12,99 €
Hinter den Winden, in einer anderen Welt, liegt Ventusia. Hier hat jeder eine magische Verbindung zu seinem Seelenpferd. Doch vor vielen Jahren wurden alle Mädchen von Ventusia in unserer Welt versteckt, um sie zu beschützen. Und seither suchen ihre Seelenpferde nach ihnen … Noch nie hat Fiona so schöne Pferde gesehen wie die beiden wilden Hengste, denen sie beim Ausreiten begegnet ist. Doch die Tiere verhalten sich sonderbar und folgen ihr überallhin. Fiona hat sogar das Gefühl, dass sie ihr etwas sagen wollen. Und dann taucht mitten in der Nacht auch noch ein fremder Junge im Apfelbaum vor Fionas Fenster auf. Nikolan behauptet, dass sie aus dem magischen Reich Ventusia stammt und dorthin zurückkehren muss, um ihr Seelenpferd zu finden und das Land zu retten. Denn das Reich der Pferdevölker ist in größter Gefahr … Die abenteuerliche Pferde-Fantasy-Reihe von Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer Benkau "Ein fantastisches Lesevergnügen!" Gina Mayer, Autorin der "Pferdeflüsterer Academy"-Reihe Entdecke die komplette Reihe: Band 1: Windprinzessin Band 2: Wüstentochter Band 3: Sturmmädchen Band 4: Himmelskind
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 280
Als Ravensburger E-Book erschienen 2023
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag
© 2023 Ravensburger Verlag
Copyright © 2023 by Jennifer Benkau
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)
Vorsatzkarte: Wahed Khakdan
Umschlagillustration und -gestaltung: Melanie Korte
Verwendete Bilder von © LukeProject, © Krakenimages.com und © Anastasija Popova, alle von Shutterstock
Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.
ISBN 978-3-473-51156-3
ravensburger.com
VENTUSIA
Der Wind verfing sich in Rianas kurzem Haar und riss an ihrem Hemd. Er trug den Duft des Waldes heran. Warme Erde, herbes Moos, frische Blätter und würzige Kräuter. In ihren Ohren dröhnte der Takt der galoppierenden Hufe, schnell und gleichmäßig.
Für Riana gab es kein schöneres Geräusch als Kyljas Galopprhythmus, denn ihr eigenes Herz schien den gleichen Takt zu schlagen.
Sie lehnte sich weit vor, schlang die Arme um den kräftigen Hals der Stute und streichelte das weiche Fell. Ihr Pony freute sich über die Zärtlichkeiten und sandte ein warmes Gefühl zurück, das sich hell in Riana ausbreitete. Pures Glück.
Kylja und Riana. Riana und Kylja. Sie waren beste Freundinnen. Egal, wie schlecht Rianas Laune manchmal auch war oder wie genervt sie war, weil sie mit ihren Eltern gestritten hatte. Egal wie dunkel die Wolken, die sich über ihr zusammenbrauten, Kyljas Schnauben blies allen Kummer fort, und ihr Wiehern ließ die Sonne scheinen, egal ob Stürme tobten oder der Regen vom Himmel prasselte.
Riana richtete sich wieder auf. Sie ritt voll Vertrauen in ihr Pony ohne Sattel und Zaum und hielt sich nicht einmal in der Mähne fest, sondern ließ ihre Hände locker seitlich herabhängen. Kylja gehorchte ihr bei den kleinsten Signalen. Riana musste nur ihr Gewicht verlagern, um die Richtung zu ändern, oder ein Wort murmeln, um die Gangart zu wechseln. Aber meist ließ sie die kleine, mausgraue Stute mit der buschigen Mähne laufen, wohin und wie schnell sie wollte.
Kylja hatte immer die besten Ideen. Sie fand die schönsten Orte in der Ebene der Silbersehenden, sei es ein klarer Fluss voll singender Fische oder ein Geröllfeld, wo die seltenen Steinblumen in der Sonne ihre schimmernden, bunten Blüten öffneten.
Heute jedoch war Riana irritiert von der Wahl ihrer Ponystute. Denn als sie den Schatten des Waldes verließen und Riana ins Helle blinzelte, tat sich ein Dorf vor ihnen auf.
„Was willst du denn hier?“, murmelte Riana verunsichert. Ein Karren holperte an ihr vorbei, hoch beladen mit Rüben in allen Farben zwischen Blassgelb bis zu leuchtendem Orange. Für einen winzigen Moment glaubte Riana, das saftige Gemüse zwischen den Zähnen zu schmecken.
Und damit hatte sie ihre Antwort. „Ist das dein Ernst, Kylja? Du willst zum Markt? Und ich soll dir ein paar Rüben kaufen?“
Kylja schnaubte zufrieden und schritt weiter in Richtung Dorf.
„Tut mir leid, meine Süße. Aber das geht nicht.“
Doch Kylja ging entschlossen weiter.
Und warum eigentlich nicht?
Riana hatte ein paar Kupferlinge in der Hosentasche. Und sie trug Kleidung, die jeden, der sie nicht näher kannte, denken ließ, sie sei ein Junge.
Wer sollte in Ventusia auch ein Mädchen ihres Alters erwarten? Offiziell gab es die nämlich gar nicht – nur ältere oder jüngere. Und so steckte Riana stets in einfachen Hosen und gerade geschnittenen, weiten Hemden, damit nicht zu erkennen war, dass sie eine einmalige Ausnahme darstellte. Ihre Mutter schnitt ihr Haar so, wie es für die Jungen Mode war, und ließ es dabei noch ein wenig länger, weil sie behauptete, Jungs würden das Haareschneiden lästig finden und hinauszögern. Riana hatte keine Ahnung, ob das stimmte. Sie selbst fand es jedenfalls tatsächlich lästig.
