Die Seelenpferde von Ventusia, Band 4: Himmelskind (Abenteuerliche Pferdefantasy ab 10 Jahren von der Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin) - Jennifer Benkau - E-Book

Die Seelenpferde von Ventusia, Band 4: Himmelskind (Abenteuerliche Pferdefantasy ab 10 Jahren von der Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin) E-Book

Jennifer Benkau

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Beschreibung

Hinter den Winden, in einer anderen Welt, liegt Ventusia. Hier hat jeder eine magische Verbindung zu seinem Seelenpferd. Vor vielen Jahren wurden alle Mädchen von Ventusia in unserer Welt versteckt, um sie zu beschützen. Und seither suchen ihre Seelenpferde nach ihnen … Die Gruppe um Fiona, Mira und Sophie steht vor ihrer größten Herausforderung: Zusammen mit ihren Seelenpferden müssen sie in einem gefährlichen Rennen gegeneinander antreten. Nur so können sie die Göttertochter Viktoria besänftigen und Ventusia endlich Frieden bringen. Doch das Pferderennen stellt ihre Freundschaft auf eine harte Probe, denn hier ist jeder und jede auf sich allein gestellt ... Die abenteuerliche Pferde-Fantasy-Reihe von Dein-SPIEGEL-Bestsellerautorin Jennifer Benkau "Ein fantastisches Lesevergnügen!" Gina Mayer, Autorin der "Pferdeflüsterer Academy"-Reihe Entdecke die komplette Reihe: Band 1: Windprinzessin Band 2: Wüstentochter Band 3: Sturmmädchen Band 4: Himmelskind

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Seitenzahl: 285

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2024

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag.

© 2024 Ravensburger Verlag

Copyright © 2024 by Jennifer Benkau

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Lektorat: Sarah Heidelberger (www.sarah-heidelberger.de)

Vorsatzkarte: Wahed Khakdan

Umschlagillustration und -gestaltung: Melanie Korte

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51244-7

 

ravensburger.com

FIONA

Gleich.

Gleich war es so weit.

Nun waren es nur noch Sekunden …

Die Menschenmassen verstummten. Alles verstummte.

Männer, Frauen und Kinder öffneten nach wie vor ihre Münder. Reckten die Hände und Fäuste in die Luft. Winkten ihnen zu. Sprangen aufgeregt an den Absperrbändern auf und ab.

Die Musikanten schwenken ihre Trompeten, schlugen ihre Trommeln und zupften an ihren Saiten.

Doch von einem auf den anderen Moment war es still um Fiona geworden. Alles, was sie noch hören konnte, waren die Hufe ihrer Stute Tirna auf dem harten, staubigen Erdboden sowie ihre schlagenden Herzen. Das große, starke ihres Pferdes. Und ihr eigenes.

Aufgeregt trat Tirna vor und zurück, gespannt wie eine Bogensehne. Fiona schloss die Beine um den Pferdekörper. Sie spürte jeden Muskel in Tirnas Rücken.

Sie ritt selten mit Zügeln, doch heute ging es nicht anders. Ohne ein Reithalfter und Zügel hätte es kein Halten gegeben – Tirna ging ihr auch so beinah durch vor Aufregung. Fiona umfasste die dünnen, geflochtenen Schnüre so krampfhaft fest mit den Händen, dass es schmerzte. Das Leder schnitt ihr in die Finger, ihre Handflächen klebten, und sie wusste nicht, ob es nur Schweiß war oder auch ein wenig Blut.

„Gleich, meine Süße“, flüsterte sie, auch wenn sie ihre eigene Stimme nicht hören konnte, so laut rauschte das Blut in ihren Ohren. „Gleich geht es los.“

Fiona sah nur noch den Pferdehals vor sich, die rote Mähne, die spitz aufgerichteten Ohren.

Alles andere – die Leute, die bunten Fahnen, die anderen Reiterinnen und Reiter – verschwamm zu einem Meer aus Farbklecksen.

Gleich, Tirna. Gleich darfst du rennen!

Rennen. Der Wunsch, nein, das Bedürfnis, der zwingende Drang zu rennen, nahm mit jedem Augenblick weiter zu. Sie würden das Warten nicht mehr lange aushalten. Sie beide nicht.

Wo blieb denn nur der Klang der Fanfaren, die zum Start bliesen?

Warum dauerte das so lange?

Sie sah sich um. Fast rechnete sie damit, das Signal verpasst zu haben und mit Tirna allein am Start zu stehen. Das würde erklären, warum ihre Stute immer wilder wurde, immer heftiger an den Zügeln riss.

Es fiel Fiona schwer, den Blick zu fokussieren. Etwas zwang ihre Augen regelrecht, in die Ferne zu blicken, dorthin, wohin sie reiten würden. Aber mit Mühe gelang es ihr doch, ihre Freunde anzusehen.

Sie waren alle da.

Niko auf Bonna, Damian auf Sanador, Mira auf Hayet, Sophie auf Gryzmor. Ein paar Schritte entfernt standen Aro und Tyran sowie Marosh auf seiner Zou, deren lange Muli-Ohren ungeduldig auf und ab wippten. Aus irgendeinem Grund diskutierte Marosh mit dem Rennleiter.

Nein. Das war nicht richtig. Er stand zwar vor dem Rennleiter, einem beleibten älteren Mann, der versuchte, sein unscheinbares und gedrungenes Erscheinungsbild damit auszugleichen, dass er sich mit allem Gold- und Silberschmuck behangen hatte, der an seinem Körper Platz fand. Aber Marosh sprach nicht mit dem Mann, dessen Gesicht vor Aufregung dunkelrot angelaufen war. Er sprach über ihn hinweg zu der Menge, die den Jubel und die anfeuernden Rufe eingestellt hatte.

