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Mord auf der Bühne – und Margaret Moss mittendrin! Als sich die ehemalige Schauspielerin und Privatdetektivin Margaret Moss auf ihre Tanzrolle in einem Musical am Osloer Odeon-Theater vorbereitet, ahnt sie noch nicht, dass sie bald schon Zeugin eines Mordes während einer Aufführung werden wird. Sie beginnt mit ihren Ermittlungen und wird dabei von ihrem Freund Roland unterstützt. Doch dann geschehen weitere Morde, und die Sache wird immer rätselhafter...Die Maragret-Moss-Serie entstand 1994 mit dem ersten der vier Krimis um die Ex-Schauspielerin Margaret Moss, die als Privatdetektivin in Oslo ermittelt. Im selben Jahr wurde Kjersti Scheen dafür mit dem Literaturpreis des norwegischen Gyldendal Verlags ausgezeichnet.
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Seitenzahl: 360
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Kjersti Scheen
Aus dem Norwegischen von Annika Krummacher
Saga
Kein Applaus für den Mörder - Norwegen-Krimi ÜbersetzerinAnnika Krummacher
Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 1996, 2020 Kjersti Scheen und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444988
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Immer bin ich von den Männern sitzengelassen worden. Wenn ich mich davongemacht habe, sind sie gegangen.
Es war ein sternklarer Novemberabend in Oslo, doch das Licht der Stadt stahl den Sternen die Schau, und der Himmel über der Hambros gate war tiefdunkel.
»Wie Tintenfischtinte«, dachte Margaret Moss düster. Sie lehnte an der Hauswand und sah die Taxis kommen und fahren.
Theaterzeit.
›Paris! Paris!‹ stand auf dem Baldachin über ihr – der Name einer Komödie, die schon seit zwei Monaten gespielt wurde. Heute abend war Privatdetektivin Moss nicht ins Theater gekommen, um in einem Fall zu ermitteln: Zusammen mit ihrer alten Tante wollte sie sich das Theaterstück im »Odeon« ansehen und gleichzeitig ihre eigene Theatervergangenheit aufsuchen.
Doch Tante Maisen war noch nicht gekommen.
Sie saß – so hoffte Margaret Moss – in einem Taxi aus Smestad im Nordwesten Oslos hierher, hektisch und von einer Wolke »Chanel No. 5« eingehüllt, ein edler Jahrgang, wahrscheinlich 1976. Nun ja, die mit der Zeit überhandnehmende chemische Duftkomponente würde immerhin den Portweinatem und die kleine Spur von Inkontinenz, die Tante Maisen sich nicht eingestehen wollte, überdecken.
Margaret selbst litt oft unter einem Phänomen, das sie als ihr Alter ego ansah, eine Stimme in ihrem Kopf, die sich fortwährend mit dem befaßte, was sie tat – bisweilen im harten Ton des Film Noir, dann wieder mit der Stimme der melodramatischen Heldin eines Trivialromans. Plötzlich meldete sich die Stimme:
Die Nacht stürzte sich gnadenlos auf die Menschen in der frierenden Stadt. Privatdetektivin Moss lächelte. Es war kein freundliches Lächeln, denn Moss und die Nacht steckten unter einer Decke.
»Merkwürdig«, dachte Margaret und wechselte ihr Standbein.
Es war kalt an diesem Abend.
Ein weiteres Taxi kam, und als der Taxifahrer die Innenbeleuchtung des Wagens eingeschaltet hatte und sich umdrehte, um zu kassieren, erkannte Margaret ihre Tante.
Maisen wühlte in ihrer Tasche.
Margaret blieb im Schatten der Wand stehen. Sie hatte einen langen Tag hinter sich und außerdem gerade einen Job abgelehnt. Besser gesagt, sie hatte die Entscheidung, ob sie den Job annehmen wollte oder nicht, aufgeschoben. Sie brauchte zwar Geld, doch gab es in ihrem Beruf gewisse Dinge, die ... Lieber morgen noch mal darüber nachdenken.
Und da kam Maisen Moss Pedersen auch schon, in ihren Lackpumps und ihrem Cape mit dem zerschlissenen Fuchspelz.
»Hallo, Maisen«, sagte Margaret und trat ins Licht. »Hat Karen angerufen?«
»Nein«, antwortete Maisen und griff mit nervösen Fingern nach dem Arm ihrer Nichte. »Aber der Fernfahrer hat sich gemeldet. Roland, weißt du? Du erinnerst dich doch?«
Margaret stolperte auf der Türschwelle und konnte sich gerade noch fangen.
»Mein Gott«, sagte Maisen und griff sich ans Herz. »Stützt hier der Blinde den Lahmen? Wenn nicht mal du dich vernünftig auf den Beinen halten kannst ... Hast du die Eintrittskarten?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Margaret.
Der Vorhang hatte sich noch nicht geöffnet, Maisen redete, fächelte sich mit dem Programm Luft zu und sah sich diskret in alle Richtungen um.
»Margaret, sieh mal da! Die ist aber alt geworden, was?«
Margaret gab einen unbestimmten Laut von sich, irgend etwas zwischen Ja und Nein, das genügte der Tante gewöhnlich und tat es auch diesmal. Maisen plapperte weiter, aufgeregt und mit roten Flecken auf den Wangen.
Sie hatte selbst einmal am »Odeon« gespielt, und zwar in dem Stück, das sie jetzt sehen würden, nur daß es damals ›Meine Frau aus Paris‹ geheißen, daß Folkman Schaanning wunderbar gespielt hatte und daß dies ganz am Anfang von Maisens kleiner Bühnenkarriere gewesen war.
Margaret umklammerte ihre Handtasche mit feuchten Händen. Roland hatte angerufen. Sie hatte ihn schon – wie lange hatte sie ihn schon nicht mehr gesehen? Bald fünf Monate. Seit er an einem heißen Junitag die Karl Johans gate hinauf zum Egertorget verschwunden war, hatte er sich nicht mehr gerührt. Und auch sie hatte sich nicht bei ihm gemeldet. Sollte er doch dort draußen in Prinsdal mit Frau und Kindern und seinen Lastzügen sitzen!
»Hat Roland gesagt, was er wollte?« fragte sie, als die Tante zwischendurch Luft holte. »Nein«, antwortete Maisen. »Kannst du mir sagen, warum sie die Stücke nicht so lassen können, wie sie ursprünglich gewesen sind? ›Paris! Paris!‹ Ich habe selten einen so blödsinnigen Namen gehört. Hier steht, daß ... wo stand es noch ...«
Sie hielt das Programmheft ein ganzes Stück von sich entfernt und kniff die Augen zusammen.
»›Auch heute noch sehr zeitgemäß‹, steht da. So ein Blödsinn!««
Sie rückte nervös ihre dünnen Beine in der braunen Stützstrumpfhose zurecht, während Margaret Roland Ruds überraschenden Anruf im Gehirn speicherte und sich umsah.
