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Ein Toter im Dom. Eine falsche Reliquie. Eine Frau auf der Suche nach der Wahrheit. Aachen, anno 1412: Der Geselle Klas liegt erschlagen im Dom. Verdächtigt wird sein Meister, der Reliquienhändler Reinold Markwardt. Dessen Frau Marysa glaubt an eine Verschwörung. Unterstützt von dem Mönch Christophorus stößt sie bei ihren Nachforschungen auf einen Handel mit gefälschten Reliquien. Doch ihre Feinde sind mächtig: Marysa wird der Ketzerei angeklagt und soll auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Und die Zeit arbeitet gegen Christophorus …
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Seitenzahl: 392
Petra Schier
Ein Toter im Dom. Eine falsche Reliquie. Eine Frau auf der Suche nach der Wahrheit.
Aachen, anno 1412: Der Geselle Klas liegt erschlagen im Dom. Verdächtigt wird sein Meister, der Reliquienhändler Reinold Markwardt. Dessen Frau Marysa glaubt an eine Verschwörung. Unterstützt von dem Mönch Christophorus stößt sie bei ihren Nachforschungen auf einen Handel mit gefälschten Reliquien. Doch ihre Feinde sind mächtig: Marysa wird der Ketzerei angeklagt und soll auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Und die Zeit arbeitet gegen Christophorus …
Petra Schier, Jahrgang 1978, lebt mit ihrem Mann und einem Schäferhund in einer kleinen Gemeinde in der Eifel. Sie studierte Geschichte und Literatur und arbeitet mittlerweile freiberuflich als Lektorin und Schriftstellerin. Nach ihren historischen Romanen um die Apothekerstochter Adelina folgt hier nun der Auftakt zu einer neuen historischen Romanreihe der erfolgreichen Autorin.
Mehr Informationen zur Autorin unter www.petralit.de.
Weitere Veröffentlichungen:
Tod im Beginenhaus
Mord im Dirnenhaus
Verrat im Zunfthaus
Die Eifelgräfin
Unselig aber sind jene, die auf Totes ihre Hoffnung setzen und Werke von Menschenhand als Götter bezeichnen …
(Buch der Weisheit 13,10)
Es gibt nichts Verborgenes, das nicht offenbar wird, und nichts Geheimes, das nicht bekannt wird und an den Tag kommt.
(Lukas 8,17)
Meinen Brüdern gewidmet:
Thomas, Andreas, Michael
Jakobsweg, Bei Pamplona 24. Dezember, Anno Domini 1411
Still und in Gedanken versunken stand Christophorus am Grab seines Freundes. Ein feuchtkalter Wind fegte über den kleinen Bergfriedhof und klappte die Kapuze von Christophorus’ Pilgermantel hoch. Mechanisch zog er sie ganz über den Kopf, löste jedoch nicht den Blick von dem mit Steinen umrandeten Grabhügel und dem simplen Holzkreuz.
Aldo Schrenger hatte einen richtigen Leichenstein verdient, nicht dieses windschiefe Ding, auf dem nicht einmal sein Name vermerkt war. Doch er hatte es nicht anders gewollt.
Kein Aufhebens, hatte er gesagt, kurz bevor es mit ihm zu Ende gegangen war. Wem soll ein weiterer Grabstein am Weg des heiligen Jakobus nützen? Doch nur dem Steinmetz, der ihn anfertigt. Kein Aufhebens.
Christophorus schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, hob er den Kopf ein wenig an und konnte so über den Rand der Friedhofsmauer bis hinüber nach Pamplona sehen.
Sieben Tage waren seit dem Tod seines Freundes verstrichen. Christophorus hatte währenddessen gebetet, getrauert und einem jungen Barbiergesellen namens Artur zur Flucht aus der Stadt verholfen. Nun wurde es auch für ihn Zeit, weiterzuziehen. Zwar würde er in diesem Winter die Pyrenäen nicht mehr überqueren können, doch er hatte bereits eine Reisegruppe gefunden, der er sich im Frühling anschließen würde.
Sein Ziel war Aachen, die Stadt des heiligen Karl, Aldos Heimat. Die Reisegruppe bestand aus Pilgern und Gauklern sowie einigen Kaufleuten, die allesamt zur Heiltumsfahrt nach Aachen ziehen wollten. Die Pilgerreise dorthin war ein Ereignis, beinahe zu vergleichen mit Santiago de Compostela oder gar dem heiligen Rom. Auch die Tatsache, dass in Aachen die großen Reliquien nur alle sieben Jahre gezeigt wurden, war etwas Besonderes. Jeder gläubige Christ erschauerte schon bei dem bloßen Gedanken an den Anblick der Windeln und des Lendentuchs des Heilands, des Kleides der Gottesmutter Maria oder des Enthauptungstuchs Johannes des Täufers. Tausende und Abertausende Menschen würden im Juli des kommenden Jahres nach Aachen ziehen.
Christophorus wandte sich nun doch vom Grab ab und ging langsam zurück zur Friedhofspforte, vor der er sein Maultier angebunden hatte. Eine solche Menge von Pilgern versprach ein gutes Geschäft für ihn. Den Winter würde er dazu nutzen, seine Vorräte aufzufüllen.
Er wäre auch nach Aachen gezogen, wenn Aldo nicht gestorben wäre. Als Junge von sieben Jahren hatte Christophorus einst mit seinen Eltern die Heiltumsweisung besucht. Die Stadt, die vielen Menschen und die wunderbaren Reliquien hatten ihn so sehr beeindruckt, dass er gelobt hatte, noch einmal in seinem Leben dorthin zu reisen. Dass er nun mit Trauer im Herzen und schlimmen Nachrichten für die Familie seines Freundes im Gepäck nach Aachen gehen musste, änderte nichts daran, dass er die Stadt nach einigen Wochen als wohlhabender Mann wieder verlassen würde. Dieser Plan würde ihm Antrieb geben.
Sein Schmerz würde vergehen und nach einer Weile nichts als die Erinnerung an eine große Freundschaft bleiben.
Und an das Versprechen.
Christophorus band das Maultier los und führte es langsam den steilen, gewundenen Pfad hinunter zur Straße, die nach Pamplona hineinführte.
Er würde sein Versprechen halten, wenn er auch noch nicht wusste, wie er das bewerkstelligen sollte. Doch er würde es niemals brechen – man konnte über ihn sagen, was man wollte; er, Christophorus, stand zu seinem Wort.
Aachen 2. Juli, Anno Domini 1412
«Afrancba!» Marysa warf die angefangene Handarbeit zurück in den Korb. «Für diesen Kram habe ich einfach keine Geduld.»
«Was du nicht sagst», schmunzelte ihre Mutter Jolánda und strich die Stickerei auf der Haube, die sie gerade beendet hatte, glatt. «Warum fängst du bloß immer wieder damit an?»
Marysa verzog verärgert das Gesicht. «Weil er es so will. Es geht ihm einfach nicht in den Kopf, dass ich kein Talent fürs Sticken und Nähen habe. Viel lieber würde ich die Laute hervorholen. Wie lange habe ich schon nicht mehr gesungen! Weißt du noch, wie wir immer gemeinsam mit Vater musiziert haben?»
Jolánda nickte ruhig. «Wie könnte ich das je vergessen.» Sie streckte die Hand aus und legte sie ihrer Tochter auf den Arm. «Reinold hat dir das Singen doch nicht verboten, oder?»
«Nein.» Marysas Miene hellte sich eine Spur auf. «Nein, das hat er nicht. Jedenfalls nicht direkt. Er mag es nur nicht.»
«Wo ist er hingegangen, sagtest du?» Jolánda legte die Haube zusammen und griff nach einem Paar Strümpfe, die an den Fersen geflickt werden mussten. Ihre Augen funkelten herausfordernd.
«Auf den Parvisch. Er will mit den Kanonikern einen Vertrag machen, damit er eine der besseren Nischen am Dom für seinen Verkaufsstand während der Heiltumsweisung bekommt. Die Kirmes beginnt in acht Tagen, und die Platzverteilung ist noch immer nicht geregelt. Danach geht er vermutlich noch ins Zunfthaus.»
«Also wird er vor dem Abend nicht zurück sein», schloss Jolánda mit einem Zwinkern. «Warum gehen wir nicht hinaus in den Hof und setzen uns ein wenig in die Laube? Es ist sonnig und warm, und ein wenig Gesang mit Lautenbegleitung wird dort unten doch niemanden stören, oder?»