Alles in allem wirkte sie wie ein kleiner, schüchterner und womöglich ein wenig pummeliger Junge. Sollte sich jemand nach ihrem Namen erkundigen, dann behauptete sie, sie würde Rio heißen.
Ab und an stellte sie sich die Frage, was wohl passieren würde, wenn sich ihr Körper veränderte und weiblicher wurde. Das würde unweigerlich geschehen – und Riana wartete regelrecht darauf. Doch sie fürchtete sich auch davor. Musste sie dann für immer in den Drillingstürmen bleiben, wo niemand Fremdes sie sah? Ihre Eltern winkten jedes Mal ab, wenn sie das Problem ansprach. Alles würde sich zum Guten wenden, sagten sie dann. Aber das Lächeln ihrer Mutter schien bemüht, und ihr Vater schluckte stets, als glaubte er seinen eigenen Worten nicht.
Riana mochte mit ihren zwölf Jahren im Leben noch nicht viele Weisheiten erlangt haben, doch sie hatte sich einige erlesen, denn sie liebte Bücher und Geschichten. Und die meisten hatten eine eindeutige Botschaft: Es wendete sich selten etwas von allein zum Guten. Man musste dafür arbeiten und darum kämpfen. Nur dass sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wie das gehen sollte. Sie konnte schließlich nicht allein ganz Ventusia verändern.
Sei es drum.
Ihre Eltern würden sie jedenfalls tadeln, wenn sie nun zu diesem Markt ritt und riskierte, dass jemand erkannte, wer sie wirklich war. Aber … sie mussten es ja nicht erfahren.
„Nun gut, wie du willst“, flüsterte sie ihrer Stute zu, drückte die Beine gegen ihren Bauch und ritt im flotten Trab zu den Ständen.
Wenig später saß sie auf Kylja zwischen den feilgebotenen Karotten und Äpfeln und musste sich entscheiden. Da versuchte plötzlich ein älterer Mann mit stahlgrauem Haar und einer schmutzigen, staubbedeckten Hose, sie am Hemd vom Pferd zu ziehen.
Rianas Herz bollerte erschrocken. „Lasst … lasst mich los!“
Der Mann dachte gar nicht daran und kam sogar noch näher. „Runter mit dir, zeig ein bisschen Respekt!“, knurrte er.
„Ich habe nichts getan!“ Entsetzt stellte sie fest, wie hoch ihre Stimme klang, wenn sie sich fürchtete. Hatte sie sich damit bereits verraten? „Bitte, Herr. Lasst mich los. Ich …“
Ich darf doch gar nicht hier sein!
Mehrere Leute sahen zu ihr rüber, aber niemand wollte ihr helfen. Einige schüttelten sogar missbilligend die Köpfe. Was würde geschehen, wenn die Menschen erfuhren, dass sie ein Mädchen war? Und dazu auch noch ein ganz besonderes? Nämlich die letzte Prinzessin Ventusias?
„Runter von deinem Pferd, du Bengel!“, grummelte der Mann verärgert. „Oder willst du, dass wir alle bestraft werden?“
Riana ließ Kylja zur Seite weichen. „Ich … Was wollt Ihr denn von mir?“ Sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte. Als sie sich kurz umsah, stellte sie allerdings fest, dass außer ihr niemand auf seinem Pferd saß. Was stimmte in diesem Dorf nicht?
Der Mann lachte dröhnend, aber es klang nicht wirklich belustigt. „Hast du es denn noch nicht gehört?“
„Nein“, sagte Ria und rutschte von Kyljas Rücken. Ihre Stimme klang heiser vor Nervosität. „Was soll ich denn gehört haben?“
Der Mann beugte sich zu ihr. „Victoria, die grausame Tochter der Götter, hat ein Pferd gewählt.“
Riana gab ein kleines „Ah“ von sich, um nicht zugeben zu müssen, dass sie keine Ahnung hatte, wovon der Mann sprach. Natürlich kannte sie den Namen der Göttertochter. Aber das war auch schon alles.
Sie mussten einer Frau ausweichen, um die sich drei Kinder, ein winziges Pony und eine Ziege scharten.
„Jahaaaa“, sagte der Mann gedehnt. „Ihr jungen Burschen wisst das alles nicht mehr. Aber wenn Victoria ein Pferd wählt und als ihren Besitz zeichnet, dann bedeutet das, dass an jenem Tag diesem Pferd zu Ehren zu Fuß gegangen wird. Niemand in Ventusia reitet heute.“
„Nun, dann sollte Victoria die Kunde deutlicher verbreiten. Denn bei mir zu Hause …“ Riana biss sich auf die Lippe. „Bei mir zu Hause hat das niemand gehört.“
Mist. Fast wäre ihr herausgerutscht, dass sie in den Drillingstürmen lebte. Doch das sollte ebenso wenig die Runde machen wie die Tatsache, dass sie ein Mädchen war.
Diesmal lachte der Mann amüsiert. „Bürschlein, das weiß jeder in Ventusia.“
Nun. Sie offenbar nicht. Ob ihre Eltern es ihr mit Absicht verschwiegen hatten?