Das »Odeon« war ein schönes Theater im Baustil des Funktionalismus mit einem weißen, gewölbten Dach und schwarzlackierten Balkons. Sie selbst war hier nie fest angestellt gewesen, sondern hatte am Nationaltheater und an »Den Nationale Scene« in Bergen gespielt. Doch sie war hier tatsächlich einmal aufgetreten, mit einer kleinen Tanzund Gesangsrolle. Damals, als sie noch sehr jung und sehr schlank gewesen war und noch steppen konnte.
Das war vor ihrem Jurastudium gewesen, vor der kurzen Zeit im Polizeipräsidium und bevor sie ihre Karriere als nicht besonders erfolgreiche Privatdetektivin begonnen hatte. Bald drängte sich der Gedanke an Roland Rud wieder auf, doch sie schob diese Schublade ihres geistigen Archivs rasch wieder zu, denn schon öffnete sich der Vorhang des »Odeon«, und das Stück begann.
In der Pause trank Margaret ein Pils und Tante Maisen ein Glas Portwein an der mattgeschliffenen Glastheke des Foyers.
»Wie gefällt es dir?« fragte Tante Maisen und schob eine Haarnadel in ihrer Hochsteckfrisur zurecht.
»Es geht«, sagte Margaret. »Lita Thue hat sich ja ganz gut gehalten, obwohl sie eine ganze Ecke älter ist als ich. Aber diese hohen Absätze machen schließlich allen Frauen schöne Beine.«
Sie hatte schlechte Laune. Außerdem mochte sie diese Art von Musical nicht besonders. Warum um alles in der Welt hatte Roland angerufen?
»Sieh mal, da ist Carl Meyer, der Intendant«, sagte sie schnell. »Und seine Begleiterin – ist das seine Tochter?«
»Aber Margaret!«
Maisen blickte diskret zu ihm hinüber. »Ich habe noch seinen Vater gekannt, er war Geiger am Orchester des Nationaltheaters. Das war ein schöner Mann, sage ich dir.«
Da blickte Carl Meyer herüber und erkannte Margaret, er zog die Augenbrauen zusammen und sah einen Moment lang sehr konzentriert aus. Dann drückte er der jungen Dame an seiner Seite sein Weißweinglas in die Hand, ließ sie stehen und kam auf die beiden an der Glastheke zu.
»Na, Margaret?« fragte er, gab ihr die Hand und machte eine schnelle und höfliche Verbeugung in Tante Maisens Richtung. »Wie gefällt dir unsere kleine, wohlkonservierte Perle?«
»Meinst du Lita?« fragte Margaret, und Carl Meyer lachte etwas gezwungen. Er war ein Mann in den sogenannten besten Jahren, groß und kräftig, etwa Mitte Fünfzig, ergrautes Haar, das sich oben schon ein wenig lichtete, hinten jedoch um so länger war, und trug einen weißen Rollkragenpullover aus seidigem Stoff und einen weiten, teuren Anzug.
»Und du wühlst bei deiner Suche nach untreuen Ehefrauen noch immer in anderer Leute Mülltonnen herum?« fragte er, und Margaret dachte bei sich, daß ihm die Bemerkung über Lita bestimmt nicht gefallen hatte.
Doch schließlich waren die beiden nicht mehr verheiratet.
»Wer steht denn dort drüben?« parierte sie. »Ich wußte gar nicht, daß du Kinder hast!«
Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen. »Das ist meine Frau«, erklärte er. »Im übrigen habe ich zwei. Kinder, meine ich.«
Margaret blickte in ihr Glas. »Ach so«, sagte sie. »Ich habe eins. Es heißt Karen und macht zur Zeit einen Kurs an einer Heimvolkshochschule. Was macht deine Frau?«
»Sie ist hier angestellt«, entgegnete er ziemlich reserviert und sah aus, als bereute er es, überhaupt hergekommen zu sein.
Sie standen mitten in der Menge, um sie herum brodelte der Lärm von vielen plaudernden Menschen. Ein kräftiger Mann im dunklen Anzug mit zwei Sherrygläsern in der Hand drängte sich vorbei und blickte Margaret dabei lange und forschend an, bevor er einen kurzen Blick auf Carl Meyer warf und dann weiterging.
Plötzlich kitzelte Margaret etwas im Nacken – ein kühler Hauch des Schreckens. Sie blickte dem Mann nach, doch er war weg. Sie drehte sich zu Carl Meyer um und wollte ihn gerade fragen, ob das einer seiner Bekannten gewesen sei, doch er verbeugte sich nur kurz vor Tante Maisen und ging.
Maisen sah ihre Nichte an. »Was ist bloß los mit dir?« fragte sie. »Bekommst du demnächst das, was man zu meiner Zeit nicht hatte, du weißt schon?«
Margaret seufzte und stellte ihr leeres Glas ab.
»Ach«, meinte sie. »Ich weiß nicht. Mir geht’s schon den ganzen Tag so.«
Die Tante blickte sie an, und ihre hellblauen Augen glänzten plötzlich ein wenig. »Ich glaube, wir vermissen Karen«, sagte sie. »Das wird es sein. Das Haus ist so furchtbar leer ohne sie. Wir hätten ihr nicht erlauben sollen, auf diese Schule zu gehen.«
Es klingelte.
Die Pause war zu Ende.
Das Stück war vorbei. Der schwarze Vorhang mit den Goldornamenten war gefallen, und der Saal hatte sich geleert. Margaret stand draußen bei der Garderobe und wartete auf ihre Tante, deren Cape sie sich über den Arm gelegt hatte. Maisen war auf die Damentoilette verschwunden.
Da kam Meyer über den roten Teppich, so lautlos, daß Margaret zusammenzuckte, als er sie ansprach: »Hast du einen Augenblick Zeit?«
»Ich warte auf meine Tante, sie ist auf der Toilette. Leg los.«
Er blickte auf die Uhr und schaute kurz um sich, dann meinte er: »Kannst du sie nicht mit einem Taxi nach Hause schicken?«
Margaret stutzte. So gut kannte sie Carl Meyer doch gar nicht. »Ist es etwas Wichtiges?«
»Ja«, sagte er, und plötzlich bemerkte sie, daß ihm der Schweiß im Gesicht stand. Meyer steckte offenbar wirklich in Nöten, was es auch immer sein mochte, das ihn so quälte. Er warf erneut einen Blick auf die Tür zur Damentoilette, die noch immer geschlossen war.
Margaret dachte bei sich, daß ihre Tante wohl gerade mit ihrer Strumpfhose kämpfte. Die Strumpfhose anzuziehen war nicht ganz unproblematisch, wenn man Gleichgewichtsstörungen hatte.
