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Die Sehnsucht nach Freiheit bringt Nanda nach Amerika. Dort begegnet sie der Araberstute Eden. Der Freiheitsdrang des Pferdes hat dazu geführt, dass sie als unreitbar und lebensgefährlich eingestuft wurde. Nanda nimmt die Herausforderung an und entdeckt dabei, dass Eden sich nicht zwingen lässt, aber aus freiem Willen bereit ist, alles zu geben. In ihrem gemeinsamen Wunsch nach Verbundenheit erfahren beide, dass wahre Freiheit untrennbar tief in Menschen und Pferden verwurzelt ist. Nanda lernt von Eden, wie eine Leitstute zu leben. Eden lernt, ohne Zaumzeug geritten zu werden, ohne dabei ihre Freiheit, ihre Eigenheit und ihre Seele zu verlieren. Ohne Zaumzeug zu reiten war für Nanda immer das Symbol ultimativer Freiheit, aber letztendlich zeigt sich, dass Freiheit eine Nebenerscheinung eines viel höheren Zieles ist: Der Seelenverbundenheit mit dem Pferd.
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Seitenzahl: 214
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Nanda van Gestel - van der Schel
Die Seelenkraft der Pferde
Intuitiv mit Pferden kommunizieren
Motto
Sehnsucht nach Freiheit
Aufbruch in ein neues Leben
Amerika – The Land of the Free
Der Traum
Eine Botschaft für Marijke
Eine schicksalhafte Begegnung
Natürliches Pferdetraining
Die wilde Stute
Spiegel der Seele
Emotionale Balance
Leben wie eine Leitstute
Verbundenheit
Geduld
Fokus und innere Stärke
Die Kraft der Gedanken
Seelenverbundenheit
Der Wandel des Lebens
The circle is round
Zurück in den Stall
Entscheidungen und ihre Konsequenzen
Von Pferden fürs Leben lernen
Der Kreislauf des Lebens
Titel der Originalausgabe:
Het paard als spiegel van de ziel Natuurlijk, holistisch en intuïtief met paarden omgaan
Das Pferd als Spiegel der Seele
Über den natürlichen, holistischen und intuitiven Umgang mit Pferden
Aus dem Niederländischen von Dorothee Dahl
Copyright © 2013 by Cadmos Verlag, Schwarzenbek
Gestaltung und Satz: Hantsch & Jesch PrePress Services OG, Wien
Alle Fotos in diesem Buch sind von Sonja Rasche, www.sonjarasche.eu. Lektorat: Dorothee Dahl
Konvertierung: epublius GmbH, Berlin
Deutsche Nationalbibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten.
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ISBN Print 978-3-8404-1039-0
ISBN Epub 978-3-8404-6147-7
ISBN Kindle 978-3-8404-6148-4
Meine Sehnsucht nach Freiheit war stetig gewachsen. Ich fühlte mich wie ein Pferd, das in seinen Stall eingesperrt ist, aber davon träumt auszubrechen und mit wehender Mähne seiner Freiheit entgegen zu stürmen.
Während meiner Schulzeit starrte ich häufig aus dem Fenster oder malte Pferde in mein Heft, um mich daran zu erinnern, was für mich selbst wirklich wichtig war. So wie von jedem anderen wurde auch von mir in der Schule erwartet, dass ich lernte, was andere wichtig finden, um das zu tun, was von mir erwartet wurde. Wenn ich die Erwartungen der anderen nicht erfüllte, wurde das bestraft. Nicht mit einem Ruck am Gebiss, einem Schlag mit der Peitsche oder einem schmerzhaften Stich mit den Sporen in meine Rippen, sondern durch schlechte Noten oder andere Sanktionen.
