Roselill - Kjersti Scheen - E-Book

Roselill E-Book

Kjersti Scheen

4,3

Beschreibung

Henny und Lotte kennen sich schon eine Ewigkeit. Man könnte meinen, es wäre schon immer so gewesen. Die beiden 12-Jährigen sind seit dem Kindergarten beste Freundinnen, erzählen sich alles und sind unzertrennlich. Streit kennen die beiden nicht. Doch das ändert sich schlagartig, als sich Henny in Emil aus der Parallelklasse verliebt. Die Freundschaft der beiden Freundinnen steht zunehmend auf einer harten Probe. Und ausgerechnet jetzt möchte Lotte das Geheimnis einer alten Villa erkunden. Emil und sein Freund Lasse versprechen schließlich auch mit auf Erkundungstour zu gehen und Henny macht auch mit. Zwischen Henny und Emil knistert es gemeinsam und ganz allmählich entwickelt sich zwischen den beiden das erste zarte Band der Liebe. Doch was hat es mit dem Geisterhaus auf sich? Gelingt es den vieren die sagenumwobene Roselill aufzuspüren? – Einfühlsame Geschichte über Freundschaft und die erste große Liebe.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 166

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,3 (18 Bewertungen)
10
4
4
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kjersti Scheen

Roselill

Roman

Aus dem Norwegischenvon Maike Dörries

Saga

Hoch oben am Hang über der stark befahrenen Fernstraße thronte ein altes Haus mit Erkern und Türmen. Es machte einen herrschaftlichen Eindruck, aber bei näherer Betrachtung konnte man sehen, wie verfallen es war. Die Dachrinnen waren durchgerostet, die Farbe an der Südfassade blätterte ab, etliche Fensterscheiben hatten Sprünge und auf dem Dach fehlten ein paar Ziegel.

Um den Garten war es auch nicht besser bestellt. Die Stämme der Apfelbäume waren von einer grünen Moosschicht überzogen und voll mit wuchernden Trieben. Auf den Kieswegen verdrängte eine Generation Unkraut die nächste.

Es war offensichtlich, dass dieses Haus nicht mehr bewohnt wurde. Jedenfalls nicht von Menschen. Tiere gab es dort mehr als genug. Im Frühling drängten sich gurrende Tauben auf dem Dach und den Simsen. In langen Winternächten nagten Mäuse Tapetenleim von den Wänden, und draußen im Garten unter dem halb eingestürzten Schuppen, in dem früher einmal die Spaten und Harken untergebracht waren, lebte ein Dachs.

Manchmal meinten die Nachbarn, Licht hinter den Fenstern zu sehen, aber das bildeten sie sich wahrscheinlich nur ein. Sicher waren das nur die starken Scheinwerfer der Autos unten auf der Fernstraße, die sich in den Scheiben spiegelten, man täuschte sich so schnell.

Das Haus schlief tief und fest.

Oder?

1

Es war ein verhangener Spätwintertag. Die E 18 zwischen Lysaker und Oslo Zentrum war schneematsch- und salzverschmiert, es dämmerte bereits, obwohl es erst vier Uhr war. Henny und Lotte waren mit dem Bus in die Stadt unterwegs. Lotte wollte ein Paar Schuhe kaufen und hinterher würden sie sich noch einen Hamburger genehmigen.

Falls vom Schuhgeld etwas übrig blieb.

»Klar bleibt was übrig«, sagte Lotte. »So teure Schuhe will ich nun auch wieder nicht kaufen.«

»Ha, ich kenn dich doch«, murmelte Henny, den Blick auf den schmuddeligen Schneematsch am Randstreifen geheftet, der vor der Scheibe an ihnen vorbeizog. Sie kannte Lotte seit der Vorschule und hatte noch nie erlebt, dass Lotte irgendetwas tat, das kein Geld kostete.

Viel Geld.

»Pff«, sagte Lotte und machte eine Blase mit dem Kaugummi. Es gab ein schmatzendes Geräusch, als die Blase zerplatzte und an ihrer Oberlippe hängen blieb. »Da, das Geisterhaus.«

Der Bus fuhr unterhalb einer hohen Mauer mit einem stellenweise arg baufälligen Zaun vorbei. Sie mussten den Kopf in den Nacken legen, um etwas erkennen zu können, aber hinter den Bäumen war nur der Hausgiebel zu sehen. »Erinnerst du dich noch an die Geschichte, die wir uns ausgedacht haben?«, fragte Lotte und zupfte sich den Kaugummi von der Lippe. »Wie haben wir das Mädchen noch genannt, das dort wohnen sollte?«

»Roselill«, sagte Henny.