Weit hinten auf dem Gang kam die junge Dame, die Margaret zunächst für Meyers Tochter gehalten hatte. Sie hatte sehr helles Haar und eine blasse Gesichtsfarbe, ihr Mund war dunkelrot, und wie die meisten Tänzerinnen ging sie mit leicht nach außen gedrehten Zehenspitzen und hielt den Kopf auf dem langen Hals hoch erhoben. Meyer sah sie und verzog den Mund irritiert. »Tja, da kommt Siv auch schon, ich dachte, sie wäre im Schauspielerfoyer. Da müssen wir uns eben verabreden. Hast du morgen Zeit?«
Margaret starrte ihn an. »Morgen«, wiederholte sie, um Zeit zu gewinnen und sich zu sammeln. »Ich habe meinen Terminkalender nicht dabei.«
Im Grunde war das ein Witz, denn ihr Terminkalender war so leer, daß sie die wenigen Termine eigentlich im Kopf hatte.
»Brauchst du eine Detektivin?« fragte sie, um etwas zu sagen.
Inzwischen war Siv zu ihnen gekommen. Sie faßte Meyer beim Arm und fragte mit einer Stimme, die ebenso blaß war wie ihr Gesicht: »Können wir nicht bald nach Hause gehen, Carl?«
»Gleich, Schatz, gleich«, erwiderte er und tätschelte ihre Hand. »Was ich brauche«, sagte er zu Margaret gewandt, »was ich ganz unbedingt brauche, ist eine Schauspielerin im passenden Alter für mein nächstes Stück. Ruf mich morgen an, dann hast du den Job sicher!«
In diesem Moment kam Tante Maisen. Meyer zog mit seiner Tänzerin ab.
»Mach den Mund zu, Mädchen, es zieht«, sagte Maisen streng und nahm Margaret das Cape ab.
»Ich glaube, ich leide unter Halluzinationen«, sagte Margaret und blickte Meyer hinterher, der gerade durch die Tür verschwand. »Er will, daß ich Theater spiele – dabei habe ich seit hundert Jahren keine Bühne mehr betreten!«
Tain’t what you do, it’s the way thatcha do it,
tain’t what you do, it’s the way thatcha do it,
tain’t what you do, it’s the way thatcha do it,
that’s what gets results.
Oliver/Young
Margaret Moss trat in die Pedale, daß der Schweiß nur so floß.
Der Heimtrainer, den sie sich ausgeliehen hatte, war alt, aber einigermaßen brauchbar. Allerdings gelang es ihr nicht, den richtigen Gang einzustellen, so daß sie die ganze Zeit mit einem gleichmäßigen und bleischweren Widerstand fahren mußte. Sie hatte sich das Gerät mitten ins Wohnzimmer gestellt, damit sie beim Trainieren fernsehen konnte, um durchzuhalten. Gerade flimmerte eine Natursendung über die Mattscheibe, es war neun Uhr abends, und ihre Waden fühlten sich an wie Eisenbeton. Sie hörte auf und schleppte sich zum Sofatisch. Mit einem Stöhnen legte sie das rechte Bein auf den Tisch und dehnte die Muskulatur. Es brannte wie Feuer. Im Grunde schmerzte ihr ganzer Körper, und dabei hatte sie am nächsten Tag um acht Uhr einen Termin beim Tanzpädagogen. Acht Uhr morgens, wohlgemerkt.
Sie wechselte das Bein und dehnte den Rücken nach hinten. Es knackte, und sie dachte: »Das überlebe ich nicht.« Sie warf sich aufs Sofa, legte sich flach hin und schloß die Augen. Warum hatte sie bloß zugesagt? Sie mußte wohl noch verrückter als sonst gewesen sein.
Es war genau eine Woche her, daß sie sich mit Meyer in der Bibliotheksbar getroffen hatte. Sie hatten vereinbart, sich dort zu treffen, denn er wollte nicht, daß sie in sein Büro kam. Sie hatte sich ein wenig verspätet; als sie kam, hatte er seine Limonade schon fast ausgetrunken.
»Trinkst du nichts Stärkeres?« fragte sie und setzte sich neben ihn auf das Sofa. »Du siehst aus, als könntest du das gebrauchen.«
Er sah sie schräg von der Seite an, sagte jedoch nichts. Der Kellner kam, und Margaret bestellte sich ein Pils.
Sie hatte an diesem Tag nichts weiter vor.
Definitiv nicht, schon lange hatte sie keine Aufträge mehr gehabt, und sie war pleite wie noch nie. So pleite, daß sie am Tag zuvor nahe daran gewesen war, einen Auftrag anzunehmen, der weit unter dem Standard lag, den sie glaubte, sich gesetzt zu haben.
Eine Dame hatte sie gebeten, den Lockvogel zu spielen, eine offenbar wohlhabende Frau mit diskret teuren Kleidern, die einen Beweis haben wollte, daß ihr Mann mit fremden Frauen ins Bett stieg, die er in den Hotelbars der Stadt aufgabelte.
»Bin ich nicht ein bißchen zu alt dafür?« hatte Margaret gefragt und sie unschlüssig angesehen. »Ich bin schließlich über Vierzig.«
»Ach was, mein Mann ist bald siebzig«, hatte die Dame geantwortet und Margaret eine blaue Zigarettenwolke entgegengeblasen. »Und Sie sind ja eigentlich ganz hübsch, wenn man auf diesen Typ von Frauen steht. Er beißt bestimmt an.«
Margaret, die nicht gerade darauf erpicht war, den Köder zu spielen, hatte sich Bedenkzeit erbeten.
»Sie müssen ja nicht mit ihm schlafen«, hatte die Dame ganz ruhig gesagt und ihre Handtasche aus Lackleder zugeknöpft. »Hauptsache, Sie sind nackt und liegen im Bett, wenn der Fotograf kommt. Wir müssen unbedingt einen genauen Zeitpunkt absprechen, an den Sie sich dann auch halten müßten. Und außerdem sollten wir darauf achten, daß die Tür des Hotelzimmers nicht abgeschlossen ist. Das wird schon glattgehen.«
Margaret holte tief Luft, nahm einen großen Schluck Bier und sah sich um. Es waren noch nicht besonders viele Leute da, nur ein paar weibliche Vormittagsstammgäste und ein paar Journalisten von ›Dagbladet‹ und ›Verdens gang‹, die sich um einen Schriftsteller scharten, an dessen Namen Margaret sich nicht erinnern konnte. Vom Flügel her erklang eine zuckersüße Version von ›As Time Goes By‹.
Meyer sah sie düster an. »Ich glaube, ich bin auf dem besten Wege, ein Magengeschwür zu bekommen«, sagte er.
Auch er schaute sich um, lange. Dann starrte er auf die Tischplatte, räusperte sich und begann schließlich zu sprechen. Draußen ging der Vormittag langsam in ein winterliches Halbdunkel über.
