Die Seelenpferde von Ventusia, Band 3: Sturmmädchen (Abenteuerliche Pferdefantasy ab 10 Jahren von der Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin) - Jennifer Benkau - E-Book

Die Seelenpferde von Ventusia, Band 3: Sturmmädchen (Abenteuerliche Pferdefantasy ab 10 Jahren von der Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin) E-Book

Jennifer Benkau

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Beschreibung

Hinter den Winden, in einer anderen Welt, liegt Ventusia. Hier hat jeder eine magische Verbindung zu seinem Seelenpferd. Doch vor vielen Jahren wurden alle Mädchen von Ventusia in unserer Welt versteckt, um sie zu beschützen. Und seither suchen ihre Seelenpferde nach ihnen … Pferde bedeuten Sophie alles, doch sie fühlt sich in ihrem Reitstall nicht mehr wohl. Ihrer strengen Reitlehrerin geht es nur um Turniererfolge, nicht um die besondere Verbindung zwischen Mensch und Tier. Als ein schwarzer Hengst auf dem Hof auftaucht, spürt Sophie sofort, dass er kein normales Pferd ist. Sie ahnt nicht, dass er sie nach Ventusia bringen soll, um ihr Seelenpferd zu finden. Denn nur so kann sie mit den anderen Mädchen das lebensgefährliche Pferderennen reiten und Ventusia retten. Die abenteuerliche Pferde-Fantasy-Reihe von Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer Benkau "Ein fantastisches Lesevergnügen!" Gina Mayer, Autorin der "Pferdeflüsterer Academy"-Reihe Entdecke die komplette Reihe: Band 1: Windprinzessin Band 2: Wüstentochter Band 3: Sturmmädchen Band 4: Himmelskind

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Seitenzahl: 286

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag.

© 2024 Ravensburger Verlag

Copyright © 2024 by Jennifer Benkau

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)

Vorsatzkarte: Wahed Khakdan

Umschlagillustration und -gestaltung: Melanie Korte

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51223-2

 

ravensburger.com

FRANKREICH

„Fleißiger, Sophie, jetzt nicht nachlassen. Und stell dein Pferd mal richtig durch. Treiben, treiben, feste! Und durchstellen, Sophie – durchstellen!“

Sophie verkniff sich einen Seufzer. Sie liebte es, auf der großen braunen Stute Manon zu reiten. Manon war so sanftmütig und liebevoll. Ihre weichen Gangarten passten hervorragend zu ihrem ruhigen Wesen. Sophie ritt sie am liebsten von allen Schulpferden des Reitvereins, auch wenn die Stute bei vielen anderen als langsam und faul galt. Doch das war sie nicht. In Wahrheit war sie gelassen und ruhig. Und das war doch etwas Gutes.

Sophie hasste es, wenn ihre Reitlehrerin Florence mit ihrem „Durchstellen“ anfing. Gleich würde sie das Wort noch lauter rufen – dabei war ihre Stimme durch das Mikrofon bereits bis in den letzten Winkel der Reithalle zu hören und übertönte das Schnauben der sechs Pferde, die in einer Abteilung hintereinander wegtrabten.

„Durchstellen, Sophie. Durchstellen!“

Florence wollte, dass Manon „am Zügel ging“. Sophie sollte dazu den einen Zügel annehmen und durch beharrliches Ziehen und Zupfen am anderen erreichen, dass Manon irgendwann den Widerstand aufgab, den Hals beugte und den Kopf senkte. Erst dann war Florence zufrieden.

Sophie allerdings mochte dieses Vorgehen nicht. Es hatte ihr schon immer widerstrebt, durch wechselseitiges Ziehen am Zügel das Pferd zum Gehorsam zu zwingen. Niemand konnte ihr erzählen, dass diese Methode den Pferden nicht unangenehm war oder keine Schmerzen bereitete. Schließlich trugen sie Gebisse aus Metall in ihren weichen Mäulern.

Darum hatte Sophie sich belesen, im Internet recherchiert und Bücher gewälzt. Sie war auf andere Reitweisen gestoßen. Darauf, dass man das Pferd nicht in die gewünschte Haltung zwingen musste, sondern einfach nur gut reiten sollte, damit es den Rücken freiwillig aufwölbte und der Kopf dann ganz von allein die richtige Haltung fand. Sie hatte versucht, mit Florence darüber zu sprechen, aber die hatte nur ihre dünn gezupfte Augenbraue angehoben.

„Das, was du beschreibst, ist die klassische Art zu reiten, Sophie, und das ist alles schön und gut und richtig. Aber dazu braucht es ein richtig gutes Pferd. Und – nimm mir das nicht übel – auch eine bessere Reiterin, als du es bist.“

Das hatte gesessen. Und so hatte Sophie in den paar Reitstunden nach diesem Gespräch still getan, was Florence verlangte.

Aber gut fühlte sie sich damit nicht. Bis heute nicht.

Es musste doch auch anders gehen!

Manon war doch ein tolles Pferd. Vielleicht sprang sie nicht am höchsten und beherrschte keine hohen Dressurlektionen. Aber sie war freundlich, verzieh jeden Fehler und gab Sophie ein gutes und sicheres Gefühl auf ihrem Rücken. Was war das, wenn nicht gut?

Und Sophie mochte nicht die beste Reiterin im Verein sein. Sämtliche Turnierteilnahmen bewiesen es – sie bekam nie eine der begehrten goldenen, silbernen oder weißen Schleifen. Ihre beste war eine rote Schleife für einen fünften Platz – von acht Starterinnen und Startern, was ihre Adoptivmutter stets hervorhob.

Aber sie nahm die Reitstunden doch, um besser zu werden!