Wenn ich morgens zur Schule ging, hatte ich oft meine Reitsachen statt der Schulbücher in meiner Schultasche. Ich fuhr mit dem Fahrrad heimlich zu dem Reitstall, in dem mein Pferd Natasha stand. Den ganzen Tag ritt ich dann mit Natasha über die Heide und durch die Wälder. Wenn im Sommer schönes Wetter war, nahm ich oft meinen Badeanzug mit, sodass ich in den kleinen Seen auf der Heide mit ihr schwimmen konnte. Ohne Sattel galoppierten wir so schnell wir konnten ins Wasser. Immer tiefer, bis Natasha den Boden nicht mehr fühlen konnte und zu schwimmen begann. Ich hatte meine Arme um ihren Hals geschlungen und ließ mich von ihr mitnehmen. Wenn wir uns ausgetobt hatten, setzte ich mich an den Rand des Sees und aß meine mitgebrachten Butterbrote, während sich Natasha genüsslich über das Gras und die Möhren hermachte, die ich mitgenommen hatte. Das war Freiheit für mich, das war Leben. Später, als ich erwachsen war und selbst bestimmen konnte, was ich tat, gelang es mir nicht, mich wirklich frei zu fühlen.
Mein Leben war in den Augen der anderen „perfekt“, und trotzdem fühlte ich mich immer mehr wie ein Pferd, das sich nach unendlicher Weite sehnt, um ausgiebig galoppieren zu können. Ich hatte das Gefühl, dass mein Leben von den Erwartungen bestimmt wurde, die mir von außen auferlegt wurden. Wie ein Pferd, das auch immer wieder Befehle ausführen muss; Befehle, die an dem vorbeigehen, was das Pferd wirklich will, auferlegt von den Menschen, die nie zufrieden zu sein scheinen, egal wie sehr das Pferd versucht, sein Bestes zu geben.
Mein wachsender Widerstand hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt immer nach innen gekehrt. Ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich zu einem ungewollten Familienbesuch „musste“, und Schmerzen im Knie, wenn ich meine Kinder zur Schule bringen musste. Es war so, als sei ich jahrelang ein braves Schulpferd gewesen, aber stets lahmer geworden. Tief in mir wuchs das Verlangen, aus allem auszubrechen. Ich wünschte mir, die Tür meines Stalles zu zertreten und meiner Freiheit entgegenzurennen. Ich spürte die Sehnsucht, ganz ich selbst sein zu können, ohne von irgendetwas gezügelt zu werden.
Die Sehnsucht, gesehen zu werden, als Mensch, als lebendiges Wesen, geschätzt für das, was ich bin, statt beurteilt zu werden nach dem, was ich tue.
An diesem Punkt meines Lebens bekam mein Mann eine Stelle in Amerika angeboten. Dieses Angebot fühlte sich für mich so an, als hätte meine Stalltür gerade dem Tritt meiner Hufe nachgegeben und hinge offen in den Scharnieren. Es war, als ob ich in der Tür meines jetzt offenen Stalles stünde und es nichts mehr gäbe, was mich noch von meiner Freiheit abhalten konnte. Ich bestand allerdings darauf, dass ich nur dann umziehen würde, wenn ich Natasha (die ich inzwischen sechzehn Jahre hatte und mit der ich mich unendlich verbunden fühlte) würde mitnehmen können.
Als ich die Fluggesellschaft anrief, um zu erfahren, welche Möglichkeiten es gab, sie nach Amerika zu fliegen, wurde ich kurz in die Warteschleife gesetzt. Durch den Telefonhörer schallte das Lied von Randy Crawford: „One day I’ll fly away …“
Die Gefühle, die diese Worte in mir hervorriefen, waren zwiespältig. Ich selbst wollte nichts lieber, als von allem und jedem wegzufliegen, fragte mich aber, ob sich das für Natasha auch so anfühlte. Sie war inzwischen zwanzig Jahre alt, litt unter Arthritis und hasste es außerdem, zu reisen. Ich hatte also meine Zweifel.