Margaret trank ihr Bier in kleinen Schlücken und hörte zu. Ihre Augenbrauen drohten nach und nach unter ihren Ponyfransen zu verschwinden, denn es war eine merkwürdige Geschichte, die er da erzählte, und sie wußte nicht so recht, was sie davon halten sollte.
Der Intendant des »Odeon« befürchtete eine Meuterei.
Er war felsenfest davon überzeugt, daß bestimmte Kreise innerhalb des Ensembles eine Verschwörung planten, um ihn zu feuern. Auf Margarets Frage hin, wie sie das wohl zuwege bringen sollten, antwortete er ausweichend, deutete jedoch an, daß sie als mögliche Gründe Unstimmigkeiten und Mauscheleien bei der Buchführung vorschieben könnten.
»Das stimmt natürlich nicht«, sagte er und spielte mit seinem Glas. »Aber es würde sich vor dem Staat und der Kommune nicht besonders gut machen, wenn es da Zweifel an meiner ... Redlichkeit geben würde. Wo es doch ohnehin nicht so leicht ist, ausreichend Zuschüsse zu bekommen, du weißt ja, wie das ist.«
Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Oberlippe.
»Bist du sicher, daß du keinen Drink willst?« fragte Margaret und betrachtete beunruhigt seine Gesichtsfarbe, die langsam völlig schwand.
Er sah sie düster an und legte die Hand auf sein Zwerchfell.
»Mein Magengeschwür«, sagte er.
Was er jetzt brauchte, war ein Spion. Er nannte es anders, aber das war es, was er meinte. Er suchte jemanden, der zuhörte, wenn sie sich unterhielten, in der Kantine, in den Gängen, in den Schauspielergarderoben, in den Kulissen. Jemanden, der einer von ihnen war.
»Und da habe ich an dich gedacht«, sagte er. »In dem Moment, als ich dich zusammen mit der alten Vogelscheuche im Theater gesehen habe, war mir klar, daß meine Bitten erhört worden waren.«
»Du sprichst von meiner Tante«, entgegnete Margaret Moss und bemerkte, daß ihr Glas leer war. Sie schaute auf und winkte den Kellner heran. »Außerdem bin ich ganz aus der Übung – ich habe schon seit zehn Jahren keinen einzigen Satz mehr auf der Bühne gesagt.«
»Du mußt bei der Rolle nicht viel sagen«, sagte Meyer. »Vielmehr müßtest du singen und tanzen!«
Margaret warf ihm einen langen Blick zu.
Der Kellner beugte sich über den Tisch.
»Einen Wodka«, sagte Margaret Moss. »Aber schnell, wenn ich bitten darf!«
Und nun saß oder, besser gesagt, lag sie hier auf dem Sofa, und in einer Woche würden die Proben für ›Crazy ’Bout My Baby‹ beginnen. Mit Lita Thue und Jan Vogt Johansen in den Hauptrollen, einem Zwölf-Mann-Orchester, vierzehn Tänzerinnen und Tänzern und der Privatdetektivin Moss in der Rolle der Ankleidefrau Elly. Sie streckte ihre schmerzenden Muskeln, hob langsam die Füße vom Sofa und richtete sich auf.
»Mmmmm«, summte sie leise vor sich hin, »Mmmmm!«
Früher hatte sie eine ganz passable Altstimme gehabt, doch das war lange her. Es würde ihr nicht gelingen, ihre Stimme in so kurzer Zeit wieder auf Vordermann zu bringen. Das war eben die gerechte Strafe dafür, daß sie nie, aber auch niemals sang, nicht einmal in der Badewanne!
»Du bist viel zu selten fröhlich«, rügte sie sich und erhob sich, um zum Eckschrank zu gehen. Sie wußte, daß sie besser daran täte, ihren Alkoholkonsum einzuschränken, aber eine Krise war eben eine Krise. Sie öffnete den Schrank und sah hinein.
Gähnende Leere.
Das konnte doch wohl nicht wahr sein! Sie rückte die Whiskygläser ihres Vaters beiseite.
Nicht eine Flasche. Sie hatte vergessen einzukaufen, und wo war bloß der letzte Rest des Wodkas geblieben?
Weg. Sie wurde ein wenig panisch, ging steifbeinig vor Muskelkater in die Küche und öffnete den Kühlschrank.
Die Milch blickte sie sauer an.
Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als zu Kreuze zu kriechen; sie klammerte sich ans Treppengeländer und schlich sich die Treppe hinunter zu ihrer Tante ins Erdgeschoß.
Da war schon wieder die Stimme ihres Alter ego: Hier kommt die berühmte Privatdetektivin Margaret Moss, ihr desillusionierter Blick trifft auf die verschlissene, braune Holzverkleidung des Treppenhauses. Sie weiß, daß sich hinter der Tür sonst etwas verbergen kann; sie hebt die Hand, und der Ton der Klingel gellt laut nach innen ...
»Herrgott«, sagte Tante Maisen und öffnete. »Jetzt hast du aber wirklich zu lange trainiert; du siehst aus wie eines der Viecher, die meine Katze von draußen hereinschleppt. Brauchst du was zu trinken?«
Margaret legte sich in die Badewanne, deren Wasser so heiß war, wie sie es gerade noch ertragen konnte – ihr wohlerprobtes Heilmittel gegen Schicksalsschläge aller Art. Ein Küchenglas mit Tante Maisens Portwein stand auf dem Wannenrand. Margaret nahm einen Schluck und verzog das Gesicht: »Pfui, ist der süß!« Dann stellte sie das Glas zurück und dachte: Meyer ist ein pathetischer Mensch – was er sich jetzt ausgedacht hat, ist mehr als verrückt. Und ich werde mich dabei zum Kasper machen.
Dann dachte sie: Aber immerhin ist es ein Job.
Sie streckte ihr Bein und entspannte den Wadenmuskel. Er hatte gesagt, daß der Auftrag sie nicht überfordern würde; die Rolle der Ankleidefrau Elly, der treuen, alten Begleiterin der Primadonna, war in erster Linie eine komische Rolle, nur einige wenige Sätze und ein Tanzauftritt mit dem gesamten Ensemble. Zu Beginn des ersten Akts sollte sie auf der Bühne stehen, im zweiten und dritten Akt hatte sie nur einige kurze Auftritte, und am Ende des Stücks kam das große Finale mit dem gesamten Ensemble – und zwar mit Steptanz, oje!
Sie hörte auf, ihr Bein zu schütteln und starrte nachdenklich darauf. Sie fragte sich, ob Meyer nicht noch mehr Karten in der Hinterhand hatte. Daß das Ensemble ihn fortwünschte, mochte ja noch angehen, aber daß er dafür Margaret beauftragt hatte? Das mußte noch andere Gründe haben als die Angst vor der Aufdeckung falscher Rechnungsbücher.