Sie wollte nicht darüber reden. Es kam immer noch vor, dass sie nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, an das Geisterhaus dachte. Dann sah sie sich über den Gartenweg auf das gewaltige Haus mit seinen Erkern und Vorbauten zugehen, hinter dessen Fenstern der Schatten der unglücklichen Roselill vorbeiglitt.

Henny drehte den Kopf und sah auf der anderen Seite aus dem Busfenster aufs Wasser hinaus. Sie wollte nicht mit Lotte darüber sprechen. Lotte konnte solche Gedanken nicht nachvollziehen.

Plötzlich überkam sie eine richtige Abneigung gegen ihre Freundin. Es gab immer mehr Dinge, über die sie nicht mehr mit ihr reden konnte, obwohl sie beide beste Freundinnen waren, seit sie denken konnte. Aber Lotte war irgendwie so — durchschnittlich geworden. Über Dinge, die sie nicht verstand, machte sie sich lustig. Sie war genau wie ihre Mutter, die ständig die Tür zu Lottes Zimmer aufriss und rief: »Na, Mädels, wollt ihr bei dem schönen Wetter nicht lieber an die frische Luft gehen?«

Egal, ob es regnete oder die Sonne schien.

Lotte und ihre Mutter sahen sich extrem ähnlich, sie waren beide klein, schlank und dunkelhaarig und hatten braune Augen.

Henny war größer als Lotte und blond. In der fünften Klasse hatten ein paar Jungen ihnen den Spitznamen Dick und Doof gegeben.

Der Bus kam schnaufend zum Stehen, die Türen gingen zischend auf. Ein kalter Windzug mit einer Duftmischung aus Abgasen und Seeluft strömte durch den Mittelgang. Zwei Jungen stiegen ein und kramten in ihren Taschen nach Kleingeld.

Lotte boxte Henny in die Seite. Henny schluckte und hatte das Gefühl, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen. Das waren nämlich Emil und Lasse, genau die beiden Jungen, die ihnen in der Fünften ihre Spitznamen verpasst hatten. Inzwischen waren sie alle in der Mittelstufe, wenn auch nicht mehr in derselben Klasse.

Emil und Lasse schlitterten auf sie zu, als der Bus anfuhr, und konnten sich gerade noch auf die Sitze vor ihnen werfen, bevor sie beinahe der Länge nach hingefallen wären. »Wo kommt ihr denn her?«, fragte Lotte neugierig wie immer und machte eine neue Kaugummiblase.

»Lasse hat sich ein Fahrrad angesehen«, sagte Emil, zog die Nase hoch und strich sich mit der Hand über die kurzen Haare. Henny sah ihn an. Das machte er dauernd!

Schnief! Und dann einmal mit der Hand über die Borsten.

Seine Haare, die er früher halblang in einer undefinierbaren Frisur getragen hatte, standen jetzt nach oben. Henny musterte ihn interessiert. Die Haare sahen gar nicht so borstig aus, eher weich, und seine tiefen Grübchen fand sie auch nicht schlecht.

Letzte Woche hatte er einen Schneeball hinter ihr hergeworfen. Einen schlappen Ball, locker aus dem Handgelenk, nur um sie zu ärgern. Sie hatte den Schneeball kommen sehen und sich geduckt, dabei war ihre Mütze heruntergerutscht. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte er direkt hinter ihr gestanden. Da hatte sie zum ersten Mal gesehen, wie er sich über die Stoppeln strich, und bemerkt, dass er Grübchen hatte, wenn er lachte. Das war ihr vorher noch nie aufgefallen.

Sie hatte am Wochenende ein paar Mal an ihn gedacht und sich einen kleinen Tagtraum zusammengesponnen. Am Ende war er so wirklich geworden, dass sie am Montag, als ihre und Emils Blicke sich trafen, knallrot geworden war.

»Bin ich rot?«, hatte sie Lotte zugeflüstert.

»Ein bisschen. Wieso?«

»Ach, mir ist so warm«, hatte sie geantwortet.

Und jetzt war er hier, in diesem Bus.

Henny hob die Hand, wickelte eine Haarsträhne um den Finger und schaute aus dem Fenster.