„Durchstellen!“, schallte es durch die Reithalle. „Hörst du schlecht, Sophie? Tu endlich, was ich sage!“ Florence wurde zornig, es war an ihrer Stimme überdeutlich zu hören.

Sophie spürte, wie Manon sich anspannte. Ihre Ohren spielten nicht mehr, indem sie alle paar Sekunden munter die Richtung wechselten, sondern legten sich enger an den Kopf und verharrten dort. Das Verhalten erinnerte Sophie an einen Hund, der verunsichert den Schwanz einzog.

Sophie ritt einfach weiter. Sie ahnte, dass Manon irgendwann entspannte und von selbst an den Zügel trat, wie man es nannte, wenn das Pferd die Verbindung zwischen Reiterhand und seinem Maul suchte, um auf die kleinsten Hilfen reagieren zu können. Sophie wusste es einfach, sie musste nur sanft weiterreiten und darauf warten.

Doch sie hätte sich denken können, dass Florence ihr und der Stute diese Zeit nicht geben würde.

„Abteilung durchparieren zum Schritt. Sophie, aufmarschieren und halten auf der Mittellinie!“

Ein Knacken tönte aus den Lautsprechern an der Hallendecke, und mehrere Pferde zuckten zusammen oder scheuten. Sophie musste schlucken. Sie kannte das Geräusch. Florence hatte das Mikrofon ausgeschaltet und kam nun von der Tribüne runter. Alle wussten, was das bedeutete, dementsprechend war es drückend still. Es schwiegen nicht nur die Reitschülerinnen und Reitschüler, die auf dem Pferd ohnehin nicht reden sollten. Auch an der Bande herrschte plötzlich absolute Ruhe, was selten vorkam.

Sophie fühlte sich auf der Mittellinie wie auf dem Präsentierteller. Die anderen ritten im Schritt um sie herum, während sie mit ihrem Pferd stehen bleiben und auf die Standpauke warten musste.

Ihr Mund war trocken, sie schmeckte den Staub des Hallensandes, und ihr Hals fühlte sich beim Schlucken rau an. Aber sie beschloss, standhaft zu bleiben.

Am frühen Morgen – direkt nach dem Aufwachen – hatte sie eine Entscheidung getroffen. Sie wollte sich verändern. Nein, so stimmte es nicht. Sie wollte ab sofort mehr sie selbst sein. Mit ihrem Aussehen hatte sie begonnen. Sie war vor der ersten Stunde in den Supermarkt gegangen und hatte vom Geburtstagsgeld etwas gekauft, das sie vor den Augen ihrer Adoptivmutter sicherlich niemals auf ein Kassenband gelegt hätte. Und sie hatte es benutzt. Heimlich, in der Mädchendusche der Schul-Turnhalle, während die anderen beim Sport gewesen waren. Madam Dubois verlor immer den Überblick. Wenn man beim Durchzählen zu Anfang anwesend war, konnte man sich danach mit Leichtigkeit davonstehlen, um eine Freistunde zu genießen. Sophie tat das nur ganz selten. Aber heute hatte sie eine Stunde ungestörter Zeit und das fließende Wasser gebraucht – in der Turnhalle gab es im Gegensatz zu den Waschbecken in den Schultoiletten warmes Wasser. Und man konnte abschließen …

Völlig verändert war sie aus der Dusche gekommen, mit laut klopfendem Herzen und einer Mischung aus Angst und freudiger Erwartung, wie ihre zuvor blonden, kinnlangen Haare aussehen würden, wenn sie trocken waren. Ihr erster Eindruck war überwältigend. Sie sah nicht mehr brav und angepasst aus, sondern viel mehr so, wie sie sich wirklich fühlte. Anders.

Sophie hatte sich aber nicht nur äußerlich verwandeln wollen. Vor allem wollte sie nicht länger tun, was andere sagten, ohne Rücksicht darauf, was sie selbst als falsch oder richtig empfand. All ihre Bemühungen, den Wünschen ihrer Adoptivmutter zu entsprechen und gut genug zu sein, um ihre Anerkennung und Zuneigung zu verdienen, waren Zeitverschwendung gewesen. Sie war eben nicht gut genug, sie war in allem immer nur Mittelmaß.

Und Mittelmaß war für Charlotte Dupont nicht genug.

Sophie war nun dreizehn Jahre alt und befand, das war eine gute Zeit, um nicht länger dem Traum hinterherzurennen, doch noch etwas zu schaffen, was ihre Adoptivmutter stolz oder glücklich machte. Es gelang ihr eben nicht, und am Ende hatte sie nur eins davon: dass sie selbst immer unglücklicher wurde. Damit war nun Schluss. Mittelmaß war gut genug, solange sie nur sie selbst war.

Und damit begann sie heute.

„Sophie!“, begann Florence mit ihrer Tirade. Ihre Augen waren ganz schmal vor Ärger. Sie war eine der strengsten Reitlehrerinnen im Verein und nicht gewöhnt, dass man ihre Anweisungen ignorierte. „Hast du schlecht verstanden, was ich von dir will?“

Sophie schüttelte den Kopf und setzte zu einer Erklärung an, aber Florence ließ sie gar nicht zu Wort kommen.

„Wie nennst du das, was du dir da gerade zusammengeritten hast? Stand das Pferd am Zügel?“

„Nein, Madame, aber …“

„Aha. Schlecht geritten also. Und was habe ich dir gesagt?“

„Dass ich durchstellen soll. Aber …“

„Warum tust du es dann nicht?“

„Weil ich …“

„Weil du es besser weißt als ich?“ Florence sprach nun recht leise. Aber weil gefühlt jeder in der Halle und an der Bande den Atem anhielt, war sie trotzdem für alle bestens zu verstehen. „Kannst du etwa schon so gut reiten, dass du meine Anweisungen nicht mehr nötig hast?“

„Nein, Madame.“

Aber … merde! Eben noch hatte sie so viele Sätze im Kopf gehabt. So viele Erklärungen.