Anfänglich planten wir, an die Ostküste Amerikas zu ziehen. Es gab Flüge, auf denen Pferde transportiert werden durften, die in Washington D.C. landeten. Von dort aus war es nur eine kurze Fahrt zu unserem Wohnort. Alles schien also machbar zu sein.
Im allerletzten Moment, nachdem wir alle Verträge unterschrieben und unser Haus verkauft hatten, änderte sich unser Ziel aber in Richtung des Nordwestens von Amerika. Durch die Reorganisation des Unternehmens, in dem mein Mann arbeitete, wurde nicht Washington D.C., aber Washington State unser neuer Wohnort.
Die Nachfrage bei dem Transportunternehmen zeigte, dass diese Reise noch viel mehr Stolpersteine haben würde. Der Flug, den Natasha machen müsste, würde viel länger dauern. Außerdem ist Los Angeles der einzige Flughafen an der Westküste, auf dem Pferde landen dürfen. Natasha müsste dort sechs Wochen in Quarantäne bleiben und ich könnte sie wegen der großen Entfernung nicht besuchen. Anschließend müsste sie dann noch zwei Tage mit dem Lastwagen transportiert werden, um dorthin zu kommen, wo wir in Zukunft wohnen würden. Es machte mich nicht glücklich, mir vorzustellen, wie dies alles für sie sein würde.
Ich konnte den Gedanken daran, dass dieser Plan nicht wirklich im Interesse von Natasha war, nicht mehr unterdrücken. Ich wollte sie aber auch nicht zurücklassen. Es schien, als gäbe es keine gute Lösung für mein Dilemma, und weil es auch kein Zurück mehr gab, wusste ich wirklich nicht mehr, was ich tun sollte. Ich lief heulend in den Stall, wo Natasha genüsslich ihr Heu kaute. Ich schlang meine Arme um ihren Hals und schluchzte, weil ich fest davon überzeugt war, dass sie nicht ohne mich und ich nicht ohne sie würde leben können.
Natasha holte mich sofort wieder in die Wirklichkeit zurück, indem sie mir einen ordentlichen Stups mit dem Kopf gab, wodurch ich mit einem Plumps im Stroh landete. Ich fühlte mich abgelehnt und traurig und lief geknickt zum Haus zurück. Ich liebte Natasha und war mir sicher, dass sie mich genauso liebte. Drinnen ließ ich mich aufs Sofa fallen. Ich machte gedankenlos den Fernseher an und zappte durch die Programme, um etwas Belangloses zu finden, was mich auf andere Gedanken bringen könnte. So landete ich bei einer Dokumentation über einen Natural-Horsemanship-Trainer in Amerika, Tom Dorrance. Tom, ein alter, freundlicher Mann mit einem großen Cowboyhut, stand mitten in einem Roundpen (einem rund eingezäunten Platz mit einem Durchmesser von ungefähr fünfzehn Metern) und erzählte über seine Arbeit mit Pferden. Sofort widmete ich mich mit aller Aufmerksamkeit diesem Bericht. Das war genau das, wonach ich schon seit Jahren suchte. So wollte ich mit Pferden arbeiten: so natürlich und frei wie möglich.
Ich hatte immer versucht, Natasha so viel Freiheit wie möglich zu geben, was mir aber nur bis zu einer gewissen Grenze gelungen war. Ich ritt sie am langen Zügel, sah in manchen Situationen aber keine andere Möglichkeit, als die Zügel doch anzunehmen. Ich gönnte ihr alle Freiheit, fragte mich aber gleichzeitig, ob ich ihr etwas geben konnte, was ich selbst in meinem Leben noch nicht gefunden hatte.
Ich fühlte, dass mich Amerika wie ein Magnet anzog, und ich spürte auch, dass die „wilde“ Westküste ein viel besserer Ort für mich sein würde als die konventionellere Ostküste. Es war das Gebiet der wilden, ungezähmten Natur, der Cowboys, der Natural-Horsemanship-Trainer und nicht zuletzt der Pferde. Gleichzeitig fragte ich mich, was ich da sollte, wenn ich mein eigenes Pferd nicht würde mitnehmen können.
