Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi - Kjersti Scheen - E-Book

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi E-Book

Kjersti Scheen

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Beschreibung

Ein Mord, Drogen, Geldwäsche und Immobilienspekulationen in Stavanger: Ehe sie sich versieht ist Margaret Moss mitten in ihren letzten Fall eingespannt! Angetrunken wird sie eines Abends Zeugin eines Mordes, doch als sie dem Opfer zu Hilfe eilen will, wird sie selber ausgeknockt. Aus der Ohnmacht erwacht sie im Haus eines Mannes, der sie als Mörderin angesehen und deshalb niedergeschlagen hatte. Zusammen mit dem ebenfalls anwesenden Sohn des Mordopfers engagiert er sie jedoch als Privatdetektivin zur Lösung des kniffligen Falls!Die Maragret-Moss-Serie entstand 1994 mit dem ersten der vier Krimis um die Ex-Schauspielerin Margaret Moss, die als Privatdetektivin in Oslo ermittelt. Im selben Jahr wurde Kjersti Scheen dafür mit dem Literaturpreis des norwegischen Gyldendal Verlags ausgezeichnet.

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Kjersti Scheen

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi

Aus dem Norwegischen von Annika Krummacher

Saga

Die siebte Sünde - Norwegen-Krimi ÜbersetzerinAnnika Krummacher Coverbild / Ilustration: Shutterstock Copyright © 2003, 2020 Kjersti Scheen und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444964

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

Es war plötzlich so dunkel geworden.

Sie blieb stehen und sah sich um. Die Erde bebte unter ihr, rhythmisch, wie von schweren, donnernden Herzschlägen, ihre Stiefel waren voller Sand.

Wo zum Teufel war der Weg geblieben?

Sie sah nach unten, blinzelte, sah nichts. Ging in die Hokke, und mit kalten Händen tastete sie den Boden um sich herum ab.

Harte Grashalme. Feiner Sand.

Vorhin war an dieser Stelle noch ein Weg gewesen, wenn auch ein schmaler, aber immerhin. Jetzt war er verschwunden. Schwankend richtete sie sich wieder auf, der Alkohol raste in ihrem Blut umher, brannte unter dem Brustbein, ein schwerer und unangenehmer Rausch, der sie vollständig lähmte. Wütend auf sich selbst, schlug sie plötzlich um sich und fiel fast um, verdammt!

Hier war doch ein Weg gewesen!

Ihr Mantel flatterte, es wehte ein nasser Wind, der in Böen kam und nach See und Tang und Teer roch. Es war das Meer, natürlich, das Meer war es, das so einen fürchterlichen Lärm machte. Sie hielt das Haar mit beiden Händen aus dem Gesicht und kniff die Augen zusammen.

Es mußte das Meer sein!

Draußen in der Dunkelheit ritten weiße Schaumstreifen an Land, sie machte einen unsicheren Schritt vorwärts, und dann packte eine Windbö ihren offenen Mantel und brachte sie ernsthaft aus dem Gleichgewicht, einen Augenblick schwankte sie, dann fiel sie.

Geradewegs hinunter und ohne einen Ton.

Sie dachte gerade noch, das war’s dann wohl und meinetwegen, da traf sie mit einem dumpfen Aufprall auf harten Sandboden.

Einen Augenblick lag sie atemlos da, dann schnappte sie hastig nach Luft und ruderte panisch mit den Armen, doch sie war nicht ins Meer gefallen. Ganz in der Nähe brodelte und zischte es, aber sie war unter einer steilen Böschung gelandet, und um sie herum war nichts als Sand.

Nun hatte das Meer sie doch nicht erwischt, dachte sie.

Und sie war darüber nicht unbedingt erleichtert.

I

»I may be right and I may be wrong,

I know you’re gonna miss me when I’m gone.«

Trad.

Es war ja schon von Anfang an eine verdammt schlechte Idee gewesen, das hatte sie sehr wohl gewußt. Sich einfach so aus dem Staub zu machen und im Spätherbst nach Stavanger zu fahren, ohne einen vernünftigen Grund.

Aber das Jahr war durch und durch verkorkst gewesen.

Es hatte schlecht begonnen und war irgendwie nicht besser geworden. Sie hatte fast keine Aufträge und kam nur mit Hilfe einiger Werbejobs über die Runden, die ihr ein alter Freund besorgt hatte. Eine Ausbildung an der staatlichen Schauspielschule, zehn Jahre Engagement als Schauspielerin, fünf Jahre Jurastudium, etwa ein Jahr bei der Polizei und einige Jahre Privatdetektivin – und nun saß Margaret Moss in einem Besenschrank von einem Studio und sagte zwanzigmal am Tag: »Nanni Nußaufstrich, mmm, ist das lecker!«

Ihre alte Tante, mit der sie sich ein Haus im besten Westen Oslos teilte, kam immer schlechter allein zurecht. Inzwischen brauchte sie ständig eine Gehhilfe, dabei war die Ärmste doch so eitel. Sie hätte am liebsten keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt, so sehr haßte sie das Ding. An Osteoporose litt sie dagegen nicht, denn sonst hätte sie sich längst jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen, so oft wie sie stürzte. Ihre Tagesration war auf drei Gläser Portwein gesunken, aber sie vertrug ja auch nichts mehr, die ehemalige Schauspielerin und Direktorengattin Maisen Moss Pedersen.

Das lag an der Fähigkeit des Körpers, Giftstoffe abzubauen. Die nehme im Lauf der Jahre immer mehr ab, hatte der Arzt gesagt. Schlechte Nachrichten, dachte Margaret Moss, die das nämlich auch schon festgestellt hatte. Irgendwie fielen die Katerstimmungen anders aus als früher.

Die eigenen Kater wohlgemerkt.

Ihre Tochter Karen lebte schon seit geraumer Zeit in Stockholm. Sie wohnte bei ihrem Vater in Söder und interessierte sich seit neuestem für einen Job am Theater.