Aber warum? Und wofür hatte die Göttertochter ein Pferd gewählt? Für sich selbst etwa? Was bedeutete es, dass sie es gezeichnet hatte? Riana hatte nie davon gehört, dass Götter auf Pferden ritten oder einen Seelenbund mit ihnen eingingen, so wie die Menschen in Ventusia es taten.
„Wie dem auch sei“, sagte der Mann und klopfte ihr kumpelhaft so fest auf die Schulter, dass er sie fast umwarf. „Jetzt weißt du ja Bescheid. Heute, Bürschlein, wird gelaufen.“
Riana nickte zwar gehorsam, aber als sie später nach Hause aufbrach, kletterte sie doch wieder auf Kyljas Rücken, kaum dass sie das Dorf verlassen hatte.
Die Fragen brannten in ihr.
Wozu hatte Victoria ein Pferd gewählt?
Was für ein Pferd war das?
Und warum hatten ihre Eltern ihr nichts von alldem erzählt?
Eilends ritt sie heim. Konnte es kaum erwarten, ihre Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen.
Irgendwie – sie ahnte es, glaubte es, wusste es – war das, was heute geschehen war, wichtig für sie.
Doch als sie im warmen, goldenen Nachmittagslicht die Drillingstürme erreichte, erwartete sie eine große Enttäuschung.
Ihre Eltern waren fort. Abgereist in Richtung Norden.
Ohne sie.
IRLAND
Die Pferde liefen Fiona nicht weg.
Trotzdem sprintete sie los, kaum dass sie aus dem Bus gesprungen war, und flitzte die Straße entlang, so schnell sie ihre Füße trugen. Der Wind zerrte an ihrem blauen T-Shirt und ließ ihre roten Locken wie eine Fahne hinter ihr herflattern.
Die Leute fragten sie immer, ob sie es eilig hatte oder spät dran war, weil sie ständig rannte, statt normal zu gehen. Aber Fiona hatte es selten eilig und war nie zu spät dran. Sie rannte einfach für ihr Leben gern und wunderte sich über die Fragen. Denn warum sollte man gehen, wenn man genauso gut laufen konnte?
Sie umrundete die Hecke, die den Imkerhof von der wenig befahrenen, holprigen Straße abgrenzte, und bremste ab, indem sie sich mit beiden Händen gegen das hohe Holztor fallen ließ. Es gab durch zwei große, geschnitzte Hufeisen zu erkennen, dass es sich bei dem Gehöft nur in zweiter Linie um eine Imkerei handelte und in erster um einen Reiterhof.
Fiona musste nur sehr kurz durchschnaufen, während sie über das Tor kletterte. So früh am Morgen war es noch geschlossen, aber schon bald würde es für Reitschülerinnen, Gäste des Cafés und Kunden der Imkerei offenstehen.
Vor Fiona lagen die besten Monate des Jahres: die Sommerferien. Ihre Eltern hatten keinen Urlaub geplant. Fiona konnte jeden einzelnen Tag von früh bis spät im Stall verbringen. Und das Allerbeste war, dass Thomas, der Stallbesitzer, ihr sogar einen Ferienjob angeboten hatte, mit dem sie sich jede Menge Reitstunden verdienen konnte. Doch das Allerbeste (denn auch Allerbestes war noch steigerungsfähig) war, dass Amber Joyson mit ihren Eltern in die Karibik flog und der Stall damit wochenlang Amber-freie Zone war.
Der Imkerhof mit seinen Pferden war ohne jeden Zweifel der wunderbarste Ort der Welt. Allein der Geruch von Heu und die Geräusche der Pferde, die gerade friedlich ihr Frühstück kauten, ließen eine Welle aus warmem Glück über Fiona hinwegwehen. Amber Joyson jedoch gelang es immer wieder, dieses Glück zu trüben. Sie war sechzehn, damit drei Jahre älter als Fiona und besaß ein eigenes Pferd, was sie automatisch zu einem der besseren Mädchen machte, denen die Reitschulkinder ehrfürchtig nachstarrten. Amber war allerdings keine von denen, in deren Nähe man herumschlich, in der Hoffnung, das kostbare Turnierpferd trockenreiten oder spazieren führen zu dürfen. Zwar kommandierte Amber stets alle herum, ihr diese Aufgaben abzunehmen, aber sie hatte auch jedes Mal etwas an der Hilfe auszusetzen. Darüber hinaus war sie egoistisch, überheblich und gemein. Selbst die Pferde legten die Ohren an, wenn ihre zuckrig süße Stimme über die Stallgasse hallte. Die ganze Welt ließ sofort alles stehen und liegen, um Ambers Wünsche zu erfüllen. Denn anderenfalls passierte etwas.
Fiona hatte keine Ahnung, was dieses geheimnisvolle Etwas sein mochte. Aber seit sie zum ersten Mal zur Reitstunde auf den Imkerhof gekommen war, gehörte es zu den ungeschriebenen Gesetzen, Ambers Etwas zu fürchten wie irische Kobolde das Eisen.
Fiona ging Amber, so gut sie konnte, aus dem Weg.
Für die nächsten Wochen konnte ihr das alles jedoch herzlich egal sein, denn Amber stolzierte vermutlich längst im Designerbikini durch weißen Karibiksand, machte Selfies und Videos und ließ sich dafür von ihren Internet-Followern feiern.
Die Amber-freien Wochen waren angebrochen und mit ihnen zweifellos die allerallerschönste Zeit auf dem Imkerhof.