Fiona schüttelte den Kopf, um sich besser auf Maroshs Worte konzentrieren zu können. Doch alles, was dadurch deutlicher wurde, war das Rauschen in ihren Ohren. Eine Art Nebel zog sich vor ihrem Gesicht zusammen und verschleierte ihr die Sicht. Ihr war, als würde sie gleich ohnmächtig werden.

Die Einzige, die sie davon abhielt, war Tirna.

Tirna, die nervös mit dem Kopf schlug. Tirna, die ihr die Zügel durch die Hände zog. Tirna, die sich aufbäumte und stieg. Fiona musste sich vorbeugen und in die Mähne greifen, um nicht abgeworfen zu werden.

Tirna musste laufen. Tirna musste endlich laufen!

Und Fiona musste dasselbe tun. In ihrem Verstand, ihrer Seele und ihrem Herzen war für nichts anderes mehr Platz.

„Gleich, Tirna!“, hauchte sie. Aber sie wusste, dass ihre Stute sie nicht mehr hören konnte. Sie konnte ja ihre eigenen Worte nicht mehr hören, so laut brauste und sauste es in ihrem Kopf.

Und plötzlich ging es los.

Tirna preschte mit einer solchen Kraft voran, dass Fiona sich festklammern musste, wenn sie nicht wie ein Blatt im Sturm vom Rücken ihrer Stute gewischt werden wollte.

Was war passiert? War sie zu früh gestartet? Hatte sie alles vermasselt? Ihr Herz rief Nein – laut und deutlich. Es pumpte mit jedem Schlag unbändige Freude in ihren Körper.

Endlich war es so weit.

Endlich rennen. Zusammen mit Tirna, ihrem Seelenpferd.

Endlich!

Und doch glaubte sie es erst, als sie sich umsah und die anderen hinter sich erkannte.

Das Rennen hatte tatsächlich begonnen.

Die Strecke führte in einer lang gezogenen Rechtskurve einmal um den Startplatz herum, und die Reiterinnen und Reiter waren gebeten worden, den Zuschauenden zuzuwinken. Es sollte ihnen Mut geben zu sehen, dass sie wie Heldinnen und Helden bejubelt wurden. So, als hätten sie das Rennen schon gewonnen.

Und genauso fühlte Fiona sich. Sie winkte nicht. Sie streckte eine Faust in die Höhe, und Tirna galoppierte noch schneller.

Der Wind schlug ihr entgegen und peitschte ihr Tirnas Mähne ins Gesicht. Längst liefen ihr Tränen über die Wangen, so schnell war der Galopp.

Und trotzdem waren Fionas Sinne mit einem Mal vollkommen scharf. Der Geruch von Pferden, Heu und aufgewirbeltem Staub vermischte sich mit dem Duft der Zuckerbäckerstände. Für eine Sekunde schien Fiona jedem einzelnen der vielen Hundert Menschen am Startpunkt kurz in die Augen sehen zu können. Für diese eine Sekunde hörte sie ihre Jubelschreie, ihre Anfeuerungsrufe, wie ihr Name skandiert wurde.

Dann hatten sie den Festplatz umrundet, und freies Feld tat sich vor ihnen auf.

Nun gab es nur noch den Galopp. Schneller!

Tirna und Fiona. Fiona und Tirna. Noch schneller!

Die Hufe donnerten über den Boden, die Landschaft wischte in Farbschlieren an ihnen vorbei.

Alles blieb hinter ihnen zurück. Einfach alles.

Schneller. Noch schneller. Immer schneller!

FIONA

Eine Woche vor dem Victoria-Rennen

Fiona lehnte sich zurück, stützte sich auf die Ellbogen und streckte die Beine lang aus. Mit den nackten Zehen malte sie Schattenspiele auf die Picknickdecke.

Söckchen, die schneeweiße Katze, pfötelte nach den Umrissen, ohne sich dafür aus ihrer gemütlichen Bauchlage zu erheben.

Ihr leises Schnurren, das Plätschern des Flusses, das Schnauben der Pferde und das Lachen ihrer Freunde umgaben Fiona, und sie nahm sich Zeit, um sich diesen Moment so fest wie nur möglich einzuprägen. Nie wollte sie auch nur eine Kleinigkeit von diesem Tag vergessen. Nicht die Federwölkchen am azurblauen Himmel, nicht den Duft der reifen Wildbirnen an den Bäumen, nicht den warmen Wind und vor allem nicht die gelöste Stimmung unter ihnen.

Marosh und Sophie spielten ein kompliziertes Würfelspiel und konzentrierten sich so sehr auf die fallenden Zahlen, dass sie gar nicht merkten, wie Sophies kleines Pony Pepi die Apfelstücke und Hibiskusfrüchte aus dem Obstsalat auf Sophies Teller mopste. Alles, was der struppige kleine Kerl nicht mochte, schob er mit seinem geschickten Maul zur Seite.

Aro, der eben erst ausgeschieden war, achtete nicht darauf, sondern widmete sich ganz seiner Gemüsepastete, aus der bei jedem Bissen die Soße quoll.

Fiona war in dieser Spielrunde ebenfalls ausgeschieden. Bevor sie nach Ventusia gekommen war – in ihre Heimat, aus der sie als Baby in die Menschenwelt gebracht worden war –, hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, nach welch komplexen Regeln man mit zwei einfachen Würfeln spielen konnte. Ob sie das je lernen würde?

