"Die Stunde des Jaguars" - Jens Petersen - E-Book

"Die Stunde des Jaguars" E-Book

Jens Petersen

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Der unerklärliche Mord ist nur der Auslöser. Wer sich auf die Suche macht nach dem Mysterium dahinter gerät unversehens in dampfende Urwälder, auf reißende Ströme und unberechenbare Vulkane. Er findet sich wieder in überwältigend schöner Natur, auf rauschenden Fiestas, aber auch bei indianischen Hexern oder dem Wahn verfallenen Diktatoren. Es verschlägt ihn in versunkene Städte längst vergangener Kulturen, in das besser zu meidende Gebiet der Schrumpfkopfjäger aber auch in die angeblich unauffindbare Stadt der legendären Amazonen. Unversehens enthüllt sich dabei immer mehr das Gesuchte.

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Jens Petersen

"Die Stunde des Jaguars"

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Stunde des Jaguars

Der Obsidianspiegel

Der Auftrag

Beginn der Regenzeit

Die Ehre des Revolutionshelden

Aguardientowskis Komplizen

Give them something to do

Der tausendjährige Schlaf

Fiesta in Gringotenango

Vogel man sieht ihn nicht

El Dorado

Nuestra Señora y sus Milagros

Der große Zauberer

Das Ende der großen Traurigkeit

Der Schweiß der Sonne und die Tränen des Mondes

Verschwundene Inka

Ein ungewöhnliches Forschungsobjekt

Allegria, Allegria

Die Undankbarkeit des Volkes

Geschenke der Erde

Die Incamiables

Die Stunde des Jaguars

Die große Versammlung

Das Vermächtnis von Pachuchi’ut

Impressum neobooks

Die Stunde des Jaguars

Die Stunde des

Jens Petersen

Die Stunde des Jaguars

Roman

Diese Geschichte ist ein Roman. Das bedeutet, die durchgehende Handlung und die Hauptakteure sind frei erfunden. Anders ist es mit der Beschreibung von Orten und deren Eigenheiten oder mit historischen Persönlichkeiten, heißen die nun Netzahualcojotl, Rios Montt, Francisco de Orellana oder Tupac Amaro, oder mit rätselhaften Phänomenen wie El Dorado oder Manoa, der Stadt der Amazonen. Das betrifft auch die weniger bekannten Drogen wie Xomil Xihuite, Piulero oder Ayahuasca. Alle diese Schilderungen kann der Leser getrost für verbürgt nehmen. Auch wenn inzwischen angefallene Veränderungen manches überholt haben mögen. Aufregend, buntschillernd und chaotisch, wie Lateinamerika nun einmal ist, so gebiert sich auch dieser Roman. Historisches ist gelegentlich eingefügt, weil manche Ereignisse erst dadurch besser verständlich werden. Wer nach umfassender

Erklärung sucht, für den kann das Vorliegende nur eine Anregung sein.

1. Birds don´t talk - Sonoyta

2. Der Obsidianspiegel - Teotihuacan

3. Der Auftrag - Mexico

4. Beginn der Regenzeit - San Miguel

5. Die Ehre des Revolutionshelden - San Blas

6. Aguardientowskis Komplizen - Oaxaca

7. Give them something to do - Rio Usomacinta

8. Der tausendjährige Schlaf - Tikal

9. Fiesta in Gringotenango - Panajachel

10. Vogel man sieht ihn nicht - Am Krater des San Pedro

11. El Dorado - Cartagena

12. Nuestra Señora y sus Milagros - Baños Tungurahua

13. Der große Zauberer - Macas

14. Das Ende der großen Traurigkeit - Altiplano

15. Der Schweiß der Sonne und die Tränen des Mondes - Cuzco

16. Verschwundene Inka - Huilcabamba

17. Ungewöhnliche Forschung - Tingo Maria

18. Alegria, Alegria - Tiahuanaco

19. Die Undankbarkeit des Volkes - San Bernhardino

20. Geschenke der Erde - Pantanal, Sete Quedas, Iguassu, Amazonien

21. Die Incamiables - Manoa

22. Die Stunde des Jaguars - Rio Napo

23. Die große Versammlung - Catemaco

24. Das Vermächtnis von Pachuchi ‘ut - Lago Atitlan

Einer dieser Orte war es, deren Trostlosigkeit frösteln lässt und die panische Vorstellung erzeugt, hier hängen zu bleiben. Hinzu kam die Müdigkeit nach einer durchfahrenen Nacht. Ausgerechnet hier saßen sie jetzt fest, waren gezwungen zu warten auf das Eintreffen der Polizei. Und wer weiß, wie lange es dann noch dauern wird. Einzig den Grenzern schien das ganz recht zu sein. Ihre Arbeit abgewickelt, hatten sie sich zur Kaffeepause in ihr Büro zurückgezogen.