Als Fiona auf die Stallgasse trat, hoben ein paar Pferde die Köpfe und unterbrachen ihre Heumahlzeit, um ihr die Nasen über die Boxentüren entgegenzustrecken. Lächelnd streichelte sie ihnen die weichen Nüstern und kraulte sie hinter den freundlich gespitzten Ohren. Froufrou hatte natürlich selbst bei der Begrüßung das Maul voller Heu, und die alten Shetlandpony-Stuten Elly und Lisbeth, die sich eine Box teilten, mümmelten wie immer unbeeindruckt weiter. Sie waren weise alte Damen und machten sich nicht viel aus menschlichem Besuch.
Stallkater Elvis begrüßte Fiona dafür besonders hingebungsvoll. Er schnurrte, als sie sich hinkniete, um ihn am Rücken zu streicheln, rieb seinen dicken Katerkopf an ihr und streckte ihr schließlich sogar sein rundes Bäuchlein entgegen. Fiona hatte nur ein einziges Mal den Fehler gemacht, darin eine Aufforderung zum Streicheln der Katzenunterseite zu sehen. Es hatte ihr einen Arztbesuch, jede Menge fies brennendes Jod und eine Tetanusspritze eingehandelt. Sie mochte ihn trotzdem noch. Man musste halt seine Vorlieben kennen. „Nie wieder fall ich auf deine Tricks rein“, flüsterte sie, stemmte sich hoch, ließ den Kater vor der Box der Shettys zurück und schlenderte weiter die Stallgasse entlang, um nach Thomas O’Brian zu suchen. Thomas war nicht nur Reitlehrer und Imker, ihm gehörten außerdem der Hof, die Pferde, die Bienen und alles andere, was hier kreuchte und fleuchte (mit Ausnahme von Kater Elvis, der gehörte nur sich selbst). Gestern hatte er angedeutet, sie könnte den Ausritt für drei Mädchen aus Deutschland leiten, die mit ihren Müttern Urlaub in Irland machten. Sie waren am Tag zuvor schon im Dressurunterricht mitgeritten und hatten sich als geübte Reiterinnen entpuppt.
Fiona war stolz, seit diesem Jahr hin und wieder Ausritte anführen zu dürfen. Meist saßen Reitanfänger in den Sätteln, und Fionas Aufgabe bestand bloß darin, voranzureiten und den Weg vorzugeben, während die braven Gastponys ihrem Pferd hinterherzockelten wie Elefanten, die mit ihrem Rüssel den Schwanz des Vorgängers fassten. Sie ritten dann eine halbe Stunde im Schritt bis zur Ruine der alten Mühle und wieder zurück. Es machte Fiona Spaß, den Feriengästen ihre Heimat zu zeigen: die grünen Hügel, Wiesen und Weiden, die Pferde und Schafe, die Vogelnester in den Baumkronen und den Blick auf die Stadt. Und keine Sekunde im Sattel wäre ihr je eine zu viel gewesen. Aber bei der Vorstellung, mit einer Gruppe auch mal schneller reiten zu können, hatte es ihr die halbe Nacht lang im Bauch gekribbelt. Fiona hatte sogar von einem Galopp den Hügel hoch geträumt.
Aus der Futterkammer tönte leises Klappern, und Fiona folgte dem Geräusch. Wie erwartet stieß sie dort auf Thomas. Er kontrollierte gerade die Kisten, in denen Hafer, Mineralfutter und Pellets lagerten. Die Bestellliste des Futterlieferanten lag auf dem wackligen Holztisch, den Kugelschreiber hatte Thomas zwischen die Zähne geklemmt.
„Guten Morgen, Thomas“, sagte Fiona gut gelaunt. „Kann ich dir helfen oder soll ich die Pferde auf die Weide bringen? Einige haben ihr Heu schon aufgefressen.“
„Morgen, Fiona“, nuschelte Thomas, ließ den Kugelschreiber in seine Hand fallen und rieb sich mit der anderen über den Bart, der wie seine Haare unter der Schiebermütze schon ziemlich grau war. Dabei war Thomas noch gar nicht alt. Vielleicht Mitte dreißig oder knapp vierzig, Fiona wusste es nicht genau. „Mach das gern. Aber lass Ebony, Lucy und den Isländer drin, die gehen ja gleich auf einen Ausritt. Die Mädchen dürften jeden Moment kommen. Und wir brauchen den guten Sir Henry.“
Fiona schluckte den Anflug von Enttäuschung runter. Sir Henry war ein schwarzbraunes irisches Sportpferd, und er gehörte Thomas allein. Ihn zu reiten war ein Traum. Der Wallach reagierte auf die kleinsten Hilfen. Manchmal war es, als müsse man ein Kommando nur denken, damit er es ausführte. Es war fast wie Magie.
Thomas ließ nur ganz selten mal eine der besseren Reitschülerinnen in Sir Henrys Sattel steigen und hatte dann immer ein Auge darauf. Er würde den Ausritt heute also selbst begleiten. Schade.
„Okay“, sagte Fiona und wandte sich ab. Der Apfelschimmel Cowboy trat bereits ungeduldig vor die Boxentür, weil er nach draußen wollte.
„Fiona?“, rief Thomas ihr hinterher. „Ist alles in Ordnung?“
„Sicher“, sagte sie schnell. Es gab eigentlich keinen Grund, enttäuscht zu sein. Über den Sommer würden noch viele Gäste zum Ausreiten kommen. Sie würde schon noch den Hügel hochgaloppieren.
