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Die Schrift "Die Stufen der höheren Erkenntnis" bildet die Fortsetzung und Weiterentwicklung von "Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?" zur spirituellen Geistesentwicklung und Zugang zu höheren geistigen Welten von Rudolf Steiner, dem Begründer der Anthroposophie und der Waldorfpädagogik. Behandelt werden insbesondere Imagination, Inspiration und Intuition.
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Seitenzahl: 80
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LUNATA
Die Stufen der höheren Erkenntnis
© 1909 by Rudolf Steiner
Umschlagbild, Wandtafelzeichnung von Rudolf Steiner
© 2020 Lunata Berlin
1. Die Stufen der höheren Erkenntnis
2. Die Imagination
3. Die Inspiration
4. Inspiration und Intuition
Über den Autor
Bis zu der Begegnung mit den beiden »Hütern der Schwelle« ist in dem Buche »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« der Weg zur höheren Erkenntnis verfolgt worden. Nun sollen auch noch die Verhältnisse geschildert werden, in denen die Seele zu den verschiedenen Welten steht, wenn sie durch die aufeinanderfolgenden Erkenntnis stufen hindurchschreitet. Damit wird das gegeben, was man die »Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft« nennen kann.
Bevor der Mensch den Pfad höherer Erkenntnis betritt, kennt er nur die erste von vier Erkenntnisstufen. Es ist diejenige, welche ihm im gewöhnlichen Leben innerhalb der Sinnenwelt eigen ist.
Auch in dem, was zunächst »Wissenschaft« genannt wird, hat man es nur mit dieser ersten Erkenntnisstufe zu tun. Denn diese Wissenschaft arbeitet ja nur das gewöhnliche Erkennen feiner aus, macht es disziplinierter. Sie bewaffnet die Sinne durch Instrumente – Mikroskop, Fernrohr usw. -, um genauer zu sehen, was die unbewaffneten Sinne nicht sehen. Aber die Erkenntnisstufe bleibt doch dieselbe, ob man normal große Dinge mit dem gewöhnlichen Auge sieht, oder ob man sehr kleine Gegenstände und Vorgänge mit dem Vergrößerungsglas verfolgt. Auch in der Anwendung des Denkens auf die Dinge und Tatsachen bleibt diese Wissenschaft bei dem stehen, was schon im alltäglichen Leben getrieben wird. Man ordnet die Gegenstände, beschreibt und vergleicht sie, man sucht sich ein Bild von ihren Veränderungen zu machen usw. Der strengste Naturforscher tut im Grunde in dieser Beziehung nichts anderes, als dass er das Beobachtungsverfahren des alltäglichen Lebens in einer kunstgemäßen Art ausbildet. Seine Erkenntnis wird umfangreicher, komplizierter, logischer; aber er schreitet nicht zu einer anderen Erkenntnisart vor.
Man nennt diese erste Erkenntnis stufe in der Geheimwissenschaft die »materielle Erkenntnisart«.
Dazu kommen dann zunächst drei höhere. An sie schließen sich dann noch weitere an. Sie sollen hier beschrieben werden, bevor in der Schilderung des »Erkenntnispfades« weitergegangen wird. Nimmt man das gewöhnliche – und sinnlich-wissenschaftliche – Erkennen als die erste Stufe an, so hat man zunächst folgende vier Stufen zu unterscheiden:
1. Die materielle Erkenntnis
2. Die imaginative Erkenntnis
3. Die inspirierte Erkenntnis, die man auch die »willensartige« nennen kann
4. Die intuitive Erkenntnis.
Diese Stufen sollen im weiteren zur Sprache kommen. Man muss sich zunächst klarmachen, womit man es bei diesen verschiedenen Erkenntnisarten zu tun hat. – Beim gewöhnlichen sinnlichen Erkennen kommen vier Elemente in Betracht:
1. Der Gegenstand, welcher auf die Sinne einen Eindruck macht.
2. Das Bild, das sich der Mensch von diesem Gegenstande macht.
3. Der Begriff, durch den der Mensch zu einer geistigen Erfassung einer Sache oder eines Vorganges kommt.
4. Das »Ich«, welches sich auf Grund des Eindruckes vom Gegenstande Bild und Begriff bildet.
Bevor sich der Mensch ein Bild – eine »Vorstellung« macht, ist ein Gegenstand da, welcher ihn dazu veranlasst. Diesen bildet er nicht selbst, er nimmt ihn wahr. Und auf Grund dieses Gegenstandes entsteht das Bild. Solange man ein Ding anblickt, hat man es mit diesem selbst zu tun. In dem Augenblicke, wo man von dem Dinge hinwegtritt, besitzt man nur noch das Bild. Den Gegenstand verlässt man, das Bild bleibt in der Erinnerung »haften«. Aber man kann nicht dabei stehenbleiben, sich bloß »Bilder« zu machen. Man muss zu »Begriffen« kommen. Die Unterscheidung von »Bild« und »Begriff« ist unbedingt notwendig, wenn man sich hier ganz klarwerden will. Man stelle sich einmal vor, man sehe einen Gegenstand, welcher kreisförmig ist. Dann drehe man sich um, und man behalte das Bild des Kreises im Gedächtnisse. Da hat man noch nicht den »Begriff« des Kreises. Dieser ergibt sich erst, wenn man sich sagt: »Ein Kreis ist eine Figur, bei der alle Punkte von einem Mittelpunkte gleich weit entfernt sind.« Erst wenn man sich von einer Sache einen »Begriff« gemacht hat, ist man zum Verständnisse derselben gekommen. Es gibt viele Kreise: kleine, große, rote, blaue usw.; aber es gibt nur einen Begriff »Kreis«.
Auf alles dieses soll im weiteren noch näher eingegangen werden; vorläufig soll nur skizziert werden, was zur Charakteristik der vier ersten Erkenntnisstufen notwendig ist.
Das vierte Element, das bei der materiellen Erkenntnis in Betracht kommt, ist das »Ich«. In demselben kommt eine Einheit der Bilder und Begriffe zustande. Dieses »Ich« bewahrt in seinem Gedächtnisse die Bilder. Wäre das nicht der Fall, so entstände kein fortlaufendes inneres Leben. Die Bilder der Dinge blieben nur so lange vorhanden, als diese Dinge selbst auf die Seele wirken. Das innere Leben aber hängt davon ab, dass Wahrnehmung an Wahrnehmung gereiht wird. Das »Ich« orientiert sich »heute« in der Welt, weil ihm bei gewissen Gegenständen die Bilder der gleichen Gegenstände von »gestern« auftauchen. Man vergegenwärtige sich nur, wie unmöglich das Seelenleben wäre, wenn man nur so lange ein Bild eines Dinges hätte, als dieses selbst vor einem steht. – Auch bezüglich der Begriffe bildet das »Ich« die Einheit. Es verbindet seine Begriffe und verschafft sich auf diese Art einen Überblick, das heißt ein Verständnis der Welt. Diese Verbindung der Begriffe geschieht im »Urteilen«. Ein Wesen, das nur lose Begriffe hätte, könnte sich in der Welt nicht zurechtfinden. Alle Tätigkeit des Menschen beruht auf seiner Fähigkeit, Begriffe zu verbinden, das heißt auf seinem »Urteilen«.
Das »materielle Erkennen« beruht darauf, dass der Mensch durch seine Sinne einen Eindruck von Dingen und Vorstellungen der Außenwelt erhält. Er hat die Fähigkeit des Empfindens oder die Sensibilität.
Der »von außen« empfangene Eindruck wird auch Sensation genannt. Daher kommen bei der »materiellen Erkenntnis« die vier Elemente in Betracht: Sensation, Bild, Begriff, Ich. – Bei der nächsthöheren Stufe des Erkennens fällt nun der Eindruck auf die äußeren Sinne, die »Sensation«, weg. Ein äußerer Sinnesgegenstand ist nicht mehr vorhanden. Es bleiben also von den Elementen, an welche der Mensch von der gewöhnlichen Erkenntnis her gewöhnt ist, nur die drei: Bild, Begriff und Ich.
Das gewöhnliche Erkennen bildet bei einem gesunden Menschen kein Bild und keinen Begriff, wenn ein äußerer Sinnesgegenstand nicht vorhanden ist. Das »Ich« bleibt dann untätig. Wer sich Bilder formt, denen Sinnesgegenstände entsprechen sollen, wo in Wahrheit keine sind, lebt in Phantastik.