Damian und Mira saßen sich dicht gegenüber und unterhielten sich leise. Ihre Hände lagen dabei auffällig unauffällig dicht nebeneinander – so dicht, dass sie sich ab und an leicht berührten.

Riana schien es ebenfalls bemerkt zu haben, sie versteckte ihr Grinsen hinter dem Buch, in dem sie las.

Nikolan, Fionas Freund, hatte sich direkt neben ihr auf dem Rücken ausgestreckt und die Augen geschlossen. Ob er eingedöst war? Fiona spielte mit dem Gedanken, ihn mit einem Grashalm zu kitzeln, um es herauszufinden, aber dann entschied sie sich dagegen. Falls er schlief, war es eine gute Gelegenheit, endlich mal den Versuch zu starten, seine Sommersprossen zu zählen. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, warum sie das überhaupt wollte. Sie musste über sich selbst lautlos lachen, denn die Antwort lautete: Es war einfach schön, ihn anzusehen, ohne dass er ständig die Stimmung mit seinen Sprüchen ruinierte.

Nicht, dass sie seinen Humor nicht ebenso gernhatte wie alles andere an ihm. Aber seitdem Niko seine Verbindung zu seinem geliebten Pferd Gryzmor gelöst hatte, weil dieser in Wahrheit Sophies Seelenpferd war, übertrieb er es ein wenig mit den witzigen Kommentaren. Vermutlich lenkte er sich damit von dem Schmerz ab, den er sich mit seiner Entscheidung selbst zugefügt hatte. Oder von der Nervosität. Denn Nikolan würde der erste Teilnehmer des großen Victoria-Rennens sein, der je ohne sein Seelenpferd an den Start gegangen war. Was das bedeutete und vor welche Schwierigkeiten es ihn stellen würde, konnte bisher noch niemand sagen. Selbst mit einem gut trainierten Seelenpferd hatten einige Reiterinnen in der Vergangenheit den Start mit dem Leben bezahlt.

Fiona schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf, um diese düsteren Gedanken loszuwerden.

Heute wollten sie nicht an das Rennen denken. Sie hatten Wochen dafür trainiert und Pläne geschmiedet. Jedenfalls soweit das möglich war, denn niemand wusste, was auf sie zukommen würde. Zwar wurde das Rennen alle zwölf Jahre gestartet, aber keines verlief wie das andere.

Victoria ließ sich immer neue Herausforderungen einfallen.

Immer neue Gefahren.

Immer neue Gemeinheiten.

Freiwillig ritt niemand von ihnen mit. Aber Victoria ließ ihnen keinen Ausweg. Bis zu dem Moment, als sie endlich genug Starterinnen und Starter gefunden hatten, hatte sie Naturkatastrophen über das Land kommen lassen. Erdbeben und Dürren im Süden, Gerölllawinen und Vulkanausbrüche im westlichen Bergland und Sturmfluten über den Inseln und der Küste im Osten. Im Norden, wo sie sich sicher gefühlt hatten, war der Eispalast von einem gewaltigen Blitz getroffen worden. Er war binnen Augenblicken eingestürzt und zu einem riesigen Scherbenhaufen geworden.

Fiona blickte zum tiefgrünen Wald hinüber, hinter dem der Hof ihrer Eltern lag. Es war reines Glück, dass hier, im Fürstentum der Grasweiten, noch nichts Schreckliches passiert war. Doch das Blatt würde sich wenden, wenn sich auch nur einer von ihnen weigerte, das Rennen zu bestreiten.

Ach, Mist, dachte Fiona frustriert. Jetzt denke ich doch wieder an nichts anderes. So viel zu dem Pausentag, den wir uns gönnen wollten. So viel zu unserer Auszeit.

Um sich wieder zu beruhigen, sah sie zu den Pferden, die in Sichtweite standen. Zu den Seelenpferden der Freunde hatte sich eine kleine Herde fremder Pferde gesellt. Die meisten grasten in aller Ruhe, als hätten sie sich hier am Flussufer zum Mittagessen getroffen.

Fionas rotgoldene Tirna allerdings war offenbar schon satt. Sie spielte mit der lackschwarzen Hayet, die zu Mira gehörte. Der Name Hayet bedeutete übersetzt so viel wie „Leben“ und passte wunderbar zu der Stute, da sie wirklich sehr lebendig war. Wie ein schwarzer Wirbelwind galoppierte sie immer wieder um Tirna herum. Die antwortete darauf, indem sie buckelte, in die Luft trat und auf die Hinterbeine stieg. Die beiden jungen Stuten waren manchmal verspielt wie Hundewelpen.

Die anderen Pferde ließen sich von ihnen nicht stören. Sie wanderten langsam über die Wiese – von einem zarten Grasbüschel zum nächsten. Die Sonne malte Glanz auf ihre runden Kruppen, und der Wind ließ die Mähnen wehen.

Fionas Nerven entspannten sich wieder. Es gab doch nichts, was einen so schnell auf gute Gedanken bringen konnte wie glückliche Pferde.

„Denkst du eigentlich …?“, begann Nikolan da einen Satz, sprach aber zunächst nicht weiter. Er schlief also gar nicht, hatte sogar die Augen wieder geöffnet und schirmte sie nun mit der Hand gegen das Sonnenlicht ab. „Denkst du, dass die Leute Wetten auf uns abschließen?“

„Wetten?“, echote Fiona.