Der Bus war längst in einer Staubwolke wieder verschwunden. Den wenigen ausgestiegenen Passagieren blieb nichts anderes übrig, als sich auf einem der schäbigen, auf Reihen von Eisenträgern montierten Plastiksessel niederzulassen. Die abgebrochenen scharfen Kanten versuchte man zu meiden, und mit den Füßen schob man die leeren Plastikbecher, zerknüllten Reste alter Zeitungen und anderen Müll beiseite.

Das fahle Licht eines noch nicht vollends angekommenen Tages ließ draußen ebenes, vegetationsloses Land erkennen. Wenn der Wind hin und wieder die Tür aufstieß, brachte er neben einem kalten Luftzug allerlei Sand herein. An den nackten Wänden hing nur eine Tafel mit den Zeiten der Anschlüsse nach Santa Ana, Hermosillo, Puerto Peñasco und über Mexicali nach Tijuana. Verheißungen einer hoffnungsvolleren Welt.

Passiert sein musste es, als alle wie gebannt auf den kleinen Jungen und den Vogel schauten. Verzweifelt versuchte Billy den alten Papagei zum Reden zu animieren. Der Ruf als ein Wunder an Sprachgewandtheit und Attraktion dieser Grenzstation hatte sich weit hinein auf der anderen Seite der Grenze verbreitet. Aber heute saß der berühmte Papagei stumm auf seiner Stange, schaute indigniert wie ein betagter Butler hocherhobenen Schnabels über den Jungen hinweg.

Endlich ließ er sich herbei, um kurz und kategorisch zu krächzen: „Birds don´t talk!“ Nur um gleich darauf hinter die hereinragende Mauer zu flattern. Freudig hüpfte Billy hinterher. Dann ging alles ganz schnell. Billy quäkte in schrillsten Tönen und in vollster Lautstärke. Der Papagei stob davon in die Höhe, unentwegt vulgäre Schimpfworte von sich gebend. Mistress Blinton, Billies Mutter, schoss um die Ecke, ebenfalls in lautes Geschrei ausbrechend. Einer der mexikanischen Grenzbeamten eilte herbei und gab seine Flüche dazu. Kein Wunder, er wäre fast über Mistress Blinton gestolpert, die ihrerseits schon über die am Boden liegende Leiche gefallen war.

Comisario Cuevas passte so gar nicht in das Klischee des desinteressierten, korrupten Latino-Polizisten. Er war diszipliniert, ehrgeizig und stolz. Er liebte sein Land und hasste Korruption, weil er wusste, dass diese es krank machte. Erwischte er einen seiner Leute dabei, so ließ er ihn seine Verachtung spüren, was hieß, eine Versetzung auf den unerfreulichsten Job.

„Pass auf“,

stupste mit seinem Ellenbogen Mantega den Neuen in die Seite.

„Jetzt wo er sich in der Mitte aufgebaut hat, wird er gleich sagen: Mein Name ist Comisario Cuevas. Ich muss jeden von…“

„Mein Name ist Comisario Cuevas. Ich muss jeden von ihnen einzeln verhören.

Während dieser Zeit kann niemand das Gebäude verlassen.“

Dann machte er eine längere Pause.

„So fängt er immer an, der raffinierte Hund. Während wir hier neben dem Ausgang Wache stehen müssen, kann er in Seelenruhe alle beobachten. Das macht die meisten ziemlich nervös.“

Die Gesichter verrieten Cuevas schon einiges, auch die Haltung, aber mehr noch die Reaktionen. Manche wirkten eingeschüchtert, andere verlegen, wieder andere trotzig oder aufbegehrend. Er ließ sich Zeit. Offenen Widerspruch gab es diesmal keinen. Nun gut, dann zur Sache, erst einmal zu dem Opfer.

