Die spät bezahlte Schuld - Zweig Stefan - E-Book

Die spät bezahlte Schuld E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Du wirst, ich weiß es, verwundert sein, von mir nach so langen Jahren einen Brief zu erhalten; es mögen fünf oder vielleicht gar sechs Jahre sein, seitdem ich Dir zum letztenmal geschrieben habe. Ich glaube, es war ein Glück-wunsch, als Deine jüngste Tochter sich verheiratete. Diesmal ist der Anlaß nicht so feierlich, und vielleicht scheint Dir sogar mein Bedürfnis sonderbar, gerade Dich zum Vertrauten einer merkwürdigen Begegnung zu machen. Aber das, was mir vor wenigen Tagen begegnet ist, kann ich nur Dir erzäh-len. Nur Du allein kannst es verstehen.

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Seitenzahl: 42

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Die spät bezahlte Schuld

Titel Seite

Stefan Zweig

Die spät bezahlte Schuld

Dear old Ellen,

Du wirst, ich weiß es, verwundert sein, von mir nach so langen Jahren einen Brief zu erhalten; es mögen fünf oder vielleicht gar sechs Jahre sein, seitdem ich Dir zum letztenmal geschrieben habe. Ich glaube, es war ein Glückwunsch, als Deine jüngste Tochter sich verheiratete. Diesmal ist der Anlaß nicht so feierlich, und vielleicht scheint Dir sogar mein Bedürfnis sonderbar, gerade Dich zum Vertrauten einer merkwürdigen Begegnung zu machen. Aber das, was mir vor wenigen Tagen begegnet ist, kann ich nur Dir erzählen. Nur Du allein kannst es verstehen.

Unwillkürlich stockt mir die Feder, indem ich dies hinschreibe. Ich muß selbst ein wenig lächeln. Haben wir nicht genau dasselbe »Nur Du kannst das verstehen« uns tausendmal als fünfzehnjährige, als sechzehnjährige unflügge, aufgeregte Mädchen auf der Schulbank oder auf dem Nachhauseweg gegenseitig gesagt, wenn wir uns unsere kindischen Geheimnisse anvertrauten? Und haben wir uns nicht damals in unserer grünen Zeit feierlich zugeschworen, uns alles in jeder Einzelheit zu berichten, was einen gewissen Menschen betrifft? All das liegt heute mehr als ein Vierteljahrhundert weit, aber was einmal beschworen ist, möge bestehen bleiben. Du sollst sehen, ich halte getreulich, wenn auch verspätet, mein Wort.

Die ganze Sache kam so. Ich hatte in diesem Jahr eine schwere und angestrengte Zeit hinter mir. Mein Mann war als Chefarzt an das große Hospital nach R. versetzt worden, ich mußte allein die ganze Übersiedlung durchführen, zwischendurch reiste mein Schwiegersohn mit seiner Frau geschäftlich nach Brasilien und ließ uns die drei Kinder im Haus, die prompt Scharlach bekamen, eins nach dem andern, und ich mußte sie pflegen … Und noch war das letzte nicht aufgestanden, so starb die Mutter meines Mannes. Alles das ging quer durcheinander. Ich meinte zuerst, diesen wilden Betrieb tapfer getragen zu haben, aber irgendwie mußte er mich doch mehr hergenommen haben, als ich wußte, denn eines Tages sagte mein Mann zu mir, nachdem er mich lange schweigend angesehen: »Ich glaube, Margaret, Du solltest jetzt, nachdem die Kinder wieder glücklich gesund sind, selbst etwas für Deine Gesundheit tun. Du siehst übermüdet aus und hast Dich auch gründlich übernommen. Zwei, drei Wochen am Land in irgendeinem Sanatorium und Du bist wieder auf dem Damm.«

Mein Mann hatte recht. Ich war sehr erschöpft, mehr als ich mir zugestand. Ich spürte es daran, daß manchmal, wenn Leute kamen – und wir mußten schrecklich viel repräsentieren und Besuche machen, seit mein Mann hier die Stellung übernommen hatte –, nach einer Stunde nicht mehr recht zuhören konnte, wenn sie sprachen, daß ich oft und öfter im Haushalt das Allereinfachste vergaß und mir morgens Gewalt antun mußte, um aufzustehen. Mit seinem klaren, ärztlich geschulten Blick mußte mein Mann diese körperliche und auch seelische Übermüdung richtig konstatiert haben. Mir fehlten wirklich nichts als vierzehn Tage Erholung. Vierzehn Tage ohne an die Küche, die Wäsche, an Besuche, an den täglichen Betrieb zu denken, vierzehn Tage Alleinsein, sein eigenes Ich sein und nicht nur immer Mutter, Großmutter, Hausvorstand und Chefarztsgattin. Zufällig hatte meine verwitwete Schwester gerade Zeit, zu uns herüberzukommen; so war für meine Abwesenheit alles vorgesorgt, und ich hatte weiter keine Bedenken, dem Ratschlag meines Mannes zu folgen und zum erstenmal seit fünfundzwanzig Jahren allein von Hause wegzugehen. Ja, ich freute mich sogar im voraus mit einer gewissen Ungeduld der neuen Frische entgegen, die mir dieses Ausspannen gewähren sollte. Nur in einem Punkte lehnte ich den Vorschlag meines Mannes ab, nämlich die Erholung in einem Sanatorium zu suchen, obwohl er schon vorsorglich eines ausgewählt hatte, mit dessen Besitzer er von Jugend auf befreundet war. Denn dort waren wieder Menschen, Bekannte, dort hieß es weiter höflich und umgänglich sein. Aber ich wollte nichts als mit mir allein sein, vierzehn Tage mit Büchern, mit Spazierengehen, Träumereien und langem ungestörten Schlaf, vierzehn Tage ohne Telephon und ohne Radio, vierzehn Tage Schweigen, vierzehn Tage ungestörtes eigenes Ich, wenn ich so sagen darf. Unbewußt hatte ich mich seit Jahren nach nichts so sehr gesehnt als nach diesem vollkommenen Ausschweigen und Ausruhen.

Nun erinnerte ich mich aus den ersten Jahren meiner Ehe, von Bozen, wo mein Mann damals als Hilfsarzt praktizierte, einmal drei Stunden zu einem kleinen verlorenen Dorf hoch in den Bergen hinaufgewandert zu sein. Dort stand an dem winzigen Marktplatz gegenüber der Kirche eines jener ländlichen Wirtshäuser jener Art, wie sie in Tirol häufig zu finden sind, zu ebener Erde in breiten wuchtigen Steinen gequadert, das erste Stockwerk unter dem breiten überhängenden hölzernen Dach mit einer geräumigen Veranda und das ganze umsponnen mit Weinlaub, das damals im Herbst wie ein rotes und doch kühlendes Feuer das ganze Haus umglühte. Zur rechten und zur linken duckten sich wie getreue Hunde kleine Häuschen und breite Scheunen, das Haus selbst aber stand mit offener Brust frei unter den weichen wehenden Wolken des Herbstes und sah hinüber in das endlose Panorama der Berge.