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Verhängnisvoller Besuch.
Bis vor einer halben Stunde dachte Priska, ihr Leben sei perfekt. Toller Job, toller Ehemann, tolles Haus am Plöner See, Vorfreude auf ein langes Wochenende mit ihrem Halbbruder Moritz und dessen neuer Freundin Anna. Doch jetzt steht Priska auf dem Bootssteg, der zu ihrem Haus gehört, und blickt ins klare Wasser. Auf dem Seegrund liegt ein Mann, er ist tot, und es ist ihre Schuld. Da klingeln auch schon die Gäste ...
Ein tiefgründiger, virtuos komponierter Psychothriller über zwei Frauen: Die eine will mit allen Mitteln ein Geheimnis bewahren, die andere möchte nur die Schwester ihres Freundes kennenlernen – bis ihr der Verdacht kommt, diese könnte eine Mörderin sein!
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Ich wollte nie ein Gutmensch sein. Nicht einmal als kleines Mädchen, als ich noch in meiner heilen Prinzessinnenwelt mit Tennisstunden und Klavierunterricht im Überfluss lebte, dachte ich übers Teilen nach. Und später schon gar nicht.
Doch natürlich wollte ich auch nie ein schlechter Mensch werden. Nur Psychopathen haben den Wunsch, Böses zu tun. Ich wollte einfach im moralischen Mittelfeld mitlaufen, auf der Leiter des Lebens nach oben klettern, ohne meine Energie dafür zu vergeuden, andere mit mir auf die nächste Sprosse zu hieven, aber auch ohne sie nach unten zu treten. Denn jeder ist seines Glückes Schmied.
Was ich mir dabei nicht klargemacht habe: Manchmal stellt das Schicksal uns vor die Wahl – gut oder böse –, und wir bekommen nur Sekunden, um uns zu entscheiden. Wehe denen, die das Gutsein nicht geübt haben.
Eine junge Frau trifft eine verhängnisvolle Entscheidung. Ein hochspannender, psychologisch einfühlsamer Roman darüber, wie ein Leben innerhalb von Sekunden aus den Fugen geraten kann – mit ungeahnten Folgen.
Petra Johann, Jahrgang 1971, ist promovierte Mathematikerin. Sie arbeitete mehrere Jahre in der Forschung und in der Softwarebranche, bevor sie sich entschloss, Schriftstellerin zu werden. Sie ist im Ruhrgebiet aufgewachsen und lebt mittlerweile in Niedersachsen.
Im Aufbau Taschenbuch sind von ihr die Spannungsromane »Die Frau vom Strand« und »Der Buchhändler«, im Verlag Rütten & Loening ist »Die Schwester« lieferbar.
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Petra Johann
Der Steg
Thriller
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Widmung
Prolog
Teil I
Kapitel 1 — Priska
Kapitel 2 — Anna
Kapitel 3 — Priska
Kapitel 4 — Anna
Kapitel 5 — Priska
Kapitel 6 — Anna
Kapitel 7 — Priska
Kapitel 8 — Priska
Kapitel 9 — Anna
Kapitel 10 — Priska
Kapitel 11 — Anna
Kapitel 12 — Priska
Teil II
Kapitel 1
Kapitel 2 — Priska
Kapitel 3
Kapitel 4 — Priska
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7 — Anna
Kapitel 8 — Priska
Kapitel 9
Kapitel 10
Teil III
Kapitel 1 — Anna
Kapitel 2 — Priska
Kapitel 3 — Anna
Kapitel 4 — Priska
Kapitel 5 — Anna
Kapitel 6 — Priska
Kapitel 7 — Anna
Kapitel 8 — Priska
Kapitel 9 — Anna
Kapitel 10 — Priska
Kapitel 11 — Anna
Kapitel 12 — Priska
Kapitel 13 — Anna
Kapitel 14 — Priska
Kapitel 15 — Anna
Kapitel 16 — Priska
Kapitel 17 — Anna
Kapitel 18 — Priska
Kapitel 19 — Anna
Kapitel 20 — Priska
Kapitel 21 — Anna
Kapitel 22 — Priska
Kapitel 23 — Anna
Kapitel 24 — Priska
Kapitel 25 — Anna
Kapitel 26 — Priska
Kapitel 27 — Anna
Kapitel 28 — Priska
Kapitel 29 — Anna
Kapitel 30 — Priska
Kapitel 31 — Anna
Kapitel 32 — Priska
Kapitel 33 — Anna
Kapitel 34 — Priska
Kapitel 35 — Priska
Teil IV
Kapitel 1
Kapitel 2 — Anna
Kapitel 3 — Neun Monate später
Epilog — Priska
Impressum
Wer von diesem Thriller begeistert ist, liest auch ...
In Erinnerung an
Edelgard Schmitt (1940–2014)
und
Herbert Schmitt (1934–2023)
Es dauerte lange, bis er unterging. Sein Körper schien eine Ewigkeit bäuchlings auf dem Wasser zu liegen. Das goldene Licht der Oktobersonne ließ seinen silbernen Haarschopf glänzen und beschien seinen Rücken, als wollte es ihn wärmen. Der Mann hatte im Todeskampf um sich geschlagen, doch jetzt bewegte er sich nicht mehr, wurde nur sanft hin- und hergeschaukelt vom Auf und Ab des Sees, der niemals völlig schlief. Eine leichte Brise kam auf, strich über die Wasseroberfläche und über die Haare des Mannes, spielte mit ihnen, wie eine Geliebte es vielleicht getan hätte. Eine letzte zarte Geste, eine letzte Liebkosung. Der Wind trieb eine Welle gegen den Körper, dann eine zweite und eine dritte, und als wären sie ein Zeichen, gab der Körper schließlich der Schwerkraft nach. Die Beine senkten sich zuerst, dann folgten Rumpf und Arme und schließlich der Kopf.
Die Frau auf dem Steg verharrte regungslos, während sie beobachtete, wie der Mann langsam auf den Grund sank. Dann richtete sie sich auf und schöpfte tief Atem. Sie hatte in den vergangenen Momenten die Luft angehalten - und nicht nur die. Alles in ihr, Denken, Fühlen, Handeln, war wie abgeschaltet gewesen. Als sie jetzt wieder zu sich kam, spürte die Frau vor allem eins: Erleichterung. Erleichterung, dass es vorbei war. Doch dann strich ein weiterer Windhauch über den See heran und ließ die Frau in ihrer verschwitzten Funktionskleidung frösteln. Und plötzlich empfand sie noch etwas anderes: Entsetzen. Was hatte sie getan?
Der Alte saß so regungslos in seinem Rollstuhl am Fenster mit Blick auf den See, dass man hätte meinen können, er sei gestorben, ohne dass es jemand bemerkt hatte. In gewisser Hinsicht war das auch so. Der Mann, der er einmal gewesen war, war vor langer Zeit verschwunden und hatte nur seinen leeren Geist zurückgelassen, der durch seinen gebrochenen Körper spukte wie ein verwirrtes Gespenst auf der Suche nach dem Ausgang aus dem Verlies. Doch er fand ihn immer seltener. Immer seltener gelang es dem Geist, mit der Welt da draußen in Kontakt zu treten. Dabei hätte er einiges zu erzählen gehabt, denn auch wenn sein Körper gebrochen war, sahen seine Augen so scharf wie eh und je.
Priska
Ich wollte nie ein Gutmensch sein. Nicht einmal als kleines Mädchen, als ich noch in meiner heilen Prinzessinnenwelt mit Tennisstunden und Klavierunterricht im Überfluss lebte, dachte ich übers Teilen nach. Und später schon gar nicht. Ich wollte immer nur erfolgreich und unabhängig sein, vor allem Letzteres. Begehrt, aber nicht begehrend.
Doch natürlich wollte ich auch nie ein schlechter Mensch werden. Nur Psychopathen haben den Wunsch, Böses zu tun. Ich wollte einfach im moralischen Mittelfeld mitlaufen, auf der Leiter des Lebens nach oben klettern, ohne meine Energie dafür zu vergeuden, andere mit mir auf die nächste Sprosse zu hieven, aber auch ohne sie nach unten zu treten. Denn jeder ist seines Glückes Schmied.
Was ich mir dabei nicht klargemacht habe: Manchmal stellt das Schicksal uns vor die Wahl – gut oder böse –, und wir bekommen nur Sekunden, um uns zu entscheiden.
Wehe denen, die das Gutsein nicht geübt haben.