„Ja. Wer als Erstes ins Ziel kommt. Wer es überhaupt schafft. Wer beim Rennen drauf…“

Sie unterbrach ihn mitten im Satz, indem sie ihm gegen die Schulter knuffte. „Hör auf damit! Niemandem wird etwas Schlimmes passieren.“

„Sicher nicht.“ Er lächelte, doch plötzlich verspannten sich seine Gesichtszüge, und er blinzelte in den Himmel. „Siehst du das da oben? Den dunklen Schatten?“

Fiona folgte seinem Blick. „Ein Vogel, denke ich.“

„Das wäre aber ein großer Vogel.“

Sie grinste. „Ein Flugzeug kann es kaum sein.“

„Vielleicht Superman!“, warf Sophie ein und amüsierte sich über die ratlosen Blicke von Riana und den Jungs.

„Ich dachte eher an einen Drachen“, meinte Nikolan.

Damian verdrehte übertrieben die Augen, aber Niko ließ sich davon nicht stören. „Stellt euch vor, wie jemand das Rennen mit einem Drachen reitet!“

Damian hustete trocken. „Ich sehe es bildlich vor mir, Niko, wie du einen Drachen zu deinem Seelentier machen willst und damit zu etwas anderem wirst.“

„Zu was?“, fragte Niko skeptisch.

„Zur Leibspeise“, erwiderte Damian, und alle lachten.

„Na ja.“ Niko zuckte mit den Schultern. „Es wird wohl so ein Superman gewesen sein, denn wie wir alle wissen, sind die Drachen ausgestorben. Leider. Im Rennen wären sie praktisch.“

„Hast du eigentlich unsere Abmachung vergessen?“, fragte Fiona. Sie wollte das Thema wechseln, irgendwas an den Drachengeschichten behagte ihr nicht.

„Welche Abmachung?“

„Wir wollten heute nicht über das Rennen reden. Wir wollten heute nicht mal daran denken.“

Niko pustete in die Luft. „Pfff. Als würdest du dich daran halten. Du hast eben so laut über das Rennen nachgedacht, dass mir jetzt der Hufschlag der galoppierenden Pferde in den Ohren dröhnt.“

Fiona lächelte. „Haben sie dich wach getrampelt?“

„Hm.“ Niko stemmte sich zum Sitzen hoch und blickte zur Herde hinüber. „Ob sie auch darüber nachdenken?“

Fiona folgte seinem Blick. Da war eine dunkle Stute eng bei den Pferden der Freunde, die sie in den letzten Tagen häufiger gesehen hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass sich fremde Pferde in die kleine Gruppe integrierten. Pferde schlossen Freundschaften, wie Menschen es auch taten – und diese Freundschaften verliefen oft, aber nicht immer parallel zu denen ihrer Menschen. Jedes Pferd hatte seinen ganz eigenen Charakter, und neben den Gemeinsamkeiten mit seinem menschlichen Seelenpartner gab es immer auch Unterschiede.

Die neue Stute zeigte allerdings gar kein besonderes Interesse an den anderen Pferden, obwohl sie sich in ihrer Nähe aufhielt. Sie stand einfach nur dabei. Fast unauffällig – allerdings war das kaum möglich, denn dafür war sie viel zu schön.

Fiona betrachtete sie genauer. Sie war älter als die sehr jungen Stuten Hayet und Tirna. Ihr Fell war von einem dunklen, warmen Braun und schimmerte leicht rötlich – wie die glatte, glänzende Oberfläche einer Kastanie. Mähne und Schweif waren heller und enorm lang und seidig. Einen Kohlfuchs nannte man diese Farbe, und sie passte in ihrer schlichten Eleganz perfekt zu dem Körperbau des Pferdes. Die Stute war groß, sicher einen Meter achtzig – fast so groß wie Tyran. Aber ihre Statur war schlanker und edler, ihre Beine lang und muskulös, ihre Silhouette fast zierlich.

Sie sieht aus wie ein perfektes Rennpferd, dachte Fiona.

„Du tust es schon wieder!“, sagte Nikolan und riss Fiona damit aus ihren Gedanken.

„Was denn?“

„Du denkst an das Rennen. Sag nicht, ich würde mich irren, ich sehe dir das doch an. Du bekommst dann dieses Funkeln in den Augen.“ Er verzog das Gesicht, als hätte er gerade in eine Zitrone gebissen. „Irgendwie macht mir das Angst.“

„Das Rennen?“

„Nein. Dass es dir keine Angst macht.“

„Aber das macht es!“ Fiona konnte kaum in Worte fassen, wie sehr sie sich vor all dem Ungewissen fürchtete.

Trotzdem zweifelte sie das Funkeln, das er gesehen hatte, nicht an. Denn ja, da war auch dieses andere Gefühl in ihr.

Dieses Kribbeln, wenn sie daran dachte, mit Tirna an der Startlinie zu stehen, mit hämmerndem Herzen das Signal abzuwarten und dann loszupreschen – wild und schnell wie ein Herbstwind aus Osten! Das Victoria-Rennen war gefährlich, aber es war auch ihre einzige Chance, den Zorn der launischen Göttertochter abzuwenden und Ventusia zu retten.

„Das macht es“, wiederholte sie leiser. „Aber nicht nur.“

Niko lächelte, und Fiona war dankbar, dass er keine Fragen stellte, die sie nur schwer hätte beantworten können.

Vielleicht verstand er sie ja auch so. Er war immer der, der sie von allen am besten verstand.