Ich will es besser machen, Madame. Ich glaube, dass Manon auch ohne dieses Gezerre am Zügel gut laufen wird, wenn ich ihr Zeit gebe, locker zu werden. Darf ich es bitte auf andere Weise versuchen – nur diese eine Stunde lang?

Aber nun war ihr Mund zu trocken, und ihre Augen wurden feucht. Wenn sie jetzt losheulte, machte sie sich vor allen lächerlich. Doch genau das würde passieren, wenn sie nur ein Wort sagte.

Heul jetzt bloß nicht. Sophie hörte die Stimme ihrer Adoptivmutter beinah in ihrem Kopf. Bist du dreizehn – oder drei?

„Das kann ja wohl nicht so schwer sein!“, zischte Florence und griff links und rechts in die Gebissringe am Maul der Stute. „Manon ist leicht am Zügel zu reiten, siehst du?“

Sie zog abwechselnd am Gebiss, Manon riss erschrocken den Kopf hoch, und Sophie spürte durch den Sattel, wie sich das ganze Pferd unter ihr verspannte. Florence zerrte nur noch grober, und Manon senkte rasch den Kopf, damit die schmerzhafte Prozedur vorbei war.

„Das war schon alles“, sagte Florence. „War das jetzt irgendwie schlimm?“

Aber natürlich war es das! Es war brutal, es tat Manon weh, und es war vollkommen unnötig. Sophie spürte immer noch die Anspannung im Pferdekörper. Sie fühlte das angespannte, hektische Kauen durch den Zügel und hörte, wie der Schweif nervös ins Leere peitschte.

„Das ist Riegeln“, sagte sie leise. Sie hatte auch sagen wollen, dass diese Methode für schlechtes Reiten stand. Für bequemes Reiten – bequem für den Menschen im Sattel, aber schmerzhaft für das Pferd. Doch ihre zitternde Stimme reichte nur noch für ein paar Worte. „Das will ich nicht.“

Irgendwo an der Bande schnappte jemand überrascht nach Luft. Eine andere Stimme lachte unterdrückt.

„Nun gut.“ Florence klang plötzlich überraschend freundlich. Sie ließ von Manon ab, trat einen Schritt zurück und lächelte.

Kurz bekam Sophie das Gefühl, dass Florence verstand, worum es ihr ging. Dass sie es respektierte.

Doch dann fuhr Florence fort: „Wenn du nicht willst, dann steig ab und bring das Pferd in den Stall. In meinem Unterricht gelten meine Regeln, und wer meine Anweisungen missachtet, kann gerne woanders reiten. Auf dem Jahrmarkt vielleicht – da reicht es, wenn du im Sattel sitzt, dich tragen lässt und ansonsten nichts tust. Hier aber wird ernsthaft trainiert. Wer das nicht will, ist bei mir falsch.“ Sie wandte sich ab und den anderen Reitschülerinnen zu. „Abteilung im Arbeitstempo Trab. Auf dem Zirkel geritten. Sophie kann sich gern anschließen, wenn sie sich entschieden hat, wer hier das Kommando erteilt.“

Sophie schluckte. Florence schenkte ihr keinerlei Beachtung mehr, sondern korrigierte bei den anderen Mädchen Sitz oder Hilfengebung.

„Zügel kürzer bei Blossom! Noch kürzer, die läuft ja wie ein Esel! … Linda, mehr treiben, der schläft gleich im Laufen ein! Fleißiger. Nimm die Gerte, oder wozu hast du die in der Hand?! … Caroline, Hacken runter und die Schenkel weiter zurück – du sitzt auf einem Pferd und lümmelst nicht auf dem Liegestuhl am Pool! … Linda! Mach dem Faulpelz sofort Beine, sonst mach ich es!“

„Mir gefällt das nicht“, flüsterte Sophie Manon zu. „Das muss doch auch anders gehen.“

Sie hatte sich entschieden. Während Florence in die Hallenecke ging, um eine Peitsche zu holen, mit der sie Lindas Pferd von unten antreiben würde, schwang sie sich vom Pferd.

Manon fühlte sich heute größer an als sonst. Oder war Sophie geschrumpft? Der Weg aus dem Sattel bis zum Boden schien länger als gewöhnlich, und Sophie verlor beim Aufprall fast das Gleichgewicht. Sie musste sich am Sattel festhalten und einen Schritt zurückmachen, um nicht auf dem Po zu landen. Irgendwer an der Bande lachte.

Sophie mied es, jemanden anzusehen. Wortlos zog sie die Steigbügel hoch, lockerte den Sattelgurt und führte Manon zum Hallenausgang.

„Tür frei, bitte.“

Niemand antwortete. Sie hatte zu leise gesprochen. In ihrem Hals saß ein dicker, fetter Kloß. Ganz hart war er und verursachte einen bitteren Geschmack auf ihrer Zunge. Sie musste trotzdem noch einmal darum bitten, die Halle verlassen zu dürfen. Lauter dieses Mal.

„Tür frei, bitte!“

„Ist frei“, erwiderte Florence endlich. Nur zwei Worte, aber Sophie hörte darin deutlich mitschwingen, was ihre Reitlehrerin über sie dachte. Und das war absolut nichts Gutes.

VENTUSIA

„Lauf, Tirna, lauf! Nur noch ein kleines Stückchen, und wir haben gewonnen!“

Fiona beugte sich nach vorn und machte sich klein, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten.

