Die Spur des Leidens - Kerstin Jauer - E-Book

Die Spur des Leidens E-Book

Kerstin Jauer

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Um ihren dunklen Erinnerungen zu entfliehen und in Minden ein neues Leben zu beginnen, verlässt Johanna Neumann ihren Heimatort Kiel. Doch bereits ihre erste Berichterstattung als Redakteurin für das Mindener Tageblatt endet mit einem tödlichen Unfall bei den Drachenfliegern. Als kurz darauf ein weiterer Mann tödlich verunglückt, muss sich Johanna fragen, ob es wirklich ein Unfall war. Kriminalkommissar David Gilbert, ihr ehemaliger Freund, bemüht sich verzweifelt, Johanna aus den Ereignissen herauszuhalten – vergebens. Mit fatalen Folgen.

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Seitenzahl: 378

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Für Lara

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9766-5

Kerstin JauerDie Spurdes Leidens

Prolog

Mit zitternden Händen drehte der Junge den Zündschlüssel um. Die Bäume, eben noch in das grelle Licht der Scheinwerfer getaucht, verschwanden. Schwärze umfing ihn. Für einen Augenblick saß er nur da. Starrte in die Dunkelheit und hörte seinen eigenen Atem. In seinen Ohren tobte ein wütendes Rauschen, das ebenso laut war wie der strömende Regen draußen. Kräftige Wassertropfen prasselten auf das Dach des Audi ein. Es klang, als versuchten sie, die Karosserie zu durchschlagen. Das alles war falsch. Doch wann war es je richtig gewesen?

Er musste sich zwingen, die Autotür zu öffnen und in das kalte Nass hinauszutreten. Sofort versanken seine Turnschuhe in dem durchweichten Uferboden. Der Regen peitschte ihm unaufhörlich ins Gesicht. Um laute Geräusche zu vermeiden, knallte er die Tür des Wagens nicht zu. Er lehnte sie einfach an.

Langsam suchte sein Blick das Ufer des Gevattersees ab. Wie dunkel es nachts hier draußen war. Er konnte kaum etwas erkennen. Vor ihm erstreckte sich das Wasser des Sees. Ein sattes, tiefes Schwarz, das mit der Umgebung zu verschmelzen schien. Hinter sich machte er die Umrisse von Bäumen aus. Ganz in der Ferne sah er die roten Lichter des Fernsehturms und den goldenen Schimmer des Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Seine Jeans und sein Hoodie waren bereits durchnässt. Der Stoff klebte auf seiner Haut. Er zitterte. Nun mach schon, befahl er sich selbst. Er ging zum Kofferraum des Wagens und versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Erst beim dritten Anlauf klappte es. Er musste schlucken, als er den Schlüssel drehte. Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus, als hätte er zusammen mit dem Kofferraum auch etwas in seinem Inneren geöffnet. Regenwasser lief ihm von seinen kurzen Haaren die Stirn hinunter in die Augen. Hastig fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und zog mit einem kräftigen Ruck die Kofferraumklappe hoch. Sofort schlug ihm ein süßer, metallischer Geruch entgegen. Sein Magen zog sich zusammen und in einer heißen Welle bahnte sich die Übelkeit einen Weg nach oben. Er schaffte es gerade noch, sich abzuwenden. Erst als er sicher war, sich nicht noch mal übergeben zu müssen, drehte er sich zurück, griff mit beiden Händen in den Kofferraum und zerrte an der Leiche.

Aus Filmen wusste er, wie schwer es war, einen Leichnam zu bewegen, doch es kam ihm fast unmöglich vor, den toten Körper aus dem Kofferraum zu wuchten. Dass er ihn überhaupt erst hineinbekommen hatte, erschien ihm wie ein Wunder. Reiß dich zusammen. Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen. Heißer Schweiß bildete sich unter seinen Achseln und rann ihm den nassen Rücken hinunter, während er den zierlichen Frauenkörper Stück für Stück aus dem Wagen zerrte. Mit einem dumpfen, platschenden Geräusch schlug die Tote auf. Ein neuer Würgereiz packte den Jungen, doch diesmal schluckte er ihn hinunter. Nicht denken, mach es einfach.

Er tastete nach dem schweren Steinbrocken und schleppte ihn ebenfalls aus dem Kofferraum. Vor der Fahrt hierher hatte er bereits ein Seil an dem massigen Brocken angebracht. Ohne die Tote anzusehen, legte er ihr den schweren Stein auf den Oberkörper und befestigte ihn dort mithilfe des Stricks. Dabei stöhnte er vor Anstrengung, als er den toten Körper hin und her drehen musste, um das Seil unter ihm hindurchzubekommen. Anschließend blickte er für eine Sekunde in ihr Gesicht. Erschrocken keuchte er auf. Zwei leblose Augen blickten ihm entgegen. Hastig stand er auf und zurrte an den Schnürsenkeln seiner Turnschuhe. Er brauchte ewig, die nassen Bänder mit seinen kalten Fingern zu entknoten. Nachdem er die Sneaker endlich von seinen Füßen hatte, riss er sich die Jeans und die restlichen Klamotten vom Körper. Achtlos warf er alles ins Wageninnere und zog ein Schwimmbrett von der Rückbank. Nur in Boxershorts stand er nass und zitternd da, zu seinen Füßen die Frauenleiche. Mit einem unterdrückten Wutschrei griff er unter die Achseln der Toten und schleifte ihren Körper in den See hinein.

Das Wasser war eiskalt. Es umspülte seine Füße und er musste in die Knie gehen, um das Schwimmbrett unter den leblosen Körper zu bekommen. Seine Finger fühlten sich beinahe taub vor Kälte an. Langsam watete er in den See hinaus. Gräser griffen nach seinen Füßen, als würden sie ihn davon abhalten wollen, weiter hineinzugehen. Was in aller Welt machte er hier? Plötzlich sackte der Grund unter ihm ab und er stand bis zu den Schultern im Wasser. Kurz stockte ihm der Atem. Dann übernahm sein Instinkt. Es war, als hätten die endlosen Stunden des Rettungsschwimmertrainings, die sein Vater so nutzlos fand, ihn auf diese Situation vorbereitet. Mithilfe des Schwimmbretts, das bis zu fünfundsiebzig Kilogramm tragen konnte, zog er den Leichnam immer tiefer mit sich ins Wasser hinein. Dabei fixierte er mit einer Hand den schweren Steinbrocken auf dem Brustkorb des Frauenkörpers, während er mit der anderen die Frau auf dem Brett hielt. Zum Schwimmen benutzte er lediglich seine Beine, weshalb er nur langsam vorankam.

Endlich glaubte er, die tiefste Stelle des Baggersees geschafft zu haben. Reichten sechs Meter Tiefe aus, um einen Menschen verschwinden zu lassen? Sie hatte das hier nicht verdient. Nichts von alledem hatte sie verdient.

Und er? Tränen mischten sich mit den Regentropfen auf seinem Gesicht. Ein raues Schluchzen rann ihm aus der Kehle und er vergrub seinen Kopf in ihrem nassen Haar. Es war ihm egal, dass Blut in ihren Haaren klebte und ein hässliches Loch in ihrem Schädel prangte.

„Es tut mir leid“, flüsterte er heiser.