Hoffentlich nur eine Laune, dachte Moss, die sich in diesem Jahr irgendwie einsam fühlte.

Sogar Roland Rud weigerte sich, auf ihre Anrufe zu reagieren.

Der Held aus den großen Wäldern und Ritter der Landstraße, der Fernfahrer, der Moss normalerweise zu Hilfe eilte, der Mann mit dem schütteren Pferdeschwanz und den schiefen Stiefelabsätzen – der war plötzlich incommunicado.

Bei seiner Frau und den beiden Töchtern in Prinsdal war er nicht (Moss hatte sich als Angestellte des Finanzamts Oslo ausgegeben, als sie sich endlich getraut hatte, dort anzurufen), und er ging auch nicht ans Handy. Schließlich hatte sie allen Mut zusammengenommen und es bei Norgestransport versucht, wo er all die Jahre gearbeitet hatte, aber dort hieß es, er habe gekündigt.

Gekündigt!

Einen heißen Sommer lang mit hoher Luftfeuchtigkeit und diesiger Sonne hatte sie vor sich hin gestarrt. Die Bäume in Tante Maisens Garten bekamen Mehltau und kränkelten, die Kamine rochen bedrohlich nach Ruß, die Tapeten schlugen Blasen und bekamen Risse, die Holztüren quollen und ließen sich nur schwer schließen.

Moss hatte Kopfschmerzen, litt an Schweißausbrüchen und sah doppelt.

Das Hygrometer in Maisens Wohnzimmer war irgendwo zwischen 80 und 85 stehengeblieben und rührte sich nicht vom Fleck.

»Der Jüngste Tag ist nicht mehr fern«, sagte Tante Maisen und hielt die Zigarette verkehrt herum zwischen ihren zitternden Fingern. Dann zündete sie den Filter an und blickte düster vor sich hin.

»Mir geht’s nicht gut«, sagte Moss. Es waren nicht nur die Kopfschmerzen – ihre Beine knickten neuerdings unter ihr weg. Irgendwie mußte es mit dem Gleichgewichtssinn zusammenhängen, sie ließ Gläser auf den Boden fallen, faßte bei Türgriffen daneben, stieß mit den Knien an Küchenschranktüren, die sich unmerklich unter der Arbeitsplatte öffneten, woraufhin ihr vor Schreck der Schweiß ausbrach.

»Das ist das Alter, meine Liebe«, sagte Tante Maisen und ließ Asche auf ihre fleckige Hose rieseln. »Hast du eine Ahnung, wo der Kater abgeblieben ist?«

»Vermutlich ist gerade mal wieder Brunstzeit«, sagte Moss, blätterte hektisch in Maisens altem Medizinhandbuch und schlug es unter »Nervenleiden« auf.

»Für so was ist er doch zu alt«, sagte Tante Maisen.

»Das glaubst aber auch nur du«, sagte Moss und schloß das Buch mit einem Knall, als sie entdeckte, woran man alles leiden konnte. »Maisen, eigentlich dürfte ich gar nicht so schwitzen, ich nehme doch ein Östrogenpräparat.«

»Ach Gott«, sagte Maisen und betrachtete sie besorgt. »Kann man davon abhängig werden?«

»Ja«, sagte Moss und stellte das Buch ins Regal zurück. »Du weißt doch, wofür man Östrogen bekommt. Man nimmt es, um die Wechseljahre erträglicher zu machen.«

»Zu meiner Zeit gab es keine Wechseljahre«, sagte die Tante würdevoll.

»Nein, das kann ich mir denken«, sagte Moss und knallte die Tür zu, als sie nach oben in ihre Wohnung ging.

Ständig quälte sie die Vorstellung, plötzlich umzukippen, auf der Straße, in der Straßenbahn. Im Kino vom Sitz zu fallen oder noch schlimmer: die irrsinnig enge, mit Teppichen ausgelegte Hühnerleiter im Zuschauerraum des Nationaltheaters hinunterzustürzen.

Sie ging nicht mehr in Stücke, die dort gespielt wurden.

Sie ging überhaupt fast nirgendwo mehr hin.

Eines frühen Morgens im Oktober stand sie auf, wankte verfroren und benommen ins Bad und sah sich im Spiegel. Der Blick, der ihr dort begegnete, war schwarz vor Schreck. Sie beugte den Kopf. Was zum Teufel ging hier eigentlich vor?

In dem Moment faßte sie den Entschluß: Sie mußte weg.

Weg vom Spiegelbild, von den spröden, aufgerissenen Lippen, dem zotteligen Haar, den traurigen Augen.

Sie dachte nicht weiter nach, sondern griff zum Telefonhörer. Sechs Minuten später hatte sie sich den letzten freien Platz im Flugzeug nach Stavanger gesichert, zum vollen Preis, der Abflug war um elf Uhr fünfundvierzig.

Und dann hatte sie es verdammt eilig.

In der besonderen Hochstimmung, in die schnelle und unvernünftige Entschlüsse sie stets versetzten, warf sie Unterhosen, Socken, Pullover, Bücher und den Walkman in eine Reisetasche, schrieb einen Zettel an Tante Maisen, den sie auf die Kommode unten im Hausflur legte, schlich sich wie ein nächtlicher Dieb an Maisens Wohnungstür vorbei und lief hinaus zum Taxi, das sie sich bestellt hatte.

Sie hatte viertausend Kronen auf dem Konto. All ihr bewegliches Hab und Gut auf dieser Welt.

Es half nichts. Jetzt ging es um Flucht.

Im Flugzeug spürte sie noch immer den Rausch des überstürzten Aufbruchs.

Sie war gerade noch einmal davongekommen, um ein Haar wäre es zu spät gewesen.

Woran es auch immer gelegen haben mochte.

Sie bat um eine Dose Bier, als die Stewardeß mit ihrem Wagen vorbeikam. Um sie herum tranken die Leute Tee, Kaffee und Saft. Es war, wie gesagt, früher Vormittag.

