Die Silvesterglocken - Charles Dickens - E-Book

Die Silvesterglocken E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Die Silvesterglocken Charles Dickens - Der arme Dienstbote Toby Veck lebt mit seiner Tochter Meg in London. Am Silvesterabend gesteht Meg ihrem Vater, den Tischler Richard Johnson heiraten zu wollen. Doch Armenrichter Alderman Cute malt Meg in düstersten Farben ihre Zukunft aus - in noch größerer Armut, mit zwei, drei Kindern und einem arbeitslosen, dem Alkohol ergebenen Mann. In der Silvesternacht wird Toby vom Glockenklang in den Glockenturm gelockt. Dort begegnet er Geistern, Elfen und Kobolden - und bekommt erschreckende Visionen, die die Prophezeiungen des Armenrichters zu bestätigen scheinen ...

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Charles Dickens
Die Silvesterglocken

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Das erste Viertel

Die Silvesterglocken

Ein Märchen von Glocken, die ein altes Jahr aus- und ein neues Jahr einläuten

Das erste Viertel

Es gibt nicht viele Menschen – und da es wünschenswert ist, daß ein Erzähler und sein Leser einander so rasch als möglich vollkommen verstehen, so bitte ich, darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst im Aufschießen oder bereits wieder im Verwelken begriffen sein – ich sage, es gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schliefen. Ich meine damit nicht ein Einschlafen während der Predigt bei warmem Wetter, was wohl hin und wieder vorkommen mag, sondern ein regelrechtes Übernachten, und zwar mutterseelenallein. Ich weiß, sehr viele würden schon am hellichten Tag über ein derartiges Beginnen sich höchlich verwundern. Aber meine Behauptung bezieht sich auf die Nacht. Und diese soll auch den Beweis liefern. Ich verpflichte mich, in einer stürmischen Winternacht, die zu diesem Zweck gewählt werde, meiner Behauptung zu einem glorreichen Sieg zu verhelfen, wenn sich mir ein Gegner aus der Menge allein auf einem alten Friedhof vor ein altes Kirchtor stellt und mich vorher ermächtigt hat, falls es zu seiner Befriedigung notwendig wäre, ihn bis zum Morgen einzusperren.

Denn der Nachtwind besitzt eine unheimliche Geschicklichkeit, ein derartiges Gebäude stöhnend zu umkreisen, mit unsichtbarer Hand an Fenstern und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte aufzuspüren, durch die er sich hineinpfeifen kann. Ist er endlich drinnen, So winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht; und dabei begnügt er sich nicht damit, durch die Schiffe zu schleichen, um die Pfeiler zu huschen, die tiefe Orgel zu probieren, sondern schwingt sich auf zur Decke und bemüht sich, das Sparrenwerk zu zerreißen, stürzt sich verzweifelt hinunter auf die Steinfliesen und dringt murrend in die Grüfte. Gleich darauf kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den Toten geweiht sind, zu lesen. Vor einigen derselben bricht er schrill aus, wie im Gelächter, während er vor andern ächzt und schluchzt wie in großem Schmerz. In der Nähe des Altars stimmt er einen gar gespenstigen Ton an und singt in seiner wilden Weise von Unrecht, Mord, falscher Gottesverehrung und Trotz gegen die Gesetzestafeln, die so oft gebrochen und mit Füßen getreten werden, obschon sie so schön und glatt aussehen. Hu! der Himmel bewahre uns, die wir so gemächlich um das Feuer sitzen! Er hat eine gar schreckliche Stimme – dieser Wind um Mitternacht, wenn er in einer Kirche singt!

Aber erst hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen die unheimlichen Windstöße! Hoch oben im Turm, wo sie frei aus- und einziehen können durch manche luftige Öffnung, sich um die schwindelnde Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und sogar das Gemäuer zittern und beben lassen! Hoch oben im Turm, wo der Glockenstuhl ist, wo die eisernen Geländer sich infolge des langjährigen Rostes Schuppen; wo die Blei- und Kupferplatten , runzelig vor Alter und Wetterstürzen, unter dem ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Kotnester in die Ecken des alten Eichengebälks stopfen, der Staub alt und grau wird, fleckige Spinnen, während ihrer ungestörten Ruhe fett und faul geworden, gemächlich sich von den schwingenden Glocken hin und her pendeln lassen und niemals die Verbindung mit ihren gesponnenen Luftschlößchen verlieren, oder wie Matrosen in rascher Unruhe hinanklettern, wenn sie sich nicht lieber auf den Boden niederlassen, um ein Dutzend hurtiger Füße zur Rettung eines einzigen Lebens in Tätigkeit zu setzen! Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem Licht und Gemurmel der Stadt, dennoch aber weit unter den fliegenden Wolken, die sie beschatten, ist das wilde, traurige, nächtige Plätzchen, und hoch oben im Turm einer alten Kirche hausen die Glocken, von denen ich spreche.

Es waren, glaubt mir, alte Glocken. Schon vor Jahrhunderten wurden diese Glocken von Bischöfen getauft; vor so vielen Jahrhunderten bereits, daß ihr Taufregister seit unvordenklichen Reiten verloren ging und niemand mehr ihre Namen wußte. Sie hatten ihre Paten und Patinnen gehabt (nebenbei gesagt, ich für meinen Teil möchte lieber die Verantwortlichkeit übernehmen bei einer Glocke, als bei einem Knaben Gevatter zu stehen) und ohne Zweifel auch ihre silbernen Becher erhalten. Aber die Zeit hatte ihre Taufzeugen dahingerafft und Heinrich VIII. ihre Becher, die er einschmelzen ließ. Und so hängen sie denn jetzt namen- und herrenlos in dem Kirchturm.