Zaghaft löste er seine Hand von dem Stein und kippte das Schwimmbrett zur Seite. Mit einem leisen Wimmern beobachtete er, wie der tote Körper vollständig in das Wasser hineinglitt und langsam nach unten gezogen wurde. Hinab auf den Grund des Sees, den er nicht sehen konnte. Ein schwarzes Loch unter ihm. So schwarz wie die Gefühle in seinem Inneren. Die Schwimmhilfe trieb langsam ab. Er brauchte sie nicht mehr. Brauchte er überhaupt noch etwas auf dieser Welt? Weinend schwamm er auf der Stelle, bis er nicht sicher war, es noch ans Ufer zurückzuschaffen. Selbstrettung, schoss es ihm durch den Kopf. Konnte er die Strecke zum Ufer noch bewältigen? Wollte er das denn eigentlich? Doch wofür war sie dann gestorben? Also schwamm er. Dem Licht der Taschenlampe entgegen, die er am Ufer zurückgelassen hatte. Er schwamm einer ungewissen Zukunft entgegen, in der nichts mehr so sein würde wie zuvor.

Johanna Neumann

Samstag, 5. August, 15:03 Uhr

Sie haben Ihr Ziel erreicht, teilte ihr die Stimme des Navigationsgerätes emotionslos mit. Glück gehabt, dachte Johanna Neumann, als sie ihren Ford Ka in die einzige freie Parklücke steuerte. Der Platz war gerade erst frei geworden. Der kleine Schotterparkplatz lag im Wald direkt auf dem Bergrücken des Wiehengebirges. Hätte sie hier keinen Parkplatz bekommen, hätte sie ihren Wagen weiter unten im Wald abstellen und die Strecke zu Fuß zurückwandern müssen. Und nach einer Wanderung war ihr gerade so gar nicht zumute. Einen Moment blieb Johanna noch sitzen. Zwischen den geparkten Fahrzeugen wuselten vereinzelte Besucher umher. Sie beobachtete, wie ein Vater seine zwei Kleinkinder, einen Jungen und ein Mädchen, mühsam an den Händen festhielt, während die Sprösslinge es eilig hatten, vorwärtszukommen. Hinter ihnen bugsierte die sichtlich gestresste Mutter den voll bepackten Kinderwagen über den Schotter. Johanna atmete tief ein. Du hast dir diesen Neuanfang gewünscht, sagte sie sich. Also los. Sie zog ihre braune Lederhandtasche von Leconi vom Beifahrersitz und stieg aus. Je öfter sie sich sagte, dass dies ein Neuanfang für sie sein sollte, umso eher glaubte sie sich selbst. Ein Neuanfang klang so viel besser, als vor etwas davonzulaufen.

In der warmen Spätsommerluft lag der erdige Geruch des Waldbodens. Das Zwitschern der Vögel mischte sich mit dem Stimmengewirr vieler Menschen. Johanna hob den Kopf. Sie bestaunte die üppigen, grünen Baumkronen über ihr und genoss den angenehmen Wind, der die Blätter rauschen ließ, als wollten sie Johanna willkommen heißen. Rechts von ihr ragte ein viereckiger Steinturm, dessen graues Dach spitz zulief, in einen fast wolkenlosen Himmel. Das war also die Wittekindsburg. Genau genommen die Ausflugsstätte, stellte sie fest. Johanna klemmte ihre Unterlippe zwischen ihre Schneidezähne. Heute war ihr erster Einsatz als Redakteurin für das Mindener Tageblatt. Erst Anfang der Woche war sie aus ihrer Heimatstadt Kiel nach Minden an die Weser gezogen, um hier in einer anderen Stadt neu anzufangen. Nun gehörte sie zum Team der Lokalredaktion der Tageszeitung. Neben Minden zählten Petershagen, Porta-Westfalica und die Gemeinde Hille zum Verbreitungsgebiet. Orte, von denen Johanna vorher noch nie etwas gehört hatte.

Die Berichterstattung über das Fest auf der Wittekindsburg war ihr gestern von den Kollegen freundlich untergejubelt worden. Mensch, so siehst du gleich mal was von der Gegend, war der allgemeine Tenor gewesen. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht. Wahrscheinlich hatten die anderen an einem Samstag Besseres zu tun als zu arbeiten. Na gut, dann würde sie sich unter die Leute mischen und einen grandiosen Artikel schreiben. Den Gedanken an die sich stapelnden Umzugskartons in ihrer neuen Wohnung schob sie erfolgreich zur Seite.

Auf dem Weg zur Vorderseite der Ausflugsstätte bestaunte sie das Bauwerk genauer. Bei einer Burg dachte sie an breite, klobige Steinkästen mit Wehrtürmen. Doch natürlich hatte sie vor ihrem Einsatz ein wenig recherchiert, weshalb sie wusste, dass das Gebäude hier nicht zur eigentlichen Burganlage gehörte. Dieses Gasthaus war erst später – 1896, wenn sie sich richtig erinnerte – erbaut worden. Mit den groben Steinmauern, die durch Elemente unterbrochen wurden, die Johanna an ein Fachwerkhaus erinnerten, wirkte die Örtlichkeit zwar burgähnlich, aber wesentlich gemütlicher.

Sie folgte einem kurzen abfallenden Weg nach unten auf einen rechteckigen Platz. Dort entdeckte sie einen kleinen, viereckigen Kiosk. Auch dieser ließ vergangene Zeiten aufleben mit seinen Mauern aus einzelnen Steinen und dem spitz zulaufenden, roten Dach. Am Kiosk herrschte großer Andrang. An allen vier Seiten drängten sich die Leute um die großen Durchreichen herum. Kaffee- und Kuchenduft wehte zu Johanna herüber. Rechts von ihr standen lange Holztische und -bänke, die sich über den Platz ausbreiteten. Johanna betrachtete einige Familien, die Frischhaltedosen und Getränkeflaschen vor sich arrangiert hatten. Überall tobten Kinder herum und spielten ausgelassen auf dem Platz. Paare und Wanderer genossen gleichzeitig die Sonne und den Ausblick.

Langsam ging Johanna auf das Ende des Platzes zu, der in einem kurzen Rasenstück endete und plötzlich den Blick auf das Blätterdach des Waldes freigab. Sofort breitete sich ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus. Das war nahe genug, entschied sie und blieb stehen. Der Ausblick war atemberaubend: unter ihr die Bäume, und vor ihr erstreckte sich der Horizont. Sie sah auf grüne Felder und Wiesen. Kleine Seen glitzerten silbrigblau in der Sonne und die Weser schlängelte sich funkelnd durch die Landschaft.

Dann fixierte ihr Blick die Drachenfliegerrampe. Sie traute sich nicht näher heran. Die Sprungschanze war von einer Art grünem Filz umgeben und führte direkt ins Nichts. Sprangen da wirklich Menschen herunter? Bis vor Kurzem hatte sie nicht einmal gewusst, dass es so etwas wie Drachenflieger überhaupt gab.

„Sie können ruhig näher rangehen. Noch haben wir keinen zum Springen gezwungen.“

Johanna drehte sich um. Ein Mann, Mitte dreißig, lachte sie an. Sein Gesicht war von der Sonne gebräunt. Er trug eine gut sitzende Designerjeans und ein dunkles, schlichtes T-Shirt.