»Wie bitte?« fragte die Stewardeß und beugte sich vor.

»Ein Bier«, meinte Moss, etwas lauter.

»Tut mir leid, ich habe Sie immer noch nicht verstanden«, sagte die Stewardeß.

»Ein Bier«, rief Moss so laut, daß es um sie herum ganz still wurde. Sie machte sich an der in Frischhaltefolie verpackten Brotscheibe zu schaffen. Als sie in das kalte Rührei biß, zog es in den Zähnen.

Schließlich kam das Dosenbier, der Schaum lief über den Rand, und sie nahm einen vorsichtigen Schluck.

Blickte auf zerklüftete Berge unter einer aufreißenden Wolkendecke.

»It’s not that I’m afraid of dying, I just don’t want to be there, when it happens.«

»Woody Allen«, sagte sie laut vor sich hin und trank wieder etwas aus der Dose. Dabei spürte sie, wie ihr Nachbar sie mißbilligend musterte.

Sie blickte aus dem Fenster und war plötzlich in guter Stimmung.

In sehr guter Stimmung.

Erst als sie auf dem Flugplatz von Stavanger stand, ihr der Regen in nassen Windstößen entgegenschlug und sie sah, wie lang die Schlange am Taxistand war, besann sie sich ein wenig.

Natürlich hätte sie ihn vorher anrufen müssen. Den Kerl in Stavanger. Mit dem schönen, blonden Haar und den stets gebügelten Anzügen. Den sie in einem Kurs über Marketing kennengelernt hatte ...

Marketing, Moss? Was soll das denn? Ob das wohl das Richtige für eine forsche Privatdetektivin mit linker Vergangenheit und Schauspielerfahrung ist? Ganz ehrlich? How far out can you get?

»Halt’s Maul«, sagte Moss müde zu ihrem Alter ego. »Oder anders gesagt: Go fuck yourself.«

Aber Moss, wies das Alter ego sie zurecht.

Moss hatte tatsächlich an einem Kurs über Marketing teilgenommen. Irgendwas mußte man ja machen. Sie hatten ihr nichts beigebracht, was sie sich nicht selbst hätte denken können, aber sie hatte einen blonden, gutgebauten Geschäftsmann aus Stavanger kennengelernt. Das war immerhin etwas. Außerdem war sie beinahe verführt worden, das heißt, sie hatte die Initiative ergriffen, indirekt, und dann hatte er sie verführt. Ihr hatte es gut gefallen. Sie fühlte sich in diesem Jahr, wie gesagt, einsam.

Dann begann er sie zu besuchen, wenn er in Oslo war, was nicht ganz selten vorkam.

Tante Maisen mochte ihn, aber sie mochte ja alles, was nach Rasierwasser roch und auf ihrem mit Katzenhaaren übersäten Sofa saß und Zigarren rauchte.

Er entpuppte sich jedoch nach und nach als so aufmerksam und hartnäckig, daß Moss sich ein wenig zurückzog. So hatte sie sich das nicht vorgestellt, schließlich wollte sie keinen Mann auf Dauer.

Sie hatte doch ... hatte doch die Tante. Und Karen, wenn Karen nicht gerade ... so war das.

Und Roland Rud.

Wenn er ans Telefon ging, aber genau das tat er nicht mehr.

Sie öffnete ihren Mantel, den sie auf der Rolltreppe im Flughafen zugeknöpft hatte. Hier war das reinste Dampfbad, obwohl der Oktober schon weit fortgeschritten war.

Nein, sie hätte anrufen sollen.

Immerhin wußte sie, daß er bei der Arbeit war, das hatte sie vorher geklärt. Eine frische, mädchenhafte Stavangerstimme hatte das angedeutet, als Moss beim Warten aufs Taxi ihre blitzschnelle Ermittlung durchführte.

Die Sekretärin vermutlich.

»Er ist gerade nicht im Zimmer«, hatte sie gesagt. »Soll ich was ausrichten?«

»Ich versuche es später noch mal«, hatte Moss geschwindelt und aufgelegt.

War es nicht unglaublich feucht hier? Sie stellte ihre Tasche ab und fächelte sich mit der Zeitung, die sie aus dem Flugzeug mitgenommen hatte, Luft zu.

Vielleicht fehlte ihr wirklich etwas.

Dabei war sie doch nie ... höchstens mal eine Erkältung und manchmal der Anflug einer Blasenentzündung. Sie knabberte an ihrer Unterlippe. Atmete langsam durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus.

Irgend jemand hatte behauptet, das würde helfen. Einem innere Ruhe verleihen. Vielleicht hatte sie es an der Schauspielschule gelernt.

Es war so lange her, daß sie sich nicht mehr erinnern konnte.

Sie rückte in der Schlange der wartenden Männer am Taxistand vor.

Sie sahen aus, als würden sie sich alle untereinander kennen, standen in ihren Freizeitjacken herum, blasiert, schwangen ihre Aktenkoffer wichtig hin und her und sagten doch, doch und nicht wahr und nächste Woche kommt ein Flug aus Seattle. Dann kam eine Windbö, es roch plötzlich nach See, und der Himmel öffnete endgültig seine Schleusen.

Es goß in Strömen. Als Moss endlich ein Taxi erwischte, waren ihre Beine naß bis zu den Knien.

In der gepolsterten Dunkelheit des Autos umhüllte sie die Musik aus dem Radio nicht, sondern hämmerte auf sie ein. Unmittelbar und gnadenlos:

»This is the Voice of the American Forces in Europe, and here comes The Yellow Rose of Texas!«

Moss ließ sich zurücksinken und wurde plötzlich von Panik ergriffen.

Was zum Teufel machte sie in Stavanger?