Am nächsten Morgen war ich schon wieder besserer Stimmung – ein guter Schlaf kann Wunder wirken. Ich ging in Natashas Stall und begann sie zu putzen und zu satteln, weil ich einen Ausritt mit ihr machen wollte. Als ich sie nach draußen geführt hatte, lehnte ich meinen Kopf an ihren Hals, während ich sie in Gedanken fragte, was ich tun sollte.
Ich will nur das Beste für dich, Natasha; ich will die richtige Entscheidung treffen. Ich will tun, was dich glücklich macht. Wofür soll ich mich um Himmels willen entscheiden? dachte ich.
Ich gab ihr einen Kuss, stellte meinen Fuß in den Steigbügel und stieg auf. In dem Moment, in dem ich losreiten wollte, hörte ich ganz deutlich in meinem Kopf: „Liebe Nanda, das Universum ist vollkommen. Alles ist miteinander verbunden, und wenn du dir, so wie wir Pferde es auch sind, dieser Verbundenheit bewusst bist, dann weißt du auch, dass alles gut ist, so wie es ist. Ich habe dir alles beigebracht, was ich dir beibringen konnte, und unsere Wege trennen sich hier. Wenn du mich an Marijke abgibst, kann ich ihr auch zeigen, was ich dir gezeigt habe. Dadurch würde mein Leben doppelt so wertvoll werden.
Am anderen Ende der Welt wartet eine weiße Araberstute schon sehnsüchtig auf dich. Sie braucht dich sehr und wird auch deine neue Lehrmeisterin sein. Wenn du mich wirklich liebst, kannst du es beweisen, indem du mich loslässt, denn mein Leben geht hier weiter, so wie dein Leben dort weitergehen wird. Du wirst mich nicht verlieren, aber dadurch, dass du mich loslässt, werde ich dir näher sein, als ich es jemals war.“
Dann war es still. Mir fehlten die Worte, aber ich wusste, was ich zu tun hatte.
Marijke war eine nette, herzliche Frau, die im selben Dorf wohnte wie ich. Ich kannte sie schon lange vom Sehen, aber erst vor Kurzem waren wir miteinander ins Gespräch gekommen. Wir entdeckten, dass wir uns in vielen Dingen ähnlich waren und gemeinsame Interessen hatten.
Marijke erzählte mir dabei auch, dass sie schon seit Jahren davon träumte, ein eigenes Pferd zu haben, und dass sie das Gefühl hatte, dass ihr irgendwann, wenn die Zeit dafür reif wäre, bestimmt ein Pferd begegnen würde. Ich konnte ihre Hoffnung darauf bestätigen, denn auch Natasha war vor sechzehn Jahren auf wundersame Weise in mein Leben gekommen. Marijke fragte damals auch vorsichtig nach, ob ich wegen unseres Umzugs vielleicht auf der Suche nach einem guten Zuhause für Natasha sei, aber ich versicherte ihr, dass ich sie mit nach Amerika nehmen würde. Zu dem Zeitpunkt hatte ich das auch vor, aber inzwischen hatten sich die Dinge verändert.
Tief in mir wusste ich, dass Marijke genauso gut für Natasha sorgen würde wie ich. Es fiel mir aber sehr schwer, das zuzugeben. Als ich Marijke erzählt hatte, dass ich nur zum Spaß mit Natasha ritt und ihr so viel Freiheit wie möglich gab, antwortete Marijke, dass auch sie nichts anderes wolle.
Am Nachmittag desselben Tages begegnete ich Marijke zufällig auf dem kleinen Platz vor dem Lebensmittelhändler im Dorf. Ich berichtete ihr, dass meine Pläne sich grundlegend geändert hatten. Marijke war völlig begeistert über die Vorstellung, dass Natasha zu ihr kommen würde.