»Warum fummelst du eigentlich immer an deinem Haar rum?«, fragte Emil. Er hatte sich zu ihnen umgedreht, das Kinn auf die Rückenlehne gelegt und sah sie interessiert an.

»Ööh«, sagte sie und zwirbelte die Haarsträhne vor lauter Aufregung noch fester um den Finger. Als sie es merkte, ließ sie ihre Haare schnell los, drehte sich zur Seite und sah wieder aus dem Fenster.

Wie peinlich!

»Willst du dir ein Rad kaufen?«, fragte Lotte und sah Lasse an.

»Nein. Mein Bruder braucht eins. In der Zeitung war ein gut erhaltenes Jungenrad inseriert. Aber das Rad war die reinste Schrottkarre. Und dann auch noch zu groß. Mein Bruder ist gerade mal sieben.«

»Das war übrigens ganz in der Nähe von diesem großen, alten Haus, das schon seit Ewigkeiten leer steht«, sagte Emil.

»Dem Geisterhaus?«, fragte Lotte und Henny stöhnte innerlich. In dem Augenblick bremste der Bus abrupt vor einer roten Ampel in der Bygdøy Allee, und Lasse, der nur mit einer Pobacke auf der Sitzkante saß, wäre fast heruntergerutscht.

»He, pass doch auf!«, rief er dem Fahrer wütend zu, aber der hatte das Radio laufen und darüber hinaus die Nase gestrichen voll von Schülern und alten Frauen und tat, als würde er nichts hören.

»Und wohin seid ihr unterwegs?«, fragte Emil. Henny war erleichtert, dass keiner der beiden mitbekommen zu haben schien, was Lotte gesagt hatte.

»Schuhe kaufen«, sagte Henny. »Lotte jedenfalls. Hinterher gehen wir vielleicht noch zu McDonald’s.«

»Wir müssen was bei meiner Mutter abgeben, sie arbeitet ganz in der Nähe vom Nationaltheater«, sagte Emil. »Vielleicht gehen wir hinterher ja auch noch zu McDonald’s.«

»Arbeitet sie in einem Geschäft?«, fragte Lotte und Henny wollte gleichzeitig wissen: »Zu welchem McDonald’s?«

»Nein, sie arbeitet in einem Büro. Und: Zu welchem geht ihr denn?«

»Zu dem McDonald’s in der Klingenberggata«, sagte Henny schnell.

»Passt doch hervorragend«, sagte Emil und sah Lasse von der Seite an.

Lotte stieß Henny in die Rippen. Sie hatte die spitzesten Ellenbogen der Welt. Diesmal wollte sie wahrscheinlich signalisieren, dass sie überhaupt noch nicht entschieden hätten, zu welchem McDonald’s sie gehen wollten, falls sie nicht doch das ganze Geld für ihre Schuhe ausgab.

Henny lachte, als hätte sie nicht mitbekommen, was Lotte ihr sagen wollte, und sah stur weiter aus dem Fenster.

Die erleuchteten Schaufenster in der Bygdøy Allee flimmerten in der Januardunkelheit vorbei. Die Hydraulik des Busses schnaufte und zischte bei jedem Bremsen. Bremsen, stopp, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, Gas geben, bremsen, stopp.

Nächster Halt: Lapsetorvet.

Emil und Lasse saßen jetzt mit dem Rücken zu ihnen, sie unterhielten sich und lachten, Henny schnappte einen Teil ihres Gesprächs auf »... und da hat Gogge zu Fredrik gesagt, dass daraus nichts wird, du weißt schon ...«, bevor sie abschaltete.

Gogge und Fredrik gingen in ihre Klasse. Was die beiden zu sagen hatten oder taten, interessierte Henny im Augenblick nur am Rande.

Lotte saß schweigend neben ihr, kaute auf ihrem Kaugummi herum und atmete laut, ihre Daunenjacken knisterten im Takt mit den Schaukelbewegungen des Busses. War Lotte jetzt sauer, weil Henny gesagt hatte, dass sie zum McDonald’s in der Klingenberggata gehen würden? Henny überlegte gerade, ob sie Lotte darauf ansprechen sollte, als der Bus vor der roten Ampel vorm Nationaltheater bremste. Die Jungen standen auf und gingen zur Tür. Henny machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder. Lotte formte eine neue Kaugummiblase. Der Bus schob sich über die Kreuzung und bog in die Haltebucht ein. Die Türen glitten mit einem Zischen auf.