Eine Stunde später saß sie zähneklappernd und durchnäßt in einem alten Packhaus, das man zu einem Restaurant umgebaut hatte. Die Reisetasche hatte sie unter dem Tisch verstaut, der Mantel hing zum Trocknen über dem Stuhl neben ihr, und sie versteckte sich hinter einer Zeitung, während ihr das Wasser nur so aus den Haaren tropfte und das Lesen erschwerte.

Nachdem sie Rotwein und einen Teller Fischsuppe bestellt hatte, ging sie auf die Damentoilette und versuchte, ihr Erscheinungsbild wieder einigermaßen herzurichten, mit zitternden Händen und noch immer leicht starren Mundwinkeln.

Sie wickelte das Haar in Papierhandtücher und wrang es aus. Steckte Papier in die Stiefel und hielt sie unter den warmen Luftstrom des Händetrockners.

Atmete tief durch.

Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Ruhe herein, Streß und negative Gedanken hinaus ... Verdammt! So ein Scheißkerl! Durch die Nase ein, durch den Mund aus. Ruhe hinein, Streß und negative Gedanken hinaus. Ein Arschloch! Nicht an ihn denken. Nicht denken. Einatmen, ausatmen, ein, aus!

Sie frischte ihr Make-up auf, etwas nachlässig und mit fahrigen Händen.

So diskret wie möglich ging sie auf Socken zu ihrem Tisch zurück, die Stiefel trug sie unter dem Arm. Dann kam der Rotwein, und sie trank ihn schnell, brauchte gleich noch einen, während sie die heiße Suppe aß. Sie hatte das Gefühl, als würde sich alles in ihr lösen, es lief ihr aus Nase und Augen, sie schneuzte sich in einem fort, und ihr wurde warm.

Ziemlich warm sogar.

Sie blätterte in der Zeitung, es ging ihr beinahe richtig gut. Sie bestellte sich einen Kaffee. Und ein Glas Calvados bitte, falls sie welchen hatten.

Inzwischen hatte sie das Papier aus den Stiefeln gefischt und sie wieder angezogen. Die Stiefel waren niedrig und aus dünnem Leder, das schnell trocknete. Auch ihr Haar war wieder trocken. Sollte er doch zur Hölle fahren!

Der schöne Blonde, der immer wieder Anspielungen auf eine gemeinsame Wohnung gemacht, von einer möglichen Hochzeit im nächsten Winter gesprochen hatte.

Jetzt hatte er sie in Empfang genommen – entsetzt, das Wort traf es vermutlich am besten. Eines Tages würde sie vielleicht über seinen Gesichtsausdruck lachen können, als sie zur Tür hereingestürmt war.

Dieser Gesichtsausdruck hatte jedenfalls dazu geführt, daß sie mitten in einer Art Wirbelwind innegehalten hatte, der in einer Umarmung hatte enden sollen.

Er hatte geschluckt, daß sein Adamsapfel hinter dem gestreiften Hemd auf und ab gerutscht war, und zu der niedlichen kleinen Sekretärin hinübergenickt, die Moss ins Zimmer geleitet hatte.

»Darf ich vorstellen, meine Verlobte«, hatte er gesagt.

Noch ehe fünf Minuten um waren, hatte Moss das Zimmer verlassen. Dankend hatte sie eine Tasse Kaffee abgelehnt und sich schnell eine Lüge zurechtgebastelt: Sie habe gerade in der Nähe zu tun und ohnehin nur ein paar Minuten Zeit. Und da habe sie sich gedacht, ein kurzer Plausch könne doch nett sein, long time no see, aber mein Gott, ein Blick auf die Uhr, sie müsse los, denn sie wolle noch nach Jæren.

Und dann war sie abgehauen.

Jæren! Welcher Teufel hatte sie geritten, ausgerechnet Jæren zu sagen? Sie hatte keine Ahnung, wo sie in dieser Kleinstadt über Nacht bleiben sollte. Überall konnte sie ihm wieder begegnen, falls er heute einen Spaziergang machte, und dann wäre sie in jedem Fall entlarvt. Sie war durch den Regen geirrt, weil sie sich in Stavanger nicht auskannte, verschwitzt und schwindlig und wütend, vor allem auf sich selbst.

How stupid can you get.

Dann hatte sie eingesehen, daß sie irgendwo hineinmußte, um ihre Sachen zu trocknen, und war in diesem Restaurant gelandet.

Sie sah auf die Uhr. Höchste Zeit zum Weitergehen.

Ihre Sachen waren jetzt trocken – und sie ein kleines bißchen betrunken.

Als allmählich Bahnhof und Busbahnhof im Regen auftauchten, der inzwischen nur noch leise vor sich hin tröpfelte, kam ihr die Idee, einfach loszufahren, auf einmal ganz brauchbar vor.

Jæren, here I come, jetzt, wo sie ohnehin schon hier war. Dann war das, was sie vorhin gesagt hatte, jedenfalls nicht ganz gelogen.

Das Meer, hatte sie gedacht, während ihre Stimmungskurve plötzlich anstieg. Sie wollte auf jeden Fall das Meer sehen, ehe sie nach Hause zurückfuhr.

Sie hielt einen Herrn in orangefarbener Straßenarbeiterweste an und fragte ihn, ob es hier in der Nähe eine Filiale des staatlichen Wein- und Spirituosenhandels gäbe. Doch, da oben sei eine, einfach den Hügel rauf – was sie in ihrem Gefühl bestärkte, daß die Dinge heute allmählich richtig liefen. Sie kaufte sich – aus Gründen, die sie später nicht so recht erklären konnte – eine kleine Flasche »Southern Comfort«, und dann ging sie den Hügel wieder hinunter und erkundigte sich, welcher Bus nach Jæren fuhr.

Viele Busse gingen nach Jæren, aber nicht einer davon schien direkt ans Meer zu fahren. Sie könne natürlich den Zug nehmen, hieß es. Aber auch der fahre nicht ans Meer. Oder sie könne mit dem Zug nach Bryne fahren und dort in einen Bus umsteigen. Der Bus gehe zwar nicht so oft, aber das werde sich schon finden.