«Vermutlich nicht.» Ermutigt stand Marysa auf und streckte sich. Ihr Nacken schmerzte nach der Stunde, die sie sich konzentriert über ihre Handarbeit gebeugt hatte. Auch ihre Mutter erhob sich und legte der Tochter einen Arm um die Taille. Die beiden Frauen ähnelten einander sehr. Marysa hatte die grazile Gestalt, das herzförmige Gesicht und die kastanienbraunen Locken ihrer ungarischen Mutter geerbt. Ebenso das kleine Grübchen neben dem linken Mundwinkel und die katzenhaft grünen Augen. Dennoch wirkte Marysa in allem etwas herber und kantiger. Ein Umstand, den sie manchmal bedauerte, der sie jedoch täglich daran erinnerte, dass sie auch ihres Vaters Tochter war.
Gotthold Schrenger, der bekannteste Schreinbauer und Reliquienhändler Aachens, war nun schon seit einem Jahr tot, und noch immer vermisste Marysa ihn schmerzlich. So streng er sich zuweilen auch gegeben hatte, in seinem Haus hatten Lachen, Geselligkeit und Musik das Leben bestimmt. Nun war sie verheiratet mit einem Mann, der all das verabscheute.
Marysa lehnte sich kurz gegen ihre Mutter, dann ging sie zur Tür und rief nach der jungen Magd Imela. «Hol mir die Laute aus meiner Schlafkammer», trug sie ihr auf. «Und bring sie hinunter in den Hof.»
Imela, gerade vierzehn Jahre alt, hellblond und so schmal und schüchtern, dass man sie leicht übersah, nickte eifrig und huschte hinauf ins Obergeschoss.
Mit dem Ärmel seines weißen Dominikanerhabits wischte Christophorus sich über den schweißnassen Nacken. Die Julisonne brannte jetzt, am frühen Nachmittag, unbarmherzig auf die Stadt nieder. An einer Viehtränke am Rand des Marktplatzes blieb er stehen und ließ sein treues Maultier in Ruhe Wasser trinken. Er befand sich nicht allzu weit vom Ordenshaus der Dominikaner in der St. Jakobstraße entfernt und überlegte, ob er sich dort einquartieren sollte. Andererseits lockten ihn der Trubel und das Gewimmel der vielen Menschen in den Straßen und Gassen Aachens. Seit er die Stadt durch das Ponttor betreten hatte, war er nur noch sehr langsam vorangekommen. Obwohl es noch acht Tage bis zum Beginn der Kirmes – des Kirchweihfestes – waren, hatten sich bereits unzählige, ja Tausende Pilger eingefunden. Die Felder und Wiesen vor den Stadttoren und die Vororte hatten sich in ein riesiges Zeltlager verwandelt. Es fehlten nur die Waffen, und man hätte vermuten können, Aachen stände unter einer feindlichen Belagerung.
Innerhalb der Stadtmauern drängten sich die Menschen, es herrschte eine unvorstellbare Enge. Zelte und notdürftige Unterkünfte säumten die Gassen und Straßen beinahe allerorten; die Herbergen waren jetzt schon drei- oder vierfach belegt. Estella, die kleine Akrobatin aus der Gauklertruppe, mit der er die vergangenen Monate hierhergereist war, hatte ihm erzählt, dass sogar die Krankenhospitäler Schlafplätze bereitstellten und die Nahrungsmittel für die Menschenmassen von weit her aus dem Umland herbeigeschafft werden mussten.
Sosehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht mehr erinnern, ob die Stadt bei seinem letzten Besuch vor einundzwanzig Jahren auch so überfüllt gewesen war. Aber als Kind nahm man solche Dinge wohl auch ganz anders wahr.
Christophorus trat beiseite, als zwei Abortkehrer einen vollbeladenen Mistwagen an ihm vorbeischoben, und wäre beinahe über ein umgekipptes Weinfass gestolpert, in dem sich ein junger Mann im Pilgermantel zum Schlafen zusammengerollt hatte. Der Gestank, der dem Mistkarren nachwehte, zerrte an Christophorus’ Magen. Nachdem das Maultier seine Nase aus der Tränke gehoben hatte, packte er die Leine fester und ging neugierig auf das imposante Rathaus zu. Einen solchen Bau hatte er selten gesehen. Die hohen Mauern, unterbrochen von unzähligen Fenstern, waren eine eindrucksvolle Zurschaustellung der bürgerlichen Macht und Prunkentfaltung. Doch so mächtig das Rathaus auch wirkte, es stand dennoch im Schatten eines noch viel beeindruckenderen Bauwerks: des Aachener Doms. Jenes Gotteshauses, das schon auf Kaiser Karl den Großen zurückging und in dessen Innerem einige der bedeutendsten und heiligsten Reliquien der Christenheit aufbewahrt wurden.
Christophorus hatte sich bereits vorgenommen, den Dom am folgenden Tag aufzusuchen. Als Ordensbruder würde es ihm kaum Schwierigkeiten bereiten, einen gesonderten Zugang zu erhalten, insbesondere, wenn er eine seiner wertvollen Geleitschriften vorzeigte.
Doch zunächst musste er einen sehr viel schwierigeren und bedrückenderen Gang hinter sich bringen. In der Kockerellstraße, wo Aldos Wohnhaus stand, hatte man ihn auf die Frage nach dessen Mutter oder Schwester zum Büchel geschickt, und der Weg führte ihn direkt über den Marktplatz. Er umrundete Buden, Schragentische und offene Garfeuer, zwischen denen Hausfrauen und Handwerker miteinander feilschten, auf der Suche nach der Einmündung, die ihm der Knecht in der Kockerellstraße umständlich beschrieben hatte.
Als ein dürrer, hochgeschossener und in viel zu großen Kleidern steckender Junge sich an ihm vorbeischieben wollte, hielt Christophorus ihn am Ärmel fest. «He, du! Wo geht es zum Büchel?»
Der Junge blieb stehen und musterte Christophorus neugierig. Dann rümpfte er enttäuscht die Nase. «Ihr seid Dominikaner, wie? Ein Bettelmönch. Dann könnt Ihr mir wohl nix für die Auskunft bezahlen?» Hoffnungsvoll hielt er trotzdem die Handfläche auf.
Christophorus verzog amüsiert die Mundwinkel. «Kommt drauf an, ob du mir die richtige Richtung weist, Junge. Oder kennst du den Weg am Ende gar nicht?»
«Aber sicher weiß ich den Weg zum Büchel», rief der Junge, und seine Stimme kiekste ein wenig. Er befand sich offensichtlich im Stimmbruch. «Ich bin in Aachen geboren und kenne hier jeden Winkel.» Er verbeugte sich leicht. «Milo heiße ich und geleite die Fremden durch die Stadt. Ich weiß, wo die besten Herbergen sind, aber auch, wo man nicht so viel bezahlen muss. Ich kenn die Bader, die Hurenhäuser, die Quellen … Das Dominikanerkloster ist drüben in der St. Jakobstraße.»
«Das wollte ich aber gar nicht wissen.» Auffordernd blickte Christophorus Milo an.
Dieser nickte. «Folgt mir, ich zeig Euch den Büchel. Zu wem wollt Ihr denn?»
Christophorus ging neben Milo her, der ihn am Markt vorbei zu einer Straße führte, die weniger dicht bebaut war als die Gassen in direkter Nähe des Rathauses und des Doms. «Man sagte mir, dass ich die Witwe Schrenger und ihre Tochter im Haus des Schreinbauers Reinold Markwardt finde.»
«Klar findet Ihr die dort. Die Frau Marysa hat doch letzten November Meister Markwardt geheiratet. Und ihre Mutter besucht sie fast jeden Tag.» Milo grinste. «Ich weiß das, weil mein Freund Jaromir dort Knecht ist. Er erzählt mir immer alles und schenkt mir manchmal ein halbes Brot oder ein Stück kalten Braten. Aber nur, wenn Balbina, die Köchin, es nicht bemerkt. Auch die Frau Marysa ist in Ordnung. Sie hat mir mal einen echten Silberpfennig gegeben, weil ich ihr geholfen habe, ihre Einkäufe zu tragen.» Milo blieb vor einem schmalen, jedoch sehr langgezogenen, einstöckigen Fachwerkhaus stehen, dessen Eingangstür kunstvoll mit Schnitzereien verziert war. Über dem Eingang thronte eine Marienstatue aus Messing. «Hier ist es.»