Die Jungen zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken hoch. Beim Aussteigen warf Emil Henny noch einen schnellen Blick zu, ehe er die Stufen hinuntersprang und verschwand.

Henny sah nicht aus dem Fenster.

Die Scheibe war sowieso beschlagen.

Lotte stieß sie wieder an. »Was sollte das denn, sag mal!« Henny zog an einer Haarsträhne an der Schläfe und wickelte sie um den Finger. Sie antwortete nicht.

»Das war nicht abgesprochen, also echt!«

Henny richtete sich auf. »Wir wussten ja auch nicht, dass wir die beiden treffen würden.«

»Nein, aber trotzdem, echt!«

»Du sagst echt ganz schön oft echt«, murmelte Henny und griff nach ihren Handschuhen.

An der nächsten Haltestelle mussten sie raus.

Glücklicherweise nahm der Schuhkauf Lotte so in Anspruch, dass sie nicht lange sauer war. Henny bemühte sich, so nett wie möglich zu sein, damit Lotte ja nicht bocken würde und sich womöglich weigerte, zum McDonald’s in der Klingenberggata zu gehen.

»Cool«, sagte sie und sah auf Lottes Füße.

»Findest du wirklich?«, fragte Lotte unsicher.

»Ja, deine Beine wirken länger darin.«

Ihre Beine waren Lottes großer Komplex, sie fand sie zu kurz. Henny war zwar nicht der Meinung, versuchte aber Lotte in solchen Dingen zu ermutigen. Ganz abgesehen davon, stimmte es tatsächlich, dass Lottes Beine in den Schuhen, die sie gerade anprobierte, länger wirkten.

»Dann nehm ich die!«, entschied Lotte. Henny seufzte erleichtert. Die Schuhe ließen nicht nur Lottes Beine länger wirken, es waren auch die billigsten von denen, die sie bisher anprobiert hatte.

Als die Verkäuferin die Schuhe eingepackt und die Summe in die Kasse eingetippt hatte, tat Henny, als würde sie jetzt eigentlich am liebsten direkt nach Hause fahren. Sie gähnte und streckte sich, und als Lotte sagte: »Und, gehen wir jetzt zum McDonald’s in der Klingenberggata?«, antwortete sie abwesend: »Okay, von mir aus.«

Sie schlenderten die Lille Grensen entlang.

Lotte schlenkerte mit der Schuhtasche. »Die waren wirklich cool, stimmt’s?«

»Sind«, sagte Henny. »Oder sind sie gestorben, nachdem du den Schuhladen verlassen hast?«

Sie lachten sich halb tot über den bekloppten Witz, und als sie beim Stortinget die Karl Johansgate überquerten, fühlte Henny sich so glücklich, als ob ein ganzer Strom Brausebläschen in ihr aufsteigen würde.

Hauptsache, Emil und Lasse waren auch da.

Waren sie.

Lotte hatte keinen Verdacht geschöpft, sie erzählte unentwegt von ihren neuen Schuhen und bemerkte Hennys ungewöhnliche Freude, die beiden Jungs aus der Parallelklasse zu treffen, gar nicht.

Henny war sich ja selbst nicht im Klaren darüber, warum sie sich so freute.

Bist du verliebt, oder was?, fragte eine innere Stimme.

Pff, antwortete sie stumm, während sie sich aus der Jacke schälte und sich linkisch auf den Platz neben Lotte plumpsen ließ.

Was war denn schon dabei, mit ein paar Jungs einen Hamburger essen zu gehen?

Draußen war es jetzt richtig dunkel, die Läden machten zu, die Neonbeleuchtung flackerte und die Zwiebeln rumorten leicht in Hennys Magen. Der Raum füllte sich mit Leuten, die in die Sieben-Uhr-Vorstellung im Saga oder Klingenberg wollten.

Lotte quasselte immer noch. Lasse hatte das Kinn auf die Hand gestützt und sah sie an, machte an den richtigen Stellen Bemerkungen und schien sich wirklich für das zu interessieren, was sie sagte. Emil malte auf seinem Teller Strichmännchen aus Tomatenketchup, während Henny unermüdlich Haarsträhnen zwirbelte.

»Warst du mal in dem Haus?«, fragte Emil sie völlig unerwartet. Henny zuckte zusammen und hätte fast ihren Colabecher umgeworfen.

»Im Geisterhaus?«, fragte sie und hätte sich dafür die Zunge abbeißen mögen.