Für ihre temperamentvolle Fuchsstute Tirna war das das Zeichen, aus dem Jagdgalopp noch einmal zu beschleunigen und alles zu geben, was in ihren schlanken, aber muskulösen Beinen steckte. Sie rannte kaum noch – sie flog fast schon den schneebedeckten Hügel empor, hinter dem sich der Eispalast mit seinen vielen Türmen wie eine riesengroße Krone erhob.

Tirnas Hufe wirbelten Eis und Schnee auf und bewegten sich dabei so schnell, dass es schien, als würde die Stute den Erdboden gar nicht mehr richtig berühren.

„Da!“, rief Fiona, und das kleine Wort flog ihr mit einem Lachen von den Lippen, als sie an dem großen Vogelhaus vor dem Schloss vorbeischossen, das das Ende ihres kleinen Wettreitens markierte. „Das Ziel! Wir haben gewonnen! Wir haben …!“

Zwei bunt schillernde Eisvögel nahmen erschrocken Reißaus. Auch die Gruppe der kleinen, zarten Diamant-Täubchen stob auf, flatterte in einem Gewusel aus blau-silbrigen Flügeln durcheinander, ehe sie sich wieder nah dem Wasserbecken auf das Dach des Vogelhauses setzten und das Mädchen sowie sein Pferd misstrauisch ansahen.

„Tut mir ja leid“, sagte Fiona und bremste Tirna sanft durch eine Gewichtsverlagerung ab. „Aber wir müssen doch für das Rennen trainieren!“

Sie drehte sich zu ihren Freunden um. Doch da war noch niemand, den sie stolz und breit angrinsen konnte, weil sie ihn auf den zweiten Platz verbannt hatte. Von den anderen war noch überhaupt nichts zu sehen!

„Sind die falsch abgebogen?“, murmelte Fiona und beschattete ihre Augen mit einer Hand, während sie den Hügel hinabsah.

Dort! In einer Wolke aus aufgewirbeltem Schnee näherten sich die anderen Pferde.

Die ersten beiden – die Anwärter auf Platz zwei – konnte sie leicht auseinanderhalten. Mira saß auf der pechschwarzen Stute Hayet, die sie erst seit wenigen Tagen ritt und dennoch schon mit einer solchen Selbstverständlichkeit, als gehörten sie seit Jahren zusammen. Dicht neben ihr galoppierte auf gleicher Höhe Damian auf seinem Schimmel Sanador. Die Entscheidung zwischen den beiden war spannend. Sanador war größer als Hayet und auf kurzer Strecke ganz sicher schneller. Aber die zähe, zierliche Rappstute besaß eine unfassbare Ausdauer und konnte Sanador auf der längeren Distanz vielleicht schlagen.

Hinter den beiden folgte Nikolan auf Gryzmor. Der dreifarbige Schecke hatte einen kräftigeren, schwerfälligeren Körperbau und war nicht eben das geborene Rennpferd. Dafür war er unter allen Pferden, die Fiona kannte, mit Abstand das humorvollste. Er war ein richtiger Clown, der es liebte, Menschen zum Lachen zu bringen. Er passte einfach perfekt zu Nikolan.

Beim Gedanken an den jungen Prinzen kribbelte Fionas Bauch ein wenig, und sie erwischte sich dabei, wie sie Gryzmor in Gedanken anfeuerte, damit er und Niko vielleicht doch noch einen Platz gutmachten.

Fionas beste Freundin Riana bildete das Schlusslicht. Ihre mausgraue Ponystute Kylja machte sich nichts aus Wettrennen. Warum sich für einen Sieg anstrengen, wenn man stattdessen doch auch einen Apfel vom Baum pflücken konnte, der besser schmeckte als jeder Triumph?

Auch Kylja war ihrer Reiterin unglaublich ähnlich. Aber dort, wo Riana schüchtern und zurückhaltend war, war ihre Stute mutig und forsch. Und wenn immer Kylja unvorsichtig wurde, zeigte Ria genug Weitsicht und Obacht für sie beide.

„Es ist eigentlich ein Wunder“, meinte Fiona zu Tirna, „wie gut ihr Pferde zu uns Menschen passt. Wir sind uns ähnlich. Aber wir gleichen auch unsere Stärken und Schwächen aus.“

Doch wenn man es genau betrachtete, war dies vielleicht kein Wunder. Es war in jedem Fall kein Zufall, sondern dem Seelenbund geschuldet, der ein Pferd aus Ventusia mit genau einem Menschen verband. Und das für immer – für ein ganzes, langes Leben.

Fiona fuhr mit den Fingern wie mit einem Kamm durch Tirnas Mähne. Die Vorstellung, dass Tirna im Normalfall genau so alt wie sie werden konnte, faszinierte und beruhigte sie, wann immer sie darüber nachdachte. Der Seelenbund war so fest, so eng und so überlebenswichtig, dass sie sich jetzt schon, nach den wenigen Wochen, in denen sie mit Tirna verbunden war, nicht mehr vorstellen konnte, irgendwann einmal ohne sie leben zu müssen.

Tirna war wie ein Teil von ihr. Wie ein riesengroßes Stück ihres Herzens, das sie brauchte, das aber absurderweise außerhalb ihres Körpers herumlief.

Und manchmal hatte dieser Teil andere Pläne als sie. Jetzt zum Beispiel drängte Tirna in die Richtung der anderen Pferde und wollte ihnen entgegenrennen.