Die Papiere in seiner Jackentasche erlaubten es, den Toten schnell zu identifizieren. Ein gewisser Felipe Gonzalves aus Mexico-Stadt. Wie telefonische Nachfrage dort ergab, unbescholten und in keiner Weise bekannt. Er war Anthropologe an der Universität von Mexico, Forschungsgebiet: Die Lacandonen, ein Indianerstamm im Urwald von Chiapas, unweit der Grenze mit Guatemala. Einige Zeit hatte er als Gastdozent an der University of California in Santa Barbara verbracht. Wo man ihn mit dem Spitznamen „Speedy Gonzales“ neckte. Es half nichts, dass er nicht müde wurde zu korrigieren: „Gonzalves, nicht Gonzales!“ Sonst war er ein stiller, etwas schüchterner Typ, hatte keine Freunde, keine Schulden, keine Liebschaften. Ein blütenreines Leben als ein etwas introvertierter Wissenschaftler. Kein Motiv war zu erkennen, warum irgendwer ihn ermorden wollte. Als Todesursache war eigentlich nur eine winzige Stichwunde oberhalb der rechten Schulter in die Halsschlagader zu erkennen, vermutlich eine Injektion. Alles Weitere würde das Labor klären.

Das Gepäck des Toten war ein üblicher, kleiner Reisekoffer mit der nötigen Wäsche. Wie sich bald herausstellte, wollte Gonzalves in die Staaten, um sich mit einem Redakteur der Los Angeles Post zu treffen. Der sagte am Telefon aus, er hätte einen Anruf von Gonzalves erhalten, der sehr aufgeregt wirkte. Es handelte sich angeblich um eine ganz brisante Sache. Aus dem verwirrten Gestammel wäre einzig klar nur rübergekommen: „Die Stunde des Jaguars“, vermutlich sowas wie ein Kennwort.

Während seine beiden Männer weiterhin den Raum bewachten, auf dass sich keiner unerlaubt entferne oder sonst Verdächtiges tat, machte Cuevas sich daran im Büro der Grenzer einen nach dem anderen zu vernehmen.

„Mrs.Blinton, sie hatten ja auch als Erste den Toten gesehen. Was war der Grund Ihres Aufenthaltes in Mexiko?“

„Wir hatten meinen Bruder besucht, der an der Universität von Guadalajara tätig ist.“

(Jedes Mal muss ich diese gleichen, stereotypen Fragen stellen. Alle Jubeljahr mag da vielleicht Verwertbares bei heraus kommen, ansonsten nur das große Gähnen.)

„War Ihnen an dem Toten irgendetwas aufgefallen?“

„Und ob! Mich überkam das nackte Entsetzen, als ich dieses Gesicht sah, verzerrt und leichenblass, wie man so sagt, von Grauen gezeichnet. Schrecklich, dass der kleine Billy so etwas mit ansehen musste! Die Augen waren seltsam verdreht und die Lippen blauschwarz verfärbt.

(Wie der ausschaut, das sehe ich selber.)

Da ich Krankenschwester bin, fand ich es auch höchst merkwürdig, dass die Leichenstarre schon eingetreten war, wo er doch erst seit einigen Minuten tot sein konnte.“

(Na bitte, das ist doch schon mal erwähnenswert.)

„Sonst noch etwas?“

„Ja - Ach ja, noch was, - die Toilettentür stand offen, als wenn er da gerade noch herausgekommen wäre, bevor er zusammenbrach.“

„Danke, Mrs.Blinton, das sind schon zweckdienliche Hinweise. Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, ich meine, hat sich irgendwer aus dem Raum entfernt, der Señor Gonzalves in Richtung Toiletten gefolgt sein könnte?“

„Nein, darauf habe ich nicht geachtet, wir haben ja auch alle nur auf den kleinen Billy und den Papagei geschaut.“

(Ja, ja der kleine Billy. Für mich wäre ja nun eine andere Blickrichtung erheblich interessanter.)

Mr.Blinton hatte überhaupt nichts bemerkt.

(Kann ich abhaken, genau wie seine Frau, harmlos und unverdächtig.)

Als Nächsten ließ Cuevas den älteren Indianer ins Büro kommen und Platz nehmen. Während er ihn musterte:

(Undurchsichtig kam der mir schon gleich vor. - Jetzt macht er hier auch noch auf einfachen Indio vom Lande. Ist ja interessant! Solch einen rückständigen Dörfler soll ich ihm also abnehmen. Sich dumm stellen, diese Masche kenne ich nun bis zum Abwinken. Gerade der hier ist alles andere als das. Aber was? Mehr noch, so ein unbekanntes Gefühl streift mich da, als wenn hier grundsätzlich etwas nicht stimmt. Zumindest nicht übereinstimmt mit bisherigen Erfahrungen.