»Nennt ihr das so?«, fragte er.

Sie zog die Schultern hoch. »Ja, als wir klein waren.«

»Klar«, sagte er und schob Pommes in den Mund, wobei ein Tropfen Ketchup auf seinem Kinn landete.

Henny sah woandershin.

»Wie lange es wohl schon leer steht?«, sagte er.

Henny schaute aus dem Fenster.

Auf dem Gehweg tobte eine Gruppe Skateboarder vorbei, wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zum Rathausplatz, um auf den Treppenstufen auf ihren Brettern zu posieren. Ihr kamen fast die Tränen. Vor zwei Sekunden hatte sie noch überlegt, ob sie nicht vielleicht ein kleines bisschen — ja, verliebt in Emil war, und jetzt ließ dieses Gefühl schon wieder nach, weil er Ketchup am Kinn hatte. Schrecklich. Und genauso schrecklich war es, dass er jetzt auch noch von dem Haus anfing — als ob das irgendein Haus wäre und nicht der Schauplatz für mindestens die Hälfte ihrer Tagträume.

»Du hast Ketchup am Kinn!«

Das kam von Lotte. Henny wartete eine Sekunde und drehte sich dann wie zufällig um.

Der Fleck am Kinn war weg.

Lotte hatte mitbekommen, worüber sie geredet hatten, und sagte: »Die letzten Besitzer sind vor mehr als fünf Jahren ausgezogen. Hat meine Mutter gesagt.«

»Komisch, dass es nicht abgerissen wird«, sagte Lasse.

»Dazu ist es zu schön«, sagte Henny und starrte in ihren Colabecher, als ob es dort etwas Spannendes zu entdecken gäbe.

»Aber es stürzt doch fast ein«, sagte Lasse.

»Quatsch«, entgegnete Henny.

»Bestimmt spukt es dort«, meinte Emil und sah sie an.

»So’n Käse! Jedenfalls nicht wirklich«, widersprach Lotte. »Ha, würdest du dich etwa trauen, da reinzugehen?«, fragte Lasse und sah sie auffordernd an.

»Klar trau ich mich«, sagte Lotte.

»Auch im Dunkeln?«, fragte Lasse.

»Klar«, antwortete Lotte.

In Hennys Magen rumorte es, und das lag nicht an dem Hamburger, den sie gegessen hatte.

»Jetzt gleich?«, fragte Lasse.

»Ich muss um elf zu Hause sein«, sagte Lotte und lachte. Dieses Lachen kannte Henny nur zu gut. Wenn Lotte so lachte, musste man auf alles gefasst sein.

Auf absolut alles.

2

Sie saßen auf der hintersten Bank im Bus und fuhren am Schloss vorbei. Henny hatte das Kinn hinter den Jackenkragen geschoben und suchte nach einem triftigen Grund, um nach Hause fahren zu können. Hausaufgaben? Keine Chance, Lotte wusste, dass sie die meisten schon gemacht hatte.

Kopfschmerzen? Würde Lotte ihr nicht abnehmen.

»Wir hätten lieber die Straßenbahn nehmen sollen«, sagte Lasse. »Die fährt oben rum. Dann hätten wir uns den steilen Hang zum Haus hoch sparen können.«

»Noch können wir umsteigen«, sagte Lotte und sprang eilig auf, um die Halteschnur zu ziehen. Der Bus hielt an und Lotte rief: »Los, da kommt grad eine!«

Als sie in die Straßenbahn einstiegen, war Emil so dicht hinter Henny, dass sie seinen Atem an ihrer Wange spürte. Für einen kurzen Augenblick vergaß sie völlig, dass sie eigentlich nach Hause wollte, und lachte aufgeregt.

Lotte hatte sich einen Platz gesucht. Sie schwenkte die Plastiktüte mit ihren neuen Schuhen hin und her und unterhielt sich mit Lasse. Als die Straßenbahn quietschend durch Skillebekk ruckelte, saßen sie hintereinander, Lasse und Lotte vorn, dahinter Emil und Henny. Henny legte die Stirn an die Scheibe und tat, als ob sie nach draußen schauen würde.

Sie war auf einmal schrecklich verlegen.

Emil und sie saßen da, als ob sie ein Pärchen wären.