Christophorus musterte das Haus eingehend. Aldos Schwester war also inzwischen verheiratet. Aber das hatte er schon vermutet, als man ihn von ihrem Vaterhaus hierherschickte. «Es scheint, als lebe Frau Marysa in wohlhabenden Umständen», sagte er und kramte aus einer versteckten Geldkatze in seinem Ärmel einen Pfennig hervor.
«Ja doch, die kann sich nicht beklagen.» Milo nickte heftig. «War ja sowieso eine gute Partie, weil ihr Vater, der Meister Schrenger, so ein bekannter Reliquienhändler gewesen ist. Ich glaube, der war richtig reich. Der Meister Markwardt ist nicht so bekannt. Jaromir sagt, er ist kein guter Kaufmann. Aber wohlhabend ist er allemal. Das Haus ist riesig innen drin, und sie haben sogar einen eigenen Laufbrunnen für Trinkwasser!» Bei dieser Vorstellung verdrehte Milo vielsagend die Augen.
Christophorus drückte ihm das Geldstück in die Hand. «Ich danke dir. Sollte ich wieder einmal einen Fremdenführer benötigen …»
«Ihr findet mich jeden Tag irgendwo am Markt, es sei denn, ich habe gerade einen Kunden, dem ich die Stadt zeige», erklärte Milo aufgeregt und prüfte den Pfennig, indem er darauf biss. Dann nickte er Christophorus noch einmal zu und machte sich davon.
Christophorus blickte an der ordentlich gekalkten Fassade des Hauses empor und machte dann einen Schritt auf die Haustür zu.
«Kann ich Euch behilflich sein, Bruder?» Auf der rechten Seite bog gerade ein alter Mann um die Hausecke. Sein graues Haar umrandete eine Halbglatze, und über seiner beeindruckenden Hakennase leuchteten zwei aufmerksame blaue Augen. Er trug einen Eimer mit Getreide, also handelte es sich wohl um einen Knecht.
Höflich nickte Christophorus ihm zu. «Ich suche die Witwe Schrenger und ihre Tochter Marysa.»
«Dann seid Ihr hier richtig.» Der Knecht lächelte und entblößte dabei ein unerwartet gesundes und vollständiges Gebiss. «Frau Jolánda und Frau Marysa sitzen hinten in der Laube. Ich kann Euch hinführen, wenn Ihr wollt.»
«Ich bitte darum.» Christophorus folgte dem Knecht um die linke Hausecke zu einem übermannshohen Tor, das wohl in den Hinterhof führte. Der Knecht stieß das Tor auf, wartete, bis Christophorus sein Maultier an einem Pfosten angebunden hatte, und ließ ihn eintreten. Das Tor zog er sogleich wieder zu. Damit wurde der Lärm der Straße ein wenig abgemildert, und sie konnten nun leise Lautenklänge vernehmen.
«Frau Marysa spielt», sagte der Knecht und blieb stehen. «Das tut sie nicht mehr oft. Ihr solltet warten, bis sie aufhört.»
Christophorus hob überrascht die Brauen und folgte dem Knecht erneut, als dieser sich langsam einer kleinen blumenberankten Laube rechts hinten in dem quadratischen Hof näherte.
Die Lautenklänge wurden deutlicher; er vernahm ein bekanntes Frühlingslied, vorgetragen von einer angenehmen glockenhellen Stimme:
«Maienzit Ane nit Vröuden git Widerstrit;
Sin widerkumen kan uns allen helfen.
Uf dem plan Ane wan Sicht man stan Wolgetan
Liehtiu bruniu bluemlin biden gelfen;
Durch das gras sint si schon ufgedrungen.
Und der walt Manihvalt ungezalt Ist erschalt,
Daz er wart mit dem nie baz gesungen.»
Christophorus trat noch einen Schritt vor, sodass er um einen der berankten Pfosten der Laube herumschauen konnte, und erblickte eine junge Frau in einem hellgrünen Kleid, die mit halbgeschlossenen Augen auf einem gepolsterten Hocker saß und beim Singen die Laute schlug. Sie schien ganz in ihrem Gesang aufzugehen und nichts von ihrer Umgebung zu bemerken. Vor ihr auf einer Strohmatte saß ein blasses Mädchen, das einen Schuh polierte und verzückt lauschte.
Er wusste nicht, was er erwartet hatte. Für einen langen Moment ließ Christophorus seinen Blick auf dem Gesicht der jungen Frau ruhen. Sie war weder besonders hübsch noch hässlich, soweit er das bei dem strengen weißen Gebende und dem Schleier, der ihr Gesicht umrahmte, beurteilen konnte. Doch sie erinnerte ihn sofort an Aldo.
Als Marysa ihr Lied beendet hatte, trat der alte Knecht vor und räusperte sich vernehmlich.
Sie hob den Kopf. «Ja, Grimold, was gibt es?»
Marysa starrte auf den versiegelten Brief, den Christophorus ihr übergeben hatte, doch sie konnte sich nicht durchringen, ihn zu öffnen.
Aldo war tot. Ihr geliebter Bruder war nicht mehr; irgendetwas in ihrem Kopf weigerte sich, dies zu begreifen. Er war schon mehr als ein Jahr fort gewesen, auf einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Schwesterchen, hatte er bei seinem Fortgehen gesagt, wenn ich zurückkomme, bringe ich dir die schönste Reliquie mit, die ich finden kann. Und für seinen Vater hatte er ebenfalls Reliquien einkaufen wollen. Heiltümer, die Gotthold Schrenger hätte gewinnbringend weiterverkaufen können. Nun lag vor Marysa auf dem mit Blütenranken bestickten Tischtuch eine Jakobsmuschel. Das Pilgerabzeichen, das Aldo an seinem Mantel getragen hatte, und daneben sein silbernes Kruzifix. Seit sie denken konnte, hatte er es an einem Kettchen um den Hals getragen, und nun sollte es ihr gehören. Flüchtig dachte sie an ihr eigenes kleines Kruzifix. Sie hatte es ihrem Bruder bei seinem Fortgehen als Glücksbringer mitgegeben. Wo es wohl abgeblieben war? Sie wollte den Dominikaner jedoch nicht danach fragen. Vielleicht hatte er es ja mit Aldo begraben.
Ihre Mutter saß auf der Bank am anderen Ende des Tisches und schluchzte. Auch sie hielt einen Brief ihres Stiefsohnes in der Hand. Doch statt ihn zu lesen, zerknitterte sie ihn in ihren Händen.
Christophorus stand unangenehm berührt und etwas unschlüssig mitten im Raum. Er hatte schon früher Menschen über den Tod eines Anverwandten in Kenntnis gesetzt, doch diesmal war es anders. Er teilte die Trauer der beiden Frauen, vermutete jedoch, dass sie ihm, da er der Überbringer der schlimmen Nachricht war, vielleicht nicht eben freundlich gesinnt sein würden. Da half es auch nichts, zu beteuern, dass er ein guter Freund Aldos gewesen war.
Die Mutter hatte ihn mit einem derartigen Entsetzen angesehen, dass es ihm schon beim Gedanken daran schauderte. Aldos Schwester hatte noch kein Wort gesagt.
Marysa bemühte sich, ruhig zu bleiben. Der Mann, der vor ihr stand, war ein Dominikaner. Groß, breitschultrig, mit einem herben, kantigen Gesicht, das sicherlich nicht als schön zu bezeichnen war, jedoch mehr Männlichkeit ausstrahlte, als es einem Ordensbruder anstehen mochte. Sein dichtes, fast schwarzes Haar umrandete eine bereits wieder zuwachsende Tonsur. Vermutlich hatte er sie auf der Reise nicht ausrasieren lassen, um Geld zu sparen. Die ganze kräftige Gestalt passte nicht in ihr Bild von einem Bettelmönch, dennoch hatte er sich als Bruder Christophorus vorgestellt, seines Zeichens Ablasskrämer des Heiligen Vaters.
Und das war es, was sie am meisten verwunderte. Aldo hätte sich doch niemals mit einem Mönch angefreundet, schon gar nicht mit einem, der Ablassbriefe verhökerte! Aldo hatte den Ablasshandel stets als verwerflich angesehen, eine Ansicht, die Marysa aus tiefstem Herzen teilte. Außerdem waren die Dominikaner der verlängerte Arm der Inquisition, das wusste jeder, und Aldo hätte sich so weit wie möglich von einem Vertreter dieses Ordens ferngehalten. Nicht nur wegen seiner ans Ketzerische grenzenden Ansichten über den Ablasshandel, sondern auch …
Sie hob den Kopf und sah dem Dominikaner fest in die Augen. «Wie ist das möglich? Ihr sagt, Aldo wurde in einem Kampf verwundet. Welchen Grund sollte mein Bruder gehabt haben, sich mit irgendwem zu schlagen? Er war ein friedfertiger Mensch. Wie hätte er jemandem einen Vorwand geben sollen, ihn anzugreifen?»