„Gut zu wissen“, gab sie lachend zurück.

Nicht einmal für Geld würde sie von dieser Rampe springen. Allein der Gedanke, dort hinaufzusteigen, war unvorstellbar für sie.

Laura Kuhn

Samstag, 5. August, 15:35 Uhr

Mit gesenktem Kopf spähte Laura Kuhn zu ihrem Mann Robert herüber. Er stand an der Drachenfliegerrampe und unterhielt sich mit einer jungen Frau. Laura hatte sie vorher noch nie gesehen. Gerade sagte sie etwas, worauf sich ein breites Lächeln auf das Gesicht ihres Mannes stahl. Laura hörte, wie er kurz auflachte. Es klang tief und samtig. Kurz erinnerte sie sich an das glückliche Gefühl, als er noch mit ihr zusammen gelacht hatte. Jetzt zog ihr das Geräusch die Kehle zusammen.

„Hallo, Laura.“

Erschrocken fuhr sie herum. Neben ihr stand Manuel Nowak, ein Freund ihres Mannes.

„Robert ist mal wieder schwer beschäftigt, was? Immer auf der Suche nach neuen Mandanten“, scherzte er.

Wie so oft fragte Laura sich, wie diese beiden Männer befreundet sein konnten. Manuel war in vielen Punkten das genaue Gegenteil ihres Mannes. Er war stets fröhlich, ein wenig chaotisch, aber sehr liebenswert und durchweg anständig. Seine Freundin Claire konnte sich wirklich glücklich schätzen.

„Hallo, Manuel. Da sagst du was“, gab sie betont fröhlich zurück.

„Fliegst du heute auch?“, fragte sie ihn.

Er zuckte bedauernd seine Schultern und lächelte zerknirscht. Die Geste ließ ihn viel jünger als dreiunddreißig erscheinen.

„Heute nicht. Ich hab es nicht geschafft, mich anzumelden, und auf gut Glück wollte ich meine Ausrüstung nicht mitschleppen.“

Er nickte zu Robert hinüber und lachte.

„Wie immer, ist Robert besser organisiert.“

Laura biss sich auf die Lippe und schluckte die sarkastische Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. Selbstverständlich hatte sie die Anmeldung für ihren Mann erledigt, so wie sie ihm fast alles abnahm, was nichts mit der Kanzlei zu tun hatte.

„Manuel!“

Roberts tiefe Stimme ließ sie zusammenzucken. Hatte er sich also von der hübschen, jungen Frau losreißen können. Die beiden Männer gaben sich die Hand und Robert legte seinen Arm um Laura. Ihr Körper versteifte sich augenblicklich, doch das nervtötende Klingen seines Handys befreite sie sogleich aus seiner Umarmung.

„Kuhn.“

Während Robert dem Anrufer zuhörte, beobachtete Laura sein Mienenspiel. Eine Angewohnheit, die ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. Das Gespräch selbst machte ihn wütend und mit jeder Minute, die das Telefonat ihm an Zeit stahl, wurde Robert ungehaltener. Die leicht zusammengezogenen Augenbrauen verrieten ihn. Andere sahen darin ein Zeichen von Konzentration. Laura wusste es besser.

„Ich komme.“

Nein! Lauras Magen zog sich schmerzhaft zusammen.

„Schlechte Nachrichten?“, wollte Manuel wissen.

„Tatsächlich.“

Robert lächelte kühl.

„Das war ein wichtiger Mandant von mir.“

„An einem Samstag?“, fragte Manuel irritiert.

„Ja. Er hat meine Privatnummer. Es gibt Mandanten, die lasse ich ungern warten.“

Bei diesen Worten sah er Laura an, und sie wusste, was er ihr damit sagen wollte. Er verdiente das Geld für sie beide. Dass er es genau so gewollt hatte, traute sie sich schon lange nicht mehr, ihm zu sagen.

„Ich muss dringend in die Kanzlei.“

An Laura gewandt sagte er: „Schatz, es tut mir leid.“

Wie gut, dass Manuel hier war. Nicht auszudenken, wenn Robert mit ihr allein gewesen wäre. Laura bemühte sich, einen Tonfall zu treffen, der Robert nicht noch mehr verärgern würde.

„Wie schade.“

„Wenn du willst, Laura, kann ich dich später mitnehmen. Also, wenn du noch bleiben möchtest“, bot Manuel an.

„Das ist perfekt. So verliere ich keine Zeit und kann direkt in die Kanzlei. Umziehen werde ich mich dort“, antwortete Robert für sie, während er Laura einen flüchtigen Kuss auf die Stirn gab. Damit war die Sache für ihn geklärt. Was sie wollte, interessierte ihn schon lange nicht mehr.

Johanna Neumann

Samstag, 5. August, 16:05 Uhr

Unauffällig beobachtete Johanna den Mann, der sie eben angesprochen hatte. Sie mochte ihn nicht besonders. Dabei konnte sie nicht einmal genau sagen, woran es lag. Vielleicht an der Art und Weise, wie er sie angesehen hatte. Intensiv. Irgendwie abschätzend. Sein Blick erinnerte sie an einen eingesperrten Tiger. Lauernd und gefährlich. Er sah gut aus mit seinen markanten Gesichtszügen und den hellen blauen Augen. Sein T-Shirt gab den Blick auf leicht trainierte Oberarme frei. Ein Mann, der definitiv Wert auf sein Äußeres legte.

Robert Kuhn. Anwalt, las sie auf seiner Visitenkarte. Falls sie ein Interview mit einem der Drachenflieger brauche. Mit diesen Worten und einem Augenzwinkern hatte er ihr die kleine weiße Karte zugesteckt. Johannas Finger glitten über die feine Oberfläche des Papiers. Bei der Qualität der Visitenkarten hatte er nicht gespart, dachte Johanna, während sie zusah, wie er seinen Arm besitzergreifend um eine Blondine legte. Als er in ihre Richtung hinübersah, drehte Johanna sich schnell weg.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war es dann endlich so weit. Einer der Drachenflieger stand auf der Rampe. Johanna wollte sich einige der Starts ansehen und dann nach Hause fahren. Um eine Landung mitzuerleben, müsste sie nach unten zu der Landewiese fahren und dort auf die Drachenflieger warten. Aber für ihren Bericht brauchte sie das nicht. Ihr ging es darum, was den Besuchern hier oben geboten wurde. Der Drachenflieger auf der Rampe hielt ein dreieckiges Metallgestänge aus Aluminium in die Höhe. An dessen Spitze war ein buntes Segel, das in seiner Form an einen dreieckigen Kinderdrachen erinnerte, angebracht. Johanna schätzte die Spannweite des Segels auf etwa elf Meter. Trotzdem schien die Konstruktion leicht zu sein, denn der Pilot hielt den Drachen scheinbar mühelos in der Luft. Auf ein Startsignal hin, das ihm ein Mann neben der Startrampe zurief, rannte er los, die Rampe hinunter. Die Metallstangen klapperten. Johanna wurde übel. Sie sah nicht, wie der Drachenflieger das Ende der Rampe erreichte, da sie nicht nah genug stand, doch plötzlich segelte der Drachen vor ihr in der Luft. Der Pilot hing nun waagerecht unter dem Segel, seine Beine steckten in einer Art Schlafsack. Wie unbeschwert das wirkte. Als wäre gar nichts dabei. Kurz beneidete Johanna den Mann. Sein Drachen glitt ruhig im Sonnenlicht dahin. Er segelte parallel zum Hang des Wiehengebirges. Als Johanna ihn beinahe aus den Augen verlor, flog er eine Schleife und kam wieder näher. Doch plötzlich sackte der Drachen in der Luft ab. Johanna registrierte unruhiges Gemurmel unter den Umstehenden. Dann ein aufgeregter Schrei, als der Drachen noch einmal drastisch an Höhe verlor und jählings einfach abwärtstrudelte. Wie ein Kinderdrachen, der vom Himmel fiel.