Lotte erzählte ohne Punkt und Komma. Als hätte sie nie etwas anderes getan, als mit Lasse Straßenbahn zu fahren. Lotte ging es gut, Lotte warf den Kopf in den Nacken und blies einen Kaugummiballon, während Henny sich über sich selbst ärgerte, weil sie so bescheuert war. Stumm und idiotisch und kindisch! Sie drehte sich gereizt zur Seite. Emil sah sie verdutzt an.

»Ist was?«

»Na ja«, antwortet Henny unentschlossen. »Es ist nur ...«

»Was?«, hakte Emil nach.

»Wir sollten nicht zu dem Haus gehen!«, sagte Henny, weil sie das Gefühl hatte, irgendwas sagen zu müssen.

»Warum denn nicht?«, fragte Emil und sah sie neugierig an. »Weil ... das nicht erlaubt ist«, sagte Henny und fummelte an ihren Haaren herum. »Das ist ... Vielleicht stören wir ja jemanden!«

Mein Gott, was faselte sie da für einen Schwachsinn, spätestens jetzt musste er sie doch für völlig bescheuert halten. Sie zog so kräftig an den Haaren, dass sie sich fast von der Kopfhaut lösten, ihr schossen Tränen in die Augen, nicht, weil sie unglücklich war, sondern weil es an der Schläfe immer besonders weh tat. Sie drehte sich schnell wieder zum Fenster.

»Wen sollte das stören?«

Er lehnte sich zu ihr hinüber.

»Vielleicht wohnt da ja jemand, der nicht gesehen werden möchte«, antwortete Henny und hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen.

Dass sie aber auch nie die Klappe halten konnte!

Bloß weil sie nicht so locker wie Lotte war und drauflosquatschen konnte, hockte sie da und ... weihte Emil in ihre Tagträume ein!

Deine Flunkerei wird dir früher oder später noch mal Probleme bereiten!, pflegte ihre Großmutter zu sagen, worauf ihre Mutter jedes Mal antwortete: Sie flunkert nicht, sie hat nur eine blühende Phantasie. Jetzt war sie dabei, sich mit ihrer blühenden Phantasie Probleme einzuhandeln, und zwar eher früher als später, weil sie nicht wusste, wie man sich verhalten sollte, wenn man mit ein paar Jungen Straßenbahn fährt.

Lotte drehte sich nach hinten um. »Bei der nächsten Haltestelle steigen wir aus!«

Letzte Gelegenheit, dachte Henny. Letzte Gelegenheit, sich abzuseilen.

Aber sie stand mit den anderen auf, und nachdem sie ausgestiegen war und die Straßenbahn in der Dunkelheit verschwinden sah, folgte sie den anderen.

Das Haus lag am Ende einer schmalen Stichstraße. Im Dunkeln war es nur als schwarze Silhouette am Abendhimmel zu erkennen, der vom entfernten Großstadtlicht braunviolett gefärbt wurde.

Sie stapften schweigend durch gefrorenen Kies. Als sie eine gelb gestrichene Toreinfahrt passierten, nickte Lasse. Dort hatten die beiden sich das Rad angesehen.

Am Ende der Straße blieben sie stehen.

Lasse knöpfte seine Jacke am Hals auf und zog den Reißverschluss runter. Holte tief Luft. Emil fuhr sich wieder über die Haarstoppeln und warf Henny, die an einer Haarsträhne zupfte und wegsah, einen flüchtigen Blick zu. Lotte stieß sie in die Seite. »Ist doch witzig, Henny!«, flüsterte sie leise und eindringlich.

Henny hatte kalte Füße und der Hamburger lag ihr wie ein Stein im Magen.

Emil strich sich wieder über die Haare, ohne Henny aus den Augen zu lassen, und Henny befürchtete, dass er sie verraten und den anderen erzählen könnte, was sie in der Straßenbahn zu ihm gesagt hatte. Henny ging zu dem großen zerbeulten Briefkasten, der an dem fast schon eingefallenen Zaun hing, und klappte den Deckel auf.

»Mal sehen, ob Post gekommen ist«, sagte sie laut.

Und siehe da.

Jede Menge Reklame, vom Schnee und Regen völlig aufgeweicht und zusammengeklebt.

Lotte wusste ganz genau, dass Henny das nicht wollte!

Lotte wollte sich doch bloß vor den Jungs wichtig machen!

Aber Henny würde es ihr schon zeigen!

Henny knallte den Deckel wieder zu und schob die Hände in die Jackentaschen. Sie warf Lotte einen Blick zu, den diese angriffslustig erwiderte.

Da ging Henny los.