Na ja, ich kann ja erst einmal so tun, als halte ich ihn für das, was er mir vormachen will. Solche schlichten Wesen wären es dann gewohnt forsch und ein wenig von oben herab angefasst zu werden. Bitte sehr, kann er haben. Also dann:

„Ausweis!“

„Hm, Juan Albanil heißt du? Da ist aber kein Geburtsdatum angegeben! Wie alt bist du?“

(Dieses Grinsen, welches er jetzt aufsetzt, soll wohl einfältig wirken. Aber ich behaupte, es ist hintergründig.)

„Kann sein Sechzig.“

(Das sagt er so, als wäre es ein großzügiges Angebot an mich. Klar, unbekanntes Geburtsdatum ist mir weder etwas neues, noch ungewöhnlich bei Indianern aus ländlichen Gegenden.)

„Ach, und in die Estados Unidos wolltest du?“

(Wer es glaubt, wird selig. Die lassen Typen wie ihn doch in die USA gar nicht erst rein.)

„Und was wolltest du da?“

„So, so, einen compadre besuchen.“

(Was Besseres war ihm wohl nicht eingefallen. Oder sollte es nur nochmals mir die Naivität vorgaukeln? Moment, – wodurch war der mir doch gleich so merkwürdig vorgekommen? Ja, die Augen waren es. Die sehen alles andere als leutselig aus, passen so gar nicht zu dem, was er mir hier vormachen will. Sollte der vielleicht ein Brujo sein? – Dann wäre es umso interessanter, was er wirklich hier wollte. Aber mit solchen Dingen kenne ich mich nun überhaupt nicht aus, habe es auch immer peinlichst vermieden damit in Berührung zu kommen. Danke, das Wenige was ich davon weiß und was so darüber geredet wird, das reicht, um die Finger davon zu lassen. Soviel zumindest ist mir bekannt, über diese Stämme hier im Norden, die Yaki, Seri oder Raramuri. Die hatten gelernt, in so einer kargen Landschaft zu überleben. Das archaische und entbehrungsreiche hatte sie ungewöhnlich hart gemacht. Auch die Azteken waren einst in diesen lebensfeindlichen Landen aufgewachsen, bevor sie in den freundlicheren Süden abwanderten.

Von den Seri war bekannt, dass sie Wild jagten, indem sie es zu Tode hetzten. Sie konnten so ausdauernd hinterherlaufen, bis das Tier völlig erschöpft zusammenbrach. Dann biss der Jäger ihm die Halsschlagader auf. Von Spaniern, die als Erste diese Gegend erkundeten, ist berichtet, dass in Gegenwart eines Seri ihre Pferde zu zittern begannen.

Von den Tarahumara, die sich selber Raramuri nennen, weiß man, dass sie meilenweit über Berg und Tal fußballgroße Steine mit ihren nackten Füßen vor sich her stoßen in ihrem traditionellen Ritual. So ein Raramuri ist auch in der Lage ohne weiteres 200km. im Nonstop-Dauerlauf zurückzulegen.

Die Yaki sind so gefürchtet als beinharte Krieger, dass sich die Armee gern ihrer bedient.

Die Bezeichnung Brujo, Hexer, die den Schamanen dieser Stämme von der katholischen Geistlichkeit als Verunglimpfung angehängt wurde, war ungewollt so zutreffend, dass sie haften blieb. Erwiesen ist, diese Brujos kennen sich bestens aus in Giften und Drogen aller Art. Auch mit der menschlichen Psyche verstehen sie zu spielen wie auf einem vertrauten Instrument. Was sie sonst so treiben, darüber kursieren die finstersten und haarsträubendsten Gerüchte.

He, was mache ich denn hier?

Ich lasse mich von meinen Gedanken völlig davontragen. Oder könnte es angehen, dass da schon jemand versucht, mich zu manipulieren?

Also reiß dich zusammen, Alfonso, und bleib bei der Sache!

Wo war ich stehen geblieben?)

„Also einen Compadre besuchen, das war alles, was du dort wolltest?“

(Ach was soll das? Die Frage hätte ich mir sparen können. War ja doch nur aus Verlegenheit. Ich bin mir sicher, das werde ich nie erfahren. - Bleibt mir also nichts anderes übrig als weiterspielen wie gehabt.)

„So, gesehen hast du rein gar nichts? Auch nicht, ob dem nun toten Señor irgendwer nachgegangen war in Richtung Toilettenräume?“

(Als ob ich mir das nicht hätte denken können. Überflüssige Fragerei.)