In den Wochen, in denen ich noch da war, haben Marijke und ich zusammen für Natasha gesorgt, um den Übergang für uns alle so sanft wie möglich zu gestalten. Wir unternahmen lange Ausritte, bei denen wir abwechselnd mit dem Fahrrad fuhren und auf Natasha ritten, und wir besprachen alles, was für Natasha wichtig sein könnte. Wir lernten uns in dieser kurzen Zeit gut kennen und es entwickelte sich schnell eine tiefe Freundschaft.
Am letzten Wochenende vor unserem Umzug bauten unsere Männer zusammen Natashas Stall ab und bauten ihn anschließend zu Hause bei Marijke wieder auf. Als die Aktion beendet war, ritt ich Natasha mit Tränen in den Augen zu ihrem neuen Zuhause. Marijke und ihre Familie begrüßten sie mit großer Freude und ich wusste, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Trotzdem machte das die Sache nicht einfacher.
Natasha lief über die Einfahrt zu Marijke Haus, als hätte sie nie etwas anderes getan, und schien sich gleich wohlzufühlen.
Alles war gut, aber ich hatte mich noch nie so elend gefühlt. „Du wirst mich nicht verlieren“, hatte Natasha gesagt, aber ich konnte in diesem Moment nicht erkennen, wie sie jemals näher bei mir sein könnte, wenn ich sie jetzt losließe. „Es gibt eine weiße Araberstute, die sehnsüchtig auf dich wartet.“ Aber ich wollte gar kein anderes Pferd, ich wollte sie. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie ich die Araberstute jemals finden sollte und woher ich wissen sollte, ob es „richtige“ Stute sein würde. „Alles ist miteinander verbunden“, hatte sie auch gesagt, aber das konnte ich in dem Moment so gar nicht spüren. Ich fühlte mich mutterseelenallein.
Der Tag unseres Umzugs war gekommen und alle unsere Sachen wurden in einen Container geladen, der die Reise mit dem Schiff machen würde. Am Ende des Tages ging ich mit gemischten Gefühlen noch einmal durch das leere Haus. Einerseits hatte ich das enorme Bedürfnis aufzubrechen, während ich andererseits wehmütig an alles dachte, was mir vertraut war und was ich zurücklassen musste. Jetzt, wo ich tatsächlich „ausbrechen“ konnte, wurde mir bewusst, dass mein „Stall“ nicht nur begrenzend, sondern auch sicher gewesen war.
Im Laufe des Tages kamen noch viele Leute vorbei, um Abschied von uns zu nehmen. Als wir dann Richtung Flughafen fuhren, machten wir noch einen Umweg, um bei Marijke vorbeizufahren. Ich wusste, dass Marijke und ihre Familie an diesem Tag nicht zu Hause waren, weil sie sich schon vor einigen Monaten verabredet hatten. Das war mir eigentlich ganz recht, denn so konnte ich gleich zum Stall gehen und ungestört von Natasha Abschied nehmen.
Sie fraß ruhig ihr Heu, als ich hineinkam, und wieherte leise zur Begrüßung. Ich öffnete die Schiebetür, schlang meine Arme um ihren Hals und küsste ihr weiches, fuchsfarbenes Fell. Es gab niemanden, den ich mehr vermissen würde als Natasha. Sie war die Einzige, die mich nie eingeschränkt hatte, sondern die mich immer in meiner Sehnsucht nach Freiheit bestärkt und bestätigt hatte. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass ich für sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Aber war das auch die richtige Entscheidung für mich selbst? Darüber war ich mir gar nicht so sicher.
Nach einiger Zeit kam mein Mann, um mir zu sagen, dass wir nun fahren mussten; die Zeit drängte. Schweren Herzens riss ich mich von Natasha los. Ich gab ihr noch einen letzten Kuss und ging aus dem Stall. Als ich draußen war, rannte ich so schnell ich konnte zum Auto, das mich zum Flughafen und in meine Freiheit bringen würde. Ich wagte nicht mehr, mich umzuschauen, aus Angst, dass ich meine Meinung ändern und den gesamten Umzug abblasen würde.