Die Frau? Die blonde, schlanke Siv? Vielleicht bändelte sie mit dem Repetitor an, und Meyer wollte Genaueres darüber wissen? Oder gehörte auch sie zur Verschwörung – sonst hätte er doch sie darum bitten können, für ihn zu spionieren?
Das Ganze wirkte ziemlich ... sie suchte nach dem passenden Wort und fand es schließlich: theatralisch. Lug und Trug, bei dem nichts so war, wie es auf den ersten Blick aussah.
Margaret Moss in ›Crazy ’Bout My Baby‹ eingeschlossen.
Sie drehte sich in der Badewanne um und stöhnte. Sogar unter Wasser spürte sie, wie die Muskeln schmerzten. Dann richtete sie sich auf, räusperte sich und begann probehalber zu singen – zuerst leise und mit dünner Stimme, dann kräftiger. »Denken Sie an Ihre Nase«, hatte ihre Gesangslehrerin in der Schauspielschule gesagt. »Schicken Sie Ihre Stimme hinauf durch die Nase!« Und Privatdetektivin Moss sang aus voller Brust und mit annähernd korrekter Atmung ›Solveigs Lied‹ von Edvard Grieg, und sehr zufrieden mit ihrer Leistung begann sie nach der Hälfte des Liedes wieder von vorne, weil sie sich an den Schluß nicht mehr erinnern konnte. Der Winter mag scheiden, der Frühling vergeh’n, der Sommer mag welken, das Jahr verweh’n, du kehrest mir zurücke, gewiß, du wirst mein, ich hab’ es versprochen, ich harre treulich dein ...
Plötzlich unterbrach sie ihren Gesang. Das Telefon klingelte.
Ich gehe nicht ran, dachte sie. Vielleicht ist es Roland, dachte sie dann.
Mit einem Ruck kletterte sie aus der Badewanne, daß der Schaum nur so spritzte, riß die Tür auf und rauschte durch den Flur ins Wohnzimmer. Als sie gerade den Hörer abnahm, klickte es am anderen Ende der Leitung.
Sie blieb stehen und wartete, vielleicht hatte er ja gehört, daß sie ans Telefon gegangen war, und versuchte es noch einmal.
Nichts passierte. Draußen rasselte die Østerås-Bahn auf ihrem Weg zur Station Smestad vorbei, und unten brach plötzlich das ›Frühlingsrauschen‹ los; Tante Maisen spielte Klavier, wie sie Auto fuhr – ruckweise.
Der Schaum trocknete langsam auf dem Rücken, Margaret ging zurück und legte sich wieder in die Badewanne.
Das Portweinglas war erstaunlicherweise unbeschadet stehengeblieben, es stand auf der äußersten Kante der Badewanne. Margaret leerte es und stellte es auf den Boden, dann tauchte sie noch einmal tief in das warme Wasser.
Roland hatte sich seit dem Anruf bei Tante Maisen nicht wieder gemeldet, und Margaret wollte nicht in seinem Haus in Prinsdal im Südosten der Stadt anrufen.
Irgendwo hatte sie die Telefonnummer zu seinem Mobiltelefon, aber ...
Es war ja auch gar nicht sicher, daß er etwas von ihr wollte. Vielleicht hatte er sie auch nur irgend etwas fragen wollen. Er hatte sie immer damit aufgezogen, daß er sie anrufen würde, wenn er etwas wissen wollte – denn sie war ja schließlich bei der Polizei gewesen und kannte die Tricks, hatte er gemeint. Als ob sie irgendwelche Tricks kennen würde! Kurz war sie dort gewesen, und wenig hatte sie gelernt. Am ehesten erinnerte sie sich noch an den bitteren Kaffee und an ihren Vorgesetzten, den sie nie besonders gut hatte leiden können.
Er hatte sie auch nicht gemocht. Er konnte einfach nicht damit umgehen, daß sie früher einmal politisch aktiv gewesen war, und zwar ausgerechnet bei den Linken. Jedesmal, wenn in der linken Hausbesetzerszene in Pilestredet wieder einmal etwas los war, hatte er sie mit Dreck beworfen.
Vielleicht war Roland mit den Kollegen von der Verkehrspolizei zusammengestoßen. Oder er brauchte den Namen von jemandem aus dem Bootsregister. Oder vielleicht war er mit der Rauschgiftfahndung aneinandergeraten.
Nein, letzteres bestimmt nicht! Nicht Roland Rud aus den großen Wäldern, der mit seinem Pferdeschwanz so anziehend auf die Damenwelt wirkte, nicht Roland, der Ritter der Landstraße.
Sie hatte doch irgendwo die Nummer von seinem Mobiltelefon, oder?
Doch Maisen hatte schließlich ausdrücklich gesagt, daß er sie nicht um einen Rückruf gebeten hatte.
Alles klar, hatte er bloß gesagt, als er gehört hatte, daß sie nicht zu Hause war. Und dann hatte er aufgelegt.
»Alles klar« – was sollte das eigentlich heißen, verdammt?
In diesem Moment klingelte das Telefon wieder, und noch bevor das erste Klingeln vorbei war, war Margaret aus der Wanne gesprungen und unterwegs durch den Flur. Sie lief über den Fußboden im Wohnzimmer, wobei ihr das Herz bis zum Hals schlug, sie stolperte über den Teppich, den sie beiseite gerollt hatte, um Platz für den Heimtrainer zu schaffen, fiel beinahe hin und stieß sich an der Ecke des Tischs, bevor sie den Hörer hochriß und rief: »Ja, ja, verdammt!«
Es war nicht Roland. Es war Karen.
»Hör mal, das ist echt nicht die netteste Art, von seiner Mutter begrüßt zu werden«, sagte die Tochter mit dünner Stimme. Margaret schluckte. »Ach, Karen«, sagte sie. »Ich dachte, es wäre jemand anders. Wie geht’s dir?«
»Ach, ganz gut«, erwiderte Karen. »Hier schneit es gerade.«
»Wirklich? Schneit es bei euch? Hier regnet es nämlich.«
Es wurde still in der Leitung, und Margaret dachte sofort: Sie ist unglücklich und bringt es nicht fertig zu sagen, was los ist. Sie wartete. Das Herz pochte noch immer heftig.
»Ach nee, eigentlich ist nichts Besonderes, ich wollte nur mal reden.«
»Ja«, sagte Margaret, und es war wieder still. Margaret blickte bekümmert vor sich hin.
Dann erzählte sie schnell und mit gespielter Fröhlichkeit von ihrem neuen Auftrag.
»Super, total witzig!« sagte Karen. »Da komme ich nach Oslo und schau dir zu. Besonders bei der Stepeinlage!«
Margaret spürte auf einmal mit ihrem ganzen Körper die vielen Kilometer, die sie und ihre siebzehnjährige Tochter mit den grüngefärbten Haaren trennten, und sie fragte: »Kannst du nicht dieses Wochenende nach Hause kommen?«
Karen zögerte etwas, und es rauschte in der Leitung. »Also, wenn hier etwas abgeht, dann ist das samstags, verstehst du?« sagte sie. »Aber nächstes Wochenende vielleicht.«
»Ja«, sagte Margaret.