Wortlos allerdings nicht. Im Gegenteil. Sie hatten klare, laute, lustige, volltönende Stimmen, diese Glocken; und auf dem Rücken des Windes fortgetragen, konnte man sie weithin hören. Sie waren aber viel zu kühne Glocken, als daß sie sich dem Belieben des Windes unterworfen hätten. Denn wenn er ihnen zu launenhaft war, kämpften sie tapfer gegen ihn an und ließen ihre fröhlichen Klänge stolz in ein lauschendes Ohr strömen; sie waren darauf erpicht, in stürmischen Nächten von einer armen Mutter, die bei einem kranken Kinde wachte, oder einer einsamen Frau, deren Gatte zur See war, gehört zu werden. Ja, man weiß sogar, daß sie hin und wieder einen pustenden Nordwest besiegten, ja ihn sogar »in Grund und Boden« schlugen, wie Toby Veck sagte; – denn obgleich man ihn Trotty Veck nannte, hieß er doch Toby, und niemand (außer ihm selbst) konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas anderm machen. Er war zu seiner Zeit so gesetzlich getauft worden, wie die Glocken zu der ihrigen, obschon nicht mit ganz so viel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Glauben; denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte, sich eine richtige Ansicht zu bilden. was daher Toby Veck sagte, sage ich auch, und ich will auf Tobys Seite stehen, obgleich er den ganzen Tag (und das war eine mühsame Arbeit) vor der Kirchentür zu stehen pflegte. Er war nämlich Dienstmann und wartete dort auf Aufträge.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger, steifzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit, wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam wütend um die Ecke gefahren – insbesondere der Ostwind – als wenn er sich direkt von den Grenzen der Erde aufgemacht hätte, nur um Toby anzuschnauben. Ja, oft schien er den armen Teufel sogar früher zu treffen, als er erwartet hatte; denn wenn er um die Ecke raste und an Toby vorbeifuhr, wirbelte er plötzlich wieder zurück, als wollte er sagen : »Ha, da ist er ja schon!« Unaufhaltsam flog dann Tobys kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines unartigen Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, sah seine Beine in heftige Bewegung geraten, während Toby selbst in schräger Körperhaltung, das Gesicht bald da- bald dorthin wendend, so umhergetrieben und gestoßen wurde, wohl auch zeitweise den Boden unter den Füßen verlor, daß es fast als ein Wunder erschien, wenn er nicht gleich einer Kolonie von Fröschen, Schnecken oder andern tragbaren Geschöpfen in die Luft geführt und an irgendeinem fernen Weltende, wo Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windig Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby, obschon es ihm so roh zusetzte. Das ist Tatsache. Er schien in dem Wind nicht so lange auf ein Sechspencestück warten zu müssen wie zu andern Reiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte feine Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig oder kleinmütig war. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in der einen oder andern Weise gutzutun, obschon sich der eigentliche Grund nur schwer angeben ließ. Wie dem übrigens sein mochte, Wind, Frost, Schnee und vielleicht ein tüchtiger Hagel waren für Toby Veck die rotgedruckten Tage im Kalender.

Nasses Wetter war das Schlimmste – die kalte, unfreundliche Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser Mantel einhüllte – die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte, auf den er aber doch zur Erhöhung seiner Behaglichkeit gern verzichtet hätte. Die nassen Tage, wenn der Regen langsam, dicht und hartnäckig niederträufelte , wenn die Straßenschlünde wie sein eigner mit schwefeligem Nebel erfüllt waren, wenn dampfende Schirme hin und hergingen und wie ebenso viele Kreisel tanzten, sooft sie auf dem gedrängten Fußweg aneinander anstießen und eine wirbelnde Brause ungemütlicher Tröpfchen von sich schleuderten, wenn die Dachrinnen klatschten und es in den vollen Wassertraufen donnerte, wenn die Nässe von dem vorspringenden Gestein der Kirche -tropf, tropf, tropf- auf Toby niederplumpste und den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu zu bloßem Schmutz wandelte – das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Und dann konnte man Toby tatsächlich beobachten, wie er ängstlich und mit trostlosem, langem Gesicht aus seinem Schlupfwinkel in einer Ecke der Kirchenmauer hervorguckte. Dieser Zufluchtsort war ein so kärglicher Schutz, daß er zur Sommerszeit nie einen breitern Schatten auf das sonnige Pflaster warf, als ein dicker Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch Bewegung warm zu machen, trottete etliche Male hin und her, was seine Laune wieder aufheiterte, und kehrte dann ganz wohlgemut in seine Nische zurück.