Mit einem amüsierten „Hoo“ hielt Fiona sie zurück. „Lass uns hier warten und schauen, wer den zweiten Platz macht.“

Denn Mira auf Hayet und Damian auf Sanador waren schon fast da. Damian feuerte seinen Schimmel mit Rufen an, und Mira lehnte sich so dicht über den Hals ihrer Rappstute, dass sich ihre schwarzen, welligen Haare mit der Mähne ihres Pferdes vermischten und man nicht mehr erkennen konnte, wo Hayet aufhörte und Mira begann.

Es war unmöglich, zu entscheiden, wer von ihnen schneller am Vogelhäuschen vorbei war. Sie jubelten jedenfalls beide und grinsten einander breit an.

Fiona musste immer ein wenig mitlächeln, wenn sie die beiden zusammen sah. Sie schienen stets von einem besonderen Zauber umgeben zu sein, wenn sie zu zweit waren. Was Damian betraf, wunderte Fiona sich nicht darüber. Er hatte sich Hals über Kopf in Mira verliebt, kaum dass er sie in der Menschenwelt entdeckt hatte. Ob das auch auf Gegenseitigkeit beruhte, konnte Fiona nicht recht einschätzen. Jetzt gerade, da Mira Damian strahlend anlächelte, hatte sie kaum Zweifel daran. Es sprühten regelrechte Herzchen aus Miras braunen Augen! In anderen Momenten blieb sie dagegen auf Abstand. Aber Mira war auch noch nicht so lange in Ventusia. Sie musste sich eingewöhnen, und obwohl sie vom ersten Treffen an eine sehr vertraute, innige Beziehung zu ihren leiblichen Eltern gehabt hatte, fiel es ihr noch schwer, sich wirklich auf das Leben in Ventusia einzulassen. Vielleicht hatte sie Angst, noch einmal alles zu verlieren, wie in ihrem Leben in der Menschenwelt. Mira hatte einiges durchmachen müssen. Und nun kam auch noch das Rennen …

Der nächste Reiter, der das Ziel erreichte, lenkte Fiona von den sorgenvollen Gedanken ab.

„He, es war ausdrücklich nicht erlaubt, Magie zu nutzen, um zu gewinnen!“, rief Nikolan Fiona zu.

Sie lachte. „Es war aber auch nicht ausdrücklich verboten!“

Tatsächlich hatte sie gar nicht gespürt, dass sie ihre ventusische Magie genutzt hatte, die sie und Tirna schnell wie den Wind machte und sie weite Entfernungen in kürzester Zeit überwinden ließ. Diese Magie war so schnell Teil ihrer selbst geworden, dass sie sie nutzte wie ihre Fähigkeit, zu lesen oder zu schreiben, ohne je darüber nachzudenken.

„Dann wissen wir wenigstens, wer Victorias Rennen gewinnen wird“, sagte Mira und tätschelte Hayet den Hals.

Damian schüttelte den Kopf und rutschte von Sanadors Rücken. „Es wird bei dem Rennen nicht um Geschwindigkeit gehen – nicht nur jedenfalls. So leicht wird es Victoria euch nicht machen.“

Prustend näherte sich Kylja, die kleine graue Stute von Riana. Ihre Brust war nass vom Schweiß, sodass sich das Fell kräuselte. Ria keuchte fast ebenso sehr wie ihr Pferd. Beide waren einem flotten Galopp gegenüber nie abgeneigt. Aber ein Wettreiten über eine weite Distanz erforderte deutlich mehr Kondition und brachte Pferd und Reiterin an ihre Grenzen. Es war schwer zu sagen, wer von beiden erleichterter war, das Ziel endlich erreicht zu haben.

Nun waren sie fast vollständig. Nur Aro und Tyran fehlten. Sie waren aktuell auf Mission und versuchten, zu einem weiteren Mädchen auf der Erde Kontakt herzustellen. Schon bald würde das Rennen stattfinden, und sie hatten erst zwei der verlorenen Töchter Ventusias gefunden.

„Erzähl ihnen doch mal, was Victoria sich alles für die Teilnehmerinnen einfallen lässt“, sagte Damian zu Ria.

Ria stieß die Luft aus und wedelte sich Wind mit der Hand zu.

„Lass sie erst mal zu Atem kommen“, meinte Fiona. Aber neugierig war sie schon und sah ihre beste Freundin erwartungsvoll an.

„Uff.“ Ria ließ sich nach vorn sinken und legte ihren Oberkörper auf dem Mähnenkamm ihres Ponys ab. „Wo soll ich da anfangen?“

Mit ihrer besonderen Magie – ihre Familie nannte es das „Silbersehen“ – konnte Riana die Erlebnisse geliebter Menschen in einem magischen Buch lesen. Und zwar so, als sei sie selbst dabei. Sie roch die Gerüche, spürte Regen und Wind auf der Haut und durchlebte oft auch die Gefühle derer, in deren Leben sie für einen Moment eintauchte. Fiona fand, dass das Silbersehen so etwas wie die höchste Form des Lesens war. Manchmal war sie ein wenig neidisch auf ihre jüngere Freundin.

„Victoria will nicht bloß, dass das schnellste Pferd gewinnt“, begann Ria und warf dann einen kurzen, bedrückten Blick auf Fionas goldbraune Tirna. „Auch wenn sie immer ein besonders schnelles Pferd aussucht und zeichnet. Dieses Pferd hat ihre Gunst, und sie verschafft ihm einen Vorteil. Aber das bedeutet nicht, dass auch die Reiterin begünstigt wird.“

„Fiona ist bereits begünstigt“, sagte Mira. Da war kein Neid oder Missgunst in ihrer sanften Stimme zu hören. Sie sprach nur aus, was alle wussten. Es war richtig. Fiona hatte durch die Magie der Grasweiten, die sie schneller reiten ließ, als auf natürlichem Weg möglich war, einen großen Vorteil.