Als sie auflegte, fror sie so, daß sie mit den Zähnen klapperte, und sie rubbelte sich lange ab, um wieder warm zu werden.
She’s not there.
Rod Argent
Es ist Dezember, und Schneeregen liegt in der Luft. Noch ist etwas Zeit bis Weihnachten, und über dem Eingang des Theaters leuchtet inzwischen nicht mehr der Titel des Stücks ›Paris! Paris!‹. Die Plakate werben jetzt für eine Kindervorstellung (›Die Kinder aus der Krachmacherstraße‹) und zwei Einakter von Strindberg, für die das Theater in der vorigen Spielzeit viel Lob eingeheimst hat. Zur Zeit werden alle Kräfte für die Proben am Großprojekt ›Crazy ’Bout My Baby‹ gebraucht, eine in jeder Hinsicht teure Inszenierung. Es ist kurz nach zwölf, die Arbeit auf der Bühne ist schon seit einer Stunde im Gange, die Bühnenbeleuchtung ist angeschaltet, doch der Zuschauerraum ist dunkel. Man probt die erste Szene des zweiten Akts; Regisseur Vebjørn Smien sitzt in der dritten Reihe des Parketts, neben ihm eine runde, kleine Dame mit rotem, fülligem Haar und Hornbrille. Die Leselampe an ihrem Pult ist angeschaltet, und vor ihr stehen zwei halbvolle Becher Kaffee, von denen der eine Smien gehört. Ganz rechts in der ersten Reihe sitzt die Souffleuse mit dem Textbuch. Sie hat sich einen großen Schal um den Körper gewickelt, denn sie hat schon den ganzen Herbst ihren Ischias gespürt. Das »Odeon« ist ein zugiges Theater.
Lita Thue und Jan Vogt Johansen proben zum fünften Mal, mitten auf der Bühne zusammenzustoßen, nachdem sie jeweils von rechts und von links aus den Kulissen getreten sind, wobei sie den größten Teil der Zeit rückwärts gehen oder nach oben in den Schnürboden blicken sollen. Im Stück ist das Licht ausgefallen, und der Revuestar, die gefeierte Primadonna Loretta Cole, tastet sich durch den dunklen Raum und weiß nicht, daß ihr Geliebter, der Gangsterkönig Johnny DeVito, sich in derselben Künstlergarderobe wie sie befindet, wo er sich auf der Flucht vor der Polizei versteckt hat.
»Herrgott«, sagt Vebjørn Smien mit lauter Stimme aus der dritten Reihe, »das kann doch nicht so schwer sein, seine eigenen Schritte zu zählen!«
Lita Thue tritt an die Rampe vor und hält sich die Hand schützend vor die Augen. »Das ist nicht unsere Schuld«, sagt sie laut hinaus ins Dunkel. »Irgendwas stimmt bei dieser ganzen Szene nicht!«
Jan Vogt Johansen baut sich neben ihr auf: »Ehrlich gesagt finde ich es ziemlich unnatürlich, Vebjørn, sich so zu drehen und herumzutanzen. Es gibt doch wohl verdammt noch mal niemanden, der in totaler Dunkelheit tanzen würde, Musical hin oder her! Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist das Licht in der Handlung doch ausgefallen, oder nicht?«
Der Regisseur mustert die beiden lange. Smien ist ein langer und dünner Mann mit gelocktem Haar und einer kleinen runden Brille, schwarzen Jeans und einem schwarzen Rollkragenpullover. Er seufzt so tief, daß das ganze »Odeon« bebt, steht auf und läuft zur kleinen Treppe, nimmt zwei Stufen auf einmal und tritt auf die Bühne. Seinen einen Arm legt er um Vogt Johansens Schultern, seinen anderen um Lita Thues.
»Okay, dann hört mal zu ...«, sagt er.
Margaret Moss sitzt zwischen den Kulissen auf einem unbequemen Stuhl aus Hartplastik; sie hat völlig vergessen, wieviel Zeit man bei den Proben mit Warterei verbringt, und spürt, wie es in ihrem Körper vor Ungeduld kribbelt.
Sie hätten jetzt ganz woanders im Stück sein sollen. Die Proben haben viel zu spät begonnen.
Meyer hatte nicht übertrieben, als er sagte, daß Meuterei in der Luft lag. Margaret war in ihrem Leben an vielen Bühnen gewesen, doch das »Odeon« hob sich unvorteilhaft von allen anderen ab: Hier war die Atmosphäre ausgesprochen kühl, die abgebrochenen Sätze und die Gespräche hinter geschlossenen Türen verbreiteten eine allgemein unangenehme Stimmung. Am ersten Tag hatte ein Mann namens Waldemar Viker sie ein wenig herumgeführt; er hatte an seinen Hosenträgern gezogen und sie knallen lassen und hatte, während er keuchend vor ihr die Treppe hinaufgestiegen war, gesagt: »Ja, ja, Margaret Moss, an diesem Theater bin ich mein Leben lang gewesen.«
Dann hatte er geschwiegen, sich umgedreht und darauf gewartet, daß sie ihn wieder einholte, ein noch nicht angezündeter Zigarillo hing ihm im Mundwinkel.
»Aber nichts ist wie früher, das sag ich dir, nichts ist wie früher.«
Dann warf er ihr einen blitzschnellen Blick zu und fügte hinzu: »Nur Altweibergeschwätz.«
Sie ahnte sofort, daß Waldemar Viker wußte, warum sie hier war; er war ein Mann, der sich nicht nur in der Geschichte des Theaters gut auskannte, sondern trotz seines Alters über ein sehr gutes Gehör verfügte und eine Art hatte, plötzlich hinter einem aufzutauchen, die einen richtig erschrecken konnte. Waldemar Viker entging wahrscheinlich nichts von dem, was hier geschah – vom Glasdach des Malersaals im sechsten Stock bis zum schmalen tunnelartigen Gang unter dem Orchestergraben.
Er bestand darauf, sie ganz hinauf auf die Arbeitsgalerie über dem Schnürboden mitzunehmen. Margaret, die unter einer gewissen Höhenangst litt, wurde schwindelig; sie starrte hinunter und sah, wie sich drei Bühnenarbeiter wie in Zeitlupe auf der Bühne tief unter ihnen bewegten.
»Hier, verstehst du«, sagte Viker und sah sie an. »Hier braucht man nur irgend etwas runterfallen zu lassen, schon ist der Mann dort unten mausetot!«
Er zog einen winzigen Schraubenzieher aus der Brusttasche seines Arbeitskittels und hielt ihn über das Eisengeländer. »Der hier zum Beispiel«, sagte er und lachte mit rostiger Stimme. »Der ist zwar nicht groß, aber was zählt, ist der richtige Zeitpunkt, Moss, der richtige Zeitpunkt! Wenn der Schraubenzieher die Mütze des Kerls da unten trifft, geht er hinab bis in den Blinddarm.«
Sie sah ihn groß an und zog die Augenbrauen hoch.