Genau, natürlich würde sich alles finden! Sie brauchte doch keinen Gedanken an einen blonden Geschäftsmann aus Stavanger zu verschwenden! Geschäftsleute hatte sie früher nie leiden können, warum hatte sie sich eingebildet, sie würde es jetzt tun?

Sie setzte sich ins letzte Abteil des Wagens, und während der Zug langsam aus dem Bahnhofsgelände tuckerte, genehmigte sie sich heimlich ein paar Schlucke aus der Flasche.

Klar würde sie das Meer sehen, verdammt noch mal!

2

»I guess I’ll go through life

just catchin’ colds and missin’ trains,

everything happens to me.«

Adair/Dennis

Sie war in Bryne aus dem Zug geklettert und mit etwas Mühe in einen Bus umgestiegen. Noch immer in bester Stimmung, machte sie es sich bequem, draußen dämmerte es allmählich, die Wolken hingen tief, und ab und zu trommelten Regenschauer gegen die Fensterscheiben.

Im Bus saßen nur wenige Leute, eine Gruppe halbwüchsiger Schüler mit riesigen Rucksäcken und Kugelschreibergekritzel auf den Handrücken und zwei alte Männer mit Tropfen an der Nase und Schiebermütze. Sie saß allein auf der Rückbank und hielt sich mit regelmäßigen kleinen Schlucken von dem süßen Alkohol bei Laune. Es schmeckte nach Gummibärchen, und sie hätte gern noch mal aufs Etikett geschaut, war aber zu müde, dämmerte sogar eine Weile weg und wachte erst wieder auf, als ihr nasse Regenluft entgegenschlug: Die Schüler stiegen in versammelter Mannschaft aus und verursachten Durchzug in der Wärme des Busses.

Sie blinzelte aus dem Fenster.

Keine Spur vom Meer.

Sie ging nach vorne, bis sie eine der Schiebermützen erreicht hatte.

»Ich wollte zum Strand, ich meine, ich wollte das Meer sehen, aber ich kann schließlich nicht den ganzen Tag im Bus sitzen, kann ich denn wohl bald aussteigen?« fragte sie.

Der Mann legte den Kopf nach hinten und sah sie mit wäßrigblauen Augen an. Dann suchte er Hilfe bei seinem Nachbarn. »Das Meer?« Er schüttelte ratlos seinen Kopf, der dünne Hals verschwand in einer Windjacke. »Sie will das Meer sehen.«

Die andere Schiebermütze warf ihr einen raschen Blick zu und schüttelte ebenfalls den Kopf. »Tja, dann muß sie wohl bald mal aussteigen«, sagte er.

Sie wartete eine Weile, aber keiner von beiden schien noch etwas sagen zu wollen, sondern beide starrten hartnäckig geradeaus. Da ging sie wieder zu ihrem Platz zurück.

Draußen war es jetzt sehr grün, hier und da bewegte sich irgendwas undeutlich Graues, Schafe vermutlich – Gruppen von Bäumen, Häusern, Satellitenschüsseln, die sich nach Süden orientierten, wie das nun einmal ihre Art ist. Ihrer Meinung nach fuhren sie Richtung Süden, doch auf einmal war ihr, als wenn der Bus nach Osten abgebogen wäre.

Lag das Meer im Osten?

Resolut drückte sie den Halteknopf.

Sie stieg mit ihrer Reisetasche und der Umhängetasche aus, der Bus seufzte auf und fuhr los, und sie wurde sofort von einer Windbö erfaßt.

Moss schlug den Mantelkragen hoch und schaute sich um. Auf einmal sah die Gegend sehr öde aus, niedrig und flach, mit hartem Gras, das von den Windböen an den Boden gedrückt wurde. Sie wandte sich von den Scheinwerfern der vorbeisausenden Autos ab und ging los. Nach einer Weile machte die Straße eine Kurve und schien schließlich in die richtige Richtung zu führen.

Irgendwie hatte sie ihr Ziel ein wenig aus den Augen verloren, das Ganze hatte an Reiz eingebüßt. Sie war müde und unkonzentriert, und sie hatte steife Beine. Sie schob die Umhängetasche weiter nach oben, packte die Reisetasche fester und ging unentschlossen auf das zu, was – wie sie hoffte – das Ziel ihrer Reise war.

Sie durfte jetzt nicht aufgeben, dann würde alles nur noch sinnloser werden. So sinnlos, daß man nicht mal darüber nachdenken mochte.

Es roch nach Silage.

Nach Silage und nasser Erde. Der Wind kam in unregelmäßigen Böen. Hoffentlich vom Meer. Die Wellenpferde – oder wie hieß das noch bei Arne Garborg? Ein Brausen lag in der Luft, das vorher nicht dagewesen war.

Sie stolperte vorwärts, während sie sich an die Wellenpferde zu erinnern versuchte. Sie hatte einmal die Tabitha in Garborgs Stück ›Der Lehrer‹ gespielt und einen heftigen, aber kurzzeitigen Garborg-Tick gehabt. Wie ging sie noch, die Stelle mit dem Meer hier im Westen? Schwarzgrün kommt es in gewaltigen Wogen aus den westlichen Strichen herangewälzt, seine mähnenweißen Wellenpferde aus dem Meeresnebel führend. Und dann irgendwas von dem donnernden, tiefen, ewigen Orgelton aus den fernsten Abgründen. Oh, sie begann das ganze Unternehmen zu bereuen, warum mußte sie auch hinaus zu den Orgeltönen, wo sie doch trocken und gemütlich in der Bar des Hotels Atlantic hätte sitzen können, um auf ein besseres Morgen zu warten?

Das Elfenland, dachte sie und stolperte wieder, hielt sich aber auf den Beinen. Wer will eigentlich näher zum Meer, wenn es Abend wird und regnet?