»Sie ist Veganerin? Und das sagst du mir erst jetzt?« Ich nehme einen tiefen Zug von meiner Abendzigarette und trete gegen ein Büschel Unkraut, das zwischen den Fugen unserer Terrassenplatten wuchert, als würde es dafür bezahlt. Die Sonne ist schon vor zwei Stunden untergegangen, doch durchs Wohnzimmerfenster fällt so viel Licht, dass ich die ersten Meter um mich herum überblicken kann. Bis zum Wasser reicht der Schein allerdings nicht, in den dunklen Schatten ist nicht zu erkennen, wo unser Grundstück aufhört und der See beginnt. »Flo hat das Essen für das ganze Wochenende schon geplant und eine Riesenbestellung beim Fischhändler aufgegeben. Er will morgen eine Fischpfanne machen.«
»Äh, das tut mir leid. Sorry, Sis, ich habe es einfach total vergessen.«
Ich lasse kurz das Handy sinken. »Wie konntest du das vergessen? Ich habe dich letzte Woche gefragt, ob Anna Allergien oder Unverträglichkeiten hat.«
»Die hat sie ja nicht. Sie isst nur aus ethischen Gründen keine tierischen Produkte.« Moritz schweigt einen Augenblick lang, und ich stelle mir vor, wie sich sein Teddygesicht zu einer zerknirschten Grimasse verzieht. Das macht es immer, wenn er Chaos anrichtet – was oft vorkommt. »Aber hör mal – wenn es zu kompliziert ist, das noch zu ändern, dann soll Florian einfach die geplante Pfanne machen. Vielleicht kann Anna den Fisch weglassen.«
»In der Pfanne ist auch Sahne drin oder Schmand oder so etwas.«
»Hm, das macht es schwieriger. Vielleicht kann Florian für Anna einfach ein bisschen extra Gemüse anbraten? Oder wir bringen Brot und veganen Aufstrich mit.«
»Und dann isst Anna das ganze Wochenende Sandwiches, während wir anderen in Flos Kochkünsten schwelgen?«, frage ich skeptisch.
»Sie sagt, das sei kein Problem für sie. Eigentlich wäre es ihr sogar am liebsten so. Sie will euch auf keinen Fall Mühe machen.«
Ach, echt nicht? Ich inhaliere noch etwas Nikotin. »Und Anna ist wirklich zu hundert Prozent Veganerin?«, hake ich nach. »Nicht bloß so eine, die sich auf Insta politisch korrekt und megawoke mit Falafel Buddha Bowl inszeniert, während sie sich heimlich bei Burger King einen Doppelwhopper reinzieht?«
Moritz lacht. »Anna ist zu hundert Prozent Veganerin und zu hundert Prozent authentisch – weswegen sie zu hundert Prozent Instagram hasst. Sie hat überhaupt nur aus beruflichen Gründen einen Account. Und wie gesagt, sie will keine Mühe machen. Sandwiches wären absolut okay.«
Ich denke über den Vorschlag nach. Auf den ersten Blick gefällt er mir, auf den zweiten ist er selbst mir zu pragmatisch. Abgesehen davon wird Flo ohnehin dagegen sein. Im Gegensatz zu mir ist mein Mann ein begeisterter, fürsorglicher Gastgeber. Im Gegensatz zu mir kann er auch kochen, weil er nicht mit dreizehn Jahren beschlossen hat, es niemals zu lernen. Als sich damals mein Leben von einem Tag auf den anderen mit einem Riesenknall änderte, habe ich einige Vorsätze gefasst. An die meisten habe ich mich gehalten, an den wichtigsten allerdings nicht.
»Lasst den Aufstrich mal zu Hause, das bekommen wir schon hin. Sonst noch irgendwelche Last-minute-Informationen? Müssen wir einen Treppenlift einbauen, weil Anna im Rollstuhl sitzt, oder eine Katzenklappe, weil sie ihren Lieblingstiger mitbringt?«
»Den lässt sie zu Hause.«
»Dann bin ich beruhigt. Und wann sollen wir mit euch rechnen?«
»Wir planen, gegen halb fünf da zu sein, damit wir noch im Hellen ankommen. Also«, fügt Moritz hinzu, »noch einmal Sorry wegen der Extramühe. Ich bin sicher, es wird ein großartiges Wochenende. Wir freuen uns total auf euch.«
»Wir freuen uns auch.«
Das ist nicht nur eine Floskel. Ich freue mich, zumindest auf Moritz. Ich habe ihn seit meiner Hochzeit vor acht Monaten nicht gesehen. Das ist der Nachteil daran, dass ich von Baden-Württemberg nach Schleswig-Holstein gezogen bin: Jetzt trennen mich sechshundertfünfzig Kilometer von meinem kleinen Bruder. Allerdings bin ich mir noch nicht sicher, ob ich mich auch auf seine neue Freundin freue.
Ich stecke mein Handy in meine Hosentasche und rauche mit Genuss meine Zigarette zu Ende. Ich genieße dieses Ritual. Ich habe mir für Flo das Rauchen abgewöhnt, bis auf diese eine abendliche Zigarette. Ich habe ihm ein Ultimatum gestellt – »Wenn die letzte Zigarette verschwindet, tue ich es auch.« –, und Flo hat das akzeptiert. Dabei wusste er genauso gut wie ich, dass ich für ihn nicht nur auf die letzte Zigarette, sondern notfalls auch aufs Essen, Trinken und Atmen verzichten würde. Die schlichte Wahrheit ist: Ich bin verrückt nach ihm – und er nach mir.
Ich trete die Zigarette aus und lege die Kippe in die Blechdose, die an der Hauswand bereitsteht. Dann drücke ich die Terrassentür auf und kehre ins hell erleuchtete Wohnzimmer zurück. Flo steht in der offenen Küche an der Spüle und schrubbt an einer gusseisernen Pfanne herum, während er aus vollem Hals und ziemlich schief »Love to go« schmettert, laut genug, um Kelvin Jones zu übertönen, der im Radio mitzuhalten versucht.
Als ich Flos knackigen Po betrachte, der im Rhythmus der Musik hin und her zuckt, kann ich nicht widerstehen. Leise schlüpfe ich aus meinen Turnschuhen, schäle mich aus Jeans und Bluse und schleiche mich an meinen Mann heran. Von hinten lege ich meine Arme um ihn, schiebe die Hände tief in die Taschen seiner Jeans und presse mich an ihn.
Flo singt weiter, erst als die letzte Strophe verklungen ist, dreht er sich zu mir um. Als er sieht, dass ich nur BH und Slip trage, leuchten seine Augen. »Uh, Nachtisch.«
Wir treiben es direkt in der Küche und dann noch einmal auf der Couch im Wohnzimmer, wobei Flo zwischendurch geistesgegenwärtig das Licht dimmt. Als wir das Haus gekauft haben, hat Flo mit seinem Partner aus der Schreinerei die alten Fenster durch riesige Panoramascheiben ersetzt, für die wir noch keine passenden Vorhänge gefunden haben. Das hat uns bis vor kurzem auch nicht gestört. Die Fensterfront geht zum Garten und zum See hinaus, niemand kann hineinschauen. Das dachten wir zumindest, bis wir uns eines Abends bei schönster Festbeleuchtung im Wohnzimmer vergnügten und irgendwann bemerkten, dass ein Ruderboot nur wenige Meter von unserem Bootssteg entfernt vorbeischipperte, darin zwei Personen, die – wie im Mondschein gut erkennbar – interessiert zu uns herübersahen. Ich weiß nicht, ob es zwei Fischer auf nächtlicher Angeltour oder zwei Voyeure auf Spannertour waren, doch danach habe ich angefangen, Stoffmuster zu wälzen.
Als wir nackt und zufrieden in einem Nest aus Decken auf dem Teppich vor unserer Couch kuscheln, erzähle ich Flo, dass er seine Kochpläne fürs Wochenende über den Haufen werfen muss. Er reagiert gelassen. Flo ist meistens gelassen, regelrecht tiefenentspannt, eine Eigenschaft, um die ich ihn oft beneide und die mich manchmal in den Wahnsinn treibt.
»Kein Problem, ich koche etwas anderes, und wir frieren den Fisch ein. Oder ich koche für Anna etwas extra. Allerdings müssten wir dann noch ein paar Sachen einkaufen, und ich komme morgen nicht früher von der Baustelle weg.«
»Ich kann das übernehmen. Ich habe ab zwei Uhr meinen Kalender geblockt.« Ich hebe meinen Kopf von Flos nackter Brust. »Kennst du denn vegane Rezepte?«
Flo zieht eine gespielt beleidigte Miene. »Du vergisst, dass du den ehemaligen Souschef von Imkes Café geheiratet hast.«
»Sohn der Besitzerin, der als Teenager nach der Schule ausgeholfen hat, trifft es wohl eher.«
»Immerhin habe ich Gemüse für Chili sin carne und Veggie Burger geschnippelt. Keine Sorge, ich bekomme das hin. Ich bitte Imke, mir ein paar einfache Rezepte zu schicken.«
Flo greift zu seinem Handy, um eine Whatsapp an seine Mutter zu tippen. Während ich mitlese, sage ich nachdenklich: »Ich hoffe, sie ist in Ordnung und den ganzen Aufwand wert.«
»Anna? Warum sollte sie nicht in Ordnung sein? Sie ist Moritz’ Freundin, er würde sie nicht mögen, wenn sie nicht okay wäre.«
»Das ist kein Kriterium. Moritz mag jeden. Er hat sich auf unserer Hochzeit sogar mit deiner Cousine Esther unterhalten und hinterher gemeint, sie sei doch ganz nett.«
Flo legt das Handy wieder weg. »Und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein, so konnte Esther in der Zeit nicht die Kellner beleidigen oder den DJ vergraulen.« Dann schneidet er eine Grimasse. »Oder sind neurotische Zicken etwa Moritz’ Typ? Wie waren denn seine bisherigen Freundinnen so?«
»Das ist es ja, ich kenne keine. Er hat mir noch nie eine vorgestellt. Ich bin nicht mal sicher, ob er schon eine Beziehung hatte.«
»Natürlich hatte er. Er ist dreißig, alles andere wäre unnatürlich. Männer haben Bedürfnisse. Apropos …«
Flo küsst mich auf die Nase, dann zieht er mit seinen Lippen eine Spur über meine Wange, meinen Hals hinab und zu meiner Schulter, und ich spüre, wie ich wieder feucht werde.