„Du hast aber keine Angst, oder?“, fragte Thomas und runzelte die Stirn.
Fiona begriff nicht. „Nein? Wovor denn?“
„Sir Henry ist ein guter Junge.“ Thomas lächelte versonnen. „Ja, er ist verdammt schnell, aber er lässt sich kontrollieren. Darfst nur nicht nervös werden, das steckt ihn an.“
Und endlich verstand sie. Ihr Herz schlug einen Purzelbaum. „Ich darf den Ausritt mit Sir Henry anführen? Wirklich mit Sir Henry?“
Thomas lachte schallend auf. „Ja, das sag ich doch die ganze Zeit. Oder willst du lieber ein anderes Pferd?“
„Was? Nein, natürlich nicht!“
„Ja dann, viel Spaß mit meinem lieben Jungen!“
In einem Pferdestall war es natürlich vollkommen undenkbar, laut quietschend auf der Stelle zu hüpfen und sich dabei im Kreis zu drehen. Fiona konnte allerdings ausgesprochen leise quietschen und sich dabei hüpfend auf der Stelle drehen. Und genau das tat sie, bevor sie nach einem „Danke, Danke, Danke!“ aus der Futterkammer huschte, um die übrigen Pferde zur Weide zu bringen.
Als Fiona damit fertig war, hatte sich der Hof bereits gefüllt. Kinder und andere Jugendliche, die wie sie Ferien hatten, waren gekommen, um ihre Pflegeponys zu versorgen, zwei junge Frauen führten gerade ihre Pferde zum Training in die Halle, und auf dem Putzplatz striegelten die Mädchen aus Deutschland Ebony, Lucy und Dyg, den Thomas immer nur „den Isländer“ nannte, weil er das einzige Islandpferd auf dem Hof war. Die Mütter der Mädchen saßen auf der anderen Seite des Hofes an einem Außentisch von Miss Mays Café, aus dem bereits der Duft von Tee, frischen Scones und Obstkuchen waberte.
Fiona beeilte sich, Sir Henry aus seiner Box zu holen, und band ihn neben der lackschwarzen Ebony an.
Sie verkniff sich den irischen Akzent und bemühte sich, ganz besonders verständliches Englisch zu sprechen, während sie sich den Mädchen vorstellte. Die drei waren ein wenig älter als Fiona, schienen sich aber darüber zu freuen, von ihr ins Gelände begleitet zu werden.
Sie waren alle schon fast fertig. Amala kratzte gerade noch Ebonys Hinterhufe aus, Jasmin kämmte ein letztes Mal durch Dygs dichten rotbraunen Schweif, und Nathalie ging bereits zur Sattelkammer, um Sattel und Zaumzeug zu holen.
Fiona ließ sich trotzdem Zeit. Sir Henry war kitzelig unter dem Bauch, und hastiges Putzen machte ihn leicht nervös. Sie hatte Thomas nicht angeschwindelt: Sie hatte keine Angst, ihn zu reiten. Aber gesunden Respekt von seinem Temperament hatte sie schon. Daher fuhr sie in gemächlichen, langen Strichen mit der Kardätsche über sein schwarzbraunes Fell, bis es glänzte und der Wallach sich entspannte.
Die Mädchen halfen sich gegenseitig beim Satteln und hielten einander beim Aufsitzen gegen, damit die Sättel nicht verrutschten.
„Seid ihr fertig?“, erkundigte sich Fiona, nachdem alle ihre Steigbügellänge korrigiert hatten. Thomas ging bereits zum Tor, um es ihnen zu öffnen.
Die Mädchen bejahten, winkten ihren Müttern noch einmal zu und reihten sich hinter Fiona ein. „Dyg wird hinten manchmal ein bisschen zu schnell und will dann überholen. Reite mit ihm am besten gleich hinter mir“, sagte sie zu Jasmin und wartete ab, ob sie die Anweisungen verstanden hatte. Aber alle drei sprachen gut Englisch, und Fiona war es längst in Fleisch und Blut übergegangen, mit den Feriengästen langsam und verständlich zu reden und das Gesagte mit Gesten zu untermalen. „Dahinter dann Ebony und Lucy an den Schluss. Ihr kennt die Handzeichen zum Wechseln der Gangar…?“
Fiona hatte das Wort nicht zu Ende gesprochen, als plötzlich ein dunkelblauer Wagen im Affenzahn um die Hofeinfahrt geschossen kam. Er raste nur wenige Meter an den Pferden vorbei und bremste dann scharf ab. Eine Staubwolke wirbelte auf.
Sir Henry stieg auf die Hinterhand, Dyg machte einen erschrockenen Satz zur Seite, und Lucy wendete ab und preschte in Richtung Stall. Nathalie bekam sie zwar schnell wieder unter Kontrolle und kam zu der Gruppe zurück, war aber kreidebleich geworden.
Fiona hätte am liebsten eine Beschimpfung quer über den Hof gerufen. Wie konnte man in der Nähe von Pferden so rücksichtslos sein? Immerhin hätte auch Kater Elvis auf dem Hof liegen können, und dass die Hühner um die Außentische des Cafés herum pickten statt in der Nähe des Tors, war reiner Zufall! Aber wenn sie nun ihrem Ärger lautstark Luft machte, würden sich die Pferde gar nicht mehr beruhigen. Außerdem stapfte Thomas bereits wütend auf das Auto zu. Wer auch immer darinsaß, konnte sich auf was gefasst machen.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Fiona die drei Mädchen. Außer dem Schreck war niemandem etwas passiert. Am besten war es, sie ritten gleich los.