„Der wird ihr nichts nützen“, widersprach Riana jedoch. „Wann immer ich etwas über das Rennen sah – sei es in den Erinnerungen meiner Mutter oder meiner Großmutter –, standen die Reiterinnen vor anderen Herausforderungen. Sie mussten Rätsel lösen oder Geheimnisse lüften.“

Nikolan verschränkte die Arme und verzog frustriert das Gesicht. Es bedauerte wohl niemand mehr als er selbst, dass Jungs das Rennen nicht mitreiten durften. Niko hätte sich für ein gutes Abenteuer vermutlich ein Bein ausgerissen. Und das zweite dafür, sein Fürstentum zu beschützen. „Wenn es danach geht, solltest du mitreiten, Ria. Ich kenne niemanden, der so gut Rätsel knacken kann wie du.“

Rias Wangen röteten sich, und sie sah verlegen zur Seite. Aber es stimmte. Ria war eine Rätselkönigin – neugierig wie eine Katze und immer erst dann zufrieden, wenn sie auf all ihre Fragen eine Antwort gefunden hatte.

„Das größte Rätsel“, überlegte Mira laut, während sie in die Ferne blickte, „ist doch Victoria selbst. Warum macht sie das alles? Warum zwingt sie sieben Mädchen aus sieben Fürstentümern, dieses gefährliche Rennen zu bestreiten?“ Sie sah kurz von einem zur anderen. „Weiß das denn niemand von euch? Sie ist die Tochter der Götter – selbst eine Göttin. Sie wacht über Ventusia. Wie passt das damit zusammen, dass sie uns zu etwas so Gefährlichem zwingt?“

Ria seufzte. „Niemand kann erklären, was die Götter denken.“

Doch diese Worte schienen Nikolan unruhig zu machen. Er ritt näher zu Damian und murmelte: „Wir müssen es ihnen sagen. Sag du es, sonst mach ich es.“

Damian warf ihm einen bösen Blick zu.

Fiona fand die Freundschaft der beiden immer wieder aufs Neue verwirrend. Sie würden füreinander durchs Feuer gehen. Aber sie zündelten auch immer wieder und provozierten einander mit Streitigkeiten.

Heute schien der Prinz aus den Eisbergen aber einfach nachzugeben, denn er senkte den Kopf. „Vielleicht hast du recht, und sie sollten es alle wissen.“

„Was denn?“, fragte Fiona gespannt.

Damian seufzte, als wollte er eigentlich nicht darüber reden. „Es gibt eine alte Schriftrolle, sie wird im Eispalast aufbewahrt, gut versteckt und bewacht. Sie erzählt die Geschichte des ersten Rennens.“

Normalerweise hatte Damian sich und seine Mimik bestens im Griff. Aber heute war er unruhig, und ihm unterlief ein Fehler. Er warf Riana einen winzig kleinen, aber bekümmerten Blick zu.

„Was steht darin?“, fragte Ria fast tonlos und so leise, dass ihre Stimme fast im Zwitschern der Vögel unterging. „Hat es etwas …? Natürlich hat es das! Was hat es mit mir zu tun?“

„Nichts“, sagte Damian entschieden. „Aber … Es ist kompliziert.“

„Und warum befindet sich diese Schriftrolle ausgerechnet im Eispalast?“, fragte Nikolan skeptisch.

„Und was steht darin?“, wollte Ria wissen.

Fiona und Mira blickten fragend zu Damian, aber der wollte einfach nicht damit rausrücken.

„Es ist etwas Schlimmes“, murmelte Mira. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Sie war die Ruhigste von allen, ein zurückhaltendes, fast schon stilles Mädchen. So wie Ria in ihrem magischen Buch las, schien Mira manchmal in Menschen lesen zu können. „Etwas Schweres. Schwer von Schuld.“

„So ist das nicht“, widersprach Damian. „Es hat nichts mit uns zu tun. Nur mit unseren …“

Er verstummte mitten im Satz, und irgendjemand schrie erschrocken auf, als wie aus dem Nichts ein greller, goldener Blitz den blauen Himmel über dem Eispalast teilte.

FRANKREICH

Am liebsten wäre Sophie mit Manon zusammen in deren Box gegangen und hätte sich dort ins Stroh gesetzt. Wenn man sich mit dem Rücken gegen die Tür lehnte, wurde man von der Stallgasse aus nicht gesehen. Dort hätte sie eine Weile sitzen und nachdenken können. Zur Ruhe kommen. Es gab nichts, was Sophie so viel Ruhe schenkte wie das gleichmäßige Geräusch, wenn Pferde ihr Heu kauten. Schöner war es nur, wenn sie draußen grasen durften. Doch die Schulpferde kamen nur zweimal pro Woche für kurze Zeit auf die Weide. Der Reitverein hatte nur zwei kleine Wiesen, auf denen die Tiere abwechseln mussten.

Doch aus Sophies Wunsch, sich mit Manon zurückzuziehen, wurde nichts. In der Gasse, die von der Halle zu den Boxen führte, kam ihr ein älteres Mädchen entgegen und umfasste besitzergreifend den Zügel.

„Du kannst sie mir direkt geben. Ich reite sie in der nächsten Stunde.“ Der herablassende Gesichtsausdruck des Mädchens sagte noch mehr: Und ich werde sie richtig reiten.

Sophie blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. Sie streichelte Manon noch einmal über den braunen Hals und fing ihren verwunderten Blick aus großen, dunklen Augen auf. Die Stute verstand nicht, warum die Reitstunde schon zu Ende war. Aber Sophie hatte kaum Zeit, es ihr zu erklären.