Trotzdem ging sie unverdrossen weiter, schließlich stellte sich eine Art Rhythmus ein, die Absätze ihrer Stiefel knallten auf den Asphalt. Wären Autos gekommen, dann wäre sie per Anhalter gefahren, aber alles war ruhig, die Leute saßen vermutlich zu Hause und sahen fern. Ob sie auch mit geschlossenen Augen gehen konnte? Es tat gut, die Augen ein bißchen zuzumachen, sie war so müde. Direkt vor dem Straßengraben öffnete sie sie wieder. Irgendwo mußte sie eine andere Richtung eingeschlagen haben, oder die Straße hatte eine Kurve gemacht, ohne daß sie es gemerkt hatte, denn jetzt schlug ihr der Wind direkt ins Gesicht. Vielleicht hatte sie sich auf einen Seitenweg verirrt.

Sehen konnte sie auch nichts mehr.

Das Brausen des Meeres hatte dagegen ständig zugenommen. Mittlerweile war sie sich vollkommen sicher, daß das Geräusch vom Meer stammte und vom Schlagen der Wellen ans Ufer.

Und plötzlich hatte sie Sand unter den Füßen.

Losen Sand, sie kämpfte sich voran, wollte umkehren, aber der Sand war auf allen Seiten, Sand und große Grasbüschel, aufwärts ging es und hin und wieder abwärts, sie hatte die Orientierung verloren, hartes Gras schlug gegen ihre Hosenbeine, und ziemlich feiner Sand wirbelte durch die Luft.

In dem Moment fiel sie.

Hinterher saß sie lange mit dem Rücken an die Böschung gelehnt im Sand.

Es dauerte eine Weile, bis sie sich vom Schrecken erholt hatte. Sie fühlte sich wie zerschlagen, atmete stoßweise und klammerte sich an ihre Umhängetasche. Aber sie traute sich nicht, sie zu öffnen und noch mehr Gummibärchenschnaps zu trinken.

Es war so schon schlimm genug. Das Knie hatte sie sich auch noch aufgeschlagen.

Sie wünschte sich verzweifelt etwas Nichtalkoholisches zum Trinken.

Wasser.

Und außerdem hätte sie gern eine Taschenlampe gehabt, sie konnte nicht begreifen, wieso es plötzlich dermaßen finster war.

Das Meer mit seinen Orgeltönen dort draußen – nur nicht daran denken. Der jäh abfallende Meeresboden, der Steilhang unter Wasser, in dieser Gegend gab es keine vorgelagerten Schären, nur diese windgepeitschte Küste im tiefsten Süden des Landes. Es kam ihr vor, als versuchte ganz Norwegen – vom Nordkap bis in den tiefen Süden –, sie mit Nachdruck ins Meer zu schieben.

Sie grub die Finger rechts und links tief in den Sand und starrte hinaus auf die Wellenpferde, die in der Finsternis an Land galoppierten. Ihr Mund war so trocken, daß sie nicht schlucken konnte.

Sie mußte zusehen, von hier wegzukommen.

Sie legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu schauen, von wo sie hinuntergestürzt war. Das sah nicht gerade vielversprechend aus. Die Böschung war zwar nicht sonderlich hoch, dafür aber um so steiler. Sie lehnte sich vornüber und sah nicht aus, als wolle sie sich von unten entern lassen.

Ihre Augen tränten, und sie wischte sie mit dem Handrücken ab, als sie plötzlich etwas hörte.

Einen Ruf?

Sie lauschte mit offenem Mund.

Da war es wieder. Kam es von draußen? Halbvergessene Bilder von Schiffen in Seenot und umhertreibenden Wasserleichen. Ihre Nackenhaare sträubten sich, und sie bekam eine Gänsehaut. Da war es schon wieder, dieses Rufen, und ihr wurde klar, daß es nicht vom Meer kam.

Irgendwo oben in den Dünen waren Menschen.

Gleich schöpfte sie neuen Mut, da war jemand, sie war nicht allein, da führte einer seinen Hund aus oder war am frühen Abend joggen gegangen. Sie richtete sich auf, schnallte sich die Umhängetasche wenig elegant quer über die Brust und hängte sich die Reisetasche über den einen Arm. Dann nahm sie Anlauf und zog sich mit aller Kraft nach oben, klammerte sich an störrische Büschel von Strandhafer, scharfe Halme, die ihr in die Hände schnitten, hielt sich mit beiden Händen an den zähen Wurzeln fest und spürte, wie Sand und Kies an den Stellen abbröckelten, wo sie mit ihren Stiefeln Halt suchte.

Mit letzter Kraft wälzte sie sich über den Rand, lag keuchend und kraftlos zwischen den Strandhaferbüscheln, erleichtert darüber, wieder auf festem Boden zu sein. Mühsam stand sie auf. Sie sah niemanden, es war zu dunkel, und die Stiefel glitten noch immer durch losen Sand. Unsicher tastete sie sich auf die Stimmen zu, die vom feuchten Wind zu ihr getragen wurden.

Plötzlich waren Scheinwerfer zu sehen.

Ein Stück entfernt. Sie sah einen Parkplatz und zwei Autos, die sich gegenüberstanden. In ihrem gleißenden Licht spielte sich eine Szene ab, die ihr für einen kurzen Moment unwirklich vorkam. Sie ähnelte einem Filmausschnitt, allerdings ohne Ton, denn die Rufe waren verstummt, nur das Donnern der Brandung begleitete die Schläge und Tritte, die auf die Gestalt hinunterhagelten, die zwischen den beiden Autos halb lag und halb kniete.

Was taten die eigentlich da drüben?

Ihr Herz machte einen Satz und begann in der Brust wie verrückt zu rasen. Rein instinktiv ließ sie sich auf den Boden fallen, legte sich auf den Bauch, die Stirn gegen den Unterarm gepreßt, dann blickte sie wieder hoch.

Es sah aus wie eine Bestrafungsaktion.