«Marysa, lass doch», kam es mit leiser Stimme von ihrer Mutter, die sich mit dem Ärmel ihres Kleides ein ums andere Mal über die Augen wischte. «Der Bruder wird müde sein und sich setzen wollen. Außerdem ist er nach der langen und beschwerlichen Reise sicherlich hungrig. – Seid Ihr hungrig, Bruder Christophorus? Wir sollten ihm etwas zu essen bringen lassen und … Er war doch immerhin ein Freund von Aldo, und er hat den langen Weg auf sich genommen …»
«Und woher wissen wir, dass es sich tatsächlich so verhält?» Marysa blickte ihre Mutter finster an. «Können wir sicher sein, dass er uns die Wahrheit sagt?» Sie stand auf und trat einen Schritt auf Christophorus zu. «Ihr habt uns diese Briefe und Aldos Hab und Gut gebracht. Dafür danke ich Euch. Doch Ihr müsst verzeihen, wenn ich daran zweifle, dass mein Bruder Euch in irgendeiner Form verbunden war. Was wollt Ihr hier, Bruder Christophorus?»
Er wich dem forschenden Blick aus ihren leuchtend grünen Augen nicht aus. Zwar hatte er erwartet, dass man ihm mit Misstrauen begegnen, jedoch nicht, dass ihn das so schmerzen würde.
«Nun?» Marysa hob auffordernd die Brauen.
«Ich verstehe Euren Schmerz und dass Ihr mir nicht traut», begann er. «Ihr kennt mich nicht, und der Umstand, dass ich Euch vom Tode Eures Bruders berichten musste, lässt mich in keinem günstigen Licht erscheinen. Doch welchen Grund, wenn nicht Freundschaft, sollte ich haben, den weiten Weg von Santiago de Compostela hierherzureisen? Ich gab Aldo Schrenger das Versprechen, Euch aufzusuchen, die Briefe und seine Habseligkeiten auszuhändigen. Und ich versprach ihm, mich um Euch und Eure Mutter zu kümmern.»
«Ihr … was?» Marysas Augen weiteten sich, und sie starrte ihn verblüfft an.
Christophorus verzog keine Miene. «Ich gelobte ihm an seinem Totenbett, mich um Euch zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es Euch wohl ergeht. Kurz vor … dem Vorfall, bei dem er verletzt wurde, erfuhr er vom Tode seines – Eures – Vaters. Er machte sich umgehend auf den Heimweg, denn er wusste um die Schwierigkeiten, die Euch wegen seiner Abwesenheit durch Euren Vetter Hartwig drohen würden.» Er schwieg und schien zu warten, bis dieser Teil der Botschaft angekommen war.
Marysa schluckte. Natürlich hatte Aldo geahnt, dass Hartwig nach Vaters Tod alles daransetzen würde, die Schreinwerkstatt zu übernehmen. Kein geringerer als dieser Grund war es gewesen, der sie veranlasst hatte, Reinold Markwardts Werben nachzugeben und ihn zu heiraten. Niemals hätte ihr Vater geduldet, dass der Sohn seines Halbbruders seine Werkstatt und das Geschäft an sich riss. Doch er war zu schnell und unerwartet gestorben, um noch Vorkehrungen treffen zu können.
Dass der Mönch davon wusste, sprach dafür, dass er doch näher mit Aldo bekannt gewesen sein musste. Von solchen familiären Verwicklungen erzählte man nicht jedem Nächstbesten. Und schon gar nicht bat man einen Unbekannten, für das Wohlergehen seiner Familie zu sorgen.
«Ihr seid also hier, weil Ihr Euch um uns kümmern wollt», sagte sie vorsichtig. «Doch wie wollt Ihr das anstellen? Ihr seid ein Ordensbruder; was könntet Ihr schon für uns tun? Ganz abgesehen davon, dass es uns, wie Ihr seht, an nichts mangelt.»
«Es mag immer einmal Ungelegenheiten geben, bei denen ich Euch beistehen kann», sagte Christophorus im Bemühen um Diplomatie. In Wahrheit musste er ihr zustimmen. Sie lebte in einem komfortablen Haus, war die Ehefrau eines angesehenen Handwerkers. Es fehlte ihr an nichts, sicherlich auch nicht an geistlichem Beistand, den er ihr auch eher ungern angeboten hätte.
«Nun gut, belassen wir es dabei. Von meiner Seite aus kann ich Euch mit bestem Gewissen von Eurem Versprechen entbinden.» Mit einem Blick auf ihre Mutter, die über dem Brief, den sie nun doch zu lesen begonnen hatte, erneut in Tränen ausgebrochen war, setzte Marysa sich wieder.
«Verzeiht.» Er schüttelte den Kopf. «Aber es gibt nur einen Menschen, der mich von diesem Versprechen entbinden kann, und das ist Euer Bruder. Ich gab ihm mein Wort, und ich werde es halten, auf die eine oder andere Weise. Wenn Ihr es auch nicht glaubt, doch er war der beste Freund, den ich jemals hatte. Ich verdanke ihm so viel, dass selbst dieses Versprechen es nur ungenügend wiedergutmachen kann.»
Marysa sah ihn überrascht an. An seiner Stimme, die sich fast unmerklich verändert hatte, erkannte sie, dass es ihm ernst war.
Es setzte sie mehr in Erstaunen als alles, was sie bisher jemals gehört hatte, doch anscheinend hatte es zwischen ihrem Bruder und diesem Mann tatsächlich eine tiefe Verbindung gegeben. Womöglich … Sie biss sich auf die Lippen. Eine Sache hatte sie noch gar nicht bedacht. Es war irgendwie abwegig, andererseits auch wieder nicht. Doch konnte sie den Dominikaner wohl nicht einfach so danach fragen.
«Sei es, wie es ist», wechselte sie stattdessen das Thema. «Meine Mutter hat recht, Ihr seid bestimmt hungrig. Ich lasse Euch von Balbina eine Mahlzeit herrichten. Setzt Euch derweil hier an den Tisch.» Sie deutete auf eine der Bänke, die zu beiden Seiten des Tisches für sicherlich mehr als zehn Personen Platz boten. Wieder stand sie auf, ging zur Tür und rief ein paar Befehle. Danach ging sie zu ihrer Mutter und legte ihr die Hände auf die Schultern. «Wenn du möchtest, kannst du dich gerne in meiner Kammer ein wenig hinlegen.»
Jolánda hob den Kopf. «Sehe ich aus, als könnte ich mich jetzt hinlegen?», fragte sie in ungehaltenem Ton. «Mein Stiefsohn ist tot! Da kann ich unmöglich …»
«Es wäre aber bestimmt besser, Mutter.» Marysa blickte Jolánda eindringlich in die Augen. «Ich unterhalte mich noch ein bisschen mit dem Bruder hier. Du siehst sehr mitgenommen aus, wirklich.»
«Wen wundert das?», brummte Jolánda, erhob sich jedoch und tastete gleichzeitig prüfend nach ihrer Haube. «Ich werde kein Auge zutun, Kind!»
«Dann versuch wenigstens, dich etwas auszuruhen. Später müssen wir dann zum Zunfthaus und dort Aldos Tod bekannt geben.»
«O Gott, ja! Das müssen wir.» Wieder schluchzte Jolánda leise.
«Fita», sprach Marysa die alte Magd an, die gerade einen Krug Wein und einen Teller mit einem Stück Hasenpastete hereintrug. «Begleite meine Mutter hinauf in meine Kammer.»
«Ja doch, ja.» Die knochige weißhaarige Frau nickte und reckte ihren Rücken, was ihren Buckel jedoch nicht im mindesten kleiner wirken ließ. Während sie auf Jolánda wartete, blickte sie neugierig von einem zum anderen, doch Marysa schwieg, und auch Christophorus sagte nichts, sondern widmete sich dem Essen.
Marysa atmete auf, nachdem ihre Mutter den Raum verlassen hatte. Unter anderen Umständen hätte sie sie nicht so leicht zum Gehen bewegen können. Jolánda war bekannt für ihr aufbrausendes und eigenwilliges Temperament. Doch das, was Marysa nun beabsichtigte, von dem Mönch zu erfahren, war nicht dazu angetan, das Wohl ihrer Mutter zu fördern.