Das andere Mädchen zog Manon bereits herum und brachte sie wieder zur Reithalle zurück.

Niemand beachtete Sophie länger.

Unschlüssig sah sie auf die Uhr über der Tafel, auf der die Reitstunden angeschlagen standen und die Namen der Mädchen und Jungen in der Spalte der jeweiligen Pferde eingetragen waren. Manon hatte heute noch drei Reitstunden vor sich. Insgesamt also vier Namen. Vier Stunden ohne eine Pause. Ohne Heu, ohne Wasser, ohne dass sie das Gebiss oder den Sattel zwischendurch einmal loswurde. Eine Reitschülerin nach der anderen würde sie übernehmen und nach dem Absitzen der nächsten übergeben.

Im Grunde war das traurig. Und am Schlimmsten fand Sophie, dass sie Teil des Problems war.

„Ich finde es gut, dass du die Stunde abgebrochen hast, Sophie.“

Erschrocken fuhr sie herum. Auf der Haferkiste saß Laurent, einer der wenigen Jungen im Verein. Er war vierzehn oder fünfzehn, trug ständig weiße Poloshirts, die selbst im Stall nie dreckig zu werden schienen, und galt als ziemlich erfolgreich beim Springreiten. Bis gerade hätte Sophie bestritten, dass er ihren Namen kannte. Er ritt meist in der Stunde nach ihr, und bis heute hatten sie niemals auch nur ein Wort miteinander gewechselt.

Moment mal. Sie sollte jetzt irgendetwas sagen. Oder? Aber … was?

„Du hast total recht. Man lernt hier nichts. Zumindest nichts Gutes. Die Pferdehaltung in diesem Verein ist …“ Er verzog das Gesicht, als müsse er sich einen deftigen Kraftausdruck verkneifen.

Sophie sagte noch immer nichts. Ein paar der anderen Mädchen würden sie lynchen, wenn sie erfuhren, dass Laurent mit ihr sprach. Viele buhlten um seine Aufmerksamkeit, und Sophie hatte sich schon das eine oder andere Mal gefragt, ob sie eigentlich noch wegen der Pferde herkamen oder mehr seinetwegen.

„In Montberon gibt es einen besseren Verein“, sagte Laurent. Störte es ihn gar nicht, wie einseitig dieses Gespräch verlief? War er daran gewöhnt, oder hörte er sich einfach gern reden? „Man lernt dort reiten nach klassischen Grundsätzen. Fair und tierfreundlich. Und die Pferde werden nicht in Gitterboxen gesperrt wie hier, sondern leben in Laufställen und auf der Weide.“

Aus einem der anderen Stalltrakte tönte heftiges Bollern, wie um seine Worte zu untermalen. Irgendein Pferd trat dort mit aller Kraft und noch mehr Frust gegen die Boxenwand. Es klang, als versuchte es, den ganzen Stall abzureißen.

„Wenn dort alles so toll ist“, erwiderte Sophie und stellte beunruhigt fest, dass ihre Stimme viel patziger klang, als sie es beabsichtigt hatte, „warum reitest du dann hier und nicht da?“

„Es gibt eine Warteliste. Aber ab nächstem Monat fange ich dort an und bin hier weg. Würde ich dir auch empfehlen.“

„Dorthin zu wechseln? Nach Montberon?“

Er nickte. „Ja. Wäre schön. Ich meine … es gefällt dir dort bestimmt besser.“

Da war Sophie sogar sicher. Sie hatte diesen Stall längst im Internet entdeckt und war begeistert gewesen. „Reiten, wie es Pferde mögen“, war der Grundsatz der Reitschule. Man konnte dort sein eigenes Pflegepferd bekommen, das man nicht nur ritt, sondern auch versorgte, putzte, fütterte. Man konnte Bodenarbeit lernen und wie man einem Pferd Tricks beibrachte. Es gab regelmäßige Ausritte in die Natur, statt Stunde um Stunde und bei jedem Wetter in der Halle zu reiten.

„Ja, mal sehen. Danke für den Tipp, Laurent. Ich muss jetzt leider los.“

Die Wahrheit war, dass sie nirgendwo hinmusste. Sie wurde erst in einer Dreiviertelstunde abgeholt – zum Ende der Reitstunde.

Laurent hob die Hand. „Mach’s gut. Ach, was ich noch sagen wollte: coole Haare!“

Zu dem kurzen Lächeln zum Abschied musste Sophie sich zwingen. Die zweite Wahrheit lautete, dass sie die Idee, ihr Haar zu schneiden und zu färben, jetzt längst nicht mehr so toll fand wie noch am Morgen. Denn nun blieb ihr nicht einmal mehr eine Stunde Zeit, bis ihre Adoptivmutter das Ergebnis sehen würde. Und offenbar versteckte die Reitkappe weit weniger, als Sophie gedacht hatte. Laurent war die Veränderung aufgefallen.

„Tschüss, vielleicht sehen wir uns mal in Montberon“, murmelte sie, während sie aus der Stallgasse in den Hof trat. Aber das war so unwahrscheinlich, dass es einer Lüge gleichkam.