Man nannte ihn Trotty wegen seines Ganges, der wenigstens Eile andeuten sollte. Er hätte vielleicht schneller gehen können; aber würde man ihn seines Trottes beraubt haben, So wäre er krank geworden und gestorben. Dieser Trott bespritzte ihm bei schlechtem Wetter den Rock mit Kot, vernichte ihm zahllose Unannehmlichkeiten und Beschwerden; Toby hätte ungleich müheloser marschieren können – aber das war gerade ein Grund mehr, diese schwierige Gangart krampfhaft beizubehalten. Obschon ein schwaches, schmächtiges altes Männlein, war Toby doch ein wahrer Herkules in seinen guten Absichten. Er hatte eine Freude daran, wenn er sein Geld verdienen konnte. Es gewährte ihm ein großes Vergnügen, zu glauben – Toby war sehr arm und konnte nicht gut auf ein Vergnügen verzichten – daß er seines Lohnes auch wert sei. Mit einem Auftrag, der ihm einen Schilling oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es ihm nie gebrach, um ein beträchtliches. Wenn er so dahin trabte, pflegte er den schnelleren Briefträgern vor seiner Nase zuzurufen, sie sollten ihm aus dem Weg gehen, weil er nicht anders glaubte, als daß er im Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und niederrennen müsse; auch lebte er der festen Überzeugung, die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn er mit lecken Schuhen eine krumme Linie wieder zusammenlaufender Fußtapfen durch den Kot zog und, mit gebeugten Knien und sein Rohr unter dem Arm, seine frostigen Hände blies oder gegeneinander rieb, da sie nur ganz ungenügend gegen die schneidende Kälte durch fadenscheinige grauwollene Fäustlinge geschützt waren, an denen nur der Daumen ein eignes Appartement und die übrigen Finger eine gemeinschaftliche Herberge hatten. Desgleichen trabte er, wenn er auf die Straße hinausging, um bei dem Schall der Glocken an dem Turm hinaufzusehen.

Diesen letztern Ausflug machte er mehrere Male des Tages; denn die Glocken waren gleichsam seine Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte, blickte er gern zu ihrem luftigen Wohnsitz hinauf, während er darüber nachdachte, wie sie bewegt wurden und was für Hämmer auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für ihn, weil es zwischen ihnen und ihm selbst Ähnlichkeiten gab. Sie hingen da oben bei jedem Wetter, in Wind und Regen, sahen nur die Außenseite aller jener Häuser, kamen den lodernden Feuern, die durch die Fenster leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten, niemals nahe und waren nie imstande, an den guten Dingen teilzunehmen, die ohne Unterlaß durch die Haustüren und Vorhof-Geländer an verschwenderische Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter kamen an die Fenster und entfernten sich wieder – bisweilen hübsche Gesichter, jugendliche Gesichter, angenehme Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil; doch Toby wußte ebensowenig wie die Glocken (sooft er auch, wenn er müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen, oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist – seines Wissens wenigstens nicht – und ich will nicht behaupten, daß er nach und nach sich durch solche Betrachtungen hindurchgerungen oder eine förmliche Heerschau über seine Gedanken abgehalten hatte, ehe er zu den Glocken eine Neigung faßte und seine erste oberflächliche vermittels zarter Fäden zu einem innigeren Bündnis wob. Was ich aber sagen will und auch sage, ist, daß in derselben Weise, wie Tobys körperliche Funktionen, Seine Verdauungsorgane zum Beispiel, vermöge ihrer eignen Schlauheit und ihres mannigfaltigen, ihm unbewußten Zusammenwirkens, dessen Kenntnis ihn nicht wenig in Erstaunen gesetzt haben würde, Zu einem gewissen Ziel gelangten, auch seine geistigen Fähigkeiten, ohne daß er dabei wissentlich tätig war, alle diese Räder und Federn nebst tausend andern in Bewegung setzten, als sie daran arbeiteten, in ihm eine Neigung zu den Glocken wachzurufen.

Und wenn ich gesagt hätte: seine Liebe, so würde ich auch dies Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum ein passender Ausdruck für seine komplizierte Empfindung gewesen wäre. Denn da er ein ganz einfacher Mensch war, verlieh er ihnen einen wundersamen und feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll, weil man sie oft hörte und nie sah, so hoch oben, so weit weg und so voll tiefer, kräftiger Melodie, daß er mit einer Art von Ehrfurcht zu ihnen aufblickte. Ja, wenn er die dunkeln, gewölbten Fenster im Turm betrachtete, erwartete er bisweilen, es werde ihm etwas zuwinken, das keine Glocke war und doch in jenen Klängen ihm so oft ans Ohr getönt hatte. Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein gewisses leises Gerücht zurück, daß die Töne behext seien, weil dadurch die Möglichkeit zugegeben war, sie stünden mit irgend etwas Bösem im Bund. Mit einem Wort, sie tönten sehr oft in seinen Ohren, beschäftigten sehr oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner guten Meinung; oft, wenn er lange mit weit offenem Munde an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, bekam er einen so steifen Nacken, daß er nachher, um ihn zu kurieren, ein oder zwei Extragetrabe einlegen mußte.

Mit dieser außertourlichen Übung war er an einem kalten Tage gerade beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton der Zwölfuhrglocke wie ein melodisches, bienenartiges Ungeheuer, aber keineswegs ein fleißiges Bienchen, durch den ganzen Turm summte.

»Wie, Essenszeit?« sagte Toby, vor der Kirche auf und ab trottend. »Ah!«

Tobys Nase war sehr rot; und seine Augenlider waren sehr rot; und er zwinkerte mächtig; und seine Schultern waren dicht an den Ohren, und seine Beine waren sehr steif, und er war überhaupt auf dem frostigsten Punkt der kühlen Temperatur angelangt.