Sie setzte sich ihm gegenüber und sah ihm beim Essen zu. Den Teller hatte er erstaunlich schnell geleert, nun trank er einen Schluck Wein aus dem Zinnbecher, den sie ihm reichte.
Über den Rand hinweg sah er sie aufmerksam an. «Nun, da Ihr Eure Frau Mutter aus dem Weg habt, stellt mir nur ruhig die Fragen, die Euch bewegen.»
Sie holte überrascht Luft, woraufhin er zum ersten Mal lächelte. Und dieses Lächeln setzte sie noch mehr in Erstaunen. Es wanderte von seinen Mundwinkeln geradewegs über sein ganzes Gesicht und ließ seine Augen schalkhaft aufblitzen. «Aldo erzählte mir, dass Ihr ein kluges Mädchen, verzeiht, eine kluge Frau, seid und Fragen stellen werdet. Auch sagte er mir, dass Ihr die Einzige seid, die sein … Geheimnis teilt. Vermutlich habt Ihr deshalb Eure Mutter überredet, den Raum zu verlassen.»
Marysa war einen Moment lang sprachlos. Dann schluckte sie und bemühte sich um Fassung. «Ihr … Dann wisst Ihr … seid Ihr also …»
«Nein. Nein, das bin ich nicht. Aldo war ein guter Freund, jedoch nicht das, was Ihr meint.»
Marysa stieß heftig die Luft aus. «Aber woher …»
«Ihr braucht keine Angst zu haben. Sein Geheimnis ist bei mir sicher. Niemals werde ich ein Wort darüber verlieren.»
Erschüttert blickte Marysa auf ihre Hände. «Ihr habt gesagt, dass mein Bruder in einem Kampf verletzt wurde. Ich möchte wissen, wie es dazu kam.»
Christophorus nickte. «Wir befanden uns auf dem Heimweg, wie ich schon sagte. Ein junger Badergeselle mit Namen Artur begleitete uns. Er war seinem Meister ausgerissen, um mit Aldo zu kommen.»
«Oh.» Marysa schloss die Augen.
«Der Meister hatte schon früher Verdacht gegen die beiden geschöpft, doch eine Zeit lang haben wir alle täuschen können.»
«Ihr habt Aldo geholfen, seine … es zu verheimlichen?»
Christophorus ging nicht darauf ein. «Ein gutes Stück vor Pamplona holte uns der Meister ein und stach Aldo nieder. Ich kam leider zu spät dazu und konnte nichts mehr tun, als ihn zu einem Medicus zu bringen. Doch auch der konnte nicht helfen. Die Wunde entzündete sich, und Aldo starb nach wenigen Tagen.»
«Was ist aus diesem Artur geworden?»
«Er konnte als Pilger verkleidet fliehen.»
Marysa stand auf und ging erregt im Zimmer auf und ab. Die Geschichte klang ungeheuerlich, doch warum sollte dieser Mann sie anlügen? Noch dazu, da er als Dominikaner sicherlich ganz anders hätte reagieren müssen.
«Wer seid Ihr, Bruder Christophorus?»
Diesmal war es an ihm, überrascht aufzublicken. Als sich ihre Blicke trafen, erhob er sich ebenfalls. «Das sagte ich Euch schon. Ich bin Bruder des Ordens des heiligen Dominikus und verkaufe im Namen des Heiligen Vaters Ablassbriefe.»
«Im Namen welches Heiligen Vaters?» Marysa sah ihn scharf an.
Christophorus lächelte. «Des römischen natürlich. Von ihm besitze ich einen gesiegelten Geleitbrief sowie die Erlaubnis, in seinem Namen den Menschen Ablass für ihre Sünden zu gewähren.»
«Aha.» Marysas Augen verengten sich. «Habt Ihr auch meinem Bruder Ablass gewährt … für seine Sünden?»
«Ich habe nicht …»
«Herrin, Herrin, kommt schnell!» Die Magd Imela hatte die Tür aufgerissen und kam in ihren Holzpantinen vollkommen aufgelöst hereingepoltert. «Schnell, Herrin, es ist etwas Schreckliches geschehen!»
Marysa und Christophorus folgten der Magd in den vorderen Bereich des Hauses, in dem Reinold Markwardts Schreinwerkstatt untergebracht war. Marysa umrundete den großen Arbeitstisch, der mitten im Raum stand und auf dem die Seitenteile eines großen, dreiteiligen Marienschreins verteilt lagen. Sie warteten darauf, vom Meister zusammengebaut zu werden.
Die Haustür stand sperrangelweit offen; draußen hatte sich eine aufgeregte Menschenmenge eingefunden. Als Marysa die Tür erreichte, blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte auf ihren Gemahl, der, umringt von mehreren Kanonikern des Marienstifts, gerade zusammen mit einem der Büttel eine Trage mit einem zugedeckten Leichnam abstellte.
«Was ist geschehen?» Sie trat an die Trage heran und wollte die graue Wolldecke anheben, doch Reinold hielt sie am Handgelenk fest und schob sie beiseite.
«Geh weg, Marysa, das ist nichts für dich. Wir bringen ihn nach oben in seine Kammer. Woanders ist kein Platz, um ihn aufzubahren.»
«Um Himmels willen, wer ist das?» Marysa drängte sich wieder vor, und diesmal gelang es ihr, einen Zipfel der Decke anzuheben und vom Gesicht des Toten zu ziehen.
«Oh!» Erschrocken wich sie zurück und bekreuzigte sich, als sie den schmächtigen jungen Mann erkannte. Sein Kopf war seitlich verdreht, sodass man eine klaffende Wunde am Hinterkopf erkennen konnte, aus der wohl reichlich Blut geflossen war, da sein Nacken und die Ränder seines Wamses dunkelrot verfärbt waren. «Was ist mit ihm geschehen?»
Nun schob sich auch Christophorus nach vorne, der zunächst an der Tür gewartet hatte. «Wer ist das?»
Sie drehte sich nur kurz zu ihm um. «Klas. Unser … der Geselle meines Gemahls.»
Reinold schob sie erneut beiseite. «Geh ins Haus, Weib.» Doch da sie keine Anstalten machte, sich zu bewegen, erklärte er: «Einer der Kanoniker hat ihn im Dom gefunden. Offenbar wurde er mit einem Eisenhaken erschlagen … direkt vor dem Marienschrein.»
«O Gott, im Dom?» Marysa schlug entsetzt eine Hand vor den Mund. Die Nachbarn, die sich um sie herum versammelt hatten, tuschelten mit betretenen Gesichtern.
Einer der Kanoniker, die Reinold begleitet hatten, räusperte sich vernehmlich. «Wir müssen die Umstände seines Todes untersuchen. Da er im Dom, also auf dem Gelände der Immunität, erschlagen wurde, sind wir dafür zuständig.»
«Halt!» Der Büttel, ein vierschrötiger bärtiger Mann, kam näher und schüttelte den Kopf. «Der Tote ist kein Mitglied der Immunität und wohnt auch nicht dort. Also ist der Vogtmeier zuständig.»
Der Kanoniker wedelte ungehalten mit den Händen. «Das werden wir ja sehen. Wir haben jedenfalls alles, was er bei sich trug, vorsorglich an uns genommen. Eine Beerdigung kann erst stattfinden, wenn wir …»
«Was soll das heißen, Ihr habt seine Sachen?», mischte sich der Büttel erneut ein. «Die müsst Ihr uns sofort übergeben. Und es muss jeder befragt werden, der sich zuletzt im und am Dom aufgehalten hat. Vielleicht gibt es ja Zeugen.»
«Ich weiß selbst, wie in einem solchen Falle vorzugehen ist», schnauzte der Kanoniker den Büttel an. «Wisst Ihr eigentlich, was Euch blüht, wenn Ihr der Immunität nicht gestattet, auf ihrem eigenen Grund und Boden für Recht und Ordnung zu sorgen? In acht Tagen beginnt die Kirmes mit der Heiltumsweisung. Dieser Mann», er deutete auf Klas, «wurde im allerheiligsten Dom zu Aachen ermordet! Wenn wir nicht binnen kürzester Zeit für Aufklärung sorgen, kann die Heiltumsweisung nicht stattfinden. Der Dom wurde entweiht!»
Das Raunen unter den umstehenden Leuten wurde lauter.