Als am nächsten Morgen um halb sechs Uhr mein Wecker klingelt, regnet es. Die Tropfen prasseln in einem rhythmischen Stakkato auf das Fensterbrett, und für einen Moment kämpfe ich gegen die Versuchung an, mich an Flo zu kuscheln und noch eine halbe Stunde liegen zu bleiben. Dann gewinnt meine Selbstdisziplin. Ich stehe auf, schlüpfe in meine Sportkleidung und schließe leise die Schlafzimmertür hinter mir. Seit drei Monaten trainiere ich für meinen ersten Halbmarathon. Nachdem ich meinen Nikotinkonsum drastisch reduziert hatte, fühlte ich mich eine Zeit lang ganz kribbelig, bis ich feststellte, dass das Gefühl nicht nur beim Sex mit Flo nachließ – ohnehin mein Heilmittel schlechthin gegen dunkle Gefühle und finstere Dämonen aller Art –, sondern auch beim Laufen. Seitdem laufe ich fast täglich, und seit ich beschlossen habe, beim Kiel-Marathon mitzumachen, habe ich sogar einen Trainingsplan.
Der sieht heute eine lockere Zwölf-Kilometer-Runde vor, daher schleiche ich die Treppe hinunter und schnappe mir Laufschuhe, Stirnlampe und Regenjacke. Doch als ich die Haustür öffne, pralle ich zurück angesichts der Wand aus Wasser vor mir. Ich habe mich geirrt. Es regnet nicht, es schüttet. Es gießt wie aus Kübeln. Ich kann vor Regen kaum die Straßenlaterne erkennen.
Ich schließe die Haustür wieder. Halbmarathon hin, Trainingsplan her, wenn ich da rauslaufe, kann ich auch eine Runde im See schwimmen. Stattdessen gehe ich in die Küche und schalte die Kaffeemaschine ein. Wenn ich mich ranhalte, kann ich eine Stunde früher im Büro sein als geplant und mittags mit etwas Glück eine Stunde eher gehen und trainieren, bevor Moritz und Anna kommen. Bis dahin sollte auch der Regen nachgelassen haben, so viel Wasser kann es im Himmel gar nicht geben, dass er den ganzen Tag anhält.
Meine Hoffnung erweist sich als berechtigt. Im Laufe des Vormittags lässt der Regen nach, und es klart auf. Als ich um halb zwei den Kieler Standort der Schwaben Consulting Group verlasse, den ich nach meinem Umzug von Stuttgart hierher selbst mit aufgebaut habe, fegt ein frischer Wind die letzten Wolken davon, und als ich um drei meinen Wagen in unserem Carport abstelle, strahlt die Oktobersonne von einem blitzblank gewaschenen blauen Himmel. Die Fahrt von meiner Arbeitsstelle nach Hause dauert normalerweise nur vierzig Minuten, doch ich habe unterwegs eingekauft. Flos Mutter hat gestern noch einige vegane Rezepte geschickt. Ich habe die Zutaten beim Supermarkt um alles Mögliche ergänzt, auf dem vegan stand – von Hafermilch über Gemüsebrotaufstrich bis hin zu Weingummis ohne Gelatine –, außerdem habe ich beim Bäcker einen Apfelkuchen geholt, der angeblich ebenfalls tierproduktfrei ist.
Ich habe so viel eingekauft, dass ich eine Weile mit Einräumen beschäftigt bin, doch dann flitze ich die Treppe hoch und schlüpfe in meine Sportklamotten. Es ist Viertel nach drei. Für zwölf Kilometer reicht die Zeit nicht, doch acht sollten drin sein – zumal Moritz nie pünktlich ist. Ich rechne frühestens um fünf mit ihm.
Unser Haus liegt an einer Straße, die am Plöner See entlang von unserem Dorf zum nächsten führt. Zwischen den Orten erstreckt sich das große Forstgebiet, in dem ich regelmäßig meine Runden drehe. Heute ist es dort noch nass. Die Wege sind von Pfützen übersät und teils schlammig, Regentropfen glitzern an den Blättern der Buchen und Eichen und an den Nadeln der Fichten und Lärchen im Sonnenlicht. Die Luft ist dampfig, ich komme noch schneller ins Schwitzen als sonst, schon nach zwei Kilometern klebt meine Funktionskleidung feucht an mir.
Ich begegne keiner Menschenseele. Selbst in der Hochsaison ist im Forst nicht viel los. Die meisten Touristen konzentrieren ihre Aktivitäten auf den See, und die wenigen Wanderer zerstreuen sich rasch. An die Einsamkeit hier musste ich mich erst gewöhnen, genauso wie an die Stille und die Tatsache, dass der nächste Supermarkt fünf Kilometer entfernt ist. Ich habe immer in der Stadt gelebt, auch meine verschiedenen Einsatzorte waren immer in Großstädten – wo die Kunden einer großen Unternehmensberatung halt sitzen. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten Flo und ich uns daher eine Wohnung in einem schicken Neubau in Kiel gesucht, aber dummerweise hat er stattdessen dieses heruntergekommene Haus am Großen Plöner See entdeckt. Er erzählte mir davon mit so viel Begeisterung, dass ich mich breitschlagen ließ, es mir anzusehen – was ein Fehler war. Denn zwischen dem Zeitpunkt meiner Zusage und dem frühesten Besichtigungstermin, den ich einrichten konnte, lagen drei Wochen, in denen Flo bereits die Sanierung plante und sich das fertige Haus und unser gemeinsames Leben darin in buntesten Farben ausmalte. Als ich bei der Besichtigung Einwände erhob – zu groß, zu abseits, zu teuer –, hatte er auf jeden eine Antwort parat. Diese Antworten waren zwar nicht alle plausibel, wurden von Flo aber mit solchem Enthusiasmus vorgetragen, dass ich es nicht übers Herz brachte, seinen Traum zu zerstören.
Mittlerweile fühle ich mich in dem Haus halbwegs heimisch, zumindest wenn Flo da ist. Andererseits besagt das nichts: Flo ist mein Zuhause, egal, wo wir sind. Wenn ich mit ihm zusammen bin, fühle ich mich vollständig – und so war es vom ersten Tag an. Dabei hatte ich vorher nicht das Gefühl, unvollständig zu sein. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir im Leben etwas fehlt. Das habe ich erst kennengelernt, als ich mich für einige Tage von Flo trennte, weil ich glaubte, dass es das Richtige wäre. Weil ich glaubte, dazu gezwungen zu sein. Weil ich glaubte, dass es keinen anderen Weg gäbe. Doch dann habe ich einen gefunden.
Während ich mein Tempo anziehe, über holprige Pfade renne und Pfützen ausweiche, frage ich mich, ob Moritz mit Anna so glücklich ist wie ich mit Flo. Ich würde es ihm gönnen. Moritz ist zwar ein nervtötender Schussel, aber ein toller Bruder. Er verdient das Beste. Die Beste. Doch ist Anna die Beste für ihn? Moritz ist viel zu gutmütig, was, wenn sie ihn ausnutzt? Sie hat ihn schon überredet, mit ihr ehrenamtlich bei der Heidelberger Tafel auszuhelfen, obwohl er seine Energie lieber in sein Leben stecken sollte als in das anderer. Und wieso arbeitet Anna in einem Tattoostudio? Hat sie keine richtige Ausbildung?
Meine Gedanken kreisen so sehr um diese Fragen, dass ich nicht aufpasse und mit Schwung in eine Pfütze trete. Schlamm spritzt hoch, bis in mein Gesicht und in meinen zum Atmen geöffneten Mund. Angewidert spucke ich aus, dann muss ich jedoch lachen, als mir klar wird, wo ich bin und was ich tue. Hätte mir vor zwei Jahren jemand gesagt, dass ich einmal freiwillig durch einen schlammigen Wald joggen würde statt auf einem frisch desinfizierten Laufband in einem Topfitnessstudio, hätte ich ihn ausgelacht. Doch das ist alles Teil meines neuen Lebens. Meines wunderbaren Lebens mit dem wunderbarsten Mann der Welt.
Grinsend laufe ich wieder los, und eine Viertelstunde später erreiche ich glücklich und außer Atem das Tor in dem hässlichen, aber wenigstens blickdichten Bretterzaun, der unser Grundstück auf der Ostseite begrenzt. Flo hat vor, ihn zu ersetzen oder wenigstens ordentlich zu begrünen, das ist allerdings ein Projekt fürs nächste Jahr. Das Tor knarrt kläglich, als ich hindurchschlüpfe und in den Garten gehe, um mich dort ausgiebig zu dehnen. Doch daraus wird nichts, denn als ich um die Hausecke herumkomme, sehe ich jemanden auf unserem Bootssteg stehen.