»So, Essenszeit!« wiederholte Toby, den Fäustling seiner rechten Hand wie einen jugendlichen Boxhandschuh gebrauchend und seine Brust züchtigend, weil sie sich unterstand, zu frieren. »Ah-h-h-h!«

Hierauf schlug er für ein paar Minuten einen stummen Trab an.

»Es gibt nichts..« sagte Toby, aufs neue lostrabend; aber mit einem Male machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem Gesicht voll Interesse und auch etwas Unruhe seine Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig, denn der Weg war kurz, da er mit einer Nase nicht allzu reichlich gesegnet war.

»Ich glaubte schon, sie sei pfutsch,« fuhr Toby fort, indem er wieder weiter trabte. »Es stimmt aber alles. Ich könnte sie jedoch wirklich nicht tadeln, wenn sie sich auf und davon machte. Sie hat wohl einen herzlich schweren Dienst in dieser Hundekälte und herzlich wenig zu erwarten – denn ich schnupfe ja nicht. Selbst in den besten Zeiten wird das arme Ding hart geprüft; denn wenn sie schon einmal einen angenehmen Duft erwischt, was auch nicht oft vorkommt, dann entsteigt er gewöhnlich dem Mittagessen eines andern, das von dem Pastetenbäcker nach Hause getragen wird.«

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andre, die er unbeendigt gelassen hatte.

»Es gibt nichts Regelmäßigeres,« fuhr er fort, »als die Wiederkehr der Essenszeit, und nichts Unregelmäßigeres, als die Wiederkehr des Mittagessens selbst. Darin besteht ihr großer Unterschied. Ich habe lange dazu gebraucht, es ausfindig zu machen. Möchte doch wissen, ob sichs nicht für einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Beobachtung für die Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!«

Toby meinte dies bloß im Scherz, denn er schüttelte in gravitätischer Verneinung seinen Kopf.

»Du mein Himmel!« sagte er, »die Zeitungen sind voll Beobachtungen, und das Parlament auch. Da habe ich eine Nummer von der letzten Woche« – er zog ein sehr schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armeslänge vor sich hin – »nichts als Beobachtungen – nichts als Beobachtungen! Ich möchte so gerne als irgend jemand Neuigkeiten erfahren,« fügte er langsam bei, indem er den Bogen noch ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in seine Tasche steckte; »aber es geht mir fast gegen den Magen, jetzt eine Zeitung zu lesen. Ich erschrecke beinahe davor und weiß nicht, wohin es noch mit uns armen Leuten kommen, was uns noch bevorstehen wird. Gott gebe, daß uns im neuen Jahr etwas Besseres bevorsteht!«

»Vater! Vater!« rief eine angenehme Stimme in der Nähe.

Aber Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, hin und her zu trotten und seine Gedanken laut werden zu lassen.

»Es ist, als ob wir nichts rechtmachen könnten oder uns niemals Recht werden würde,« sagte Toby. »Als ich jung war, habe ich nicht viel gelernt; und ich kann nicht herauskriegen, ob wir auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht. Manchmal glaube ich es wohl – wenn wir auch nicht viel hier zu tun haben; manchmal aber meine ich wieder, daß wir nur Eindringlinge sind. Mitunter bin ich so verdutzt, daß ich nicht mit mir ins reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an uns ist, oder ob uns die Schlechtigkeit angeboren ist. Es sieht aus, als täten wir schreckliche Dinge und fielen ungeheuer beschwerlich; man beklagt sich immer über uns und trifft Verwahrungsmaßregeln. Ob so oder so – jedenfalls sind die Zeitungen von uns voll. Da spricht man von einem Neuen Jahr!« fuhr Toby traurig fort. »Ich kann ebensoviel ertragen wie jemals irgendein Mensch; besser sogar als viele, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt, es wäre wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr haben, angenommen, daß wir wirklich nur Eindringlinge sind ...«

»Vater! Vater!« ließ sich die liebliche Stimme abermals vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, rief seinen Blick zurück, der weitausgerichtet war, als suche er im Herzen des herannahenden Jahres Erleuchtung, und fand sich nun seinem eignen Kinde gegenüber, dem er jetzt ganz nahe in die Augen schaute.

Und es waren glänzende Augen – Augen, in die eine ganze Welt schauen konnte, ohne ihnen auf den Grund zu kommen. Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten, nicht blitzend oder auf Wunsch der Eigentümerin, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen, geduldigen Glänze, der Anspruch auf die Zugehörigkeit zu jenem Licht erhob, das der Himmel ins Dasein rief. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend – mit so junger und frischer, mit so schwungkräftiger und heller Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre Arbeit und Armut, die sie gesehen hatten, daß sie für Trotty Veck zu einer Stimme wurden, die ihm sagten »Ich glaube, wir haben hier wohl etwas zu schaffen – wenn auch nicht viel!«

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

»Ei, Herzchen,« sagte Trotty, »was gibt’s? Ich habe dich heute nicht erwartet, Meg.«

»Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater,« rief das Mädchen, indem es lächelnd nickte. »Aber da bin ich – und obendrein nicht allein; nicht allein!«

»Wie? du willst doch nicht sagen,« bemerkte Trotty, neugierig nach einem bedeckten Korbe blickend, den sie in ihrer Hand »daß du ...«