Ein zweiter Kanoniker trat vor. Er war älter als der erste, graumeliertes Haar umrandete ein schwammiges Gesicht. Ihn kannte Marysa. Sein Name war Johann Scheiffart. «Immer mit der Ruhe, Martin. Wir werden den Propst und den Bischof auf dem schnellsten Wege benachrichtigen.» Er blickte in die Runde, und es war klar, dass er ein Mann mit großer Autorität war. In ruhigem und durchaus freundlichem Ton fuhr er fort: «Wir dürfen jedoch nicht vergessen, dass diese Leute durch den Tod ihres Gesellen einen schlimmen Verlust erlitten haben, und sollten ihnen in ihrer schweren Stunde mit all unserer Liebe und Kraft beistehen.» Wohlwollend nickte er Reinold und Marysa zu und ließ dann seinen Blick kurz über das inzwischen vollständig versammelte Hausgesinde wandern. «Wir schicken Euch Vater Ignatius zu Eurem geistlichen Beistand. Er wird die Totenwache übernehmen.» Den anderen Kanonikern gab er ein kurzes Zeichen. «Was die Untersuchung dieses Vorfalls angeht, so wird die Immunität selbstverständlich den Vogtmeier informieren. So kurz vor der Kirmes und der bevorstehenden Heiltumsweisung wollen wir keinen Streit mit dem Stadtrat.» Er nickte noch einmal kurz in die Runde. «Gottes Segen sei mit Euch.» Dann wandte er sich ab und ging davon, gefolgt von den anderen Kanonikern.
«Tragen wir ihn hinein», beschloss Reinold und strich sich das vom Schweiß feuchte kragenlange blonde Haar zurück.
Gemeinsam mit dem Büttel brachten sie den Toten hinauf in seine Kammer; was wegen der schmalen Treppe, die ins Obergeschoss führte, gar nicht so einfach war. Marysa wies die Mägde an, alles für die Totenwache vorzubereiten, und schickte Grimold los, zwei Beginen aus dem Beginenwinkel in der Pontstraße zu holen, die den Leichnam waschen sollten. Als sie sich umdrehte, um nach unten zu gehen und eine Kerze zu holen, wäre sie beinahe mit Christophorus zusammengestoßen.
«Verzeihung.» Er trat beiseite, um ihr den Weg frei zu machen, doch sie blieb etwas ratlos vor ihm stehen.
«Nein, Ihr müsst verzeihen, Bruder Christophorus. Ich hatte Euch vollkommen vergessen. Ich … wir …»
«Wer ist das?» Nun wurde auch Reinold endlich auf den Besucher aufmerksam und kam näher. «Ein Dominikaner? Hoffentlich keiner, der um Essen bettelt. Das Kloster Eures Ordens befindet sich in der St. Jakobstraße», sagte er mürrisch.
«Aber nein, Meister Reinold.» Marysa legte ihrem Gemahl kurz die Hand auf den Arm, zog sie jedoch sogleich wieder zurück. «Bruder Christophorus ist nicht hier, um zu betteln. Er ist vielmehr gekommen …» Sie musste schlucken. «Er ist hergekommen, um uns über den Tod meines Bruders Aldo zu berichten.»
«Aldo ist tot?» Reinolds rundes Gesicht verzog sich verblüfft. «Woher wisst Ihr das?», fragte er.
Christophorus sah ihm ruhig in die Augen. «Aldo Schrenger und ich waren auf der Pilgerreise nach Santiago de Compostela Weggefährten, und er war mir ein guter Freund.»
«Ach.» Mehr hatte Reinold offenbar dazu nicht zu sagen, denn er wandte sich wieder dem Büttel zu und half ihm, Klas von der Trage auf das schmale Spannbett zu heben.
«Begleitet mich hinunter, Bruder Christophorus», sagte Marysa und konnte den bitteren Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken. Reinold benahm sich unmöglich, und dass er über den Tod ihres Bruders kein Wort verlor, verletzte sie zutiefst. Am Fuß der Treppe angekommen, wandte sie sich wieder an den Dominikaner. «Verzeiht ihm seine Unhöflichkeit. Der Tod unseres Gesellen trifft ihn natürlich sehr, vor allem unter diesen Umständen.»
Christophorus nickte zwar, wunderte sich jedoch insgeheim. Der Tod seines Schwagers schien Reinold Markwardt nicht im Geringsten zu bekümmern. Da er sich keinen Reim darauf machen konnte, wandte er sich wieder den aktuellen Geschehnissen zu.
«Hatte der Junge Feinde?»
Sie hob verblüfft den Kopf. «Klas? Bestimmt nicht. Er war erst sechzehn Jahre alt und immer sehr ruhig und zuverlässig. Ein guter Schreinbauer. Ein bisschen eigenbrötlerisch vielleicht, mit wenigen Freunden. Aber Feinde? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Und doch hat ihn jemand von hinten mit einem Eisenhaken erschlagen.» Christophorus sah sie forschend an. «Ich vermute nicht, dass er große Reichtümer mit sich herumtrug.»
«Nein, woher sollte er die wohl haben?»
«Seht Ihr, deshalb scheint ein Raubmord wohl ausgeschlossen. Zumal er im Dom gefunden wurde.»
«Worauf wollt Ihr hinaus?», fragte sie argwöhnisch, doch er winkte ab.
«Auf gar nichts. Ich habe nur versucht, mir vorzustellen, wer einen Grund haben könnte, Euren Gesellen umzubringen.»
«Ich … ich weiß es nicht. Ich bin viel zu verwirrt.» Sie bemühte sich um Fassung. «Dennoch möchte ich mich dafür erkenntlich zeigen, dass Ihr den langen Weg hierher auf Euch genommen habt. Kann ich Euch irgendetwas …»
«Nein. Ich werde mich jetzt verabschieden.» Christophorus wandte sich in Richtung Werkstatt, und Marysa geleitete ihn zur Haustür. «Ich begebe mich zum Ordenshaus der Dominikaner. Wenn es Euch recht ist, komme ich morgen noch einmal her, um zu sehen, wie es Euch geht.»
«Das ist wirklich nicht nötig», wehrte Marysa ab. «Wir kommen schon zurecht.»
«Ich komme trotzdem», entschied Christophorus. «Und sei es nur, um dem Wunsch Eures Bruders Genüge zu tun.» Er nickte ihr noch einmal kurz zu. «Gehabt Euch wohl, Frau Marysa.» Damit wandte er sich ab, band das Maultier los und ging davon.
Marysa blickte ihm eine Weile nach, bis er in der bunten Menschenmenge aus Pilgern und Einheimischen, die den Büchel wie alle anderen Straßen und Gassen Aachens bevölkerte, verschwunden war. Dann schloss sie die Tür, atmete tief durch, holte eine Kerze aus der Lade in der Stube und ging wieder hinauf ins Obergeschoss.
Gerade als sie die letzte Stufe erklomm, öffnete sich die Tür zu ihrer Schlafkammer, und ihre Mutter kam heraus. «Was ist denn das für eine Aufregung hier im Haus?», wollte sie wissen und zupfte ihr Kleid zurecht. «Ich dachte, ich soll mich ausruhen, aber bei diesem Lärm …»
«Ach, Mutter, es ist noch etwas Schreckliches passiert!» Marysa verzog gequält das Gesicht. «Klas ist tot. Man hat ihn mitten im Dom gefunden.»
«Heilige Mutter Gottes!» Entsetzt starrte Jolánda sie an. «Der arme Junge. Was ist denn geschehen?»
«Jemand hat ihn mit einem Eisenhaken erschlagen.» Bedrückt und aufgewühlt führte Marysa ihre Mutter zu Klas’ Kammer, in der Reinold und der Büttel noch immer bei dem toten Gesellen standen. Imela hatte einen Eimer Wasser heraufgeschleppt und saß nun neben der Treppe auf dem Boden und heulte.
Marysa tippte sie an der Schulter an. «Geh nach unten, Mädchen. Hilf Balbina in der Küche.»
Die kleine Magd erhob sich umständlich und huschte schniefend und schluchzend nach unten.
«Sie hat für Klas geschwärmt», erklärte Marysa ihrer Mutter, die jedoch gar nicht zuhörte, sondern wie gebannt auf den Toten blickte.
«Wer tut denn so was?» Sie bekreuzigte sich und wandte sich dann ab. «Wie schrecklich und … grausam!»