Johanna Neumann

Sonntag, 6. August, 19:30 Uhr

Kritisch begutachtete Johanna ihr Spiegelbild. Ihr schwarzes Haar hatte sie sich hinter die Ohren gesteckt. Es fiel ihr glatt bis auf die Schultern. Sehe ich wirklich so ungesund blass aus oder liegt das an der fürchterlichen Badezimmerbeleuchtung?, fragte sie sich. Rasch legte Johanna etwas schwarze Wimperntusche auf. Das brachte das Grün ihrer Augen gut zur Geltung. Vielleicht sollte ich ein wenig Lippenstift auftragen, überlegte sie. Schnell öffnete sie den Spiegelschrank und griff nach dem einzigen Lippenstift, den sie besaß. Gerade hatte sie die dunkle, braun-rote Farbe verteilt, als die Türglocke ihren Besucher ankündigte. Ihr Magen fühlte sich an, als würde ihn jemand sanft zusammendrücken. Hastig warf sie noch einen Blick in den Spiegel und runzelte die Stirn. Sie riss ein Blatt Toilettenpapier von der Rolle, wischte sich den Lippenstift wieder ab und stürmte aus dem Bad zur Haustür.

„Moin, David.“

David Gilbert hatte sich kaum verändert, seit Johanna ihn das letzte Mal vor gut einem Jahr in Kiel gesehen hatte. Noch immer trug er sein braunes Haar kurz geschnitten. An den Seiten etwas kürzer und oben leicht zerzaust. Sein Lächeln hing ihm nach wie vor schief im Gesicht.

„Hey, Johanna.“

Sein Tonfall klang warm und vertraut. Sofort spürte sie wieder den leichten Druck auf ihrem Magen. Einen kurzen Moment standen sich die beiden unsicher gegenüber. Dann gab sich Johanna einen Ruck und umarmte ihn.

„Schön, dass du da bist. Komm rein.“

Als sie nebeneinander auf der Couch saßen, folgte Johanna Davids Blick durch ihr kleines Wohnzimmer. An der Zimmerdecke baumelte die noch nackte Glühbirne. Die Wände waren zwar frisch gestrichen, aber vollkommen kahl. Außer ihrem Sofa und dem kleinen Wohnzimmertischchen aus Holz stand nur noch der Fernseher verlassen an einer der Zimmerwände. Ansonsten stapelten sich überall im Raum Umzugskartons.

„Ich bin noch zu gar nichts gekommen“, meinte Johanna achselzuckend.

„Meld dich, wenn du Hilfe brauchst.“

David warf einen vielsagenden Blick zu der Glühbirne.

„Schließlich kenne ich dich und dein handwerkliches Geschick.“

Sie lachten beide. Damals, als sie zusammengelebt hatten, war es stets David gewesen, der sich um solche Dinge kümmern musste.

In dieser Wohnung würde Johanna alles selbst machen. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Sie würde sich eine kleine Wohlfühloase schaffen. Bei der Besichtigung hatte sie sich sofort in die Zweizimmerwohnung verliebt. Sie lag in Meißen, einem Stadtteil von Minden. Doch der Ort hatte noch immer den Charme eines Dorfes. Ganz in der Nähe ihrer Wohnung gab es sogar eine alte Windmühle. Ihr Vermieter hatte ihr gegenüber gleich mehrmals erwähnt, dass dort standesamtlich geheiratet werden konnte. Ob er ihr damit etwas sagen wollte? Die Verkehrsanbindung an die Innenstadt war gut. Mit dem Fahrrad brauchte sie nur knapp fünfzehn Minuten bis zur Arbeit. Sie würde hier glücklich werden.

„Jo, geht es dir gut?“, fragte David unvermittelt und die Sanftheit, mit der er ihren Kosenamen aussprach, stach wie eine Messerklinge auf sie ein. Johanna antwortete etwas zu schnell.

„Ja, ja, natürlich.“

Er musterte sie eindringlich.

„Es muss gestern schlimm gewesen sein, oder?“

Johanna schloss die Augen. Ein Mann war am Tag zuvor gestorben. Sie stellte sich vor, wie es sein musste, wenn man aus über zweihundert Metern Höhe dem Erdboden entgegenraste. Ein kalter Schauer fuhr ihr den Rücken herab.

„Ich finde es furchtbar, aber ich bin in Ordnung.“

David ließ nicht den Blick von ihr.

„Bist du dir sicher? Das letzte Mal in Kiel …“

„Ich bin mir sicher!“, schnitt sie ihm das Wort ab. Das Letzte, was sie jetzt wollte, war, über die Ereignisse in Kiel zu sprechen. Schließlich war das der Grund für ihren Umzug.

„Wisst ihr schon, was passiert ist?“

Er lächelte. Anscheinend gab er sich mit der Antwort zufrieden.

„Spreche ich mit dir oder der Redakteurin vom Mindener Tageblatt? Als Kriminalbeamter muss ich dich das fragen“, neckte er sie.

Johanna grinste nur.

„Bisher ist unklar, warum er abgestürzt ist. Nach Aussage der Veranstalter war bestes Flugwetter und der Mann ein erfahrener Pilot. Ich ermittele in dem Fall, um ein Fremdverschulden auszuschließen. Reine Routine.“

„Du hältst mich natürlich auf dem Laufenden, nicht wahr? Ich erwarte Insiderinformationen“, scherzte sie.

Natürlich würde David ihr nichts verraten, was nicht auch die Pressestelle der Polizei absegnete. Dazu war er viel zu korrekt.

Kurz schwiegen die beiden.

„Johanna, du weißt, ich freue mich, dich zu sehen.“

Er zögerte.

„Du bist aber nicht“, nochmals stockte er kurz, „du bist aber nicht meinetwegen nach Minden gezogen, oder?“

In seine Gesichtszüge mischten sich Besorgnis und Hoffnung zugleich. Oder wünschte Johanna sich Letzteres nur?

Schnell schüttelte sie den Kopf.

„Nein. Natürlich nicht.“

David griff nach ihrer Hand.

„Was im letzten Jahr passiert ist, darf sich auf keinen Fall wiederholen. Ich mag dich sehr, Jo. Du bist meine beste Freundin. Das weißt du, oder?“

Überdeutlich spürte Johanna seine Hand auf ihrer. Die Wärme, die von seiner Haut ausging. Sie lächelte. Ihre Wangen brannten plötzlich.

„Das weiß ich, David. Wir sind Freunde und das werden wir bleiben.“

Eilig sprang sie auf.