Juan Albanil konnte auf langjährige Übung zurückblicken, was das nichtssagend, leutselig in die Gegend gucken betraf. Er durfte sich damit unentdeckt aufgehoben wissen in dem uferlosen Tümpel allgemeiner Vorurteile. Indios vom Lande haben nun einmal simpel und einfältig zu sein. Alles andere würde unnötig Aufmerksamkeit erregen, käme eventuell dem zu nahe, was er tatsächlich dachte.

(Meine Aufgabe hat sich mit diesem Mord überraschend erübrigt. Wenn hier alles gelaufen ist, und die Anderen dabei sind, sich zu entfernen, werde ich unauffällig zurückfahren. Seit ich mir angewöhnt habe, weniger an vorgefassten Plänen festzuhalten, sondern abzuwarten, was sich so ergibt, wird es immer interessanter, was das Schicksal, oder wie man es nennen mag, einem so zuspielt. Zum Beispiel dieser Polizist da vor mir, der mich gerade so misstrauisch abklopft und mir am liebsten unter die Schädeldecke sehen würde. Er glaubt mir den schlichten Landbewohner nicht, lässt sich das aber nicht anmerken. Auch wirkt er anders als die meisten seiner Art, geradliniger und auch tatkräftiger. Könnte sein, dass er der Gesuchte ist. Einstweilen ist er noch gebunden an seine Dienststelle. Sollte mich nicht wundern, wenn sich daran in nächster Zeit etwas ändert. Das wäre der endgültige Beweis, dass er der Vorgesehene ist. Es werden sich dann immer noch Gelegenheiten bieten, ihn zu beobachten. Wenn der wüsste, was da auf ihn zukommt.)

„Der Nächste bitte.“

(Aha, US-Bürger. Woran erkenne ich das nur immer so leicht? Tippe mal auf Student.)

„David Mitchel ist ihr Name, wie ich dem Pass entnehme.“

(Sieht nach gut situierter Familie aus.)

„Danke, sehr freundlich ihr Angebot, das Gespräch auf Spanisch fortzusetzen. Aber ich spreche Englisch.“

(Wofür wohl habe ich schon vor Jahren mich der Mühe unterzogen, diese Sprache zu lernen? Wenn ich mir vorstelle, für diese Verhöre erst einen Dolmetscher anfordern zu müssen. Fraglich, ob wir da heute überhaupt noch zu Ende kommen würden.) „Sie sind von Beruf?“

(Aha, Student, habe ich mir also gedacht.)

„An der University of California, Los Angeles, Department of Music.”

(Da hätte ich jetzt auf was anderes getippt.)

„Was war der Anlass ihres Aufenthaltes in Mexiko?”

(Ein wenig Urlaub. So, so, vermutlich weil hier die Joints günstiger zu haben sind als in Kalifornien.)

Dave hatte eigentlich mehr so einen muffigen, korrupten Polypen erwartet, wie ihm aus einschlägiger Literatur vertraut.

(Oh, bitte, war ja nur ein Angebot, die Unterhaltung auf Spanisch zu führen. Immerhin, ein hiesiger Cop, der fließend Englisch spricht. Hätte schlimmer kommen können. Trotzdem kein Anlass, dem auch nur ein Wort mehr zu erzählen, als nötig. Dass ich zuvor auf Anraten meiner Alten einige Semester Literatur studiert habe, oder einige Artikel geschrieben für das Feuilleton von Dad´s Zeitung. Was geht den das hier an? Schon gar nicht, dass ich die heißen Bücher von Castaneda mehrmals und aufmerksam studiert habe. Bis ich es kapiert hatte, mehr als die anderen. Für die sind das Kultbücher, augenblicklich gerade mal in, aber morgen schon wer weiß welche anderen. Ich dagegen, bin jetzt selber auf dem richtigen Trip.)

„Wo ich den Urlaub gemacht habe?“

(Die paar LSD-Trips hatten nicht das Wahre gebracht. Und auch die selbstgebaute Pyramide im Vorgarten hatte nicht viel mehr, als nur die Nachbarn verärgert.)

„An der Pazifikküste in Mazatlan sowie in Guadalajara und in Guanajuato.“

(Aber jetzt ist es mir gelungen ihn aufzugabeln, den richtigen Meister. Auf der Busstation in Guaymas habe ich ihn gleich erkannt. Nun heißt es nur noch, ihn nicht mehr aus den Augen lassen. Ein Kontakt wird sich schon irgendwann ergeben. Aber das geht natürlich alles weit hinaus über das Verständnis eines Polizisten.)

„Nein, gesehen habe ich nichts Auffälliges.“

(Als ob mich das noch überrascht. Ein Freak ist er offensichtlich, aber kein Mörder. Da bin ich mir sicher.)