»Riech daran, lieber Vater,« versetzte Meg. »Riech einmal!«

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

»Nein, nein, nein,« erwiderte Meg fröhlich wie ein Kind. »So geschwind gehts nicht. Ich will nur den Deckelrand ein klein winzig bißchen aufheben,« fügte sie bei, indem sie ganz sachte ihr Vorhaben ausführte und dabei so leise sprach, als fürchte sie, im Innern des Korbes gehört zu werden. »So. Also, was ists?«

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rande des Korbes und rief entzückt:

»Ei, ’s ist heiß!«

»’s ist brennend heiß,« versetzte Meg. »Ha ha ha! ’s ist siedend heiß.«

»Ha ha ha!« brüllte Toby mit einem Luftsprung. »’s ist siedend heiß.«

»Aber was ist es, Vater?« fragte Meg. »Vorwärts! Du hast es noch nicht erraten. Und du mußt erraten, was es ist. Ich kann nicht daran denken, es herauszunehmen, bis du es erraten hast. Aber laß dir Zeit! Warte eine Minute! Ich will ein bißchen mehr von dem Deckel zurückschieben. Jetzt rate!«

Meg war wirklich in Angst, er könnte vielleicht zu rasch das Richtige raten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den Korb hinhielt, indem sie zugleich ihre hübschen Schultern in die Höhe zog und das Ohr mit der Hand zuhielt als könne sie in dieser Weise das richtige Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei ließ sie immer ein sanftes Lachen hören.

Toby hatte mittlerweile die Hände auf seine Knie gelegt, seine Nase zu dem Korb niedergebeugt und sog nun den Duft außerhalb des Deckels tief ein. Während dieser angenehmen Beschäftigung verbreitete sich sein Grinsen immer mehr über das welke Gesicht, als atme er pures Lachgas.

»Ah, das riecht prächtig,« sagte Toby. »Ist es nicht – es werden doch keine Schweinswürste sein?«

»Nein, nein, nein!« rief Meg entzückt. »Etwas ganz andres!«

»Nein,« fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, »es ist – es ist zarter als Schweinswürste. Es riecht ausgezeichnet und mit jedem Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Kalbsfüße – nicht wahr?«

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziele abschießen können als mit Kalbsfüßen – Schweinswürste ausgenommen.

»Leber?« sagte Toby zu sich selber. »Nein. Der Geruch hat eine Milde, die sich an der Leber nicht findet. Ferkelfüßchen? Nein. Er ist zu stark für Ferkelfüße. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Und ich weiß, Würste sinds auch nicht. Ich will dir sagen, was drinnen ist – Kalbsgekröse!«

»Nein, nein,« erwiderte Meg, vor Entzücken aufjubelnd. »Nicht erraten!«

»Ei, woran denke ich auch!« entgegnete Toby, plötzlich eine so aufrechte Stellung einnehmend, als ihm möglich war. »Ich werde zuletzt noch meinen eignen Namen vergessen. ’s sind Kuttelflecke!«

Und Kuttelflecke waren es auch. Und Meg beteuerte in strahlender Freude, er werde in einer weitern halben Minute sagen, es seien die besten Kuttelflecke, die jemals gedünstet wurden.

»Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater,« fuhr Meg fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korbe beschäftigte; »denn ich habe die Kuttelflecke in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in ein Taschentuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es Tischtuch zu nennen. Nicht wahr, Vater?«

»Nicht daß ich wüßte, meine Liebe,« sagte Toby. »Aber sie erlassen alle Augenblicke ein oder das andre neue Gesetz.«

»Und nach dem, was ich dir neulich aus der Zeitung vorlas, Vater, weißt du noch, was der Richter sagte, setzt man bei uns armen Leuten voraus, daß wir alle diese Gesetze kennen. Ha ha ! welch ein Irrtum! du meine Güte, sie halten uns für gewaltig gescheit.«

»Ja, meine Liebe,« rief Trotty, »und sie würden eine gewaltige Freude an einem von uns haben, wenn er sie alle wüßte. Er würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann, und er kriegte einen Stein im Brett bei all den vornehmen Leuten in seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!«

»Wer er auch sein möchte, er würde sein Mittagessen mit gutem Appetit verschmausen, wenn es so gut duftete wie dieses hier,« sagte Meg fröhlich. »Beeile dich, Vater, denn da ist außerdem auch noch eine heiße Kartoffel und ein Seidel frisch abgezogenen Bieres in einer Flasche. Wo willst du essen, Vater? In der Nische oder auf den Stufen? Du mein Himmel, wie gut wirs haben — zwei Plätze zur Auswahl!«

»Heute die Stufen, mein Kind,« versetzte Trotty. »Bei trockenem Wetter sind die Stufen, bei nassem die Nische gut. Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann; aber wenns naß ist, kriegt man Rheumatismus.«

»Hier also,« sagte Meg, nachdem sie sich eine halbe Minute eifrig zu schaffen gemacht hatte und nun in die Hände klatschte; »hier ist es – alles bereit – und wie schön es aussieht! Komm, Vater, komm!«

Seit Trotty entdeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er da und sah Meg an – sprach auch ab und zu – aber in einer zerstreuten Weise, welche bekundete, daß er, obschon sie allein seine Gedanken und Augen beschäftigte – nicht einmal die Kuttelflecke konnten ihn ihr untreu machen – nicht im entferntesten an sie dachte, wie sie in jenem Augenblicke war, sondern irgendein visionäres, undeutliches Bild oder ein Drama ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere Aufforderung geweckt, unterdrückte er nun ein melancholisches Kopfschütteln, das ihn eben anwandelte, und trabte an ihre Seite. In demselben Augenblick, als er sich niederbeugte, um seinen Sitz einzunehmen, erklangen die Glocken.