»Ich mach nur Spaß, weißt du«, sagte er und gab den Blick zurück.
Danach hatte er ihr die Porträtgalerie der früheren Intendanten gezeigt, die in schwarzen Bilderrahmen auf dem Gang vor den Büros hingen. Da war Robert Karlovsky mit dem schmalen Schnurrbart, der eigentlich Robert Karlsen geheißen hatte und mitten aus Oslo kam; da war der legendäre Nic Nicolaisen, der zehn Jahre lang nur Operetten inszeniert hatte und mit all seinen Primadonnen ins Bett gestiegen war; und da war Svend Bertil Jansson, der Brecht ins Repertoire aufgenommen und in den sechziger Jahren aus dem eher seichten »Odeon« ein anständiges Theater gemacht hatte.
»Aber das war eben damals und nicht heute«, sagte Viker.
»Und was ist heute?« fragte Margaret.
»Ach, heute«, erwiderte Viker, schlurfte vor ihr her in den winzigen Fahrstuhl und drückte auf den Knopf. »Heute geht alles den Bach runter.«
»Warum denn zum Beispiel?«
Margaret schluckte, denn der Fahrstuhl glitt auf eine besonders unangenehme und ruckhafte Weise durch die Stockwerke nach unten.
Viker zuckte bloß mit den Schultern, öffnete die Fahrstuhltür, suchte nach Streichhölzern und zündete seinen Zigarillo an.
»Hier ist die Kantine«, sagte er.
Und das war es schon. Sie hatte versucht, nach dieser Begegnung mit ihm zu sprechen, doch Waldemar Viker, Faktotum, Archivar, ehemaliger Inspizient und jetzt Mädchen für alles, verschwand wie mit einem Zauberschlag – jedesmal, wenn sie ihn alleine traf.
Margaret Moss seufzt und streckt das rechte Bein vorsichtig aus. Sie bekommt zur Zeit schnell Wadenkrämpfe. Auf der Bühne und um die Bühne herum gehen, stehen und sitzen Menschen in den unterschiedlichsten Kostümen. Das Tanzensemble trägt seine Stepschuhe für die nächste Szene, die Tänzerinnen tragen Schuhe mit hohem Absatz und Riemchen, die sich von den ausgebeulten Trainingshosen und den langen T-Shirts überraschend abheben. Lita Thue ist angezogen, als wolle sie in ein teures Lokal zum Essen ausgehen; sie trägt eine Bluse aus Wildseide über einem engen geschlitzten Rock, dazu eine Kaschmirstrickjacke über den Schultern. Ihr schwarzes Haar und die dunklen Augen kontrastieren mit der blonden Männlichkeit ihres Gegenspielers, doch seine Kleidung will so gar nicht zu ihrer passen. Vogt Johansen trägt verwaschene Sommerhosen, eine Anzugjacke und Joggingschuhe. Er wird nicht steppen, das kann er auch gar nicht, und Johnny DeVito ist ohnehin in erster Linie eine Sprech- und Gesangsrolle. Er hat sich inzwischen diesen Gangsterton aus dem amerikanischen Film der vierziger Jahre angeeignet: »Hey, hat hierrr irgendwerrr Lorrretta gesehn?«
Hinter Margaret stehen zwei Schauspieler und sprechen leise miteinander; sie wirft einen schnellen Blick über die Schulter und sieht, daß es Henny Haraldsen und Willy Andersen sind. Henny ist blond, jung, schön und geschmeidig und hat eine gute Stimme. Es geht das Gerücht, daß alle geglaubt haben, sie würde die Rolle der Loretta Cole bekommen und ›Crazy ’Bout My Baby‹ würde endlich ihr wirklicher Durchbruch werden – nach all den Nebenrollen, die sie in den drei Jahren gespielt hat, seit sie das Engagement am »Odeon« hat. Jetzt spielt sie Milly, eine der Ballettänzerinnen.
Willy ist eigentlich schon immer am »Odeon« gewesen. Er ist klein und flink, hat kurzgeschorenes Haar und eine Boxernase. In diesem Stück spielt er die Rolle des Gangsters Sonny.
Margaret massiert sich mit der rechten Hand den Nakken und lauscht mit halbem Ohr dem Gespräch der beiden. Das hat sie zumindest bemerkt: Die Theaterleute unterhalten sich vor allem über Bagatellen. Jedenfalls ist es am »Odeon« so; sie hat recht wenig herausfinden können bei den Gesprächen in der Kantine, den Schauspielergarderoben oder den Gängen. Dabei hat sie jedoch festgestellt, daß vieles von dem, was sie interessiert, in Nebensätzen und durch Blicke mitgeteilt wird.
Außerdem hat sie bemerkt, daß es beinahe unmöglich ist, für ein Musical zu proben und zugleich Sherlock Holmes zu spielen. Obwohl sie keine große Rolle hat, kann sie sich nicht einfach aus dem Staub machen; den größten Teil der Zeit muß sie anwesend sein, genau wie alle anderen. Und sie gibt sich Mühe mit ihrem Text, mit dem Tanz und dem Gesang, denn sie hat Angst, daß es auffallen könnte, wie ungeübt sie ist – und sie rechtfertigt sich vor sich selbst, indem sie sich sagt, daß sie schließlich nicht als Privatdetektivin Moss entlarvt werden will. Dabei weiß sie, daß die Sache gar nicht so einfach ist.
Sie will nämlich nicht in dem Beruf versagen, in dem sie früher einmal erfolgreich war.
Sie kann zwar darüber lachen, daß sie eine mißglückte Privatdetektivin ist, aber nicht darüber, als Schauspielerin erfolglos zu sein.
So ist es.
Und Carl Meyer erzählt ihr nichts, das über das hinausgehen würde, was er neulich bei ihrem Treffen in der Bibliotheksbar verraten hat, doch er sieht von Tag zu Tag dyspeptischer aus und wandelt wie Hamlets verstorbener Vater durch die Gänge: stumm und mit steifen Bewegungen, ein Paßgänger voller innerer Unruhe.
Sie grübelt häufig darüber nach, warum er sie gebeten hat, ans »Odeon« zu kommen. Er benimmt sich so, als habe er vergessen, daß sie da ist.
Vor ihren Augen versuchen Lita Thue und Jan Vogt Johansen noch einmal, sich auf der großen Bühne zu begegnen, während sie Pirouetten drehen, nach oben in den Schnürboden starren und ihre Schritte zählen.
Hinter ihr sagt Willy Andersen etwas zu Henny.