Fiona sah sich allerdings noch mal nach dem dunkelblauen Auto um. Thomas stützte sich über dem Fahrerfenster auf die Tür. Sie konnte auf die Entfernung nicht hören, was er dem Fahrer leise, aber eindeutig wütend zuraunte. Doch sie sah, wie die Beifahrertür aufgestoßen wurde – und plötzlich wunderte sie gar nichts mehr. Denn aus dem Wagen stieg niemand anderes als Amber Joyson. Ausgerechnet!
Was wollte sie denn heute auf dem Imkerhof? Warum nervte sie nicht längst die armen Seesterne und Fische in der Karibik?
„Spar dir die Predigt, Thommy“, säuselte Amber Thomas zu. „Wir haben doch heute gar nicht Sonntag.“
Damit winkte sie dem Fahrer des Wagens und stolzierte in ihren eleganten, cognacfarbenen Lederreitstiefeln zu den Stallungen.
Fiona ließ Sir Henry lange, schnellere Schritte machen, damit ihre Gruppe die Hofausfahrt rasch hinter sich ließ, bevor der Wagen noch genauso aus der Einfahrt jagte, wie er hineingeschossen war.
„Wow.“ Jasmin kicherte. „Wer war denn das? Die denkt ja auch, ihr gehört die Welt, oder?“
Fiona seufzte. „Zumindest halb Ardee. Aber vergessen wir sie. Wir wollten ausreiten, oder nicht?“
VENTUSIA
Riana huschte an der Wand entlang. Mit der Spitze ihres Zeigefingers folgte sie der Mittelfuge der großen, rauen Sandsteinblöcke, aus denen die Drillingstürme erbaut waren. Von hier oben, aus dem obersten Stockwerk des dritten Turms, konnte man die gesamte Ebene der Silbersehenden überblicken. Die Hügel, auf denen sich lila Heidekraut ausbreitete wie ein endloser Teppich, gesäumt von goldenen Feldern.
Jedenfalls, wenn man gute Augen hatte …
Damit konnte Riana allerdings nicht dienen. An diesem Morgen hüllte sich die Welt für sie in Finsternis. Nicht für die anderen Menschen, deren Schritte und Stimmen gedämpft aus den unterschiedlichen Räumen erklangen. Nur für Riana.
Die meisten Silbersehenden waren ein wenig kurzsichtig oder konnten nur bei hellem Licht gut sehen. Riana aber litt unter den Dunkeltagen, an denen sie so gut wie gar nichts mehr sah. Sie wurden länger und kamen in kürzeren Abständen. Ihre Mutter versprach nach wie vor an jedem der Dunkeltage, dass die begabten Heilerinnen aus den Bergen am westlichen Rand der Welt Rianas Krankheit irgendwann aufhalten würden. Aber Riana spürte, dass die Zuversicht ihrer Mutter löchrig war wie ein alter Strumpf. Einer, der eigentlich schon lange weggeworfen werden musste.
Dunkeltage wie dieser hatten allerdings einen Vorteil. Und dieser bewegte Riana auch heute dazu, noch vor dem Frühstück auf nackten Füßen den Gang entlang zur Bibliothek ihrer Familie zu laufen. Der steinerne Boden war eiskalt. Seitdem ihre Eltern gestern sang- und klanglos ohne sie abgereist waren, um sich im Palast im Norden mit den anderen Fürsten Ventusias zu treffen, quälte Riana die Unruhe, was genau wohl hinter dem plötzlichen Aufbruch stecken mochte.
In der Bibliothek tauchten ihre Zehen in die weichen, tiefen Teppiche, und sie brauchte die Wandfugen nicht mehr, um ihren Weg zu finden. Nun folgte sie der Spur ihrer eigenen Füße, die den Weg schon Hunderte Male gegangen waren. Rianas Finger und Zehen spürten, was selbst den besten Augen entging.
Ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als sie ihre Hand nach ihrem Buch ausstreckte.
Riana liebte das Lesen, das sie mit den Fingerkuppen erlernt hatte, weil ihre Augen immer schon ein wenig besonders gewesen waren und die Buchstaben hatten tanzen lassen, sodass sie kaum zu erkennen waren. In ihren Büchern lebte sie in einer Welt, in der die Drei Türme voller Kinder und Jugendlicher waren. In einer Welt, in der sie nicht allein war, Tag für Tag für Tag. In einer Welt, in der es andere Mädchen in ihrem Alter gab und sie nicht verstecken musste, was oder wer sie war.
Es war an einem der Dunkeltage gewesen, und Riana hatte stundenlang gelesen, als ihre Gabe erwacht war. Das Silbersehen.
Schon zuvor hatten sich ihr die Geschichten aus den Büchern an den Dunkeltagen immer besonders farbenprächtig gezeigt, und sie spürte sie mit all ihren Sinnen. Sie hörte die Mädchen lachen, fühlte den Griff ihrer Hände an ihren und sah das Licht in ihren Augen blitzen.
In den Geschichten war kein Abenteuer zu gefährlich für die letzte Prinzessin von Ventusia, auch wenn sie in der Realität eher ein vorsichtiges Mädchen war. In den Geschichten war sie kein Relikt einer vergangenen Zeit, das behütet und versteckt werden musste – hier beschützte sie sich selbst. In den Geschichten war sie auch nicht krank, nicht blind und erst recht nicht einsam.