Riana schlug ihr Buch mit einem Knall zu. „Es ist ohnehin Quatsch, nicht an das Rennen denken zu wollen. Versucht doch mal, nicht an rosa karierte Ponys zu denken … Und? Was passiert?“

„Stimmt“, seufzte Sophie und fuhr sich durch ihr violett gefärbtes Haar. „Ich muss die ganze Zeit darüber nachdenken, je mehr ich versuche, es nicht zu tun.“

„Hab ich gemerkt“, meinte Aro, griff nach einem Stück Brot und zog es durch das Schälchen mit dem Kürbisaufstrich, sodass sich ein Riesenberg der orangefarbenen Creme auf dem Brot auftürmte. „Aber auch nur, weil es mir genauso geht.“

Marosh, der als Letzter zu ihrer Gruppe gestoßen war, nahm ihm das Essen kurzerhand aus den Fingern. „Ich bin so froh, dass ihr das sagt. Ich habe das Rennen die ganze Zeit im Kopf und schlucke die Worte runter. Gefühlt war mein Bauch mit Fragen zum Rennen voll. Aber jetzt, da es raus ist, kann ich endlich essen!“

Riana zog die dunklen Brauen zusammen. „Aber … du reitest doch überhaupt nicht mit.“

Marosh hielt in der Bewegung inne, den Mund bereits offen und das Brot direkt davor.

Fiona schluckte. „Es gibt da etwas, worüber wir reden müssen, Ria.“

Marosh schloss den Mund, schluckte schwer und legte das Brot auf einem Teller ab.

Fiona hatte schon viel früher mit ihrer besten Freundin über Marosh und über das, was seine Anwesenheit für Ria bedeuten würde, sprechen wollen. Aber Marosh hatte sich ihrem kleinen Kreis erst kürzlich angeschlossen. Sie hatten ihn erst näher kennenlernen wollen, seine Beweggründe besser verstehen und sichergehen wollen, dass er zuverlässig war, bevor sie eine endgültige Entscheidung trafen.

Sie hatten nicht mehr in der großen Runde darüber geredet, und trotzdem war allen klar, dass diese Entscheidung nun gefallen war. Nun galt es nur noch, Riana davon wissen zu lassen.

Damian klatschte sich mit beiden Händen auf die Oberschenkel. „Gut, wie ihr meint. Wenn euch das Rennen ohnehin die ganze Zeit im Kopf umhergeht, dann sprechen wir halt drüber. Heute. Jetzt.“

Alle hörten ihm zu. Damian war der Älteste von ihnen und der Kronprinz der Eisberge. Seine älteste Schwester hatte das letzte Rennen vor zwölf Jahren gewonnen und dem Fürstentum ihrer Familie damit den höchsten Stand von allen erarbeitet. Doch das war nicht der Grund, warum er in ihrer Gruppe eine Art Anführer geworden war. Damian war schlicht und ergreifend der, der auch für unangenehme Dinge die Verantwortung übernahm und sie durchzog. Der, der niemanden fragte, sondern entschied. Der, dem es egal war, was andere über ihn dachten.

So auch jetzt, als er sich an Ria wandte, bevor Fiona sich überwinden konnte, es selbst zu tun.

„Riana. Marosh reitet an deiner Stelle. Du bist raus aus dem Startfeld.“

RIANA

Lähmende Stille folgte auf Damians Worte.

Riana konnte kaum atmen, so schwer drückte ihr das, was sie gehört hatte, auf die Brust.

„Ich bin … was?“ Sie hörte ihr eigenes Flüstern kaum. Ihre Augen funktionierten heute verhältnismäßig gut. Sie hatte mit etwas Mühe sogar die gedruckte Schrift in einem Buch lesen können. Das war nicht selbstverständlich, denn ihre besondere Gabe, das Silbersehen, führte dazu, dass sie an manchen Tagen nur schlecht sah, teils war sie vollkommen blind und auf Tastschriften angewiesen.

Heute sah sie. Und sah nun langsam dabei zu, wie ihr Blick auf ihre Freunde verschwamm. Die anderen schwiegen, als sei ein böses Geheimnis rausgekommen, von dem alle wussten. Alle, außer ihr.

„Sie ist nicht raus!“ Fiona sprang von der Picknickdecke auf und sah auf Damian herab. „Was erzählst du denn da? Das hat nichts mit unserem Plan zu tun!“

Unser Plan.

Das bedeutete, dass die anderen einen Plan geschmiedet hatten. Ohne sie. Schlimmer noch.

Sie hatten einfach für sie entschieden.

Riana wünschte, sie hätte diese Worte gar nicht gehört. Sie wünschte, sie hätte gar nichts gesagt und alle würden weiterhin heimlich und still an das Rennen denken. Denn zu erfahren, dass die anderen einen Plan gemacht hatten, zu dem sie nicht gehörte, tat einfach nur weh.

„Ihr könnt mich nicht rauswerfen“, sagte sie leise. Warum sprach sie überhaupt so leise – noch immer? Als das ganze Abenteuer begonnen hatte, hatte sie Respekt vor Kronprinz Damian gehabt. Mehr noch – es war Ehrfurcht gewesen. Vielleicht sogar Angst. Wenn er gesprochen hatte, war Ria in sich zusammengesunken und zurückgetreten.

Aber damals hatte sie ihn auch nicht gekannt. Sie hatte einen Jungen zu kennen geglaubt, von dem sie nicht mehr gewusst hatte als das, was die Dienstboten in den Drillingstürmen hinter vorgehaltener Hand herumgetratscht hatten.

Kronprinz Damian aus den Eisbergen, der alles in Eis verwandeln konnte. Selbst sein eigenes Herz!

Aber das waren Gerüchte gewesen. Inzwischen kannte sie Damian. Sie nannte ihn einen Freund.