„Magst du etwas trinken?“, fragte sie auf dem Weg in die Küche. Sie konnte ihn unmöglich länger ansehen.

Bei geöffneter Kühlschranktür zählte sie auf: „Du hast die Wahl zwischen Wasser und Kirschsaft.“

„Ich nehme an, ein Bier hast du nicht?“

Er war ebenfalls in die Küche gekommen und inspizierte neben ihr mit gerunzelter Stirn den Inhalt ihres Kühlschranks. Sie spürte die Wärme seines Körpers und hätte sich am liebsten an ihn gelehnt.

„Das ist ein deprimierender Anblick“, lachte er, als er außer den Getränken nur ein Paket Toast und Marmelade ausmachte.

„Dann also Wasser“, sagte er.

Johanna nahm die Wasserflasche aus dem Kühlschrank und David suchte in den oberen Küchenschränken erfolglos nach Gläsern.

„Ich fürchte, ich habe die Gläser noch nicht ausgepackt.“

David schüttelte den Kopf.

„Immer noch die chaotische Jo. Manche Dinge ändern sich nie.“

Das stimmt, dachte sie. Wäre da nicht der Ring an seinem Finger, hätte alles wie früher sein können.

Johanna Neumann

Montag, 7. August, 16:00 Uhr

Als Johanna ihren Wagen diesmal auf dem Parkplatz der Wittekindsburg abstellte, bot sich ihr ein völlig anderes Bild als noch vor zwei Tagen. Nur ein paar vereinzelte Wagen standen verlassen auf dem grauen Kies. Dunkle Wolken hingen tief am Nachmittagshimmel und raubten den Sonnenstrahlen die Kraft. Der Waldboden war vom Regen der letzten Nacht aufgeweicht und schlammig. Der Geruch von feuchter Erde, Moos und Baumrinde hing schwer in der Luft.

Vor der Drachenfliegerrampe stand eine kleine Gruppe von Menschen beisammen. Einer von ihnen war Robert Kuhn. Er trug einen klassischen schwarzen Anzug, der, wie Johanna vermutete, maßgeschneidert war und ziemlich teuer aussah. Als der Anwalt sie entdeckte, löste er sich aus der Gruppe und kam ihr entgegen. Förmlich gab er ihr die Hand. Johanna fielen die zahlreichen Schlammspritzer auf, die auf seinen schwarzen Lederschuhen ein bizarres Muster zeichneten. Es passte so gar nicht zu seinem restlichen Auftreten.

„Frau Neumann. Danke, dass Sie gekommen sind.“

Als ob du daran gezweifelt hättest, dachte Johanna. Sie war völlig überrascht gewesen, als Robert Kuhn sie am Morgen in ihrem Büro angerufen hatte. Anders als ihre berufliche E-Mail-Adresse war ihre Telefonnummer den Lesern nicht öffentlich zugänglich. Darum hatte sie ausdrücklich gebeten. Manche Kollegen gaben jedoch beides preis.

Doch ihr reichte es für den Anfang, schriftlich erreichbar zu sein. Robert Kuhn musste also speziell nach ihr verlangt haben.

Es tue ihm sehr leid, dass ihre erste Berichterstattung ein so tragisches Ende genommen habe. Ob sie den Schock einigermaßen verarbeitet habe? Wie vorbildlich es sei, schon wieder am Schreibtisch zu sitzen. Er selbst sei ein Freund des verstorbenen Manuel Nowak gewesen und er wolle sie wissen lassen, dass sich am Nachmittag ein paar Freunde von Manuel verabschieden werden. Wäre es möglich, dass sie einen kurzen, angemessenen Bericht darüber schriebe? Ihm würde es viel bedeuten, vorausgesetzt natürlich, sie fühle sich dazu in der Lage.

„Herr Kuhn“, nickte sie ihm nun zu. Er hielt ihre Hand etwas zu lange und deutete dann in Richtung der kleinen Gruppe: „Bitte.“

„Das ist Frau Neumann vom Mindener Tageblatt“, stellte er sie der Runde vor. Einige der Umstehenden nickten ihr zu, manche murmelten eine leise Begrüßung. Johanna krallte ihre Finger in das weiche Leder ihrer Handtasche. Erinnerungen an eine Beerdigung, die niemals hätte stattfinden dürfen, krochen aus ihrer Vergangenheit hervor. Erinnerungen, die sie wieder und wieder verdrängte und die doch immer einen Weg nach oben in ihr Bewusstsein fanden. Nicht jetzt, ermahnte sie sich.

„Mein Beileid“, sagte sie leise und an niemanden Bestimmten gerichtet.

Robert Kuhn räusperte sich.

„Ich denke, wir sollten beginnen.“

Die Gruppe versammelte sich im Halbkreis um die grüne Rampe herum. War grün nicht die Farbe der Hoffnung?, überlegte Johanna. Falls es die Hoffnung auf einen guten Flug war, hatte sie sich für Manuel Nowak jedenfalls nicht erfüllt. Unauffällig betrachtete sie die Umstehenden. Neben dem Anwalt waren noch drei weitere Männer und drei Frauen anwesend. Vermutlich alle in den Dreißigern, schätzte Johanna. Die gut aussehende Blondine neben Robert Kuhn erkannte sie wieder. Sie war Johanna bereits am Samstag auf dem Fest aufgefallen. Bestimmt handelte es sich um seine Ehefrau. In ihren zierlichen Händen trug sie einen Strauß langstieliger, roter Rosen. Langsam schritt sie nun von einem zum anderen und überreichte jedem Anwesenden eine der Blumen. Als sie vor Johanna stehen blieb, zog sie ihre Mundwinkel zu einem missglückten Lächeln nach oben. Johanna lächelte zaghaft zurück. Es kam ihr nicht richtig vor, hier zu sein. Der schwere Rosenduft stieg Johanna in die Nase und ihr wurde übel. Kaum war die Blumenträgerin an ihren Platz zurückgekehrt, ertönte aus dem Smartphone ihres Mannes leise Klaviermusik.

„Manuel, der Song ist für dich“, verkündete er und eine zerbrechlich klingende Frauenstimme begann zu singen.

Alle senkten den Kopf und lauschten der langsamen Melodie. Es war eine Version von Over the Rainbow, die Johanna nicht kannte. Das Schweigen und die zarten Klänge des Liedes legten sich wie eine unsichtbare Kuppel über die Trauernden. Nach ein paar Takten mischte sich ein leises Schluchzen unter die Musik. Johanna beobachtete, wie Robert Kuhn den Arm um die Frau zu seiner Linken legte. Ihre Haut war beinahe ebenso dunkel wie das Schwarz ihrer Bluse. Ihre Schultern bebten und mit schmerzverzerrtem Gesicht starrte sie ins Nichts. Sicher war dies die Frau oder die Freundin des Verunglückten. Sofort verspürte Johanna den Wunsch, sie irgendwie zu trösten. Doch was hätte sie tun können?

Nachdem die letzten Töne des Liedes verklungen waren, herrschte für einen Moment eine gespannte Stille, bevor Robert Kuhn kurz einige Etappen aus dem Leben des Verstorbenen schilderte.