Zwei Männer, die abwechselnd Schläge und Tritte austeilten, ein weiterer, der danebenstand und zusah. Aus dem wenigen zu schließen, was sie im Dunkeln ausmachen konnte, handelte es sich um Erwachsene. Es war also keine Auseinandersetzung zwischen Jugendbanden. Das Opfer selbst sah auch nicht jung aus. Der Mann trug zwar Jeansjacke und Jeans, hatte aber schütteres Haar und einen Bart.

Jetzt lag er flach auf dem Bauch.

Die beiden Männer, die ihn geschlagen hatten, legten eine Pause ein. Keuchend und mit herabhängenden Armen blickten sie auf ihr Opfer hinunter, dann traten sie noch einmal zu, jeder einmal. Moss glaubte, etwas knirschen zu hören, aber das war natürlich nur Einbildung. Sie hörte nichts als das Meer.

Jetzt redeten die da drüben miteinander.

Was sollte sie nur tun, nicht einmal ihr Handy hatte sie dabei. Das Gerät, das sie sich neulich gekauft hatte, mußte defekt sein. Es piepste die ganze Zeit, und sie hatte es zu Hause gelassen. Sie verfolgte die Männer mit den Augen, wie sie die Reißverschlüsse ihrer Jacken zuzogen und die Kragen hochstellten. Es sah aus, als kämen sie aus dem Kino, sie zündeten sich Zigaretten an, schauten sich um, redeten miteinander, einer von ihnen lachte.

Moss lag reglos im feuchten Sand.

Dann stiegen sie in die Autos. Türen knallten, die Wagen rollten rückwärts und wendeten. Dann fuhren sie los, nacheinander, langsam. Erst ein gutes Stück entfernt beschleunigten sie, unversehens waren die Lichter verschwunden, vermutlich machte die Straße eine Kurve.

Erst nach einer ganzen Weile stand sie mit steifen Gliedern auf. Die Dunkelheit um sie her war schwarz wie Tinte gewesen, sobald die Autoscheinwerfer verschwunden waren, doch jetzt konnte sie graue Formen ausmachen: die Dünen, die in Sumpflandschaft übergingen, die Finsternis des asphaltierten Parkplatzes und etwas Helleres, den Mann auf der Erde.

Sie ging die fünfzehn, zwanzig Meter zu ihm hinüber, sah sich rasch um, bevor sie die Taschen abstellte und sich hinhockte.

Sie tastete den reglosen Körper ab, untersuchte den Jeansstoff, stieß auf blutverklebte Haare, preßte ihre eiskalten Finger seitlich an seinen Hals.

Hörte nur ihr eigenes Herz, es pochte in den Ohren, sie schob die Finger ungeduldig ein kleines Stück höher.

Nichts.

Sie hätte ihn gern umgedreht, traute sich aber nicht, denn sie hatten ihn offenbar so getreten, daß er vermutlich eine Gehirnblutung hatte oder sein Nacken gebrochen war. Erneut preßte sie die Finger an seine Halsschlagader. Schloß die Augen, konzentrierte sich.

Los! Bleib hier! Komm schon!

Sie war plötzlich den Tränen nahe, es war einfach zuviel für einen Tag. Was zum Teufel sollte sie hier mit einem sterbenden Mann anfangen. Mensch, bleib hier! Wieder preßte sie die Finger an seinen Hals.

Fand keinen Puls.

Sie verlagerte ihr Gewicht auf die Fersen und versuchte nachzudenken.

Sie mußte Leute suchen, Hilfe holen. Das hier konnte sie nicht allein schaffen. Sie sah ja nichts im Dunkeln, hatte keine Ahnung, ob der Mann noch am Leben war. Er lag so schief, der Kopf war zur Seite gedreht, vielleicht hätte sich dort ein Puls tasten lassen, aber sie konnte ihn nicht finden.

Gerade wollte sie sich aufrichten, da bemerkte sie, daß sich etwas direkt neben ihr bewegte.

Sie erstarrte.

Ihr Herz hatte Anlauf genommen, jetzt pochte und schlug es gegen die Rippen.

Da stand jemand.

Sie starrte mit weit offenen Augen und trockenem Mund in die Finsternis.

»Hallo?« sagte sie schließlich. Sie hörte selbst, wie dünn ihre Stimme klang, und wiederholte mit der ganzen Kraft, die sie aufbringen konnte: »Hallo! Ist da jemand?«

Keine Antwort. Füße bewegten sich, Sand knirschte auf Asphalt.

Sie erhob sich langsam. Packte die Umhängetasche, als sei sie eine Waffe, umwickelte die Hand mit dem langen Riemen. »Jetzt antworte schon!« rief sie plötzlich mit sich überschlagender Stimme. »Sag was, verdammt noch mal!«

Wieder knirschte es, dann hörte sie eine Stimme, dünn, ein wenig nasal, beinahe schüchtern. Sie spürte, wie sie sich gleich ein bißchen entspannte, das war ja fast noch eine Jungenstimme.

»Was machen Sie hier?«

»Ich?« fragte Moss leicht hysterisch. »Ich bin bloß vorbeigekommen.«

»Sie wohnen also in der Nähe?«

Sie spürte, wie sie einen heißen Kopf bekam. Verdammt noch mal, stand der Typ hier herum und machte Small talk, oder was?

»Du, der muß ins Krankenhaus! Und zwar so schnell wie möglich, hörst du? Du hast nicht zufällig ein Handy dabei?«

Stille.

»Nein«, kam es endlich. »Aber wenn Sie hier wohnen ...«

»Ich bin nicht von hier!« sagte sie laut. »Ich bin heute aus Oslo gekommen, verdammt noch mal! Sieh zu, daß du deinen Arsch hochkriegst!«

Wieder Stille.