«Komm, Mutter, wir gehen nach unten.» Marysa stellte die Kerze neben das Bett des Toten und begleitete Jolánda hinunter in die Stube. «Grimold müsste bald mit den Beginen zurück sein. Und Johann Scheiffart will uns Vater Ignatius schicken.»
«Der Kanoniker? Was hat er damit zu tun?» Jolánda setzte sich wieder auf ihren Platz am Tisch und nahm automatisch eine der Handarbeiten auf.
Auch Marysa setzte sich wieder und rieb sich die Augen. «Vermutlich hat man ihn als Erstes verständigt. Er und noch ein paar Domherren sind mit Reinold und dem Büttel gekommen, als sie Klas hierherbrachten.»
«Ah.» Gedankenverloren strich Jolánda über die Stickerei in ihrer Hand. «Ihr müsst seine Familie verständigen.»
Marysa nickte. «Das werde ich tun. Er hatte, glaube ich, nur noch einen Bruder und eine Schwester, die irgendwo im Badischen leben. Ich hoffe, Reinold weiß, wo genau.»
«Ich begreife das nicht. Zwei Todesnachrichten an einem Tag.» Jolánda schauderte. «Das ist ein böses Zeichen, Marysa.»
«Nein, Mutter, so etwas darfst du nicht sagen.» Entschieden schüttelte Marysa den Kopf. «Das eine hat doch mit dem anderen rein gar nichts zu tun.»
«Ein Unheil zieht aber immer ein weiteres nach sich», beharrte Jolánda.
«Nicht doch!» Marysa stand auf und ging um den Tisch herum, um ihre Mutter in den Arm zu nehmen. «So kenne ich dich ja gar nicht. Dass Aldo gestorben ist, schmerzt mich ebenso wie dich. Aber weshalb sollte uns sein Tod Unglück bringen?»
«Der seine nicht, gewiss.» Jolánda nickte leicht und tupfte sich die Augen, die erneut überzulaufen drohten. «Aber Klas … Du sagtest, er wurde erschlagen. Das ist doch ein schreckliches Unheil.»
«Da hast du recht. Unter den vielen Pilgern, die sich derzeit in der Stadt aufhalten, gibt es bestimmt genug Gesindel und Mordbuben.» Marysa ließ sich nachdenklich neben ihrer Mutter nieder. «Wenn er sich mit so jemandem angelegt hat … Andererseits – mitten im Dom?»
«Was wollte er denn überhaupt dort?» Jolánda legte die Stickerei beiseite und rieb sich mit dem Ärmel ihres Kleides über die Nase.
«Ich weiß es nicht. Vielleicht hat Reinold ihn wegen einer Besorgung losgeschickt.»
«Herrin, die Beginen sind da.» Imela hatte den Kopf zur Tür hereingestreckt. «Soll ich sie raufschicken?»
«Aber ja, ich komme sofort nach.» Marysa erhob sich eilig.
«Ich werde dann wohl mal nach Hause gehen», beschloss Jolánda, nahm Aldos Brief vom Tisch und ging zur Tür. «Kann Grimold mich begleiten?»
«Aber ja, natürlich, Mutter.» Marysa gab ihr einen Kuss auf die Wange. «Versprich mir aber, dich nicht so sehr zu grämen. Das hätte Aldo bestimmt nicht gewollt.»
«Ich weiß. Er war immer so fröhlich. Was ist eigentlich mit diesem Dominikaner?»
«Bruder Christophorus? Er ist zu seinem Orden in die St. Jakobstraße gegangen, will aber morgen noch einmal herkommen.»
«Das ist gut.» Jolándas Miene hellte sich ein wenig auf. «Er muss mir unbedingt noch mehr von Aldo und der Reise nach Santiago erzählen.»
Marysa runzelte etwas unwillig die Stirn. «Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll. Mag sein, er war ein guter Freund von Aldo, aber, Mutter, er ist ein Ablasskrämer!»
«Und?»
«Aldo hat den Ablasshandel verabscheut, das weißt du doch.»
«Vielleicht hat er seine Meinung auf der Pilgerreise geändert.»
«Nun, falls er das hat, bitte. Aber ich halte den Handel mit den Sünden der Menschen nach wie vor für verwerflich.»
«Kind!» Jolánda sah ihre Tochter scharf an. «Halt an dich und hüte deine Zunge. Ob er nun Aldos Freund war oder nicht, er ist ein Dominikaner. Solche Reden können dich schneller vors Gericht bringen, als du glaubst. Und man weiß ja nicht, was er für ein Mensch ist.»
«Eben, das wissen wir nicht», bestätigte Marysa. «Deshalb will ich möglichst wenig mit ihm zu tun haben.»
«Marysa? Wo steckst du?», schallte Reinolds Stimme durchs Haus.
Sie öffnete die Tür zu dem schmalen Flur. «Hier unten, Meister Reinold.»
«Was machst du denn da? Warum hast du dich nicht schon längst auf den Weg zum Zunfthaus gemacht, um dort Klas’ Tod bekannt zu geben?»
«Aber ja doch, ich gehe sofort los. Dann muss Fita mich aber begleiten, denn Grimold bringt meine Mutter schon nach Hause.»
«Ja, ja, dann geh jetzt. Aber halt dich nicht zu lange auf.»
Marysa verdrehte die Augen. «Gewiss nicht. Aber ich muss dort auch noch Aldos Tod melden. Es kann also schon ein bisschen dauern.»
«Ach was.» Reinolds drahtige Gestalt erschien auf der Treppe. «Wenn ich sage, du beeilst dich, dann tust du das auch. Und sag Balbina, dass sie sich auf einen Leichenschmaus einrichten soll.»
«Wir wissen aber doch noch gar nicht, wann wir Klas beerdigen dürfen», wandte Marysa vorsichtig ein.
Reinolds Miene verfinsterte sich. «Das wird schon nicht so lange dauern, oder? Bei diesem Wetter können sie ihn ja wohl nicht tagelang hier im Haus verfaulen lassen.»
«Meister Reinold!», rief sie entsetzt.
«Nun geh endlich, oder muss ich das am Ende noch selbst erledigen?» Mürrisch wandte sich Reinold ab und ging wieder nach oben, wo er etwas zum Büttel sagte, das wie eine Klage über störrische Eheweiber klang.
Ihre Mutter legte ihr mitfühlend eine Hand an die Wange. «Kommst du alleine zurecht?»
«Natürlich.» Marysa zuckte mit den Schultern. «Du kennst ihn doch. Geh ruhig mit Grimold nach Hause, Mutter.»
Nachdem Jolánda das Haus verlassen hatte, suchte Marysa nach Fita und machte sich mit ihr auf den Weg zum Zunfthaus, um die beiden Unglücksnachrichten zu überbringen.
«Meister Reinold, Ihr tut mir weh.» Marysa verzog gequält das Gesicht.
Reinold grunzte verstimmt und rollte sich von ihr herunter. Vor sich hin brummelnd stand er auf. Im Zwielicht des Mondscheins, der durch das wegen der warmen Nachtluft weit geöffnete Fenster fiel, zog er sich an. «Ich gehe hinunter in die Werkstatt. Bei der Hitze kann man sowieso nicht schlafen.»
Marysa atmete auf und zog rasch die Decke über ihren nackten Leib. Sie für ihren Teil würde jetzt, da ihr Gemahl den Raum verlassen hatte, sicherlich schlafen können. Der Tag war lang und anstrengend gewesen, und ihre Gedanken kreisten noch immer unaufhörlich um Aldo und Klas. Dass Reinold trotz der Vorfälle an diesem Tag auf dem Vollzug ihrer ehelichen Pflichten bestanden hatte, ärgerte sie, denn es verdeutlichte ihr wieder einmal, wie wenig er sich aus ihren Gefühlen oder Gedanken machte.
Obwohl sie wusste, dass sie sich ihr Los selbst erwählt hatte und sie Reinolds Zudringlichkeiten meistens mit Gleichmut über sich ergehen ließ, wollte es ihr heute nicht gelingen. Seine Gefühllosigkeit hatte sie diesmal tief verletzt, immerhin war Aldo ihr Bruder gewesen. Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich über Reinold, und in ihrer Magengrube ballte sich ein heißer kleiner Knoten zusammen.