Mit den Worten, „Manuel, wir werden dich vermissen“, beendete er seine Ansprache und nickte der noch immer weinenden Frau zu seiner Linken zu. Gemeinsam legten sie ihre Rosen auf der Rampe ab. Nach und nach taten die anderen es ihnen gleich. Johanna schluckte. Ihr Hals fühlte sich plötzlich wie zugezogen an. Ihre Beine zitterten, als sie sich langsam der Rampe näherte. Sieh auf dein Ziel, schärfte sie sich ein. Fixier einen festen Punkt, und dort legst du deine Blume ab. Du kannst das. Während sie ihre Rose langsam auf den grünen Belag bettete, machte sie den Fehler und blickte nach vorn. Als sie die Weser weit unter sich sah, wurde ihr augenblicklich schwindelig und sie schaffte es nur mühsam, sich abzuwenden und zu den anderen zurückzukehren.

„Bitte.“

Robert Kuhn zog sie sanft, aber bestimmt am Ellenbogen mit sich, bis sie ein wenig abseits von der Gruppe standen.

„Für einen kurzen Beitrag dürfte das reichen, nicht wahr?“

Während er sprach, ließ er seine Hand auf ihrem Ellbogen ruhen. Die vertrauliche Nähe empfand Johanna als unangenehm.

„Wir werden jetzt noch Erinnerungen an Manuel austauschen. Das ist sehr persönlich. Ich glaube nicht, dass Sie hier dabei sein sollten. Für Claire, seine Freundin – mein Gott, die beiden waren über zehn Jahre ein Paar –, wäre es zu viel.“

Er nickte vielsagend in ihre Richtung.

„Ein Foto von den Rosen wäre noch passend.“

Es war keine Bitte oder Frage, einfach eine Aufforderung. Unter anderen Umständen hätte Johanna ihm gerne ihre Meinung gesagt. Ganz bestimmt musste er ihr nicht erklären, wie sie ihren Job zu machen hatte. Stattdessen brachte sie ein Lächeln zustande, von dem sie hoffte, es würde freundlich wirken.

„Natürlich.“

Sie trat einen Schritt zurück, um sich endlich aus seinem Griff zu befreien.

„Ich mache noch das Foto und dann gehe ich direkt. Ich möchte nicht stören.“

„Danke. Ich habe Ihnen noch eine E-Mail mit ein paar Daten zu Manuel gesendet. Vielleicht können Sie davon noch etwas gebrauchen. Ich melde mich noch mal bei Ihnen. Vielen Dank.“

Mit diesen Worten ließ er sie stehen.

Mit klopfendem Herzen stand sie wieder an dieser elenden Rampe. Da die Konstruktion relativ hoch war, musste sie noch einmal nah an diese herantreten. Mit schweißnassen Händen machte sie einige Bilder.

„Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind.“

Robert Kuhns Frau stand plötzlich neben ihr und betrachtete mit seltsam leerem Blick die einzelnen Rosen. Ein angenehmer, leicht blumiger Duft ging von ihr aus. Ihre blonden Haare fielen in perfekten Wellen um ihr Gesicht.

„Ich bin Laura Kuhn, Roberts Frau.“

Sie lächelte Johanna an, ohne dass diese Geste ihre Augen erreichte.

„Es tut mir sehr leid, was passiert ist“, antwortet Johanna, und dann, ohne weiter darüber nachzudenken, fragte sie: „Kannten Sie den Verstorbenen gut?“

„Manuel war ein Freund meines Mannes.“

Täuschte Johanna sich oder warf Laura einen ängstlichen Blick in seine Richtung?

„Manuel war ein sehr sympathischer Mann. Die arme Claire.“

Die beiden Frauen schauten zu ihr herüber. Robert Kuhn hatte bereits wieder schützend seinen Arm um sie gelegt.

„Eigentlich hätte er an diesem Tag springen sollen.“

Laura fixierte noch immer ihren Mann, während sie dies sagte.

„Bitte?“

Johanna verstand nicht richtig.

Es schien Laura viel Kraft zu kosten, ihren Blick von den beiden zu lösen.

„Oh, es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen.“

Sie wirkte abwesend und schüttelte leicht den Kopf, als würden ihre Worte nicht der Wahrheit entsprechen.

„Wissen Sie, eigentlich wäre Robert an diesem Tag gesprungen. Aber er musste in die Kanzlei.“

Sie strich sich mit der Hand eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Bewegung wirkte fahrig. Ihr Blick gläsern.

„Manuel ist für meinen Mann an den Start gegangen. Mit seinem Drachen. Wäre der Anruf des Mandanten nur etwas später gekommen, würde ich vielleicht dort stehen.“

Johanna wusste nicht genau, woran es lag, an der merkwürdigen Stimmlage oder dem intensiven Blick, aber der Gedanke, dass es nicht so war, schien Laura Kuhn traurig zu stimmen.

Auf dem Weg zurück zu ihrem Wagen wurde Johanna das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Als würden sich zwei Augen glühend heiß in ihren Rücken bohren. Sie schaute nochmals zurück zu der Trauergemeinde, doch niemand aus der Gruppe sah zu ihr herüber. Obwohl die Sonne sich zwischen die Wolken geschoben hatte und es angenehm warm war, zog sich eine Gänsehaut über Johannas Arme. Sie schüttelte sich. War sie nicht aus Kiel hierher nach Minden gezogen, um genau diesem Gefühl zu entkommen?

Johanna Neumann

Montag, 7. August, 18:55 Uhr

Zaghaft fuhr Johanna mit ihrem Zeigefinger den kühlen Rand der Glasflasche entlang. Sie hatte sich für eine Rhabarberschorle entschieden und der frische, süß-säuerliche Geruch des Getränks stieg ihr in die Nase. Nach der Trauerfeier hatte sie in ihrem Büro einen kurzen Bericht darüber geschrieben. Morgen würde der Artikel in der Zeitung erscheinen, und Johanna war sich sicher, dass Robert Kuhn sich daraufhin bei ihr melden würde.

Der ganze Tag hatte sie in eine schwermütige Stimmung versetzt, und anstatt nach Hause zu fahren, fand sie sich nun im Außenbereich des spanischen Restaurants gleich gegenüber des Verlagshauses wieder.

Auf der Obermarktstraße, die zwischen dem Restaurant und ihrem Arbeitsplatz verlief, waren auf beiden Straßenseiten graue Holztische aufgestellt, mit bequemen Sitzbänken davor. Johanna saß an einer der letzten Bänke und teilte sich diese mit einem Paar, von dem sie nicht weiter beachtet wurde. Eigentlich sollte sie dringend in ihrer neuen Wohnung sein. Dort warteten noch immer etliche Kartons darauf, ausgepackt zu werden. Doch etwas in ihr sträubte sich dagegen. Was bedeutete ein Zuhause, wenn dort keiner auf einen wartete?

Kurz zögerte sie, griff dann nach ihrem Handy und kontrollierte ihre Nachrichten. Eine SMS wartete darauf, von ihr gelesen zu werden. Sie musste nicht erst darauf klicken, um zu wissen, dass diese Nachricht nur von ihrer Mutter stammen konnte. Sie war die Einzige, die ihr noch SMS schickte. Seit Johanna nach Minden gezogen war, hatte sie es vermieden, ihre Eltern anzurufen. Zu tief saß die Angst vor den fürsorglichen Fragen ihrer Mutter. Statt die SMS zu lesen, öffnete Johanna WhatsApp, tippte auf den Namen von David und las sich seine letzte Nachricht durch, datiert vom Sonntag, nachdem er bei ihr zu Besuch gewesen war.