»Amen!« sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und nach denselben aufblickend.

»Amen den Glocken, Vater?« rief Meg.

»Sie fielen ein wie ein Tischgebet, meine Liebe,« sagte Trotty, indem er Platz nahm. »Ich bin überzeugt, sie würden ein gutes sprechen, wenn sie könnten, und sagen mir überhaupt manches Liebe.«

»Die Glocken, Vater?« lachte Meg, als sie die Schüssel niedersetzte und Messer und Gabel dazulegte. »Der Tausend!«

»Sie scheinens zu tun, mein Herzchen,« versetzte Trotty, indem er mit Eifer über seine Kuttelflecke herfiel. »Und worin liegt da der Unterschied? Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie es wirklich sagen oder nicht? Gott behüte, mein Kind,« fügte er bei, indem er mit der Gabel nach dem Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahles lebhafter wurde, »wie oft habe ich jene Glocken nicht sagen hören: ›Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes! Toby! Toby Veck, Toby Veck, sei guten Mutes, Toby!‹ Millionenmal? Reicht nicht – ’s war öfter!«

»Nun, das habe ich noch nie gehört!« rief Meg.

Dennoch war es schon oft und oft der Fall gewesen, denn es war Tobys unaufhörlicher Gesprächsgegenstand.

»Wenn es recht schlecht geht,« fuhr Trotty fort; »ich meine, wenn es recht schlecht geht – fast am schlechtesten, dann rufen sie: ’Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!’«

»Und sie kommt dann auch – endlich, Vater, – versetzte Meg mit einem Anflug von Trauer in ihrer lieblichen Stimme.

»Immer,« erwiderte der arglose Toby. »Bleibt nie aus.«

Während dieses Gesprächs machte Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das würzige Mahl vor ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab und kaute, kam von den Kuttelflecken zu den heißen Kartoffeln und von den heißen Kartoffeln wieder zu den Kuttelflecken mit breitem, unermüdlichem Behagen zurück. Als er endlich um die Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von irgendeiner Türe oder einem Fenster nach einem Dienstmann winkte, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenüber saß und mit glücklichem Lächeln seinem emsigen Geschäft zusah.

»Ach, Gott verzeih mir!« rief Trotty, indem er sein Messer und seine Gabel fallen ließ. »Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein Vieh bin?«

»Vater!«

»Sitze ich da«, fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, »und stopfe mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur ein bißchen dein Fasten zu unterbrechen noch den Wunsch dazu zu äußern, während ...«

»Aber ich habe mein Fasten schon gebrochen, Vater, und zwar ausgiebig,« unterbrach ihn seine Tochter lachend. »Ich habe mein Mittagessen bereits gehabt.«

»Sprich keinen Unsinn,« versetzte Trotty. »Zwei Mittagessen an einem Tag? Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes Leben über ein Goldstück gehabt habe, ohne es je wechseln zu lassen.«

»Dennoch habe ich schon zu Mittag gegessen, Vater,« sagte Meg, näher herankommend; »und wenn du deines weiter ißt, will ich dir sagen, wie und wo dein Mittagessen zustande kam und – und noch etwas andres dazu.«

Toby machte noch immer eine ungläubige Miene; aber sie sah ihm mit ihren klaren Augen ins Gesicht, legte ihre Hand auf seine Schulter und winkte ihm, weiterzuessen, solange das Fleisch noch warm sei. Trotty nahm daher Messer und Gabel wieder auf und schickte sich zur Arbeit an; sie ging aber viel langsamer vonstatten als zuvor, und er schüttelte den Kopf, als sei er durchaus nicht mit sich zufrieden.

»Ich habe schon gespeist, Vater,« sagte Meg nach einigem Zögern, »mit – mit Richard. Er ißt früh, und da er sein Mittagessen mitbrachte, als er mich besuchte, so – so verzehrten wir es miteinander, Vater.«

Trotty nahm ein Schlücklein Bier und schmatzte mit den Lippen. Dann sagte er »oh!« – weil sie darauf wartete.

»Und Richard sagt, Vater ...«, nahm Meg wieder auf. Dann stockte sie abermals.

»Was sagt Richard, Meg?« fragte Toby.

»Richard sagt, Vater ...« Neues Stocken.

»Richard braucht lange, bis er etwas sagt,« bemerkte Toby.

»Nun ja, Vater, er sagt,« fuhr Meg fort, indem sie endlich ihre Augen erhob und in bebendem, obschon völlig deutlichem Ton sprach, »es sei wieder ein Jahr beinahe herum, und was es nütze, von einem Jahr auf das andre zu warten, wenn es doch so unwahrscheinlich ist, daß es uns je besser als jetzt ergehen werde. Er sagt, Vater, wir seien jetzt arm und würden auch dann arm sein; aber wir seien jung, und die Jahre würden uns alt machen, ehe wir es wüßten. Er meint, wenn Leute in unsrer Lage warten wollten, bis wir unsern Weg klar vor uns sähen, so würde er wohl recht eng werden – der gemeinschaftliche Weg – das Grab, Vater.«

Sogar ein kühnerer Mann als Trotty Veck hätte alle seine Kühnheit zusammennehmen müssen, um dies in Abrede zu stellen; er blieb daher lieber still.