Nun aber erwirbt sich der Geheimschüler eben die Fähigkeit, Bilder zu formen, auch wo keine Sinnesgegenstände vorhanden sind. Es muss dann bei ihm an die Stelle des »äußeren Gegenstandes« ein anderer treten. Er muss Bilder haben können, auch wenn kein Gegenstand seine Sinne berührt. An die Stelle der »Sensation« muss etwas anderes treten. Dies ist die Imagination. Bei dem Geheimschüler auf dieser Stufe treten Bilder auf genau so, wie wenn ein Sinnesgegenstand auf ihn einen Eindruck machen würde; sie sind so lebhaft und wahr wie die Sinnesbilder, nur kommen sie nicht vom »Materiellen«, sondern vom »Seelischen« und »Geistigen«. Die Sinne bleiben dabei vollständig untätig.
Es ist einleuchtend, dass sich der Mensch diese Fähigkeit, inhaltvolle Bilder zu haben ohne Sinneseindrücke, erst erwerben muss. Es geschieht dies durch die Meditation, durch die Übungen, welche in den Darstellungen des Buches »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« beschrieben worden sind. Der auf die Sinnenwelt beschränkte Mensch lebt nur in dem Umkreis einer Bilderwelt, welche erst durch die Sinne in ihn Einlas gefunden haben. Der imaginative Mensch hat eine solche Bilderwelt, die von einer höheren Welt ihren Zufluss erhält. Es gehört eine sehr sorgfältige Schulung dazu, innerhalb dieser höheren Bilderwelt Täuschung von Wirklichkeit zu unterscheiden. Nur zu leicht sagt sich der Mensch, wenn solche Bilder zunächst vor seine Seele hintreten: »Ach, das sind ja nur Einbildungen, bloße Ausflüsse meines Vorstellungslebens.« Das ist nur zu begreiflich. Denn der Mensch ist zunächst ja daran gewöhnt, nur dasjenige »wirklich« zu nennen, was, ohne sein Zutun, ihm durch die feste Grundlage seiner Sinneswahrnehmung gegeben ist. Und er muss sich erst hineinfinden, Dinge für »wirkliche« zu nehmen, die von ganz anderer Seite veranlasst werden. Und er kann auch darinnen nicht vorsichtig genug sein, wenn er nicht zum Phantasten werden will. Die Entscheidung darüber, was auf höherem Gebiete »wirklich« ist, was nur »Illusion«, die kann nur von der Erfahrung kommen. Und man muss sich diese Erfahrung in einem stillen, geduldigen Innenleben aneignen. Zunächst muss man durchaus darauf gefasst sein, dass einem die »Illusion« böse Streiche spielt. Überall lauern die Möglichkeiten, dass Bilder auftauchen, die nur auf Täuschungen der äußeren Sinne, des abnormen Lebens beruhen. Alle solche Möglichkeiten müssen zuerst hinweggeräumt werden. Man muss zuerst die Quellen der Phantastik ganz verstopfen, dann kann man erst zu der Imagination kommen. Ist man so weit, dann wird man allerdings sich klar darüber, dass die Welt, in die man in solcher Art eintritt, nicht nur so wirklich ist wie die sinnliche, sondern dass sie eine gewöhnlich viel wirklichere ist.
Bei der dritten Stufe der Erkenntnis bleiben nun auch die Bilder weg. Der Mensch hat es nur noch mit »Begriff« und »Ich« zu tun. Hat er auf der zweiten Stufe noch eine Bilderwelt um sich, die erinnert an die Augenblicke, wo das lebhafte Gedächtnis sich die Eindrücke der Außenwelt vor die Seele zaubert, ohne selbst solche Eindrücke zu haben: auf der dritten Stufe sind auch solche Bilder nicht mehr vorhanden. Der Mensch lebt ganz in einer rein geistigen Welt. Wer nur gewöhnt ist, sich an die Sinne zu halten, wird versucht sein, zu glauben, dass diese Welt eine blasse, gespenstige sei. Das ist sie aber ganz und gar nicht.