Sie war stark, mutig und entschlossen. Sie war, was immer sie sein wollte, während sie vor dem Bücherregal auf dem Teppich saß und die Fingerspitzen über die Prägungen im Pergament fließen ließ.
Und dann, Jahre bevor es bei den meisten Jugendlichen passierte und noch lange, bevor ihre Eltern auch nur daran dachten, sie auf das Kommende vorzubereiten, hatte Riana entdeckt, dass die Geschichten, die sie in einem ganz bestimmten Buch las, manchmal noch gar nicht darin geschrieben standen. Es waren überhaupt keine Geschichten – es war die Realität. Sie geschah an fernen Orten und genau in jenem Moment, in dem Riana sie las.
Die Magie des Silbersehens war in ihrer Familie normal. Aber sie erwachte normalerweise frühestens mit dreizehn oder vierzehn Jahren, nicht schon mit zwölf wie bei Riana. Allerdings hatte sie auch ihre Seelenverbindung zu ihrer Stute Kylja viel früher geschlossen, als es üblich war.
Ihr Vater sagte immer, Rianas Kindheit würde so unaufhaltsam fortgaloppieren wie eine Herde wilder Pferde. Und ihre Mutter sorgte sich oft, weil sie so viel nachdachte und lieber las, statt zu spielen. Aber mit wem sollte sie in den Drei Türmen auch spielen? Mit den jüngeren Mädchen langweilte sie sich, und die älteren waren fast schon Frauen und hatten wiederum an ihr kein Interesse.
Heute hielt sie sich nicht mit Erzählungen von großen Abenteuern auf. Ihre Finger flogen zu dem abgegriffenen Ledereinband dieses einen Buches, als würde ein Windzug sie lenken. Es war ein Erbstück. Uralt, das Leder an manchen Stellen rissig und porös geworden, an anderen ganz glatt von den vielen Händen, die es schon gehalten hatten. Das Papier roch nach Erinnerungen und Zukunftsträumen, und die eingeprägten Zeichen kribbelten unter Rianas Fingerspitzen.
Dies ist das Buch Ventusias, las Riana und atmete tief durch, um sich für das zu wappnen, was sie nun erwartete. Sie konnte es immerhin nicht wissen. Und wie immer zwackte sie ihr schlechtes Gewissen, weil sie ihren Eltern noch nicht erzählt hatte, dass die Gabe des Silbersehens in ihr erwacht war. Andernfalls hätten sie wohl verhindert, dass Riana nun durch die Seiten blätterte und dabei nach den Zeilen suchte, in denen der Ort beschrieben war, wo sie sich nun aufhielten. Das Buch selbst führte sie dabei, Riana musste nur fest an ihre Eltern denken, und es lenkte ihre Finger von allein zu der richtigen Seite. Sie erschauerte leicht, weil sie sich wie eine Spionin fühlte. Und war sie das denn nicht auch? Aber hatte sie nicht ein Recht dazu, wenn man ihr nicht offen und ehrlich sagte, was vor sich ging?
Riana wischte alle Zweifel beiseite und las.
Dies ist das Buch Ventusias. Es öffnet sich den Silbersehenden, und jedes Wort ist wahr.
Der Wind heulte um die Spitzdächer herum und drängte sich gegen die Wände des Thronsaals. In den Büchern stand geschrieben, dass der Palast im Norden aus purem Eis bestand. Nun, da Riana ihn sah, seine Kälte auf der Haut und seine Magie im Herzen spürte, zweifelte sie nicht mehr daran. Sie trug ihren wollenen Umhang, das Gesicht wie fast immer im Schatten der Kapuze verborgen. Heute war der Mantel ihr kein Schutz vor den Blicken anderer, sondern vor dem Frost. Das Eis, aus dem die Wände bestanden, war nicht durchsichtig, aber es ließ das kalte Wintersonnenlicht hindurch und tauchte alles in einen bläulichen Schimmer.
Es hieß, der riesige runde Tisch im Saal des Eispalastes würde jeden, der ihn berührte, dazu zwingen, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht war es Aberglaube, aber wer wusste das schon?
Dementsprechend reihten sich die Fürsten in einem kleinen, aber respektvollen Abstand um den Tisch herum auf und vermieden es, ihn anzufassen.
Rianas Herz schlug schneller, als sie sah, dass hinter manchen Fürsten auch deren Söhne standen. Rianas Eltern würden sie niemals auf diese weite Reise mitnehmen. Viel zu gefährlich. Warum galt das nicht auch für die Prinzen?
„Wir wissen, was wir von Euch allen verlangen“, rief eine Frau, die nicht weit fort von Riana stand. Sie hatte braune Haut, langes, sonnenhelles Haar und trug ein weißes Gewand, das bis zum Boden reichte. Es musste die Fürstin des Götterhains sein, eines uralten Waldes im Landesinneren. „Wir verlangen nicht weniger, als dass Ihr das Liebste, das Ihr noch habt, ins Ungewisse schickt: Eure Söhne. Und wir wissen alle, wie schwer Euch das fällt, haben wir doch bereits unsere Töchter in die Ferne geschickt. Aber wenn die Jungen Erfolg haben, dann gibt es für einige von uns womöglich bald ein Wiedersehen mit unseren Töchtern!“
Ein Raunen ging durch die Menge. Riana presste sich eine Hand vor den Mund. Ein Wiedersehen mit den Töchtern … Bedeutete das, dass Hoffnung bestand, die verschollenen Mädchen zu finden? Sie hatte sich immer gefragt, wohin sie verschwunden waren und warum niemand nach ihnen suchte.