»Und wie hart ist es, Vater, alt zu werden und zu sterben, wenn wir daran denken, daß wir einander hätten Freude machen und helfen können! Wie hart ist es, sein ganzes Leben über einander liebzuhaben und sich doch getrennt zu sehen, jeden für sich abhärmen zu sehen und zuschauen zu müssen, wie der andre arbeitet, sich verändert, alt und grau wird. Selbst wenn ich es überwinden und ihn vergessen könnte, was nie möglich ist – o lieber Vater, wie schwer wäre es dann, ein Herz zu haben, so voll wie das meinige jetzt ist, und das Leben langsam, tropfenweise verrinnen zu sehen, ohne einen Rückblick auf einen einzigen glücklichen Augenblick, der mich trösten und besser machen könnte!«

Trotty blieb mäuschenstill. Meg trocknete ihre Augen und fuhr heiterer fort – das heißt manchmal unter Lachen und manchmal unter Schluchzen und dann wieder lachend und Schluchzend zu gleicher Zeit:

»Richard sagt daher, Vater, da er gestern für soundso lange eine feste Beschäftigung erhalten habe und ich ihn schon volle drei Jahre liebe – ach, es ist schon länger her, wenn er es nur wüßte! – So solle ich mich am Neujahrstag mit ihm zusammengeben lassen: der beste und glücklichste Tag im ganzen Jahr, sagt er, einer, bei dem man fast sicher annehmen kann, daß er Glück mit sich bringt. Das ist eine kurze Frist – nicht wahr, Vater? – aber ich habe ja kein Vermögen in Ordnung zu bringen und keine Hochzeitskleider machen zu lassen, wie die vornehmen Damen; nicht wahr, Vater? – Und er sagte so viel und sagte es in so nachdrücklicher, ernster, aber doch so sanfter und freundlicher Weise, daß ich ihm versprach, ich wolle mit dir darüber sprechen, Vater. Und da mir ganz unerwarteterweise heute morgen das Geld für meine Arbeit ausbezahlt wurde, und du während der ganzen Woche nur ein armseliges Essen gehabt hast, und ich den Wunsch nicht zurückdrängen konnte, daß etwas getan werden müßte, was dir den heutigen Tag zu einem Feiertag macht, wie er für mich ein glücklicher Tag ist, so kochte ich diesen Festschmaus und brachte ihn dir als Überraschung.«

»Und siehst nun, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« ließ sich eine andre Stimme vernehmen.

Es war die Stimme desselbigen Richard, der unbemerkt herangekommen war und nun vor Vater und Tochter stand. Er blickte mit einem Gesicht auf sie nieder, so glühend wie das Eisen, auf dem täglich sein schwerer Schmiedehammer erklang. Richard war ein schöner, wohlgebauter, kräftiger Bursche mit Augen, die gleich den rotglühenden Funken eines Essenfeuers sprühten. Sein schwarzes Haar kräuselte sich üppig um die dunklen Schläfen, und sein Lächeln – ein Lächeln, das Megs Lob über seinen Konversationsstil beträchtlich unterstützte.

»Und siehst, wie er ihn auf der Treppe kalt werden läßt!« sagte Richard. »Meg weiß nicht, was er liebt – nein, gewiß nicht!«

Voll Behendigkeit und Feuer reichte Trotty augenblicklich Richard die Hand und wollte eben eine hastige Erwiderung geben, als unversehens die Haustür aufging und ein Bedienter beinahe seinen Fuß in die Kuttelflecke setzte.

»Aus dem Wege da! Müßt Ihr Euch denn immer auf unsre Stufen setzen, und könnt Ihr nicht auch einmal die eines Nachbars dazu nehmen? Ich frage, ob ihr den Weg räumen wollt!«

Genau genommen war die letzte Aufforderung ganz unnötig, weil sie ihr bereits nachgekommen waren.

»Was gibts da?« sagte der Gentleman, für den die Tür geöffnet worden war, und der jetzt mit jenem leichtschweren Tritt aus dem Hause kam, den man so häufig bei Gentlemen antrifft, die die zweite, absteigende Hälfte ihres Lebens sorgenlos genießen, wenn sie, ohne ihrer Würde etwas zu vergeben, mit knarrenden Stiefeln, Uhrketten und reinen Hemden aus ihren Häusern kommen und in ihrer Miene ausdrücken, daß sie irgendwo eine wichtige, viel Geld einbringende Beschäftigung haben. »Was gibts da? Was gibts da?«

»Muß man Euch denn immer auf den Knien bitten,« fuhr der Bediente mit großem Nachdruck gegen Trotty Veck fort, »unsre Türtreppen sein zu lassen? Warum kommt Ihr denn immer wieder? Könnt Ihr nicht einmal wegbleiben?«

»Schon gut! Das genügt! Das genügt!« sagte der Gentleman. »Heda, Dienstmann!« Er bedeutete Trotty Veck durch eine Kopfbewegung, näher zu treten. »Kommt her da. Was ist dies – Euer Mittagessen?«

»Ja, Sir,« versetzte Trotty, seine Schüssel in einer Ecke stehen lassend.