Im ersten Moment glaube ich, dass meine Augen mir einen Streich spielen, denn ich gucke gegen die Sonne. Ich blinzele, doch das Bild bleibt. Ein Mann steht auf unserem Grundstück auf unserem Bootssteg. Breitbeinig, mit dem Rücken zum Ufer, blickt er auf den See hinaus und scheint sich dabei so zu Hause zu fühlen, dass er sogar seine Jacke ausgezogen und über einen der Pfähle gehängt hat, die den Steg stützen.
Ärger steigt in mir hoch. »He, was fällt Ihnen ein?«, rufe ich, während ich auf den Steg zugehe.
Der Mann reagiert nicht, also rufe ich noch einmal, doch der Fremde kehrt mir weiterhin den Rücken zu. Und dann merke ich, dass er mir gar nicht so fremd ist. Er kommt mir bekannt vor, nicht nur bekannt, sondern vertraut. Nein, das kann nicht sein, das ist ausgeschlossen. Ich muss mich irren.
Natürlich, ich irre mich. Das Gegenlicht ist schuld. Ich gehe weiter, doch wie von selbst werden meine Schritte immer langsamer, und meine Beine fühlen sich plötzlich an wie Blei. Das ist lächerlich! Er kann nicht hier sein. Er darf nicht hier sein. Er ist weit weg. Er gehört zu meinem alten Leben, nicht zu meinem neuen. Ich muss mich einfach irren.
Doch ich irre mich nicht. Mit jedem Schritt, den ich mache, wächst die Gewissheit und mit ihr meine Bestürzung. Was hat das zu bedeuten? Warum ist er hier? WARUM IST ER HIER?
Ich bekomme die Antwort, als ich nur noch wenige Meter vom Steg entfernt bin. Ich habe ihn fast erreicht, da dreht er sich um und sieht mich an. Und in diesem Blick liegt alles, was ich wissen muss. Dieser Blick reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Dieser Blick lässt mich in den Abgrund stürzen.
Eine halbe Stunde später habe ich wieder Grund unter meinen Füßen. Ich stehe auf unserem Bootssteg, starre ins klare Wasser und erblicke den Tod. Was habe ich getan?
Wind kommt auf, eine laue Brise nur, doch sie lässt mich in meiner durchgeschwitzten Kleidung frösteln. Was habe ich getan?
In dem Moment vibriert mein Handy. Automatisch ziehe ich es aus der Tasche meiner Funktionsjacke und starre auf eine Whatsapp von Moritz. Die Sonne spiegelt sich im Display, es dauert, bis ich die Nachricht entziffern kann. Dann lasse ich vor Schreck fast das Handy ins Wasser fallen.
Nein! Nicht jetzt! Nicht schon jetzt!
Panisch sehe ich mich auf dem Steg um. Was soll ich tun? Was kann ich tun?
Es gibt nur eine Möglichkeit: Ich muss hier weg. Ich will loslaufen, doch da fällt mein Blick auf seine Jacke, die immer noch am Pfosten hängt, unberührt von dem Drama, dessen Zeugin sie geworden ist. Es ist ein heller Kurzmantel aus irgendeinem teuren Stoff. Mein erster Impuls ist, das Ding zu ihm in den See zu werfen, aber vermutlich würde es eine Ewigkeit dauern, bis es untergeht. Und wenn jemand ihn in der Zwischenzeit sieht … Nein! Der Mantel muss genauso verschwinden wie ich. Ich schnappe ihn mir und laufe los.
Anna
Unser erster Streit beginnt im Nieselregen auf der A5 hinter Frankfurt, und es ist meine Schuld. Wir zuckeln schon seit geraumer Zeit auf der rechten Spur hinter einem weißen Opel Kombi her. Während Moritz sich auf den Verkehr konzentriert, konzentriere ich mich auf die Ankunftsanzeige des Navis, die in diesem Moment bei fünfzehn Uhr achtundfünfzig steht. Natürlich weiß ich, dass die Anzeige eigentlich nicht viel aussagt. Wir haben noch fünfhundert Kilometer vor uns, auf denen alles Mögliche passieren kann, wir werden noch Stunden unterwegs sein und mindestens eine Pause machen. Die Ankunftsanzeige hat kaum mehr Aussagekraft als ein durch tausend Filter gejagtes Selfie, dennoch macht sie mich nervös, und noch nervöser werde ich, als sie auf fünfzehn Uhr neunundfünfzig umspringt. Wieder eine Minute meines extra geplanten Puffers verloren. Am liebsten würde ich Moritz noch einmal bitten, schneller zu fahren, doch ich will keine quengelige Beifahrerin sein.
Als die Anzeige auf sechzehn Uhr springt, schließe ich meine Augen. Wenn ich das verdammte Ding nicht mehr sehen muss, kann ich mich vielleicht entspannen und den Schlaf nachholen, den ich letzte Nacht vor Nervosität nicht gefunden habe. Ich versuche, mich vom Brummen des Motors einlullen zu lassen, doch es funktioniert nicht. Aber vielleicht würde es funktionieren, wenn ich wüsste, dass mein Puffer nicht noch weiter geschrumpft ist?
Ich öffne die Augen. Sechzehn Uhr drei. Shit! Ich öffne meinen Mund, um Moritz noch einmal um mehr Tempo zu bitten, da blinkt unser Vordermann, um einen Lkw zu überholen. Moritz tut dasselbe.
Erleichtert atme ich durch, doch kaum ist der Überholvorgang vorbei, schert Moritz vor dem Lkw ein und lässt sich wieder auf hundertzehn zurückfallen.
»Meine Güte«, platzt es aus mir heraus, »kannst du nicht wenigstens ein bisschen schneller fahren?« Im nächsten Moment beiße ich mir erschrocken auf die Unterlippe. Ich habe Moritz noch nie angemotzt.
Er wirft mir einen überraschten Seitenblick zu. »Kein Grund zur Eile. Wir liegen gut in der Zeit.«
»Das tun wir nicht! Wenn wir weiter so schleichen, werden wir viel zu spät kommen.«
»Das sieht das Navi anders.«
»Weil es nicht weiß, dass wir noch eine Pause machen und bei Hamburg garantiert in einen Stau geraten werden. Außerdem haben wir schon zwanzig Minuten verloren. Wenn das so weitergeht, kommen wir erst um halb sechs an. Wir hätten eher losfahren sollen.«
»Wir sind deinetwegen schon eine Stunde eher losgefahren.« Moritz nimmt seine rechte Hand vom Steuer und legt sie auf meine linke. »Hey, Schatz, kein Grund für Stress.«
Ich ziehe meine Hand weg. »Ich hätte keinen Stress, wenn wir noch früher losgefahren wären – und wenn wir nicht noch bei Gregor vorbeigemusst hätten, weil du gestern vergessen hast, ihm die Ladenschlüssel zu geben.«
Moritz legt seine Hand wieder aufs Lenkrad. »Ich sagte bereits, dass es mir leidtut.«
»Davon kann ich mir nichts kaufen«, entgegne ich patzig, doch im nächsten Moment schäme ich mich auch schon. Moritz hat viele tolle Eigenschaften. Jede einzelne wiegt seine Schusseligkeit mehr als auf. »Entschuldige bitte«, murmele ich, und als er nichts erwidert, wiederhole ich es noch einmal lauter.
Moritz fährt schweigend weiter, dann setzt er den Blinker nach rechts, als ein Hinweisschild auf einen Rastplatz auftaucht.
»Du willst eine Pause machen? Jetzt schon?«
»Es ist nötig.«
Moritz nimmt die Abfahrt und fährt auf den Rastplatz. Er steigt aus dem Wagen, geht jedoch nicht zum Toilettenhäuschen, sondern öffnet die Beifahrertür und streckt mir eine Hand hin.
»Was soll das?«, frage ich misstrauisch.
»Komm mal mit.«
»Wir haben keine Zeit.«
»Dafür müssen wir uns welche nehmen.«
»Es regnet.«
»Kaum noch.«
Moritz zieht mich aus dem Wagen. Dann sieht er sich um und führt mich zu einem großen Stein, der ein vom Regen durchweichtes Stück Rasen begrenzt. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, stelle ich mich wie gewünscht darauf.
»Also«, sagt Moritz, als wir auf Augenhöhe sind, »jetzt verrat mal, was mit dir los ist.«
»Nichts. Ich bin nur nervös, weil ich möchte, dass wir pünktlich ankommen.«
»Dass du nervös bist, merke ich. Aber wieso? Priska wird es verkraften, wenn wir nicht um halb fünf auf ihrer Matte stehen, sie weiß schließlich, dass wir sechshundertfünfzig Kilometer fahren müssen – und dass Pünktlichkeit nicht meine größte Stärke ist. Wenn wir uns verspäten, rufen wir an. Wo ist das Problem?«
»Ich möchte deiner Schwester keine Umstände machen.«
»Das kann nicht alles sein. Du benimmst dich seit heute früh total eigenartig. Also?«
Ich weiche Moritz’ Blick aus und sehe über den Parkplatz. Zur Linken erstrecken sich Felder, zur Rechten rauscht der Verkehr Richtung Norden an uns vorbei. Die Gegenfahrbahn ist verlockend leer. »Ich habe Angst, dass deine Schwester mich nicht mag«, gestehe ich schließlich.