»Ich hab eine Taschenlampe«, sagte die Stimme schließlich. Es knirschte noch mehr, als er sich näherte. Etwas wurde ihr gereicht, was sie in Empfang nahm: eine Stablampe. Sie fummelte daran herum, ehe sie aufleuchtete. Dann hockte sie sich wieder hin.

Der Mann war tot. Es war offensichtlich. Er lag mit offenen Augen da und starrte ins Nichts, eine Blutspur zog sich von der Nase über die Wange. Es hätte ein schöner Mann sein können, wäre sein Gesicht nicht so fahl gewesen. Er war zwischen vierzig und fünfzig, er hatte Sand im Bart, und das Haar klebte blutig an Stirn und Schläfen. Er war tot.

Sie schaltete die Lampe aus. Gab sie dem Besitzer zurück, erhob sich. Packte die Umhängetasche, hängte sich die Reisetasche über den Arm.

»Ja, ja«, sagte sie. »Das war’s dann wohl.«

Da knallte es.

Hinterher konnte sie sich nicht mehr erinnern, ob es weh getan hatte oder nicht, sie wußte nur noch, daß sie eben noch dagestanden, sich an den Griffen ihrer Reisetasche zu schaffen gemacht und im nächsten Moment eine Art knirschendes Geräusch bemerkt hatte. Dann wurde sie bewußtlos.

3

»Er war vor dem Mast gesegelt

wie ein Mann, viele Jahre lang.

Er war mit verrutschter Ladung gesegelt

von Frisco bis Singapur.«

Trad.

Wahnsinnig durstig, dachte Moss und drehte sich im Bett um.

Durstig und offenbar verkatert.

Meine Güte, solche Kopfschmerzen hatte sie sonst nie, was hatte sie diesmal bloß getrunken?

»Southern Comfort«, sagte eine Stimme von weither. Sie schüttelte den Kopf und bereute es sofort.

Was war passiert?

Sie öffnete die Augen. Über ihr befand sich eine Decke, die sie noch nie gesehen hatte. Hellgrüne Holzverkleidung, mittendrin eine Milchglaskuppel voller toter Fliegen. Mühsam drehte sie den Kopf und entdeckte ein Fenster mit altmodischen Spitzengardinen, schlapp und schlaff hingen sie da, und es war lange her, daß sie einmal weiß gewesen waren.

Waren das Halluzinationen, oder träumte sie nur?

Da hörte sie Möwengeschrei, zunächst entfernt, dann sehr nah, schließlich Schritte auf einem Holzfußboden, knarr-knarr-knarr, es klang wie in einem Radiohörspiel. Sie runzelte die Augenbrauen und versuchte sich zu konzentrieren, als eine Türklinke quietschte.

Sie blinzelte der undeutlichen Gestalt zu, die auf der Türschwelle stand, wollte etwas sagen, aber es kam nichts als heiseres Quaken.

»Hm«, räusperte sich jemand drüben an der Tür. »Dabei hab ich denen doch gesagt, daß sie Sie nicht so fertigmachen sollen.«

Er war hochgewachsen und etwas gebeugt.

Sein Haar war nach Elvisart mit Pomade nach hinten gekämmt, nur zwei Haarsträhnen hingen ihm in die Augen. Er trug ein verwaschenes kariertes Hemd über einem weißen Unterhemd, hatte eine lange Nase, braune Augen blickten besorgt, und eine soeben angezündete Zigarette hing in seinem Mundwinkel.

Er hustete, ohne dabei die Zigarette zu verlieren, und sagte über die Schulter: »Und daß ihr sie dann auch noch mit hierher nach Varmen gebracht habt! Schön blöd!«

Jemand hinter ihm erwiderte etwas. Moss schloß die Augen. Was meinte er wohl damit, daß sie sie ins Warme mitgenommen hätten, und warum hatte sie solche Kopfschmerzen?

Weit entfernt knallte eine Tür.

»Na ja«, sagte eine Stimme nach einer Weile. »Nun ja.«

Dann hörte sie wieder den Husten, ein hartnäckiger und trockener Raucherhusten. Sie öffnete die Augen. Er stand direkt neben dem Bett und schaute auf sie hinunter, endlich hatte er die Zigarette aus dem Mund genommen, jetzt wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen. Dann hustete er noch einmal.

»Sie sollten wirklich mit dem Rauchen aufhören«, sagte Moss versuchsweise. Vielleicht war das Ganze ein Traum?

»Das sollte ich wohl, ja«, sagte der Mann. »Oh, wie sehen Sie bloß aus!«

»Sie sehen auch nicht so besonders aus«, erwiderte Moss ärgerlich. Sie wartete darauf, daß der Traum aufhörte.

»Sie sehen nicht doppelt, oder?«

»Nein«, sagte Moss. »Glücklicherweise nicht.«

Ihr Sarkasmus ging offenbar an ihm vorbei.

»Ist Ihnen schlecht?«

»Was zum Teufel soll das hier eigentlich?« fragte Moss und versuchte sich auf den Ellbogen zu stützen. In ihrem Kopf pochte es, und die Haut über dem einen Auge spannte.

»Ein verdammtes Veilchen«, sagte die Stimme. »Soll ich Ihnen einen Spiegel holen?«

Es war ein verdammtes Veilchen. Tief rotviolett und hing wie eine halbe Reineclaude unter der Braue. Darüber und darunter schimmerten verschiedene zarte Blautöne. Das würde in den nächsten Tagen noch schlimmer werden – ein blaues Auge hatte sie nicht zum ersten Mal.

Langsam richtete sie sich ganz auf.

Schüttelte vorsichtig den Kopf.

Beugte ihn vor und zurück. Alles schien an seinem Platz zu sein.

Dann saß sie mit angezogenen Knien da und starrte den Mann mit dem Raucherhusten an.

»Wollen Sie einen Kaffee, oder darf es ein Bier sein?« fragte er zuvorkommend.

Moss schluckte.

»Sie haben nicht zufällig Mineralwasser oder so?«

Er schüttelte den Kopf.