»Laßt es nicht dort, sondern bringt es her, bringt es her!« rief der Gentleman. »So; das ist also Euer Essen, wie?«

»Ja, Sir,« antwortete Trotty, mit festem Blick und wässerndem Mund den letzten Brocken ängstlich verfolgend, den er sich als köstlichen Schlußbissen aufgehoben hatte, und den nun der Gentleman an dem Gabelende um und um drehte.

Mit ihm waren auch zwei andere Gentlemen herausgekommen. Der eine, ein niedergeschlagenes, schmächtiges Männchen von mittlerem Alter und mit einem trostlosen Gesicht, hielt Seine Hände unaufhörlich in den schlappohrigen Taschen seiner knappen Pfeffer- und Salzhosen versteckt und schien mit der Bürste oder Seife keine sonderlich intime Bekanntschaft zu unterhalten. Der andre war ein großer, geschmeidiger, gut angezogener Gentleman in einem blauen Rock mit gelben Knöpfen und weißer Krawatte. Dieser hatte ein sehr rotes Gesicht, als ob ihm ein ungebührlicher Anteil Blut nach dem Kopf gedrängt worden sei, was vielleicht auch der Grund war, daß er ziemlich kaltherzig aussah.

Derjenige, welcher Tobys Fleisch an der Gabel hatte, rief nun den ersten Gentleman, den er Filer nannte, heran, und dieser, der sehr kurzsichtig war, mußte zur Untersuchung von Tobys noch übrigem Mittagsmahl seinen Kopf so nahe an den Leckerbissen bringen, daß Toby das Herz bis zum Hals schlug. Aber Herr Filer aß ihn nicht.

»Das ist eine Art von animalischer Kost, Alderman,« sagte Filer, indem er mit einem Bleistift kleine Löcher hineinstach, »die gemeiniglich bei der arbeitenden Klasse dieses Landes unter dem Namen Kuttelflecke bekannt ist.«

Der Alderman lachte und blinzelte – denn Alderman Cute war ein lustiger Knabe und dabei auch ein schlauer, verschmitzter Bursche, der über alles ein wachsames Auge hatte und sich nicht hintergehen ließ. Ja, er sah tief in die Herzen der Leute! Er kannte sie gut, dieser Cute. Das will ich glauben!

»Aber wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer fort, indem er umherschaute. »Kuttelflecke sind ausnahmslos der unökonomischste und verschwenderischste Konsumartikel, den die Märkte diesem Landes nur hervorbringen können. Man hat gefunden, daß ein Pfund Kuttelflecke durch Sieden sieben Vierzigstel mehr verliert, als ein Pfund jeder andern animalischen Nahrung. Kuttelflecke sind also verhältnismäßig kostspieliger, als die Treibhaus-Ananas. Wenn man die Anzahl der jährlich geschlachteten Tiere in Betracht zieht und einen niedrigen Überschlag über die Menge von Kuttelflecken macht, die die Leiber dieser – vorausgesetzt verständig – geschlachteten Tiere liefern, so stellt sich heraus, daß man von dem Sudverlust der Kuttelflecke allein eine Garnison von fünfhundert Mann fünf Monate lang, jeder zu einunddreißig Tagen gerechnet, und noch einen Februar dazu, viktualisieren könnte. Welche Vergeudung – Vergeudung!«

Trotty stand entsetzt da, und die Knie zitterten unter ihm. Er schien eigenhändig eine Garnison von fünfhundert Mann ausgehungert zu haben.

»Wer ißt Kuttelflecke?« fuhr Herr Filer mit Wärme fort. »Wer ißt Kuttelflecke?«

Trotty machte eine klägliche Verbeugung.

»Ihr also, Ihr?« sagte Herr Filer. »So will ich Euch etwas bedeuten. Ihr reißt Eure Kuttelflecke aus dem Munde der Witwen und Waisen, mein Freund.«

»Ich hoffe nicht, Sir,« versetzte Trotty mit matter Stimme. »Lieber wollte ich verhungern!«

»Teilt man die Menge der vorerwähnten Kuttelflecke durch die geschätzte Anzahl von existierenden Witwen und Waisen, Alderman,« nahm Herr Filer wieder auf, »so trifft auf jeden Kopf für ungefähr einen Penny. Für diesen Mann da bleibt kein Gran übrig – folglich ist er ein Räuber.«

Trotty war so erschüttert, daß er sich nichts daraus machte, als er den Alderman seinen letzten Leckerbissen verzehren sah. Es war ihm eine Erlösung, von diesem irgendwie befreit zu werden.

»Und was sagt Ihr?« fragte der Alderman scherzhaft den rotgesichtigen Gentleman in blauem Rock. »Ihr habt Freund Filer gehört. Was sagt Ihr?«

»Was läßt sich da auch möglicherweise sagen?« entgegnete der Gentleman. »Was läßt sich überhaupt sagen? Wer kann sich in so schlechten Zeiten für einen Menschen wie diesen da (er meinte Trotty) interessieren? Schaut ihn an! Welch ein Gegenstand! O die guten alten Zeiten, die herrlichen alten Zeiten, die großartigen alten Zeiten! Das