»Warum sollte sie dich nicht mögen?«
Ich zucke mit den Achseln. »Aus vielen Gründen. Du bist ihr einziger Bruder, sie könnte mich schon allein deswegen ablehnen, weil sie dich nicht teilen will. Oder weil ich anders bin oder ihren hohen Ansprüchen nicht genüge.«
»Blödsinn. Du genügst jedem Anspruch.«
»Vielleicht nicht dem deiner Schwester. Nach allem, was du über sie erzählt hast, kann ich mit ihr nicht mithalten. Ich bin weder so intelligent wie sie noch so erfolgreich und schon gar nicht so weltgewandt. Ich könnte niemals in fließendem Englisch einem Unternehmensvorstand erklären, dass seine strategische Ausrichtung Bullshit ist oder dass er ein Fünftel seiner Belegschaft entlassen muss. Priska trägt Verantwortung für Millionen, ich nur für ein paar Nadeln. Sie verdient vermutlich dreimal so viel.«
»Jetzt stellst du dein Licht unter den Scheffel. Du bist wahnsinnig kreativ und hilfst Menschen, sich in ihrem Körper wohlzufühlen. Abgesehen davon ist das doch kein Wettbewerb, wer den bestbezahlten Job hat. Ginge es darum, könnten Florian und ich auch nicht mithalten. Er ist Schreiner, ich verkaufe Gitarren. Ich wette, Priska interessiert sich nicht die Bohne für deinen Job, sondern für dich als Person. Allein dafür, dass du mich glücklich machst, wird sie dich mögen.«
Moritz spricht mit absoluter Überzeugung, doch das bedeutet nur, dass er ein unverbesserlicher Optimist ist, der stets das Beste von allen denkt.
»Und wenn nicht?«
»Es gibt kein ›wenn nicht‹. Gerade weil Priska so clever ist, wird sie erkennen, dass du ein wunderbarer Mensch bist. Vertrau mir!«
Moritz legt behutsam eine Hand auf meinen Oberarm. Ich zögere, doch schließlich lege ich meinen Kopf an seine Brust. Es ist der beste Platz der Welt dafür.
Während ich Moritz’ Herzschlag lausche, entspanne ich mich ein wenig, doch ein Rest Unbehagen bleibt, denn ich habe Moritz nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich habe keine Angst, dass ich für Priska nicht gut genug bin, sondern dass sie meinen könnte, ich sei für Moritz nicht gut genug. Denn Priska hat großen Einfluss auf Moritz, sie ist der wichtigste Mensch auf der Welt für ihn. Es ist mein sehnlichster Wunsch, ihr diesen Rang abzulaufen. Dabei verbindet die beiden eine besondere Beziehung.
Die Geschichte zwischen Priska und Moritz ist kompliziert. Die beiden haben sich erst kennengelernt, als Priska dreizehn und Moritz zwölf war. Bis dahin lebten sie getrennte Leben in getrennten Welten. Priska wohnte mit ihrem Vater und ihrer Mutter in einer großbürgerlichen Spießeridylle in einem Stuttgarter Villenvorort. Ihr Vater war ein erfolgreicher Manager in einer alteingesessenen Firma, die Werkzeuge produzierte, ihre Mutter eine Hausfrau der Sorte, die es eigentlich in den neunziger Jahren nicht mehr hätte geben dürfen. Sie hatte eine Ausbildung als Bankkauffrau gemacht, den Job jedoch an den Nagel gehängt, als sie mit Priska schwanger wurde. Fortan sah sie ihre Hauptaufgabe darin, ihr Kind zu erziehen, den Haushalt zu schmeißen und ihrem Mann den Rücken freizuhalten, was vor allem bedeutete, dass sie keine Forderungen an ihn stellte und sich nicht beschwerte, wenn er dank unzähliger Geschäftstermine erst mitten in der Nacht nach Hause kam. Sie beschwerte sich nicht einmal, als er ein halbes Jahr nach Priskas Geburt die Aufgabe übernahm, im Osten eine neue Fabrik aus dem Boden zu stampfen, und fortan nur noch an den Wochenenden zu Hause war.
Moritz wuchs dagegen in einer zugigen Drei-Zimmer-Wohnung in Leipzig auf. Seine Mutter hatte nach der Wende ihren Job verloren, was sie allerdings nicht sonderlich bekümmerte. Sie schlug sich als Künstlerin durch, lebte von der Hand in den Mund und von den Zuwendungen von Moritz’ Vater, der oft wochenlang unterwegs war – »aus Geschäftsgründen« –, bevor er wieder eine Zeit lang bei ihnen wohnte. Da er es nie anders kennengelernt hatte, fand Moritz das ebenso wenig ungewöhnlich wie die Tatsache, dass er in zwölf Jahren kein einziges Mal Weihnachten, Silvester oder Ostern mit seinem Vater gefeiert hatte. Er liebte seinen Vater. Sein Leben änderte sich erst, als Moritz’ Mutter eines Tages entschied, dass es an der Zeit sei, Moritz mit einigen ihm bisher unbekannten Tatsachen zu konfrontieren, und ihn für ein ernstes Gespräch zur Seite nahm.
Das Gespräch änderte mehrere Leben. Am nächsten Wochenende tauschte Moritz heimlich fünfzig Euro aus dem Portemonnaie seiner Mutter gegen einen handgeschriebenen Schuldschein und kaufte sich ein Zugticket nach Stuttgart. Am Ziel angekommen, geriet er zunächst in einen aus dem Ruder laufenden Protest gegen Stuttgart einundzwanzig und verlor sich dann im Gewirr des ÖPNV, schaffte es mit bewundernswerter Beharrlichkeit jedoch an sein Ziel und klingelte um halb acht Uhr abends an der Haustür der Villa Fischer. Die Tür wurde ihm von einer hochmütigen kleinen Prinzessin geöffnet, deren Hochmut sich allerdings in kreischendes Entsetzen verwandelte, als er ihr strahlend mitteilte, dass er ihr Halbbruder sei.
Nach unserem Zwischenstopp fährt Moritz mir zuliebe schneller, und da die Strecke erstaunlich frei ist, bleibt die Ankunftsanzeige konstant bei sechzehn Uhr fünfzehn stehen. Nach vierhundert Kilometern machen wir eine längere Pause und essen die Sandwiches, die ich vorbereitet habe. Anschließend wechseln wir. Ich fahre, während Moritz einschläft und zu schnarchen beginnt. Es stört mich nicht, im Gegenteil, ich finde es beruhigend. Ich liebe dieses Geräusch wie so vieles an Moritz. Wenn ich es höre, spüre ich in meinem ganzen Körper ein warmes Glücksgefühl und tiefe Dankbarkeit für Dr. Gerdes. Sie war die Erste, die mir das Gefühl gegeben hat, dass ich nicht seltsam, sondern nur ein wenig anders bin. Sie hat mir gesagt, dass ich damit nicht allein bin, und mir geraten, mich im Forum anzumelden. Ohne sie wäre ich Moritz nie begegnet. Ohne sie wäre ich noch immer allein.
Während Moritz schläft, trete ich das Gaspedal tiefer durch. Die Pause hat uns Zeit gekostet, und ich habe Angst, um Hamburg herum im Stau zu landen, doch ich komme erstaunlich zügig durch, so dass mir für die letzten achtzig Kilometer eine Stunde bleibt. Trotzdem steigt meine Nervosität jetzt wieder.
Als ich bei einem Ort namens Bornhöved die Autobahn verlasse, wacht Moritz auf. »Wir sind ja schon fast da«, kommentiert er nach einem Blick aufs Navi.
»Noch zehn Kilometer.«
Er sieht aus dem Fenster. »Schön hier.«
Moritz hat recht. Doch ich kann den Blick auf die sanft welligen Felder nicht genießen, denn meine Nervosität wird immer stärker. Ich frage mich, warum es mir so wichtig war, unbedingt pünktlich zu sein. Jetzt wünsche ich mir eine Galgenfrist.
Moritz legt eine Hand auf meine Schulter. »Es wird toll, versprochen.«
Ich ringe mir ein Lächeln ab, dann kommt auch schon das Hinweisschild, und kurz darauf fahren wir in den Ort hinein, in dem Moritz’ Schwester und Schwager leben. Ich habe mich schlau gemacht. Der Ort liegt direkt am Großen Plöner See. Es ist nur eine kleine Gemeinde, nicht einmal tausend Menschen wohnen dort, und die touristische Infrastruktur hält sich in Grenzen. Während ich die Dorfstraße entlangfahre, kommen wir an einer modernen Kirche, einem verlassen wirkenden Hotel und einem Campingplatz vorbei, hinter dem ich bereits den See glitzern sehe. Kurz darauf biege ich noch einmal links ab, und dann sind wir auch schon da.