Dubioser war da schon dieser Jeff Henson, ein etwas in die Jahre gekommenes Blumenkind. Die langen Haare waren längst spärlicher geworden und wirkten nur noch lächerlich. Jeff Henson brachte sich schlecht und recht über die Runden mit allerlei Drogenkleinhandel. Gern und ausführlich fabulierte er darüber, was man alles verändern und verbessern sollte, in der Natur, bei den Lebensmitteln, bei Luft und Wasser, bei Pharmazeutika, im Sozialen und noch bei so manchem mehr. Lauter illustre Ideen zur Weltverbesserung. Sich selbst hatte er in dieser Aufzählung des Verbesserungswürdigem glatt übersehen. Angeblich war auch er auf Urlaub in Mexiko. Der naheliegende Verdacht auf Drogennachschub erübrigte sich. Schon die Grenzer hatten sein Gepäck unter diesem Gedanken gefilzt. Cuevas war nicht verwundert zu hören:

„Nein, bemerkt habe ich gar nichts.“

So richtig zwielichtig erschien ihm jedoch dieser Burt Winslow, seiner Aussage nach Handelsreisender. Er führte auch ein Köfferchen voller Muster von eleganten Herrenhemden mit sich. Was er wirklich machte, wusste niemand. Sein Gesicht zeigte jedenfalls nicht gerade die freundlich verbindliche Grimasse eines Vertreters. Angeblich arbeitete Burt Winslow als Freier und auf eigene Rechnung für die verschiedensten Hersteller. Cuevas Abneigung flüsterte ihm etwas in Richtung Berufskiller. Nüchterne Überlegung schob solches natürlich beiseite.

(Ein gar zu abenteuerlicher Verdacht, der ohne die geringste Bestätigung frei in meiner Phantasie herum baumelt. Aber vielleicht wäre eine Leibesvisitation ganz aufschlussreich, hätte interessantes zutage gebracht, wie abweichende Papiere oder Kreditkarten mit Zugang zu unerklärlich großen Konten.

Genug des Wunschdenkens. Leider liegt so etwas, zumindest zu diesem Zeitpunkt, außerhalb meiner gesetzlichen Befugnisse.

Was bleibt sind die immer gleichen, langweiligen Verhöre, Lügen die man durchschaut aber nicht widerlegen kann.)

Der Diplomat, Ralf Stilton, erschien ihm ebenfalls dubios. Nur an diesen ehrenwerten Mr.Stilton kam er überhaupt nicht heran. Der Pass wies ihn als mit entsprechender Immunität versehen aus.

(Was macht solch ein hohes Tier an dieser gottverlassenen Grenzstation, und wenn schon, warum kommt er dann mit dem schäbigen Bus und nicht in bequemer Dienstkarosse-vorgefahren?)

Selbst die Frage nach dem Grund des Besuchs in Mexiko prallte ab von einem:

„Bedaure, das unterliegt einer geheimen Verschlusssache.“

Zu guter Letzt war da noch Señor Random, ein mexikanischer Geschäftsmann. Er hatte einen kleinen Laden in Herrmosillo. Das ließ sich jedenfalls schnell und leicht bestätigen. Unerklärlich war nur, warum er bald darauf so spurlos verschwand.

Cuevas schaute angeödet aus dem Fenster. Zwar hatte die Sonne inzwischen die morgendliche Kälte vertrieben und ihr gleißendes Licht über dem flachen, ereignislosen Land ausgebreitet. Doch was er sah, war nach wie vor nur Leere, nichts was ein Gefühl von heimatlicher Verbundenheit erregte. Auch wenn er in dieser Umgebung aufgewachsen und den Anblick gewohnt war, begann er immer mehr sein Leben als ein Spiegelbild davon zu sehen. Zunehmend deutlicher zeigte es für ihn etwas Lähmendes, gegen das er innerlich aufbegehrte.

(So monoton wie die ständig repetierenden Abläufe meiner Arbeit. Werde ich eines fernen Tages, wenn ich meinen Schreibtisch in Richtung Pensionierung verlasse, rückblickend auf mein Leben sagen: War´s das? War das alles?)

Die Vernehmungen hatten allesamt nichts gebracht.

(Gewiss, dieser Mord gehört aufgeklärt wie jeder andere. Aber so viel dämmert mir jetzt schon, darum allein geht es hier gar nicht.)