Die Freiheit, nach der ich mich so gesehnt hatte, die Freiheit, genau das tun zu können, was ich wollte, und durch nichts und niemanden zurückgehalten zu werden, fand ich tatsächlich in Amerika. Die Amerikaner nennen ihr Land The Land of the Free, was aber nicht der Grund war, dass ich dort meine Freiheit fand. Amerika ist genauso frei (oder unfrei) wie die Niederlande oder Deutschland; in bestimmten Dingen gibt es viel mehr Freiheit und Spielraum, in anderen Dingen ist Amerika aber auch ziemlich konventionell, mit viel weniger Freiheit als bei uns.
Ich fühlte mich frei, weil ich keine Bindung an dieses für mich neue Land hatte. Es sind die Verbindungen mit unserer Vergangenheit, in denen wir oft gefangen sind und die uns daran hindern, uns zu verändern und zu wachsen. Die Menschen, die dich schon als Kind kannten, wünschen sich, dass du so bleibst, wie du in ihren Augen immer warst, und es ist schwer, sich von den Erwartungen zu befreien und doch der Mensch zu werden, der du eigentlich sein willst.
In Amerika konnte ich ganz von vorn anfangen. Ich konnte einfach so sein, wie ich sein wollte, ohne dass das jemandem etwas ausmachte. Ich landete eigentlich zwischen zwei Kulturen. Man erwartete nicht von mir, dass ich mich so wie die Amerikaner verhielt, weil ich Niederländerin war, und es wurde auch nicht länger von mir erwartet, mich nach den Normen und Werten zu richten, die bei mir zu Hause galten. Wenn ich etwas tat, was die Amerikaner eigenartig fanden, dann erklärte ich, dass ich keine Amerikanerin bin. Andersherum sagte ich, wenn ich etwas tat, was Familie oder Freunden bei mir zu Hause merkwürdig vorkam: „In Amerika ist das ganz normal.“ Dort, wo ich aufgewachsen war, hatte ich immer große Sehnsucht nach der Weite gehabt, die es in Amerika im Überfluss gibt.
Mein Mann war vorher schon für eine Woche nach Amerika geflogen, um ein Haus für uns zu suchen. Er hatte Fotos von einem Holzhaus im Wald geschickt, von dem ich so begeistert war, dass ich meinem Mann die Zustimmung gab, das Haus sofort zu kaufen. In Wirklichkeit war alles noch schöner als auf den Fotos und ich fühlte mich wie im siebten Himmel. Wir hatten nun lange Zeit in einem kleinen bäuerlichen Dorf gewohnt, in dem keiner etwas dagegen hatte, dass wir unsere Garage zum Pferdestall umgebaut hatten. Unser Grundstück zu Hause war klein und wir hatten einen Auslauf für die Pferde darauf gebaut. Glücklicherweise konnten wir bei einem befreundeten Bauern eine Wiese pachten. Trotzdem ist es in so einem kleinen Land nicht einfach, Pferden genügend Platz zu bieten.
In Amerika aber gibt es Wiesen im Überfluss und die Preise sind gut zu bezahlen. So kam es, dass wir nun stolze Besitzer eines Hauses mit wunderschöner Weide und einem privaten Wald waren, der groß genug war, um dort einen Reitweg anzulegen. Unser Land lag außerdem an einem unbefestigten Waldweg und einige Hundert Meter weiter führte der Weg in stille Waldgebiete und auf kilometerlange Reitwege, auf denen man in der unberührten Natur tagelang reiten konnte. In der Ferne konnte man die schneebedeckten Bergspitzen des Cascade Range sehen und hoch über einem schwebten Adler in der Luft. The American Bald Eagle war für die Amerikaner das Symbol für Freiheit.