Denn die dritte Wahrheit lautete, dass sie schon vor Monaten darum gebeten hatte, dort reiten zu dürfen. Wobei „darum gebeten“ nicht zutraf. Sie hatte gebettelt. Sie hatte auch angeboten, allein mit dem Bus zum Stall und wieder nach Hause zu fahren, denn das erste Argument ihrer Adoptivmutter war natürlich deren kostbare Zeit gewesen. „Da fahre ich ja sicher eine Stunde lang hin, Sophie.“

„Nur eine halbe, Maman.“

„Und dann gibt es Stau. Nein, ich habe wahrlich Besseres zu tun.“

Als Sophie angeboten hatte, mit dem Fahrrad zu fahren, war es plötzlich zu gefährlich, und als sie eine Busverbindung herausgesucht hatte, war ihrer Adoptivmutter der Kragen geplatzt. „Es gibt einen Reitverein in Toulouse. Du kannst dankbar sein, dass du trotz deiner schlechten Noten dorthin darfst. Denkst du, ein Wechsel in einen anderen Verein macht dich erfolgreicher?“

Doch Sophie ging es nicht um Erfolg auf den Turnieren. Sie würde einen Ausritt in den Wald jedem Turniersieg vorziehen. Manchmal träumte sie, wie eine Herde freier Pferde an einem Wald vorbei auf ein Gebirge zugaloppierte. Dieser Traum weckte in Sophie eine unbeschreibliche Sehnsucht danach, draußen durch die Natur zu reiten. Durch Sonnenschein, Wind und auch durch Regengüsse. Aber den Versuch, ihrer Adoptivmutter diesen Wunsch zu erklären, hatte sie nur ein einziges Mal gemacht.

„Wo ist nur dein Ehrgeiz, Kind? Dein Fleiß? Wie kann es nur sein, dass du nichts davon abbekommen hast, bei all der Mühe, die ich mir gegeben habe, dir anständige Werte zu vermitteln?“

Es war beim Nein geblieben. Und wenn man eines von vorneherein vergessen konnte, dann war es, Sophies Adoptivmutter umzustimmen, wenn diese einmal Nein gesagt hatte. Charlotte Dupont war auf wenige ihrer Eigenschaften so stolz wie auf ihre Konsequenz.

Nein, die Reitschule in Montberon würde ein Traum bleiben. In der Realität musste Sophie sich wohl oder übel entscheiden, wie sie hier weitermachen sollte. Und ob sie überhaupt weiterhin herkommen wollte.

Erneut hörte sie ein Pferd gegen die Boxentür treten. Es war nun lauter, weil sie dem Stall, in dem es stand, näher gekommen war. Langsam ging sie weiter in die Richtung. In der betreffenden Stallgasse befanden sich nur vier Boxen, und in allen standen – soweit sie wusste – Privatpferde. Es war eigentlich nur den Besitzerinnen und Besitzern sowie dem Stallpersonal erlaubt, das Gebäude zu betreten.

Aber niemand war in der Nähe. Und das Knallen und Donnern wurde immer lauter, immer heftiger. Es klang wie ein Gewitter, das sich rasch näherte.

Ob alles in Ordnung war?

Was, wenn das Pferd verletzt war oder eine Kolik hatte?

Sie eilte in den Stall, Verbot hin oder her. Vielleicht brauchte das Pferd ihre Hilfe.

Die drei ersten Boxen waren leer. Das war nicht verwunderlich, die Privatpferde wurden häufiger auf die Weide gestellt als die Schulpferde des Vereins. In der vierten Box jedoch stand ein Rappe, der mit der Dunkelheit am Ende des Korridors fast verschmolz. Eine Blesse schimmerte weiß zwischen den Gittern hervor, auch wenn der lange, dichte Stirnschopf sie fast bis zur Nase hinab verdeckte. Sie wurde immer dann sichtbar, wenn der Rappe den Kopf schüttelte. Und das tat er alle paar Sekunden. Er stieg auch, wobei er fast mit dem Kopf gegen die niedrige Decke knallte. Und immer wieder und wieder trat er gegen die Tür und die Wände.

Die ganze Pferdebox wirkte wie ein kleiner Karton, so groß war dieses Pferd. Ein Karton, den der riesige Rappe jeden Moment durch seine gewaltige Größe zum Bersten bringen würde. Sophie hatte noch nie in ihrem Leben ein so großes Pferd gesehen.

„Ganz ruhig, ganz ruhig“, flüsterte sie. „Was hast du denn? Warum bist du denn ganz allein hier?“

Genau das schien der Rappe auch nicht zu verstehen. Und es passte ihm überhaupt nicht. Er donnerte beide Hinterhufe gegen das Gemäuer, sodass Putz und kleine Steinchen von der Wand rieselten.

Sophie trat sehr vorsichtig näher. „Ich wäre auch sauer, wenn alle außer mir rausdürften.“

Unweigerlich musste sie an die vielen Nachmittage denken, an denen im Innenhof des Altbaus, in dem sie wohnten, die Kinder aus den anderen Wohnungen gespielt hatten. Sophie hatte oft am Fenster gesessen und zugesehen. Die Hausaufgaben hatten dadurch leider nur noch länger gedauert. Und die Geigenstücke hatte sie durch Aus-dem-Fenster-Starren auch nicht gelernt. Was bedeutete, dass sie am nächsten Tag wieder nicht hatte rausgehen dürfen.

„Warum lassen sie dich denn nicht mit nach draußen, hm?“

Sophie stand nun so nah an der vergitterten Box, dass sie die Hand nach dem Pferd hätte ausstrecken können. Aber der Rappe war so außer sich, dass er sich bestimmt nicht streicheln lassen wollte.

„Weil er abhaut.“

Erschrocken wirbelte Sophie herum.

Laurent! Schon wieder!

„Musst du dich so anschleichen? Ich hab mich erschreckt.“

„Tut mir leid.“ Er sah nicht aus, als würde er es ernst meinen. „Aber ich bin ganz normal hier reingekommen.“

Vermutlich stimmte das. Das Pferd hatte sie abgelenkt. Außerdem machte es einen solchen Lärm, dass alle anderen Geräusche untergingen.