Ein unerklärlicher Windstoß erreichte ihn, wie aus einer fremdartigen Welt von anderer Frequenz. Instinktiv schaute er auf seine Uhr, als sollte sie eine andere Zeit anzeigen. Nur ein kurzer Augenblick, dann hatte die Gewohnheit ihn wieder.

Irgendetwas war ihm gleich seltsam vorgekommen, nicht zuletzt auch an den Anwesenden, nur so ein Gefühl. Als wenn die alle nicht zufällig zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort wären. Die Blintons vielleicht ausgenommen. Die gängigen Mordmotive passten einfach nicht. Da war mehr hinter der Sache, etwas Unbekanntes, Größeres, von dem keine Konturen zu erkennen waren. Nur wusste er noch nicht, dass es sich den herkömmlichen Mitteln der Erkenntnis ohnehin entzog, weil es so nicht greifbar war.

(Alle behaupteten, fixiert gewesen zu sein auf das, was sich da abspielte zwischen dem kleinen Billy und dem Vogel. Niemand wollte angeblich etwas bemerkt haben. Niemand hatte gesehen, ob sich wer kurz entfernte. Für mich ist die Frage nicht mehr, ob hier gelogen wurde und von wem, sondern nur noch - und viel aufschlussreicher: warum?)

Er inspizierte noch einmal die Toilettenräume, den Ort, wo es passiert sein musste. Keinerlei Zeugen irgendeines Kampfes, keine Spuren an den Wänden oder auf dem Fußboden, kein ausgerissenes Haar oder verlorener Knopf. Es muss alles sehr glatt gegangen sein, blitzschnell und mit überraschender Sicherheit, um nicht zu sagen professionell. Cuevas Augen ruhten auf den blassen, graugelben Kacheln. Für einen Moment schüttelte ihn etwas, als läge hier ein unsagbares Grauen in der Luft. Eine vage Ahnung beschlich ihn, etwas völlig anderes würde dahinter stecken, etwas ihm noch unbekanntes, bislang in keinem seiner Fälle aufgetauchtes. Wenn diese Kacheln reden könnten, wie es aussah die einzigen Zeugen. Aber die blieben wie immer kalt, glatt und stumm.

Zurück im Büro blickte Cuevas nachdenklich durch die abgetönten inneren Scheiben auf die Fahrgäste im Warteraum. Unbemerkt konnte er von hier aus die Runde beobachten. Normalerweise würden die doch jetzt palavern, lamentieren, dass sie so lange hier festgehalten würden, sich aufregen über die Zumutungen seitens der Polizei. Aber die saßen nur alle stumm und reglos da, glotzten geradezu verbissen die Wände an. Kein Zweifel, etwas stimmte da nicht, war anders als sonst. Nicht dass es ihn verwirrte, aber er kam einfach nicht darauf, was es sein könnte. Den Deckenbalken sah er langsam einen Leguan überqueren. Wachsam aber desinteressiert schaute der auf die Menschengruppe unter sich.

Dann brütete er über seinen Notizen.

(Einer von den Dreien muss es gewesen sein, das sagt mir ein untrügliches Gefühl. Aber welcher? Der schwer durchschaubare, alte Indianer? Sollte der tatsächlich ein Brujo sein, dann wären die Motive dieses Hexers ebenso undurchsichtig wie nicht nachvollziehbar. Der zwielichtige Handelsvertreter, der angeblich geschäftlich in Mexiko unterwegs war? Wie das denn, wo der kein Wort Spanisch verstand? Ja, und da wäre als Dritter noch der saubere Mr.Stilton, der in Sachen unnahbarer Geheimnisse unterwegs war. Einer von den Dreien, aber welcher? Keinem kann ich auch nur das Geringste nachweisen. Noch nicht einmal ein vages Verdachtsmoment ist in Sicht, und ein Tatmotiv ebenso wenig, von Beweisen ganz zu schweigen.

Die Anderen kommen, da bin ich mir sicher, als Täter nicht in Frage. Aber welche Rolle spielten die? Warum waren sie tatsächlich hier? Weil angeblich auf Billy und den Papagei fixiert, konnte mir auch niemand mit Bestimmtheit sagen, ob einer der Betreffenden sich kurz entfernt hätte, um dem Opfer zu folgen. Höchst unwahrscheinlich, da wird zumindest einer gelogen haben.)

Er ließ den Kopf sinken in die offenen Hände über den aufgestützten Ellenbogen.