Das Haus, in dem Moritz’ Schwester mit ihrem Mann wohnt, ist das letzte auf der linken Seite, bevor die Straße den Ort wieder verlässt. Direkt neben dem Grundstück schmiegt sich ein Streifen Wald an, der die Straße vom See trennt. Gegenüber dem Haus liegt ein unbebautes Grundstück. Auf der mit Kies notdürftig befestigten Fläche stehen ein VW Passat und ein Schild mit der Aufschrift: »Privatgrundstück – Betreten verboten!«
Moritz deutet darauf. »Priska sagte, wir können da parken. Den Besitzer störe es nicht.«
Ich tue wie mir geheißen, dann steige ich mit einem Gefühl der Beklommenheit aus dem Wagen. Es ist jetzt fünf vor halb fünf, wir sind fast auf die Minute pünktlich, doch das ist mir gerade kein Trost. Ich bin so nervös, dass ich aufs Klo muss. Unauffällig wische ich meine schweißnasse Hand an meiner Jeans ab, bevor ich Moritz’ Hand ergreife, dann gehen wir gemeinsam über die Straße.
Das Haus ist schlichter, als ich erwartet habe, ein großes rechteckiges Einfamilienhaus auf einem großen Grundstück wie die anderen in der Straße auch. Im Gegensatz zu diesen ist es allerdings vor kurzem renoviert worden. Eine frische Holzverschalung, neue rauchblaue Kunststofffenster und ein Dach aus glänzenden, roten Ziegeln lassen es einladend und gemütlich wirken. Wäre der Garten nicht so verwildert, könnte es die Hauptrolle in einer Bausparkassenwerbung spielen. An das Haus angebaut ist ein Carport, unter dem ein BMW Cabriolet mit geschlossenem Verdeck parkt, Kennzeichen PJ 222. Priska Jansen, der zweiundzwanzigste Februar ist ihr Hochzeitsdatum, wie Moritz mir erzählt hat. Wir kannten uns damals noch nicht persönlich, schrieben uns aber bereits seit einigen Wochen.
Moritz deutet auf den freien Stellplatz neben dem BMW. »Sieht aus, als sei Florian noch nicht da. Priska meinte schon, er würde es vermutlich nicht bis halb fünf schaffen. Na dann …«
Er drückt auf die Klingel. Ich wische mir erneut die Hand an der Jeans ab. Meine Blase zwickt immer heftiger, doch ich muss mich wohl noch gedulden, denn nichts passiert. Moritz klingelt noch einmal, wieder keine Reaktion.
»Sieht aus, als hätte ich recht gehabt«, meint Moritz. »Priska geht davon aus, dass wir unpünktlich sind. Mal sehen, wo sie steckt.«
Er zieht sein Handy hervor und tippt, während er vor sich hin murmelt. »Sind schon da, wo bist du?« Dann greift er nach meiner Hand. »Also, was tun wir, während wir warten? Sehen wir uns im Garten um?«
Er nickt in Richtung eines Durchgangs zwischen dem Carport und dem hohen verwitterten Bretterzaun, der das Grundstück gegen den Wald abgrenzt, doch ich möchte nicht, dass Priskas erste Erinnerung an mich ist, wie ich ungebeten durch ihren Garten spaziere. Außerdem sieht eine ältere Frau, die im Vorgarten schräg gegenüber werkelt, neugierig zu uns herüber.
»Lass uns hier warten.«
Ich lehne mich so an Moritz, dass ich mein Gesicht in die Sonne halten kann. Die Straße ist stellenweise feucht, Regentropfen hängen an den Büschen in den Vorgärten. Offensichtlich hat es hier auch geregnet, doch jetzt ist der Himmel strahlend blau. Die Oktobersonne lässt die buntverfärbten Bäume und Sträucher und das Laub, das am Straßenrand liegt, leuchten. Der Anblick gefällt mir. Viel schöner als in der Stadt, wo Laub mit Laubbläsern bekämpft wird, als sei es eine gefährliche invasive Spezies.
Einige Minuten lang genieße ich die Sonne und die Wärme und Moritz’ Arm, der locker auf meiner Hüfte liegt, während wir darauf warten, dass Moritz’ Handy klingelt. Doch alles bleibt still, nur einmal fährt ein Auto vorbei, und einmal ertönt aus dem Wald ein metallisches Quietschen oder Knarren, das ich nicht einordnen kann. Es klingt, als würde jemand eine uralte Schatztruhe öffnen.
»Ist es nicht ungewöhnlich, dass deine Schwester nicht da ist?«, frage ich schließlich. »Selbst wenn sie denkt, dass wir später kommen – würde sie nicht dennoch zur vereinbarten Zeit zu Hause sein? Zumal du sie mal als pünktlich und penibel beschrieben hast.«
»Das war, bevor Florian ihre menschliche Seite entdeckt hat. Ich wette, sie kommt bald. Ah, Wette gewonnen.«
Moritz umfasst meinen Kopf und dreht ihn nach links. Die Straße, die zwischen dem Wald auf der einen und einem Feld auf der anderen Seite aus dem Ort hinausführt, macht nach etwa hundert Metern einen Bogen nach links, und in diesem Moment taucht in der Biegung eine Frau in schwarzer enger Laufkleidung auf. Sie ist groß und schlank und hat blonde, kinnlange Haare, die beim Laufen hin- und herschwingen. Als sie uns sieht, beschleunigt sie ihr ohnehin hohes Tempo, so dass sie wenige Sekunden später vor uns steht.
»Das glaube ich einfach nicht«, verkündet sie keuchend und kopfschüttelnd. »Ihr seid wirklich schon da.«
Moritz schließt seine Schwester grinsend in die Arme. »Hi, Sis, schön dich zu sehen – wenn auch später als erwartet. Verkehrte Welt, was? Nenn mir eine Gelegenheit, bei der ich pünktlicher war als du, und ich überschreibe dir sofort mein gesamtes Vermögen.«
»Deine gesamten Schulden meinst du wohl.« Priska macht sich von Moritz los und lächelt ihn an, dann wendet sie sich an mich. »Du bist also Anna. Entschuldige bitte die Verspätung. Du musst mich für megaunhöflich halten, aber es war wirklich keine Absicht. Ich trainiere für meinen ersten Halbmarathon. Normalerweise tue ich das morgens, aber heute hat es so geschüttet, dass ich es auf nachmittags verschoben habe. Ich wollte eigentlich nur eine kleine Runde drehen, doch mein Körper ist wie auf Autopilot die große gelaufen. Als ich das bemerkt habe, war ich natürlich genau am entferntesten Punkt meiner Runde. Ich habe dann versucht abzukürzen und irgendwie den falschen Weg erwischt. Als ich endlich wieder auf dem richtigen war, bin ich auch noch in eine Pfütze gesprungen. Deshalb sehe ich so aus. Es tut mir wirklich leid, normalerweise empfange ich meine Gäste nicht schlammbespritzt. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen.«
Das alles sprudelt sie mir entgegen, ohne einmal Atem zu holen. Jetzt holt sie das nach, bevor sie mir eine verschwitzte, aber sorgfältig manikürte Hand entgegenstreckt. Ich ergreife sie, für einen Augenblick überwältigt von der Präsenz der Frau, gleichzeitig auch erleichtert über ihren leicht hektischen Auftritt. Priska ist tatsächlich noch größer (fast ein Meter achtzig), noch blonder (sogar echt), noch attraktiver und selbstbewusster als befürchtet – und das selbst in rotverschwitztem, schlammbespritztem und verspätetem Zustand. Doch dieser Zustand macht mir zugleich Hoffnung. Wenn Priska unpünktlich sein, sich verlaufen und Pfützen übersehen kann, ist sie vielleicht nicht die Überfrau, zu der meine Angst sie in den letzten Tagen gemacht hat.
»Ich freue mich auch, dich kennenzulernen. Und vielen Dank für die Einladung.«
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie gespannt ich bin, alles über dich zu erfahren. Ich muss doch wissen, mit wem mein kleiner Bruder sich herumtreibt.«
Priska lächelt mich an, während mein Mut sinkt bei der Vorstellung, ihr alles über mich zu erzählen. Dann wendet sie sich wieder an Moritz. »Wo ist denn euer Gepäck?«
»Im Auto. Wir dachten, wir holen es später.«
»Na dann …«
Priska fischt ein Schlüsselbund aus der Tasche ihrer Funktionsjacke und öffnet die Haustür. Im Flur schlüpft sie aus ihren dreckigen Turnschuhen und wirft dann einen Blick auf unsere Schuhe. »Wenn es euch nichts ausmacht … Bei dem Wetter … Das Parkett ist nur geölt … Und wir haben Fußbodenheizung.«
Gehorsam ziehen Moritz und ich unsere Schuhe aus und folgen Priska auf Socken in einen großen Raum, der fast das gesamte Erdgeschoss des Hauses einnimmt und in mir spontan ein Gefühl der Verlorenheit auslöst. Es ist eine helle, offene Koch-Wohn-Landschaft. Auf der Straßenseite, nach Süden, befindet sich die neue Küche mit glänzend weißen Einbauschränken, vom Wohnzimmer durch einen Tresen getrennt. Hinter dem Tresen steht ein ovaler Esstisch aus Massivholz mit sechs Lederstühlen. Die einzigen anderen Möbelstücke in dem Raum sind zwei hellgraue Sofas und ein großer Fernseher, der an der Wand hängt. Ich denke mit Sehnsucht an die kleine, vollgestopfte Wohnküche in unserer WG. Allerdings hat die kein Panoramafenster mit Sicht auf den Plöner See, bei dessen Anblick Moritz einen Pfiff ausstößt.