Es war schön, dich zu sehen, Jo. Demnächst muss ich dir mehr von Minden zeigen.

Wie von allein glitten ihre Finger über das Display und tippten Wörter, die Johanna sich niemals traute auszusprechen. Während ihr Daumen über dem Senden-Button schwebte, hatte sie, wie schon im Wald, das unangenehme Gefühl, von einem Augenpaar beobachtet zu werden. Rasch hob sie den Kopf und blickte sich um, doch niemand sah in ihre Richtung. Es ist alles gut, beruhigte sie sich selbst und löschte gleichzeitig die Nachricht an David wieder. Das war eine dumme Idee. Während sie einen Teil ihrer Unterlippe zwischen ihre oberen Schneidezähne klemmte, öffnete sie den App-Store ihres Smartphones. Was soll’s, dachte sie sich. Ein paar Klicks weiter und auf ihrem Display erschien das Foto eines datingbereiten Singles aus Minden.

„Wir haben reserviert.“

Johanna erkannte die autoritäre Stimme Robert Kuhns sofort. Er und seine Frau Laura standen auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Eingang des Res­taurants und sprachen mit einer Kellnerin. Schnell beugte sie sich tiefer über ihr Telefon. Nach Small Talk war ihr nun überhaupt nicht zumute. Die beiden nahmen an einem der Tische schräg gegenüber von ihr Platz. Zum Glück hatten die zwei sie nicht bemerkt. Während Johanna Robert Kuhns Gesicht sehen konnte, saß seine Frau Laura mit dem Rücken zu ihr. Das lange, blonde Haar glänzte in der Abendsonne.

Etwas an dem Anwalt war anders. Johanna brauchte einen Moment, bis sie erkannte, was es war. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er seine Frau. Jegliche Gelassenheit, die ihn sonst wie eine natürliche Aura umgab, war verschwunden. Sie kehrte jedoch augenblicklich zurück, als die Kellnerin an den Tisch kam, um seine Bestellung aufzunehmen. Gleich darauf krallten sich seine Augen wieder an seiner Ehefrau fest und Johanna entging nicht der düstere Schimmer darin. Er starrte Laura an, als wäre sie ein Beutetier und er der Jäger. Nach einer Ewigkeit sagte er etwas. Johanna saß zu weit entfernt, um seine Worte zu verstehen. Doch auch aus der Entfernung erkannte sie, dass er wütend war. Sein Gesicht zeigte kaum Regung und seine Lippen bewegten sich langsam, als spräche er mit leiser und schneidender Stimme. Das plötzliche laute und helle Auflachen seiner Frau passte so gar nicht in dieses Bild. Johanna sah, wie sich seine Hände auf dem Tisch zu Fäusten formten. Mit dem präzisen Blick eines Chirurgen musterte er seine Frau. Laura kicherte jetzt, als hätte er einen besonders lustigen Scherz gemacht. Ohne Vorwarnung knallte seine geballte Hand auf das Holz des Tisches. Mit einem Ruck stand er auf.

„Glaub nicht, dass du damit durchkommst!“, donnerte er seiner Frau mit erhobener Faust entgegen. Für einen kurzen Moment verharrte er in der drohenden Bewegung, bevor er Laura, mühsam beherrscht, den Rücken zukehrte und davoneilte.

Robert Kuhn

Montag, 7. August, 19:45 Uhr

Was bildete sich dieses Miststück ein? Heiße Wut fraß sich Robert Kuhns Kehle hinab und explodierte in seinem Magen. Mit schnellen Schritten marschierte er die Obermarktstraße entlang. Auf dem kleinen Platz zwischen der Leiter- und der Opferstraße lungerten wie so oft ein paar Jugendliche herum. Aus einem Handy dröhnten laute Technobeats und Bierflaschen säumten den Weg. Es roch nach Alkohol und jugendlichem Schweiß, der, wenn Robert sich nicht irrte, sich mit dem schweren, leicht süßlichen Geruch von Marihuana mischte. Wahrscheinlich war einer der Glimmstängel keine Zigarette.

In solchen Situationen bereute er es, ein Anwalt zu sein. Liebend gerne wäre er zu den armseligen Gestalten hinübergegangen und hätte ihnen mithilfe seiner Fäuste die Meinung gesagt. Das wäre genau das Richtige, um seine Wut zu bändigen. Stattdessen bog er in die Opferstraße ein und ging möglichst schnell Richtung Martinikirche, um zu seinem Wagen zu gelangen. Opfer. Ein Opfer war, wer durch eine Straftat oder ein Ereignis unmittelbar oder mittelbar physisch, psychisch, sozial oder materiell geschädigt wurde. Er kannte diese Definition laut Strafgesetzbuch auswendig, und das, was Laura sich erlaubte, machte ihn zu ihrem Opfer. Aber er war kein Opfer, war er nie gewesen und würde er niemals sein.

Er zwang sich, seinen Wagen, einen dunkelgrauen BMW 8er Gran Coupé, langsam durch den Stadtverkehr zu steuern, während seine Gedanken sich überschlugen. Seine Wut rauschte mit solcher Wucht durch seinen Körper, dass es sich anfühlte, als würde heißes Blut durch seine Adern strömen. Er konnte es nicht fassen. Das war schlicht und einfach unmöglich, ausgeschlossen. So hatte er Laura noch nie erlebt.

Im Kreisverkehr entschied er sich, nicht auf die Lübbecker Straße abzubiegen, um nach Hause zu fahren. Stattdessen fuhr er auf die B 61, um zur Autobahn zu gelangen. Eine rasante Fahrt mit seinem Wagen würde seine Wut herunterkühlen. Sollte Laura schön zu Hause auf ihn warten. Er würde ihr schon klarmachen, wer hier das Sagen hatte.

Er erinnerte sich, als Laura ihn angerufen hatte. Manuel sei abgestürzt. Wie emotional sie geklungen hatte. Hysterisch beinahe. Überhaupt benahm sie sich merkwürdig seit dem Unfall. Was war los mit ihr? Er umklammerte das Lenkrad fester. Seine Knöchel zeichneten sich deutlich unter seiner Haut ab. Das werde ich schon herausfinden, dachte er und drückte das Gaspedal herunter. Doch plötzlich, wo vorher noch die Straße war, öffnete sich der Himmel und sein Körper wurde in den Anschnallgurt gepresst. Eine rasende, höllische Abfolge von Straße und Himmel zog an ihm vorbei. Das Letzte, was er vernahm, war ein ohrenbetäubender Knall.

David Gilbert

Dienstag, 8. August, 12:10 Uhr

Zum wiederholten Mal fiel David Gilberts Blick auf das Foto seiner Frau Julia und ihrer gemeinsamen Tochter Hanne. Die Aufnahme stammte aus diesem Frühling. Julia stand im Garten, die Kleine im Arm, und lächelte ihrer Tochter versonnen ins Gesicht. Kurz war er versucht, das Bild in der Schublade seines Schreibtisches verschwinden zu lassen, doch das fühlte sich an, als würde er Julia betrügen. Johanna kannte schließlich seine Familie, und das zwischen ihr und ihm war geklärt. Es gab also keinen Grund, das Foto aus Rücksicht auf Johannas Gefühle beiseitezulegen. Er zwang sich, in den Obduktionsbericht zu sehen, der vor ihm auf dem Tisch lag. Um einen nicht natürlichen Tod auszuschließen, war eine Sicherheitsobduktion vorgenommen worden. In der Pathologie hatten sie sich ganz schön rangehalten, staunte David.