Ihr Blick fiel auf den noch immer versiegelten Brief ihres Bruders, den sie auf der kleinen, messingbeschlagenen Truhe neben dem Bett abgelegt hatte, in der sie ihre persönlichen Dinge aufbewahrte. Sie hatte sich noch nicht dazu durchringen können, das Schreiben zu öffnen. Der Gedanke an Aldo schnürte ihr jetzt, im Dunkel der Nacht, die Kehle zu. Wie sehr sie ihren Bruder vermisste; seinen unerschütterlichen Humor, seine Feinfühligkeit. Hätte er nicht diese unselige Neigung zu Männern gehabt und eine Frau geheiratet, hätte er diese sicherlich sehr glücklich gemacht.
Doch daran war nicht zu denken gewesen. Schwesterchen, hatte er in der ihm typischen Art gesagt, als er ihr von seiner heimlichen Leidenschaft erzählt hatte. Es wird wohl an dir sein, das Geschlecht unserer Familie zu erhalten. Auch wenn es nur in der weiblichen Linie ist. Er hatte sogar erwogen, in ein Kloster einzutreten, doch ihr Vater hätte das nicht geduldet. Und letztlich war Aldo auch nicht für ein klösterliches Leben bestimmt gewesen. Doch nun war er für immer von ihr gegangen.
Marysa starrte in die Dunkelheit, die noch von dem hässlichen geblümten Betthimmel überschattet wurde, den Reinold zur Hochzeit über dem Ehebett hatte anbringen lassen. Ihre Augen brannten, doch Tränen kamen keine.
Sie hätte mit dem Leben, das Reinold ihr bot, durchaus glücklich sein können. Oder zumindest zufrieden. Wenn sie nicht insgeheim mehr erwartet hätte.
Sie wurde geachtet, hatte viele Freunde, ein gutes Auskommen. Sicherlich gab es Frauen, die sie beneideten. Doch sie wünschte sich mehr. Was genau, wusste sie gar nicht so recht. Reinold war der Ansicht, sein Eheweib sei einzig zur Erfüllung seines Wohlergehens da, ansonsten hatte sie sich ruhig zu verhalten und sich möglichst in Luft aufzulösen. Hätte er offene Abneigung ihr gegenüber gezeigt, hätte sie sich vielleicht besser distanzieren können. Doch mit seiner absoluten Gleichgültigkeit haderte sie bereits seit ihrer Hochzeitsnacht.
Marysa schloss die Augen und drehte sich auf die Seite. Es war müßig, über Dinge nachzudenken, die sie nicht ändern konnte. Besser war es, endlich Schlaf zu finden, um am Morgen ihren Aufgaben wieder gewachsen zu sein. Der kleine heiße Ball in ihrer Magengrube blieb jedoch.
Christophorus lag bequem ausgestreckt auf der schmalen Pritsche in der Besucherzelle, die ihm der Prior des Aachener Dominikanerordens, Bruder Valentin, zugewiesen hatte. Die Kammer war karg, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war; das Essen hatte ihm jedoch vorzüglich gemundet. Das gebratene Geflügel sei die Spende eines wohlhabenden Bürgers gewesen, so Bruder Valentin, der sich wohl verpflichtet gefühlt hatte, Christophorus die Herkunft des üppigen Mahls zu erklären.
Er lächelte. Diese Wirkung seiner kunstfertig gesiegelten Reise- und Legitimationsurkunden machte er sich nun schon seit Jahren zunutze. Stets wurde er mit ausgesuchter Zuvorkommenheit behandelt, sobald bekannt wurde, dass er vom Heiligen Vater höchstpersönlich ausgesandt worden war, den Menschen zum Ablass ihrer Sündenstrafen zu verhelfen.
An den Stundengebeten hatte er inbrünstig teilgenommen und seine Mitbrüder zuletzt bei der Komplet mit seiner wohltönenden Singstimme beeindruckt. Bis zu den Laudes blieben noch zweieinhalb Stunden, und auch da würde er pflichtbewusst seine Gebete sprechen. Bruder Valentin hatte ihn ob der langen Reise, die hinter Christophorus lag, zwar für heute von den Nachtgebeten entbunden, doch er dachte gar nicht daran, sie ausfallen zu lassen. Sein Ruf hatte tadellos zu sein, denn als Ablasskrämer übernahm er ja eine gewisse Vorbildfunktion.
Und je mehr er seine Mitbrüder – und die Menschen in den Straßen und Gassen Aachens – von seinem heiligen und maßvollen Lebenswandel überzeugte, desto unwahrscheinlicher war es, dass sie herausfanden, wer er in Wirklichkeit war.
Die Fensteröffnung seiner Zelle ging auf den Garten des Klosters hinaus, und ein leichter Luftzug trug den süßlich-würzigen Duft von Kräutern zu ihm herein. Irgendwo schrie ein Käuzchen. Christophorus schloss die Augen und ließ noch einmal die Ereignisse des Tages an seinem inneren Auge vorüberziehen. Nach Aldos Erzählungen hatte er sich dessen Schwester anders vorgestellt. Nicht so beherrscht und abgeklärt. Aldo hatte von ihr immer als einem hübschen, lebensfrohen Mädchen gesprochen. Was er vorgefunden hatte, war eine blasse junge Frau mit einem energischen, vielleicht sogar leicht bitteren Zug um den Mund, gekleidet in ein hässliches Gewand, dessen hellgrüne Farbe ihr Gesicht fahl wirken ließ. Einzig ihr Gesang war wirklich schön zu nennen. Ihre Stimme, glockenhell und klar, hatte diesen gewissen Reiz, der auf direktem Wege das Herz ansprach. Doch wie hatte der alte Knecht, Grimold, gesagt? Sie sang nicht mehr oft. War sie also früher tatsächlich ein fröhliches Mädchen gewesen, so hatte die Ehe offenbar nicht zu ihrem Glück beigetragen.
Nun, das ging ihn schließlich nichts an, und er würde den Teufel tun und sich ungefragt einmischen. Was würde es auch nützen? Sie war sicherlich nicht zur Ehe gezwungen worden und als verheiratete Frau abgesichert und in einem ehrwürdigen Stand.
Aber da war nun einmal sein Versprechen, sich um sie zu kümmern. Und um ihre Mutter. Jolánda Schrenger war noch nicht alt. Laut Aldo hatte sie bei Marysas Geburt erst fünfzehn Jahre gezählt. Die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter war unverkennbar. Jolánda kleidete sich jedoch wesentlich geschmackvoller, wie er fand, und wirkte weder blass noch unscheinbar.
Vielleicht ergab sich ja eine Möglichkeit, den beiden beizustehen. Nach dem Fund des toten Gesellen waren noch viele Fragen offen. Er würde sich am Morgen mal ein wenig umhören. Den Dom würde er freilich nicht betreten dürfen. Nicht, solange das Gotteshaus durch den Mord als entweiht galt.
Christophorus drehte sich auf die Seite und konzentrierte sich auf seinen Atem. Zu den Laudes musste er ausgeruht sein.
«Frau Marysa, gebt mir den Korb. Der ist viel zu schwer für Euch.» Grimold, der Marysa auf dem Weg über den Markt begleitete, streckte seine Hand nach dem bereits reich gefüllten Korb aus.
Marysa nickte und übergab ihrem Knecht die tatsächlich schwere Last, da sie an einem Stand mit Leinenhauben ihre Schwägerin Veronika entdeckt hatte. Diese winkte ihr und kam mit sorgenvollem Gesicht auf sie zu.
«Marysa, wie geht es dir?» Veronika drückte sie kurz an sich. «Wir haben das mit Klas gehört. Wie schrecklich! Wisst ihr schon, ob es einen Zeugen gibt, der gesehen hat, wer dem armen Jungen das angetan hat?»
Marysa schüttelte den Kopf. «Nein, leider nicht.» Sie seufzte. «Reinold hat die ganze Nacht nicht geschlafen. Er war heute Morgen unausstehlich.»
«Ach ja, mein Bruder ist schon an guten Tagen mürrisch wie ein alter Ziegenbock.» Veronika zuckte mit den Schultern. «Aber in diesem Fall kann ich ihn verstehen. Sein bester Geselle – nun ja, sein einziger – ist tot. Ein schwerer Schlag für seine Werkstatt. Ich wünschte, Einhard und ich könnten euch irgendwie beistehen.»
Seufzend setzte sich Marysa wieder in Bewegung; Veronika blieb dicht an ihrer Seite.
«Ihr könnt für kühleres Wetter beten», schlug Marysa vor. «Wenn wir Klas noch viel länger in seiner Kammer aufgebahrt lassen müssen, wird das ganze Haus anfangen zu stinken. Aber die Kanoniker vom Marienstift bestehen darauf, dass erst die Untersuchung abgeschlossen sein muss.»