»Jetzt kapiere ich, wieso Flo unbedingt dieses Haus mitten im Nirgendwo wollte. Geniale Aussicht. Und geniale Möglichkeiten. Das Grundstück ist ja riesig. Dreitausend Quadratmeter?«
Priskas Antwort klingt etwas angestrengt. »Zweitausendachthundertundvier, die ein Vermögen verschlingen werden, bis sie weniger nach einem Schauplatz fürs Dschungelcamp und mehr nach Garten aussehen.«
»Du willst das zivilisieren? Was für ein Verbrechen! Das muss ein Paradies für Tiere sein.«
Moritz geht zur Terrassentür. Nach einem fragenden Blick zu Priska folge ich ihm. Der Ausblick ist wirklich wunderschön. Der See erstreckt sich in der späten Nachmittagssonne glitzernd über mehrere Kilometer bis zum grünen Ufer gegenüber.
»Ihr habt ja sogar einen Bootssteg. Auch ein Boot?« Moritz streckt eine Hand zum Griff der Terrassentür aus.
Doch seine Schwester steht plötzlich neben ihm und legt ihre Hand auf seine. »Noch nicht, obwohl das ganz oben auf Flos Wunschliste steht. Du kannst jetzt leider nicht auf den Steg. Es hat den ganzen Vormittag geregnet, da ist er megaglitschig. Und der Boden ist total aufgeweicht. Wir verschieben die Draußentour lieber auf morgen. Bestimmt wollt ihr euch jetzt erst einmal frisch machen oder etwas trinken?« Mit einer hektischen Handbewegung scheucht sie uns zum Esstisch.
Ich ziehe Moritz in die gewünschte Richtung. »Ich würde gern die Toilette benutzen, und ein Glas Wasser wäre prima.«
Priska geht in die Küche und kommt mit zwei Gläsern zurück, die sie auf hellgraue Filzuntersetzer auf dem Esstisch platziert. Dann öffnet sie den Mund, um etwas zu sagen, hält jedoch inne und starrt mit halb geöffnetem Mund an mir vorbei. Als ich ihrem Blick folge, sehe ich ein schwarzes Stück Stoff, das unter dem Sofa hervorlugt. Schnell geht Priska hin und knüllt es in ihrer Hand zusammen.
»Also«, wendet sie sich mit geröteten Wangen an mich, »das Gäste-WC ist rechts neben der Haustür. Ich gehe dann mal duschen. Bitte macht es euch in der Zwischenzeit bequem.«
Priska
Für den Fall, dass Anna mir auf dem Weg zum Gäste-WC in den Flur folgt, gehe ich gemessenen Schrittes die Treppe hoch, doch kaum oben angekommen, renne ich zum Fenster in unserem Schlafzimmer und starre angestrengt auf den See hinaus. Im Wohnzimmer habe ich mich nicht getraut, einen Blick zu riskieren, doch jetzt suche ich das Wasser im Bereich des Bootsstegs ab, ob irgendetwas zu sehen ist. Ob er zu sehen ist. Die Antwort lautet nein, und die Anspannung der letzten Stunde fällt so schlagartig von mir ab, dass ich zu zittern beginne. Mein ganzer Körper schlottert, und meine Beine knicken unter mir weg, so dass ich mich aufs Bett sinken lassen muss.
Ich sitze lange da und bemühe mich, tief ein- und auszuatmen, bis das Zittern schließlich nachlässt. Dafür breitet sich langsam ein dumpfes, beklemmendes Gefühl in mir aus, während die Gewissheit in mich hineinsickert wie Gift. Gewissheit darüber, was ich getan habe. Ich, Priska Jansen, bin für den Tod eines Menschen verantwortlich. Meinetwegen ist ein Mensch gestorben. Meinetwegen ist er gestorben. Meinetwegen ist er tot.
Die Erkenntnis ist so monströs, dass ich mich unwillkürlich ducke, doch die Gewissheit duckt sich mit mir, ich kann ihr nicht entkommen. Ich habe einen Tod verschuldet. Ich habe seinen Tod verschuldet. Ich, ich, ich.
Entsetzt sehe ich mich im Schlafzimmer um. Mein Blick fällt in den Spiegel über der Kommode, doch ich wende mich sofort von meinem Spiegelbild ab. Ich kann mich nicht ansehen. Ich kann meinen Anblick nicht ertragen.
Dabei habe ich das nicht gewollt. Natürlich habe ich das nicht gewollt! Ich wollte nur, dass er wieder geht. Dass er verschwindet. Dass er mich in Ruhe lässt. Ich wollte nicht, dass er stirbt. Es war keine Absicht, es war nicht geplant, es ist einfach passiert.
Aber wie konnte es passieren? Wie konnte es dazu kommen? Wieso habe ich das nicht verhindert? Wieso habe ich so reagiert? Wieso nicht anders? Wieso um alles in der Welt habe ich nicht anders reagiert?
Weil ich nicht anders reagieren konnte, flüstert eine Stimme in meinem Kopf, doch eine andere entgegnet sofort, dass das nicht stimmt. Es gibt immer eine andere Lösung. Es gibt immer einen anderen Weg. Der Mentor in meinem Traineejahr bei McKinsey hat mir das gesagt, und ich habe es zu meinem Markenzeichen gemacht. Dem Kunden passt mein Vorschlag nicht? Finde einen Weg, ihn davon zu überzeugen, dass er das Beste für ihn ist. Die Daten geben eine Einsparung von zwanzig Prozent nicht her? Finde eine andere Lösung für das Kostenproblem. Die Mitarbeiter leisten Widerstand gegen die geplante Umstrukturierung? Finde eine Möglichkeit, sie auf deine Seite zu ziehen.
Aber welche andere Möglichkeit hätte es vorhin auf dem Steg geben können? Ich habe doch alles versucht. Ich habe ihn angefleht, ich habe ihn angebettelt, ich habe ihm gedroht – aber er war nicht bereit, mir zuzuhören. Er wollte alles aufdecken. Er wollte alles sagen. Er war zu allem entschlossen. Er war entschlossen, mein Leben zu zerstören. Ich konnte das nicht zulassen. Ich durfte das nicht zulassen! Ich hatte nur die Wahl zwischen seinem Leben und meinem. Also hatte ich eigentlich keine. Es gab keinen anderen Weg.
Es gab keinen anderen Weg! Ich hatte keine Wahl!
Ich hatte keine Wahl. Ich hatte keine Wahl. Ich hatte keine Wahl.
Ich wiederhole die Worte immer wieder in Gedanken, spreche sie sogar halblaut aus, wie ein Mantra, bis die Beklemmung, die meine Brust einschnürt, etwas nachlässt.
Ich hatte keine Wahl. Ich hatte keine Wahl. Ich hatte keine Wahl. Ich hatte keine Wahl, weil er mir keine gelassen hat, weil er mein Leben zerstört hätte. Er hatte nicht das Recht dazu, aber ich hatte das Recht, mein Leben zu verteidigen.
Ich hatte das Recht dazu!
Ich hatte keine Wahl!
Und jetzt habe ich auch keine. Was geschehen ist, ist geschehen. Ich kann es nicht mehr ändern. Ich kann es nicht mehr ungeschehen machen, auch nicht, indem ich die Wahrheit sage und dadurch mein Leben selbst zerstöre. Das werde ich bestimmt nicht tun. Doch was soll ich stattdessen machen?
Langsam drücke ich mich vom Bett hoch und kehre zurück ans Fenster. Noch immer ist nichts von ihm zu sehen. Der See liegt so ruhig da, wie es ihm nur möglich ist, der Steg, unser überwucherter Garten, das verfärbte Herbstlaub – es ist eine friedliche Szene. Doch sie wird nicht friedlich bleiben, wenn er wieder auftaucht. Und das wird er. Sagt man nicht, Wasserleichen kommen immer wieder hoch? Die Stelle ist ohnehin nicht tief. Keine drei Meter. So oder so, man wird ihn finden. Und dann?
Ich muss mich entscheiden, wie ich dann reagiere. Aber habe ich das nicht längst? In dem Moment, als ich seinen Mantel mitgenommen habe? Ich werde Entsetzen und Überraschung heucheln, was sonst? Ich werde sagen, dass ich nicht wusste, dass er kommen wollte – was wahr ist. Ich werde sagen, dass er unbefugt unser Grundstück betreten haben muss – was ebenfalls wahr ist. Und ich werde sagen, dass ich nicht weiß, was auf unserem Bootssteg passiert ist, weil ich nicht dabei war. Weil ich nicht zu Hause war. Weil ich im Forst war. Ich habe trainiert. Ich werde sagen, was ich zu Moritz und Anna gesagt habe. Ich bin im Forst gelaufen und habe mich verlaufen.
Ja, das werde ich tun. Und niemand kann beweisen, dass ich lüge, denn niemand hat mich gesehen. Ich bin niemandem begegnet, als ich zurückkam – außer ihm.