Sie stemmte sich ebenfalls hoch und ballte beide Fäuste. „Ihr könnt mich nicht rauswerfen!“, wiederholte sie. Diesmal klang ihre Stimme laut und deutlich, denn sie hatte etwas Wichtiges zu sagen. Etwas sehr Entscheidendes. „Und ich werde mich nicht ausschließen lassen. Ich bin vielleicht die Jüngste von euch, aber ich bin eine Tochter Ventusias. Ich bin eine Prinzessin Ventusias. Es ist auch meine Heimat. Ich werde helfen, Ventusia zu retten!“

„Das wirst du“, sagte Fiona entschieden, worauf Damian verwirrt den Kopf schüttelte.

„Aber nicht als Starterin. Wir waren uns einig, dass Riana nicht mitreitet.“

„Das stimmt so nicht“, entgegnete Fiona. „Und jetzt halt dich bitte einmal zurück, Damian. Du magst der Älteste hier sein, aber das macht dich nicht zu unserem Anführer. Ich möchte, dass wir das anders angehen als unsere Eltern, die, ohne es zu hinterfragen, ihren Fürstenhäusern nachlaufen, von denen eines mehr zu sagen hat als alle anderen.“

Sophie reckte eine Faust in die Luft. „Genau! Freiheit und Gleichheit für Ventusia! Es lebe die Demokratie!“

Riana war nicht ganz sicher, ob Sophie das ernst meinte oder der Kommentar eher sarkastisch zu verstehen war. Das war bei Sophie nie auf den ersten Blick zu erkennen.

„Ich verstehe dich nicht, Fiona“, sagte Damian. „Du warst es doch, die Marosh gesagt hat, er könne sich uns anschließen und als siebter Starter am Rennen teilnehmen. Weißt du nicht mehr? Im Götterhain, nachdem wir in Victorias Tempel waren und Nikolan die Regeln hat ändern können. Wir waren uns alle einig, dass wir Ria nicht dieser Gefahr aussetzen wollten.“

Fassungslos sah Ria ihre beste Freundin an. Warum widersprach sie denn nicht? Es konnte doch nicht wahr sein, dass ausgerechnet Fiona sie verraten hatte!

Ria hatte den Ritt in den Götterhain nicht antreten können. Die Dunkeltage waren da gewesen. Und wenn sie ehrlich zu sich war, konnte sie nicht ausschließen, dass das beim Rennen ebenfalls der Fall sein würde. Aber sollte das wirklich bedeuten, dass sie nun zurückbleiben würde und nichts tun konnte, außer abzuwarten?

„Nein!“, rief sie aus, als ihr einfiel, warum man sie nicht einfach aus dem Team werfen konnte. „Jedes Fürstentum muss eine Starterin oder einen Starter losschicken. Aber Aro und Marosh kommen beide aus dem Götterhain.“

Aro schüttelte betroffen den Kopf. „Das stimmt so nicht, Riana. Den Regeln nach ist es entscheidend, dass man im jeweiligen Fürstentum geboren wurde. Meine Eltern stammen zwar aus dem Götterhain und wir haben fast mein ganzes Leben lang dort gewohnt. Aber geboren wurde ich auf einer Reise. Ich kam etwas zu früh auf die Welt. Meine Eltern besuchten gerade Freunde in den Drillingstürmen. Und dort wurde ich geboren. In der Ebene der Silbersehenden.“

Riana presste die Lippen zusammen. Der Prinz des Götterhains war nicht nur in ihrem Fürstentum geboren, sondern in ihrem Zuhause – und sie wusste es nicht? Sie hatte nie davon gehört? „Wie kann das denn sein? Haben deine Eltern es geheim gehalten? War es ihnen peinlich, dass ihr Sohn in unseren Türmen zur Welt kam?“

Aro winkte ab. „Das ist doch jetzt egal. Wir reden später darüber, es ist gerade ein wenig …“ Er wechselte einen Blick mit Marosh. „… kompliziert.“

„Alles hier ist gerade kompliziert“, mischte sich nun auch Nikolan ein, schob sich eine Handvoll Walderdbeeren in den Mund und sprach mit vollem Mund weiter: „Und zwar nicht bloß ein wenig, also untertreib mal nicht. Eine Katastrophe darf man gern auch eine Katastrophe nennen.“

„Es ist keine Katastrophe“, beharrte Aro, doch Niko zog eine Grimasse.

„Für Ria offensichtlich schon.“

Riana war nicht ganz sicher, ob sie seinen Einwurf als Unterstützung auffassen sollte. Allerdings war von Niko selten mehr Unterstützung zu erwarten als seine Sprüche, daher entschied sie, dass es wohl so sein musste. „Sehr richtig! Es ist sogar eine Riesenkatastrophe für mich, wenn nun Aro meinen Startplatz im Rennen bekommen soll.“

„So ist das nicht“, sagte Damian. Er legte wieder diesen Unterton in seine Stimme, der klarstellte, dass er der Älteste von ihnen war. Der klang, als wäre er allein derjenige, der die Entscheidungen traf. Der so unglaublich möchtegern-erwachsen klang, dass Riana sich neben ihm wie ein Kind vorkam.

„Und wie ist es dann?“, verlangte sie zu erfahren.

Söckchen maunzte fordernd, als wolle sie es ebenfalls wissen.

Damian seufzte. „Du kannst das Rennen nicht reiten, Riana. Wir müssen den besten Reiter jedes Fürstentums ins Rennen schicken …“

„Oder die beste Reiterin“, unterbrach ihn Mira.