Als Todesursache von Manuel Nowak nannte der Bericht: Tod durch Verbluten. Grund hierfür war die Verletzung der Oberschenkelarterie, Arteria femoralis. Manuel Nowaks Sturz hatte abrupt in einem Ahornbaum geendet. Dabei hatte sich einer der dünneren Äste durch seinen rechten Oberschenkel gebohrt. Die Rettungskräfte konnten nur noch seinen Tod feststellen.

Interessant fand David, dass im Blut des verunglückten Drachenfliegers eine hohe Konzentration an Diazepam nachgewiesen wurde. Laut Bericht ein psychoaktiv wirksamer Arzneistoff, der früher unter dem Namen Valium bekannt war. Durch die Überdosierung waren Schwindelgefühle und starke Koordinationsstörungen möglich. Nebenwirkungen, die durchaus zu dem Absturz hätten führen können. Manuel Nowak hätte nach der Einnahme dieses Medikaments niemals an den Start gehen dürfen. Als erfahrener Drachenflieger muss er das gewusst haben, überlegte David. Es sollte also unbedingt überprüft werden, ob der Verstorbene von einem Arzt Diazepam verordnet bekommen hatte. Wenn dem nicht so war, würde er den Vorgang nicht mehr als Unfall, sondern als Mordermittlung einstufen müssen. Ohnehin war ein Großteil der üblichen Maschinerie schon in Gang gesetzt worden, auch wenn vorläufig von einem Unfall ausgegangen wurde. Die noch anwesenden Besucher des Drachenfliegerfests waren an dem Samstag noch vor Ort befragt worden, ob ihnen etwas aufgefallen sei oder ob sie vielleicht Fotos oder Videoaufnahmen des Starts oder des Unfalls gemacht haben.

Das Klingeln seines Diensttelefons riss ihn aus seinen Grübeleien.

„Ja, Gilbert.“

„Hey, David, hier ist Ben, ich hab da was für dich, das dich interessieren könnte.“

Als David vor zwei Jahren zur Kreispolizeibehörde nach Minden-Lübbecke gekommen war, um hier seine Laufbahn bei der Kripo zu starten, war auch Ben Pérez neu auf der Wache gewesen. Die beiden Männer hatten sich auf Anhieb gut verstanden und sie waren mittlerweile weit mehr als Arbeitskollegen.

„Du bist doch an dem Fall mit dem Drachenflieger dran, richtig? Dabei fiel mir ein, dass du den Namen Kuhn erwähnt hast.“

„Das stimmt. Der Verunglückte ist statt seiner gesprungen. Daran erinnerst du dich?“

„Zwangsweise. Der Kerl hat damals meine Frau bei der Scheidung beraten. Eigentlich gar nicht sein Fachbereich, aber bei ihr hat er eine Ausnahme gemacht. Du kannst dir denken, warum, oder?“

„Mhm.“

Darauf wollte David lieber nicht antworten. Einer der Gründe für die Trennung war auch Bens Eifersucht gewesen.

„Na ja, gestern gab es einen tödlichen Verkehrsunfall. Und jetzt rate, wer dabei verstorben ist.“

„Der Kuhn?“

„Genau.“

„Das ist tatsächlich interessant.“

„Dachte ich mir, dass du das wissen möchtest. Ein merkwürdiger Zufall, oder?“

„Danke, Ben, das nächste Bier geht auf mich.“

David legte auf, ohne Bens Antwort abzuwarten. Manuel Nowak war anstelle von Robert Kuhn gesprungen und nur zwei Tage später verstirbt Kuhn bei einem tödlichen Autounfall. In Davids Gehirn begann es zu arbeiten. Er musste den Unfallbericht anfordern. Als er zum Hörer griff, klopfte es an der Tür.

„Moin, David.“

Das vertraute Moin ließ ihn schmunzeln. Hier in Minden wirkte es fehl am Platz, aber zu Johanna gehörte es einfach dazu.

„Moin, Jo, bitte setz dich.“

Mit seiner rechten Hand deutete er auf einen der zwei grauen Stühle, die für Besucher vor seinem Schreibtisch standen.

„Wie förmlich.“

Johanna kicherte. Während sie sich hinsetzte, wanderten ihre Augen durch sein Büro.

„Schick, wie im Tatort“, neckte sie ihn und musterte dabei die dunklen Regale und Aktenschränke an den weißen Zimmerwänden.

Wieder musste er schmunzeln. Während ihrer Zeit als Paar hatten sie sich jeden Sonntag den Tatort im Fernsehen angesehen. Das war eine ihrer unumstößlichen Traditionen gewesen. Gemütlich eingekuschelt auf dem Sofa, mit Chips und Süßkram auf dem Tisch, hatten sie die Fälle von Ballauf und Schenk, Batic und Leitmayr und natürlich Thiel und Boerne verfolgt. Schon damals war beiden klar gewesen, dass David eines Tages zur Kriminalpolizei gehen würde. Allerdings dachten sie zu der Zeit auch, dass sie dann noch immer zusammen sein würden.

„Also, warum bin ich hier?“, fragte Johanna.

Weil ich wissen möchte, ob es dir gut geht, dachte David. Stattdessen antwortete er: „Ich möchte mir ein noch besseres Bild machen von dem Tag, als der Drachenflieger verunglückte.“

Johanna beugte sich vor und David sah förmlich, wie in ihren Augen ein plötzliches Interesse aufflackerte.

„Bearbeitest du jeden Unfall so akribisch?“

„Jo, die Fragen stelle ich.“

„Natürlich.“

Sie lächelte.

„Was möchtest du wissen?“

„Ist dir an dem Tag etwas aufgefallen? Irgendetwas, das dir ungewöhnlich vorkam?“

„Ungewöhnlich?“, sie stutzte.

„War es vielleicht kein Unfall?“, fragte sie mit geweiteten Augen.

David verfluchte seine Frage bereits.

„Das habe ich nicht gesagt. Aber ist dir beim Start vielleicht etwas aufgefallen? Du hast doch gesehen, wie der Mann gesprungen ist, oder?“

Johannas Gesichtszüge veränderten sich. Die Erinnerung an den Tod verdunkelte ihr Gesicht, als würde sich eine Wolke vor die Sonne schieben.

„Ja, das schon, aber mir ist beim Start nichts aufgefallen. Der Mann ist diese Rampe runtergelaufen und dann in die Luft geschossen. Es schien alles in Ordnung zu sein. Und dann sah ich, wie sein Drachen abstürzte. Ich stand einfach nur da und konnte zusehen. Es war schrecklich.“

Sie verstummte. Zum Glück hatte sie nicht verfolgen müssen, wie der arme Kerl in den Baum gekracht und verblutet war, dachte David. Diesen Anblick hätte sie vermutlich niemals vergessen.

„Meinst du, jemand hat nachgeholfen?“, wollte sie wissen.