Schmerzvoll und eigentlich auch ironisch war eigentlich nur, dass ich Natasha hatte zurücklassen müssen und nun dies alles nicht mit ihr zusammen genießen konnte.
Als ich ungefähr eine Woche in Amerika war, spürte ich, dass ich Natasha tatsächlich nicht wirklich verloren hatte, sondern wir uns trotz der vielen Kilometer, die uns trennten, tatsächlich näher gekommen waren. In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Einen ganz klaren Traum, der so wirklich war, dass er die alltägliche Realität verblassen ließ.
Ich stand auf der Wiese vor unserem neuen Haus in Amerika, als Natasha flügellos und geräuschlos durch die Luft angeflogen kam und knapp vor meinen Füßen sanft landete. Es war dunkel, aber gleichzeitig war es genauso wie in Wirklichkeit eine helle, sternenklare Nacht. Natasha war nicht gesattelt und hatte auch keine Trense oder ein Halfter um.
Ich merkte, dass ich auf bloßen Füßen im Gras stand und nur mein Nachthemd anhatte. Ich fühlte den kühlen Wind auf meiner Haut und das feuchte Gras unter meinen Füßen und trotzdem war mir nicht kalt. Natasha schaute mich liebevoll an und ich hörte wieder dieselbe Stimme, die mich ein paar Wochen zuvor so überrascht hatte.
„Setz dich auf meinen Rücken“, sagte sie. „Ich möchte dir etwas zeigen.“ Ich stieg auf und spürte sofort, wie vertraut und gleichzeitig so anders sich alles anfühlte in dieser außergewöhnlichen Realität. Der Unterschied war, dass wir nicht länger zwei voneinander getrennte Wesen waren; wir waren nicht länger ein Mensch und ein Pferd, die versuchten, ins Gleichgewicht und in eine Einheit zu kommen, sondern gingen fließend ineinander über. Vom ersten Moment an, als ich auf ihrem Rücken saß, konnte ich nicht mehr unterscheiden, wo Natasha anfing und ich aufhörte.
Wir gingen erst ruhig im Schritt und Natasha ging in den Wald, der in der Nähe unseres Hauses lag. Sie galoppierte an, und während der Wald vor meinen Augen verschwand, sah ich plötzlich die Heidelandschaft im Süden meiner Heimat, wo ich als junges Mädchen jeden Tag mit ihr unterwegs gewesen war.
Auch die Heidelandschaft verschwand nach einer Weile wieder und wir befanden uns nun dort, wo wir bis vor Kurzem gewohnt hatten und wo Natasha jetzt bei Marijke, ihrer neuen Besitzerin, wohnte. Wir gingen in Natashas Stall, wo sie mir ein Bild von Marijke zeigte.
Es war aber nicht die Marijke, die ich kannte (eine fröhliche, nett aussehende Frau um die dreißig, mit kurz geschnittenen blonden Haaren), sondern eine grau gekleidete ältere Marijke mit grauen Haaren.
„Sie macht sich Sorgen um mich“, seufzte Natasha, „aber das ist gar nicht nötig. Kannst du ihr das sagen?“
Danach sah ich Bilder von einem großen Stall, in dem viele Pferde in Boxen standen, und mir wurde klar, dass dies eine Pferdeklinik war. Ich sah auch Bilder, auf denen ich erkennen konnte, wo die Pferdeklinik lag. Alles sah sehr gepflegt aus, aber ich hörte Natashas Stimme sagen: „Ich will dort nicht hin, Nanda. Es stimmt, dass Marijke sieht, dass mein Körper älter wird und dass ich Verschleißerscheinungen habe. Es ist wahr, dass ich oft steif und klamm laufe, wenn ich gerade aus dem Stall komme, aber das macht mir nichts. Sorgen helfen mir nicht und Mitleid brauche ich nicht. Wenn sich Menschen Sorgen machen, dann verschließen sie sich vor uns Pferden und können uns nicht sprechen hören. Das schmerzt mich, denn nur wenn ich gehört werde, kann ich meine Aufgabe für den Menschen erfüllen.“
Plötzlich verschwanden der Stall und das Haus von Marijke und wir befanden uns im nächsten Moment am Strand. In Wirklichkeit war ich nie mit Natasha am Strand geritten, weil der viel zu weit weg war und ich ihr die lange Fahrt im Pferdeanhänger ersparen wollte, aber es war ein lang gehegter Wunsch von mir. Nun war es so weit, auch wenn es anders war, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich in meinem Nachthemd, auf bloßen Füßen, Natasha ohne Trense und Sattel. Wir beide zusammen als tatsächliche Einheit; tiefer verbunden, als ich es je für möglich gehalten hätte.