„Und Aro und Tyran haben nun mal bessere Chancen als du und …“

„Nein, nein, stopp!“ Fiona ballte die Fäuste. Sie sah so empört aus, als würde sie Damian gleich auf die Wiese schubsen. „Darum geht es nicht. Darum ging es nie! Das ist doch alles überhaupt nicht wahr!“

Damian verschränkte die Arme vor der Brust. „Tut mir leid, Fiona, aber das ist nicht dein Ernst. Steh doch wenigstens zu deiner Entscheidung. Du hast dich dafür ausgesprochen, dass Marosh den siebten Startplatz bekommt und Aro für die Ebene der Silbersehenden reitet. Das kannst du doch jetzt nicht verleugnen, nur weil Ria enttäuscht ist.“

„Aro ist ja nicht mal ein Silbersehender!“, entfuhr es Ria. „Wie kann er dann für mein Fürstentum reiten?“ Sie wusste, dass sie patzig und stur klang und die Magie kein wirkliches Argument war, aber es war ihr egal. Ihre beste Freundin hatte sie verraten und im Stich gelassen. Das war ein mehr als guter Grund, Enttäuschung zu zeigen.

„Hört mir. Endlich. Zu!“ Fiona wurde so unerwartet laut, dass für einen Moment sogar die Vögel im Baum verstummten. Alle sahen sie erschrocken an, während Fiona sich durch die roten Locken fuhr, als wollte sie sich die Haare raufen. „Riana ist nicht raus. Riana wird nur das Rennen nicht mitreiten.“

Ria schluchzte auf vor Frust. „Das ist doch dasselbe!“

„Ist es nicht“, sagte Nikolan und lächelte ihr aufmunternd zu. „Fiona hat einen Plan.“

„Wir wollen dieses Rennen alle überstehen“, fuhr Fiona fort. „Wir alle zusammen.“

Das war der Moment, in dem Ria der Hut platzte. Das ging einfach zu weit! Fiona sprach von Zusammenhalt und Gemeinschaft – aber gleichzeitig schloss sie sie aus. Das war einfach nicht fair!

Leider machte sich Rias Wut immer auf dieselbe Art bemerkbar. Während andere auf den Boden stampften, etwas warfen oder frustriert Schimpfworte brüllten, passierte bei ihr nichts davon. Stattdessen brach sie in Tränen aus. Auch jetzt wurden ihre Augen nass, und so sehr sie dagegen ankämpfte, die ersten Tränen kullerten ihr über die Wangen.

„Ria!“, rief Fiona und kam auf sie zu.

Aber Riana hob abwehrend die Hände. Mitleid konnte sie gerade nicht ertragen.

Sie wollte etwas sagen. Ihre Enttäuschung aussprechen. Die anderen fragen, wie sie so gemein sein konnten. Hatte sie denn überhaupt nichts mitzuentscheiden?

Die Antwort lautete offenbar: Nein.

Sie behandelten Ria, wie ihre Eltern sie behandelten. Wie ein kleines Kind, das nicht selbst über sich bestimmen konnte. Und ja, sie mochte die Jüngste in der Gruppe sein, aber das hatte sie trotzdem nicht verdient! Es tat weh.

Dummerweise war sie nicht in der Lage, ihnen das vorzuwerfen. Es würde kaum mehr als unverständliches Schluchzen aus ihrem Mund kommen, wenn sie jetzt versuchte, etwas zu sagen. Und das Weinen war nun wirklich peinlich genug.

Sie wandte sich ab und ließ Fiona und die anderen stehen.

„Ria!“, rief ihre Freundin noch einmal, aber Riana schüttelte nur den Kopf und hielt nach ihrer Stute Ausschau.

„Kylja! Komm!“

Wenigstens auf ihr Seelenpferd war Verlass. Die kleine graue Stute hob ihren Kopf aus dem hohen Gras und kam auf Ria zu. Sie bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte, trabte herbei und blieb dicht vor Riana stehen. Sanft berührte sie mit ihrem weichen Maul ihre Hände.

Ria schlang die Arme um Kyljas kräftigen Hals und drückte ihr Gesicht in die dichte Mähne. „Du lässt mich nicht im Stich. Das würdest du niemals tun.“

„Ria, bitte warte doch mal.“ Fiona kam ihr nach, aber Ria konnte im Moment nicht mit ihr reden. Zu groß war die Enttäuschung. Sie hasste es, vor ihrer Freundin zu heulen wie ein kleines Kind. Denn genau das war doch das Problem, oder? Fiona und die anderen hielten sie für zu jung, um mit ihnen gemeinsam das Rennen zu reiten.

„Lass gut sein, Fiona.“

„Wir müssen darüber reden.“

„Später.“

„Aber …“

„Nein! Kein Aber. Du hast etwas für mich entschieden, und ich soll es hinnehmen. Nun nimm auch du hin, dass ich etwas entschieden habe.“ Ria wandte sich nicht zu Fiona um. Aber sie hörte, wie sie laut schluckte.

„Bitte hör mir doch einen Moment zu.“

„Ich will nicht reden und nichts hören. Nicht jetzt!“

Ria griff in Kyljas Mähne, federte in die Knie und sprang mit einem Satz auf den Rücken ihrer Stute. Fast entfuhr ihr, dass sie am liebsten nie wieder mit den anderen reden wollte – nicht mal mit Fiona. Erst recht nicht mit Fiona! Aber bevor das geschah, fasste Kyljas Ruhe nach ihr und umhüllte sie wie eine warme, weiche Decke.

„Lass uns verschwinden“, flüsterte sie ihrem Pony zu. „Bring mich hier weg.“

„Ria – bitte!“, rief Fiona.

Doch Kylja war bereits angaloppiert und trug Riana den Hügel hoch in Richtung des Waldes. Und Riana sah nicht zurück.