„Ein Wiedersehen?“, rief ein bärtiger Mann mit rotem Haar. „Ja, womöglich gibt es ein Wiedersehen mit unseren Mädchen. Aber zu welchem Preis, wenn wir sie gleich darauf opfern müssen?“
Eine blonde Frau, die ganz nah am Tisch stand, schüttelte den Kopf. „Das ist nicht gesagt!“ Es musste die Fürstin der Eisberge sein, die Herrin dieses Palastes. Sie sprach leise, dennoch klang ihre Stimme über das Murmeln hinweg.
Ihr Sohn stand zwischen ihr und ihrem Mann. Er war älter als Riana, ungefähr sechzehn, und der ungewöhnlichste Junge, den sie in all ihren Geschichten je gesehen hatte. Seine Augen waren blau wie die Fjorde seiner Heimat und sein Haar weiß wie Schnee. Er trug einen so gelassenen Ausdruck zur Schau, als ginge ihn das alles nichts an. Dabei schien es bei diesem Treffen um ihn sowie um die anderen Prinzen von Ventusia zu gehen. Sie waren also nicht zufällig mit ihren Eltern hergekommen. Man hatte eine Aufgabe für sie.
Den Eisprinzen, von dem es hieß, er hätte einst sein eigenes Herz in Eis verwandelt, schien das kaltzulassen.
Die Fürstin des Götterhains, die zuerst gesprochen hatte, trat vor. „Wir müssen nun an das Überleben unserer Völker denken. Der Plan, alle Mädchen außer Landes zu bringen, um sie zu beschützen, war nicht falsch. Niemand macht Euch Vorwürfe, Brüder und Schwestern Ventusias. Jede Mutter, jeder Vater versteht, dass wir unsere Mädchen in Sicherheit bringen wollten. Aber Victoria lässt uns das nicht durchgehen. Ihr Zorn erwacht und bringt das Unglück über uns alle. Sie hat bereits ein Pferd gezeichnet!“
Riana schüttelte verwirrt den Kopf. Was sollte das heißen, dass alle Mädchen außer Landes gebracht worden waren? Warum regte sich keine Miene in den Gesichtern ihrer Eltern? Hatten sie etwa davon gewusst?
Mit einem Mal kam Riana sich töricht und naiv vor. Sie lebte versteckt und durfte die Drillingstürme nur als Junge verkleidet verlassen. Natürlich hatten ihre Eltern es gewusst. Sie hatten sich jedoch anders entschieden und Riana nicht fortgeschickt … wohin auch immer man die anderen Mädchen gebracht hatte. Warum hatten sie ihr nie davon erzählt und keine ihrer Fragen beantwortet? Wie hatten sie sie anlügen können?
Bei den Wolken, die den Regen brachten! Am liebsten hätte sie Mutter und Vater sofort zur Rede gestellt. Aber so funktionierte die Gabe des Silbersehens nicht. Riana konnte zwar alles sehen, hören und sogar riechen, was vor sich ging. Sie selbst aber blieb für alle anderen unsichtbar.
„Im Götterhain sehen wir die Zeichen inzwischen jeden Tag“, fuhr die Götterhainfürstin mit der braunen Haut fort. „Erdbeben zerstören unsere Dörfer. Vögel fallen tot vom Himmel.“
„Sturmfluten haben erste Inseln unseres Fürstentums im Osten überschwemmt“, rief eine groß gewachsene Frau mit wettergegerbtem Gesicht und rauer Stimme. Das musste die Fürstin der Sturminseln sein. „Die Mädchen müssen nach Ventusia zurückkehren, wenn das Land nicht untergehen soll!“
„Das sagt sich leicht“, erwiderte ein Mann mit sanften braunen Augen und olivfarbener Haut, „wenn man kein Mädchen opfern muss. Auf den Sturminseln habt Ihr derzeit nur Söhne in der Fürstenfamilie. Wir in der Sternhimmelwüste jedoch wollen unsere Prinzessin sicher und behütet wissen.“
Die Fürstin aus dem Götterhain schüttelte den Kopf. „Auch in Eurer Sternhimmelwüste leiden schon Menschen, trug man mir zu. Das Wasser verfault in den Brunnen, ist es nicht so? Eure Prinzessin kann nicht in einem fernen Palast auf feinen Seidenkissen ruhen, während ihr Volk leidet.“
Der Wüstenfürst senkte beschämt den Kopf. Auch Riana schluckte. Sie hatte schwarze, bedrohliche Wolkenberge am Horizont gesehen und die Bediensteten über Unwetter, die die Ernte gefährdeten, tuscheln hören. Doch wie schlimm es war und dass dies erst der Anfang sein sollte, hatte sie nicht geahnt.
Aber was hatte all das mit den verschwundenen Mädchen zu tun? Und damit auch mit ihr?
Gemurmel setzte ein und schwoll zu einem Durcheinander an. Die Fürstinnen und Fürsten berieten mit den Nachbarn, fragten andere nach ihrer Meinung. Manche stritten, andere schwiegen, wenige waren sich einig.
Zwei Frauen mit auffallend feinen Gesichtszügen, blasser Haut und dunklem, geflochtenem Haar standen so nah bei Riana, dass sie hören konnte, was sie sagten, obwohl sie beinah flüsterten.