeit. Er wandte sich wieder an Frau Wittig. »Ich würde Ihnen gern noch einige Fragen stellen. Sie sagten, Sie beziehungsweise Linda hätten die Tote auf dem Rückweg gefunden. Wie war das auf dem Hinweg? Haben Sie da denselben Weg genommen?«
Ihre Hände strichen über die Teetasse. »Ja. Gewöhnlich gehe ich eine Runde, aber die anderen Wege waren so matschig.«
»Und wie hat Linda reagiert, als Sie an der Stelle vorbeikamen? Wann war das denn eigentlich?«
Sie wusste sofort, worauf er hinauswollte. »Gegen Viertel vor sechs. Sie fragen sich, ob die Tote schon dort lag, nicht wahr?« Sie überlegte. »Ich kann es Ihnen nicht sagen. Linda war ziemlich aufgeregt. Ich hatte sie noch an der Leine, weil uns kurz zuvor ein Mann mit einem Schäferhund entgegengekommen war. Es war ein ziemlich aggressiver Rüde. Er knurrte und fletschte die Zähne und zerrte an der Leine. Der Mann hatte Mühe, ihn zurückzuhalten. Deshalb habe ich Linda erst etwa zweihundert Meter weiter den Weg hinauf von der Leine gelassen. Sie rannte dann gleich in den Wald, aber nicht zurück Richtung Parkplatz.«
Bei der Erwähnung des Mannes mit dem Schäferhund war Benny hellhörig geworden. Es war der erste wirklich interessante Punkt in Jutta Wittigs Aussage. »Kannten Sie diesen Mann?«
»Nein. Ich kannte auch den Hund nicht. Eigentlich seltsam, denn ich kenne die meisten Hunde in der Umgebung.«
Benny wurde noch hellhöriger. Gespannt beugte er sich vor. »Können Sie den Mann beschreiben?«
Jutta Wittig sah ihn zweifelnd an. »Ich habe nicht besonders auf ihn geachtet, mehr auf den Hund. Und wir sind nicht direkt an ihm vorbeigegangen. Wir trafen die beiden auf Höhe des Parkplatzes, und weil der Hund so aggressiv war, bin ich mit Linda einen Bogen gegangen. Ich glaube, er trug dunkle Kleidung. Der Hund war ein Hübscher, gelb mit schwarzem Sattel, stark pigmentiert, sehr groß.«
»Und der Mann? War er jung? Alt? Groß? Klein?«
Sie zögerte. »Nicht so alt. Vierzig? Und vielleicht mittelgroß? Ich weiß es wirklich nicht. Ich habe ihn kaum gesehen, weil es regnete und er eine Kapuze über den Kopf gezogen hatte. Er war auf den Hund konzentriert und schimpfte mit ihm, was den Hund nur noch mehr aufregte. Es war ziemlich kontraproduktiv. Glauben Sie, er hat etwas mit der Sache zu tun?«
»Ich weiß es nicht«, bekannte Benny. »Aber es wäre nützlich, mit ihm zu sprechen. Wissen Sie zufällig, welchen Weg er genommen hatte?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Und wissen Sie, ob er am Parkplatz in einen Wagen gestiegen ist? Oder ist er weitergegangen? Haben Sie überhaupt Fahrzeuge auf dem Parkplatz gesehen?«
Sie überlegte wieder. »Nein, ich glaube, da standen keine Fahrzeuge. Und der Mann mit dem Schäferhund ist bestimmt zu Fuß weggegangen. Es tut mir leid, dass ich ihn nicht genauer beschreiben kann.«
ENDE DER LESEPROBE