FIONA

„Sie ist einfach abgehauen.“ Fassungslos stand Fiona vor Nikolan, der ihr über die Wiese gefolgt war. „Ich wollte ihr doch gerade alles erklären! Aber sie will nicht mal mit mir reden!“

Niko stieß die Luft aus. „Na ja, Fiona. Mal ehrlich. Würdest du an ihrer Stelle mit dir reden?“

„Ja, natürlich!“ Sie dachte noch einmal darüber nach, fand aber noch immer nichts, was dagegensprach. „Ich würde zumindest zuhören. Du denn nicht?“

„Ich schon“, erwiderte Niko. „Aber ich bin der Älteste bei uns zu Hause. Würdest du meine Brüder fragen, hätte keiner von denen mit dir geredet. Im Gegenteil, sie hätten dir vors Schienbein getreten oder dich schon auf der Picknickdecke mit etwas beworfen. Mit viel Glück wäre es etwas Essbares gewesen, mit etwas Pech vermutlich eine Faustvoll vom nächsten Pferdehaufen.“

„Bah! Niko! Ernsthaft?“

Er lachte. „Ja. Würdest du meine kleinen Brüder besser kennen, würdest du nicht mal fragen.“

„Aber warum?“

„Weil es schwieriger ist für die Jüngeren. Meist tun sie aus Vernunft, was die Älteren sagen. Ihre eigenen Ideen müssen zurückstecken. Und immer, wenn sie sich doch mal durchsetzen, endet es damit, dass irgendjemand sie retten muss.“

Fiona betrachtete Niko, und wäre sie nicht so aufgewühlt von dem Streit mit Riana gewesen, hätte sie wohl gelacht. „Irgendjemand? Oder manchmal vielleicht der große Bruder?“

Niko grinste. „Immer der große Bruder. Kleine Brüder gewöhnen sich irgendwann dran. Aber Ria …“

Fiona verstand. „Sie hat keine Geschwister. Und bis wir uns als Gruppe zusammengetan haben, hatte sie kaum Kontakt zu anderen Kindern oder Jugendlichen. Für sie ist das alles total neu. Da muss es ihr ja manchmal zu viel werden.“

„Allein dieses ständige Versteckspiel als Junge muss sie doch total nervös machen“, bestätigte Niko.

Fiona nickte. Darüber machte sie sich auch ständig Gedanken. Riana war nicht wie die anderen Mädchen ihrer Altersgruppe auf der Erde versteckt worden, um sie vor Victorias grausamem Rennen in Sicherheit zu bringen. Stattdessen hatten ihre Eltern sie Rio genannt und als Jungen ausgegeben. Bis zu Rias zwölftem Geburtstag hatte das auch gut geklappt. Nur wenige Menschen hatten um das Geheimnis gewusst, und Ria selbst hatte kaum je mit fremden Personen gesprochen und die Drillingstürme in der Ebene der Silbersehenden nur selten verlassen. Nun allerdings lagen die Türme in Trümmern, Ria lebte in einer Art Flüchtlingslager auf dem Hof von Fionas Eltern und hatte eine große Schar von Freundinnen und Freunden um sich, die allesamt wussten, wer sie wirklich war. Es wurde schwieriger, die Lüge aufrechtzuerhalten. Irgendwann würde sich jemand verplappern.

„Warum spielen wir dieses Theater überhaupt noch?“, fragte Niko und rieb sich den Nacken. „Wir haben nun doch sieben Starterinnen und Starter für das Rennen. Und es war Ria, die herausgefunden hat, wie wir Victoria dazu bringen konnten, die Regeln zu ändern, sodass auch Jungs mitreiten dürfen. Ist es nicht langsam mal an der Zeit, dass Ria und ihre Familie den anderen die Wahrheit auftischen? Diese Lüge wird sehr bald eh nicht mehr funktionieren.“ Vielsagend blickte er an Fionas Körper herab.

Sie wusste natürlich, was er damit meinte. Mit ihren zwölf Jahren hatte Ria noch eine sehr kindliche Figur. Aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Und es war ja nicht nur der Körper, der sich veränderte, wenn man älter wurde. Fiona stellte es sich schrecklich vor, einen Jungen spielen zu müssen, wenn man doch ein Mädchen war und langsam erwachsen wurde.

Es fühlte sich falsch an.

„Du hast total recht. Aber Ria hat furchtbare Angst.“

„Alle werden es verstehen. Niemand macht ihr einen Vorwurf.“

„Ihr nicht“, sagte Fiona. „Das fürchtet sie auch nicht, sie hat es ja nicht entschieden. Aber sie denkt, dass ihre Eltern dann jegliches Ansehen vor den anderen Fürstentümern verlieren oder gar bestraft und ausgeschlossen werden.“

Niko hob ratlos die Arme. „Sie haben ein riesiges Lügenkonstrukt aufgebaut. Das wird ihnen der eine oder die andere sicherlich vorwerfen. Aber letztlich haben doch alle Fehler gemacht. Die anderen Mädchen auf der Erde zu verstecken, war auch nicht gerade die beste Idee. Meine Eltern werden das hinnehmen. Sie werden ausspucken und Rias Eltern schäbige Lügner nennen. Und einen Tag später haben sie es vergeben und vergessen.“

„Meine Familie wird es verstehen. Und die Eisfürsten wissen ohnehin Bescheid.“

„Wovor hat Ria dann noch Angst? Wenn selbst die Frostigen die Wahrheit kennen, kann ja nichts Schlimmes mehr passieren.“

Fiona überlegte eine Weile, ob sie mit Nikolan darüber reden konnte. Sie wollte einerseits nichts weitererzählen, das Ria ihr anvertraut hatte. Andererseits war niemand so loyal wie Niko. Und oft kamen sie beide erst im Gespräch miteinander auf Lösungen, die sie allein nie gefunden hätten. Sie waren einfach ein gutes Team.