» ... bis zum Treffen am nächsten Montag«, sagt er.
Plötzlich ist da etwas in seiner Stimme, das Margaret aufhorchen läßt: Er hat ein bißchen leiser gesprochen als sonst, oder nicht?
»Ich hoffe, wir wissen, was wir tun«, sagt Henny.
Dann ist es still, nur die Stimmen von Lita Thue und Vogt Johansen hallen über die große, leere Bühne, Margaret streckt sich und tut so, als würde sie gähnen, dann dreht sie sich um und wirft den beiden hinter sich einen Blick zu. »Herrgott«, sagt sie. »Ich werde ganz steif!«
»Wenn’s mir doch genauso ginge«, sagt Willy und kassiert routiniert den ebenso routinierten Ausruf der Damen ein: »Willy!«
»Es muß doch ziemlich hart sein, nach einer so langen Pause wieder einzusteigen, oder?« erkundigt sich Henny. Das haben sie alle gesagt, einer nach dem anderen. Aber es scheint, als hätten sie eingesehen, daß die Zeiten für Detektive schlecht sind und daß Meyer ihr einen Freundschaftsdienst erwiesen hat, indem sie die Rolle der Ankleidefrau Elly bekam.
»Ich gehe fast ein«, antwortet Margaret. »Aber es geht schon besser als am Anfang.«
»Du singst schön«, sagt Henny. »Im Gegensatz zu gewissen anderen!«
Willy streicht sich über seine kurzen Haare, und zwar so, daß Margaret in seiner Bewegung sofort Lita Thue wiedererkennt. Sie lächelt: »Na ja.«
»Stimmt doch, oder?« sagt Willy. »Na ja!«
Henny blickt ihn völlig abwesend an, zumindest hat Margaret den Eindruck. Willy zuckt mit den Schultern und schaut auf die Uhr: »Ich glaube, ich brauche eine Zigarette.«
Er verschwindet den Gang hinunter, wobei seine Stepschuhe ein diskret klickendes Geräusch erzeugen.
Margaret sagt betont gleichgültig: »Ist am Montag so eine Art Besprechung?«
Sie blickt Henny dabei nicht an, sondern massiert sich immer noch mit der Hand den Nacken. Es ist still hinter ihr, dann sagt Henny: »Hör mal ... du bist doch mit Carl befreundet, oder?«
Jetzt dreht Margaret sich um: »Nein«, sagt sie. »Er war Dramaturg am Nationaltheater, als ich dort arbeitete, ich kenne ihn noch aus der Zeit. Aber wir sind nicht näher befreundet gewesen.«
»Ach so«, sagt Henny.
Der folgende Tag war ein Freitag.
Als Margaret morgens aufstand, hatte sie sich entschieden: Sie mußte am Montag zu diesem Treffen gehen. Sagen, daß sie interessiert war, und andeuten, daß auch sie mit Carl Meyer nicht zufrieden war. Und dann mußte sie es am Montagabend fertigbringen, nach einem langen Tag voller Proben noch einmal das Haus zu verlassen und nach draußen in die Dunkelheit zu gehen. Keine geringe Leistung für eine eingerostete Schauspielerin mit Blasen an den Zehen und Schwierigkeiten sowohl mit dem Rücken als auch mit ihren Repliken, dachte sie, während sie beeindruckt ihr Frühstück musterte, das sie sich zubereitet hatte: Saft.
Joghurt (fettarm). Zwei halbe Scheiben Vollkornbrot mit dreißigprozentigem Kümmelkäse. Tee ohne Zucker und Milch.
Die Tage, an denen es nur schwarzen Kaffee und sonst nichts gegeben hatte, waren vorüber. Jedenfalls fürs erste. Sie aß mittags einfach zuviel in der Kantine, wenn sie morgens vor der Arbeit keine richtige Grundlage schaffte.
In der Hambros gate pfiff ihr der beißende Nordwind durch die Kleidung.
I rather have a paper doll to call my own
than a fickle hearted real-life girl.
J. Blake
Gerade wird die dritte Szene des ersten Akts geprobt, Schauplatz ist der Strand in Atlantic City. Der Strand ist voller Badenymphen in gestreiften Badeanzügen und Gangster in zweireihigen Anzügen. Das heißt: So wird es bei der Aufführung sein. Noch tragen die Schauspieler ihre ausgebeulten Trainingshosen und verwaschenen T-Shirts, mit Ausnahme von Lita natürlich. Heute ist die Seidenbluse maisgelb, der Rock schwarz und eng, das Haar rabenschwarz und glänzend. Sie sieht gestreßt aus und trinkt große Mengen Wasser aus einer Flasche, die sie in den Kulissen deponiert hat. Im Saal hat Smien es sich in seinem Sitz bequem gemacht; er hat die Hände tief in die Hosentaschen geschoben und verfolgt regungslos das Geschehen auf der Bühne. Lita und die Tänzerinnen halten Sonnenschirme in den Händen – die Schirme müssen schon jetzt dabei sein, denn sie werden beim Tanzen hin- und her geschwungen, aufgespannt und wieder zusammengeklappt. Wieder und wieder wird dieselbe Stelle geprobt, dann sind Willy Andersen und Jan Vogt Johansen an der Reihe.
In den Kulissen sitzen die Tänzerinnen auf dem Boden und warten, ihre Köpfe auf die Arme gestützt, die Beine weit von sich gestreckt. Sie massieren sich die Beinmuskeln, ziehen ihre Pferdeschwänze nach, dehnen und strekken sich. »Danke«, ruft Smien und ist mit einem schnellen Satz auf der Bühne. Er demonstriert mit Handbewegungen und langen Schritten noch einmal seine Vorstellungen. »Gut. Und dann geht ihr rückwärts, bis hierher! Das ist dann schon die richtige Position für die nächsten Schritte – Achtung, schaut mal her!«
Lita hat die Hände in die Seiten gestützt und sieht zu.
Margaret streckt vorsichtig ihren Rücken, Henny steht direkt neben ihr. Sie räuspert sich und sagt leise: »Ist nicht bald mal Pause, ich gehe ein vor Hunger!«
»Ich hab noch einen Kopenhagener in der Garderobe«, sagt Henny. »Soll ich ihn dir holen?«
»Bist du verrückt?« antwortet Margaret und fügt hinzu: »Na ja, du kannst dir das wohl eher erlauben als ich.«
»Sag das nicht«, sagt Henny und blickt geistesabwesend auf die Bühne, wo Smien mit den Armen wedelt. »Ich kann ja nicht mal an einem Mann vorbeigehen, ohne Fett anzusetzen.«
Margaret blickt sie etwas überrascht an, und Henny schlägt sich auf den Mund. »O Gott«, sagt sie. »Das war mal wieder ein echter Freudscher Versprecher, wie? Ich meinte natürlich einen Bäcker ... oder vielleicht doch nicht?«
Margaret lacht.