Wir galoppierten über den verlassenen Strand und ich merkte plötzlich, dass es gar nicht mehr dunkel war. Statt der Sterne stand die Sonne hoch am Himmel. Ach, natürlich wusste ich, wie das kam! Wir waren in einer anderen Zeitzone, und wenn es in Amerika Nacht ist, dann ist es dort mitten am Tag. So ritten wir stundenlang, oder waren es nur Minuten? Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen.
Auf einmal wusste ich aber, dass es an der Zeit war, wieder nach Hause zu gehen. Natasha galoppierte geradewegs ins Meer und sprang höher und höher, bis das Meer, der Strand und die Dünen ganz in der Ferne unter uns lagen. Ich sah die Heimat meiner Kindheit aus meinem Blickfeld verschwinden, sah England und Irland und auf einmal nur noch Wasser, so weit mein Blick reichte.
Als das Wasser des Ozeans vor meinen Augen verschwand, wurde es wieder dunkel, obwohl es nicht mehr so dunkel war wie in dem Moment, in dem wir losritten. Der Nordwesten Amerikas, wo wir gerade angekommen waren, erwachte langsam. Wir verloren langsam an Höhe und ich sah die weißen Bergspitzen des Cascade Range unter uns auftauchen. Als wir noch tiefer sanken, konnte ich die hohen Evergreens sehen. Das sind die enormen, immergrünen Nadelbäume, die diesem Teil von Amerika den Beinamen Evergreen State beschert hatten. Nach einiger Zeit sah ich die Lichtung zwischen den Wäldern, auf der unser Haus stand. Die Vögel waren schon wach und zwitscherten, was das Zeug hielt, während die Dunkelheit der Nacht langsam Platz machte für das Licht des neuen Tages. Wir waren wieder dort, wo unsere Reise begonnen hatte, und Natasha landete weich im Gras. Kurze Zeit später saß ich kerzengerade und hellwach im Bett, während Tränen des Glücks über meine Wangen liefen.
Es war noch früh am Morgen, aber ich sprang gleich aus dem Bett, um Marijke anzurufen. In so einem Augenblick ist der große Zeitunterschied praktisch, denn bei mir war es zwar erst halb sieben morgens, bei Marijke war es aber schon Mittag, sodass ich mit meinem Anruf nicht warten musste. Ich war sehr gespannt, wie Marijke auf meine Geschichte reagieren würde. Würde sie mir glauben, wenn ich ihr die Nachricht von Natasha ausrichtete? Glaubte ich selbst eigentlich daran?
Wenn ich länger darüber nachgedacht hätte, hätte ich vielleicht gar nicht so schnell bei Marijke angerufen. Gerade wach geworden, war ich aber noch in meiner Traumwelt und tief berührt von Natashas Botschaft. Ich hatte ihr versprochen, mit Marijke zu sprechen, und ich wollte mein Versprechen nicht brechen.
Marijke meldete sich gleich und ich fragte sie, wie es ihr und Natasha gehe. Marijke reagierte etwas zögerlich und sagte dann: „Was für ein Zufall, dass du anrufst. Ich wollte dich auch anrufen, hatte