Ich atme ein letztes Mal tief durch, straffe meine Schultern und wende mich vom Fenster ab. Mir fällt auf, dass ich noch immer meinen schwarzen Spitzentanga in der Hand halte. Ich werfe ihn in die Wäschetonne und gehe ins Bad. Als ich am Spiegel vorbeikomme, wende ich meinen Blick ab.
Anna
»Wie wird man eigentlich Tätowiererin?«, fragt Florian, nachdem er den Hauptgang, ein veganes Kürbisrisotto mit Rosenkohl-Granatapfel-Topping, serviert hat. Wir sitzen beim Abendessen an dem ovalen Eichentisch. Florian hat gekocht, während Priska Moritz und mir das Haus gezeigt hat.
Ich mochte Florian von dem Moment an, als er um halb sechs zur Tür hereinkam. Ich vermute, das geht den meisten Menschen so, die ihn kennenlernen, vor allem Frauen. Nicht nur, weil Florian groß und attraktiv ist, sondern weil er so eine unglaublich positive Ausstrahlung besitzt. Er scheint einer dieser beneidenswerten Menschen zu sein, die genau wissen, wer sie sind, woher sie kommen und wohin sie wollen, und dadurch ein unaufdringliches, aber unerschütterliches Selbstvertrauen besitzen. Außerdem ist er ein angenehmer Gastgeber. Beim Abendessen ist er derjenige, der dafür sorgt, dass Moritz und ich uns wohlfühlen, der Getränke nachschenkt und die Unterhaltung in Gang hält, während Priska schweigsam und phasenweise sogar geistesabwesend neben ihm sitzt. Nach dem, was Moritz mir über seine Schwester erzählt hat, überrascht mich das, und ich frage mich nervös, ob Priskas Wortkargheit etwas mit mir zu tun hat. Redet sie so wenig, weil sie mich nicht mag? Hat sie schon jetzt entschieden, dass ich ihrer Aufmerksamkeit nicht würdig bin? Doch ich unterhalte mich gern mit Florian. Er hat die Gabe, seine Fragen nicht neugierig, sondern interessiert klingen zu lassen, deswegen antworte ich ausführlicher, als ich es üblicherweise tue.
»Ich wollte etwas machen, das für mich eine Bedeutung hat und mit dem ich mich identifizieren kann, und ich habe schon immer wahnsinnig gern gemalt und gezeichnet. Nach meinem freiwilligen sozialen Jahr habe ich dennoch erst einmal eine Ausbildung zur Industriekauffrau gemacht – hauptsächlich weil meine Eltern das wollten –, doch ich habe die Arbeit im Büro nie gemocht. Als ich mir dann vor vier Jahren mit zweiundzwanzig mein erstes Tattoo stechen ließ, fühlte sich das so gut an, dass ich es weitergeben wollte.«
»Es fühlte sich gut an, mit Nadeln gestochen zu werden? Klingt ziemlich masochistisch.«
»Es fühlte sich gut an, das Tattoo zu haben.«
»Weil du dich damit attraktiver fühlst?«
»Nicht in erster Linie.« Ich zögere mit der Antwort, weil sie ziemlich persönlich ist. »Weil ich mich dadurch geschützt fühle. Ein Tattoo ist für mich wie eine zweite Haut. Oder wie Kleidung. Ohne fühle ich mich nackt. Viele Tätowierte empfinden es so. Ein Tattoo bedeutet meistens mehr als nur Körperschmuck.«
»Interessant, das wusste ich nicht. War dir das klar?« Die letzte Frage richtet Florian an Priska. Ich habe den Eindruck, dass er sie ins Gespräch einbeziehen möchte.
Priska schüttelt den Kopf, ich bin nicht sicher, ob sie weiß, worüber wir gerade gesprochen haben.
Florian wendet sich wieder an mich. »Hast du denn viele Tattoos?«
Die Frage überrascht mich nicht. Ich trage einen langärmeligen Pulli, und im Gegensatz zu vielen Kollegen bin ich nicht an Händen oder auf dem Hals tätowiert. »Drei.«
»Zeigst du uns eins?«
»Lieber nicht, sie sind an sehr privaten Stellen.« Das stimmt nicht. Ich trage ein Eleanor-Roosevelt-Zitat auf dem rechten Oberarm und meinen Lebensspruch auf dem linken, aber die Vorstellung, meine Ärmel hochzukrempeln und mich begutachten zu lassen, behagt mir nicht.
Zum Glück lenkt Moritz ab. »Anna ist eine echte Künstlerin. Ihre Arbeiten sind wunderschön und wahnsinnig kreativ. Vor allem ihre Partnertattoos sind total beliebt. Anna führt oft lange Vorgespräche mit den Paaren über ihre Beziehung und die Dinge, die für sie eine gemeinsame Bedeutung haben. Ihr letztes Partnertattoo hat sie für zwei Spielejunkies entworfen, die sich bei einem Onlinespiel kennengelernt haben. Hast du nicht Fotos dabei?«
Moritz sieht mich fragend an, Florian erwartungsvoll, Priska höflich interessiert, also ziehe ich mein Handy aus der Gesäßtasche meiner Jeans.
Florian legt einen Arm um Priska, und gemeinsam betrachten sie einige Fotos. Ich kann sehen, dass Priska damit wenig anfangen kann, doch Florian sagt: »Die sehen super aus. Sind die Figuren aus dem Onlinespiel?«
Ich nicke.
»Aber ich sehe keine Namen.«
»Wir raten im Allgemeinen davon ab, Partnernamen stechen zu lassen – falls man sich mal trennt. Wenn du genau hinsiehst, kannst du die Anfangsbuchstaben entdecken. Als Anhänger an der Kette der Amazone und am Orden des Zauberers.«
»Genial. Vielleicht sollten wir uns auch welche stechen lassen?« Florian sieht Priska an, die sofort den Kopf schüttelt.
»Ganz bestimmt nicht. Ich werde mir sicher nicht außerhalb einer medizinischen Praxis Nadeln in den Arm rammen lassen und mir dabei sonst was einfangen.« Sie wirft mir einen Nichts-für-ungut-Blick zu. »Das soll natürlich nicht heißen, dass es bei dir unhygienisch zugeht, aber ein Tattoostudio ist halt kein steriler OP.«
»Annas schon«, wirft Moritz ein. »Sie hat mehrere Hygieneschulungen gemacht und hält sich penibel an die Vorschriften. Du könntest dir in ihrem Studio den Blinddarm entfernen lassen.«
Priska verzieht das Gesicht, also sage ich: »Ich verstehe dich gut. Ich war vor meinem ersten Tattoo auch nervös. Und es ist wichtig, dass man sich sein Studio gut aussucht und checkt, dass der Tätowierer nicht nur die Hygienerichtlinien streng einhält, sondern zum Beispiel auch seine Farben nur bei ausgewählten Herstellern bestellt. Die beste Hygiene nützt nichts, wenn die Pigmente verunreinigt sind.«
Florian gibt mir mein Handy zurück. »Ich würde es riskieren. Schade nur, dass Priska und ich uns nicht bei einem Onlinespiel kennengelernt haben, die Figuren sind echt cool.«
»Wie habt ihr euch denn kennengelernt?« Moritz hat mir ein bisschen darüber erzählt, aber ich bin froh, das Thema von mir weglenken zu können.
»Vor zwei Jahren in Laboe, das ist ein Ostseebad an der Kieler Förde. Ich bin dort in der Ecke aufgewachsen, in Heikendorf. Meine Mutter hat in Laboe ein Café, und Priska hat versucht, mich davor umzubringen.«
»Spinner«, wirft Priska ein.
»Okay, ganz so war es nicht«, gibt Florian zu. »Sie hat nicht aufgepasst, als sie mit ihrem Wagen rückwärts ausparken wollte, und hat meinen geschrammt. Und zwar meinen nigelnagelneuen Firmenvan, den ich gerade erst eine Woche hatte. Natürlich wollte ich den Schuldigen sofort eigenhändig erwürgen, doch als dann diese umwerfende Frau ausstieg, habe ich sie stattdessen lieber auf einen Kaffee eingeladen. Sie wollte erst nicht und behauptete, sie habe keine Zeit, aber ich habe gesagt, dann müsste ich die Polizei zur Unfallaufnahme rufen, also hat sie zugestimmt. Tja, und aus dem einen Kaffee wurden drei, dazu ein Berg Waffeln mit heißen Himbeeren und Sahne. Wir haben uns festgequatscht, bis das Café geschlossen wurde, dann sind wir an der Strandpromenade auf und ab spaziert, bis es dunkel wurde. Als ich Priska schließlich zurück zu ihrem Wagen brachte, wusste ich, dass ich sie heiraten würde.« Florian grinst breit.
»Hast du es da auch schon gewusst?«, frage ich Priska.
Sie wackelt mit dem Kopf. »Das mit dem Heiraten nicht, dass ich diesen unverschämten, selbstgefälligen Typen wiedersehen wollte, auf jeden Fall.«
»Und wie kam es, dass du in Laboe warst? Hast du damals nicht in Stuttgart gewohnt?«