Die sich überkreuzenden, lanzenförmigen Blätter ergaben ein eigenartiges Muster. Wie ein Raster um rhythmisch versetzte, konzentrierte Lichtpunkte herum. Nur an einer Stelle rechts oben brach das Sonnenlicht klar durch. Aber der Lichtstrahl ging an ihm vorbei. Im tiefen Schatten zwischen den Baumwurzeln lauerte er auf seinem Lager. Wie immer gedachte er den Rest seiner nächtlichen Tätigkeit hier in Ruhe auszukosten. Und wie alle seiner Art liebte er es, den größten Teil des Tages mit seligem Nichtstun zu verbringen. Ein verhängnisvoller Fehler deswegen zu glauben, er schliefe. Völlig entspannt dämmerte er so vor sich hin, unentdeckt auf der Hut Einzig seine Ohren bewegten sich leise, lautlos wie mobile Empfangsschirme, die jedes noch so kleine Geräusch aufnahmen. Zeigten sie Verdächtiges an, so wäre er auf der Stelle hellwach und sprungbereit. Bis dahin blieb er eine schweigende Unergründlichkeit, aus der Tiefe des Schattens dräuend. Eine belanglos erscheinende Umgebung ließ davon nichts ahnen.

Er hob den Kopf und schüttelte ihn, als hieße es etwas abzuwerfen.

(Was immer das bedeuten soll, ich darf hier nicht vor lauter Frust in müßige Tagträumerei verfallen. Es hilft alles nichts, keinerlei Ergebnis ist in Sicht.)

Er seufzte, ließ die Faust auf den Tisch fallen, stand auf und verkündete seinen Leuten draußen im Warteraum, sie könnten alle gehen lassen. Den Toten und dessen Gepäck sollten sie auf den Wagen laden und ins Labor nach Hermosillo bringen.

Frustrierend war auch der Befund, der wenige Tage später aus dem Labor eintraf. Die Untersuchung hatte ergeben, Gonzalves war ermordet worden durch eine Injektion mit einem schnellwirkenden Gift, wie es eigentlich nur bei den Brujos mancher Indianerstämme bekannt war. Xomil-Xihuite war ein besonders bösartiges Gift, von den Indianern auch „Gläserner Sarg“ genannt. Schon in allerkleinsten Mengen verursacht es Höllenqualen und lässt das Opfer bei völliger Bewegungslosigkeit die fürchterlichsten Ängste durchmachen. Bereits die winzige Dosis von 0,007 Gramm tötet einen Hund von 5 kg. in wenigen Minuten. Größere Mengen lassen den damit Injizierten auf der Stelle zusammenbrechen, sich nur noch einmal schütteln, um dann sofort starr zu werden.

(Natürlich, sofort wirken sollte es, damit das Opfer sich nicht mehr bemerkbar machen konnte. Hab ich es doch geahnt! Ein Grund hätte sich schon gefunden, um diesen diabolischen Kerl zumindest vorläufig festzuhalten.)

Cuevas sah wieder das Gesicht des Toten vor sich, die Augen hervorgetreten, der Mund schwarz angelaufen und weit aufgerissen. Leichenblasse Haut widersprach dem noch Sekunden zuvor Lebenden, der jetzt plötzlich das Aussehen eines Dämons oder Zombies angenommen hatte.

Cuevas besaß teilweise selber Indianerblut in seinen Adern, war in dieser Umgebung aufgewachsen und ahnte mit welchen Kräften er es hier zu tun haben würde.

Trotzdem machte er sich Vorwürfe, den Alten nicht weiter festgehalten zu haben. Sinnlos wäre jetzt eine Suche per Steckbrief. Das konnte er von vornherein vergessen, auch wenn er ein Foto bekäme und es in allen Polizeistationen aushänge. Die Beschreibung würde wenigstens auf einige Hunderttausend ältere Indianer passen.

Bei Nachfrage in dem angegebenen Heimatdorf erfuhr er, dass es dort einen Juan Albanil gab, seines Zeichens Medizinmann. Der Haken war nur, dieser verdammte Brujo war schon vor 200 Jahren gestorben

Der Obsidianspiegel

Als am frühen Nachmittag die Vernehmungen in Sonoyta endlich beendet waren, hatten alle es auffallend eilig, sich in Richtung USA abzusetzen. Niemand bemerkte, wie der alte Indianer verschwand in dem Bus für die Gegenrichtung. Wohl auch, weil niemand damit gerechnet hatte, waren sie doch alle dorther gekommen.

(Wie fixiert sie alle sind auf ihre Weiterfahrt, froh den polizeilichen Untersuchungen endlich heil entkommen zu sein. Ein typischer Fall von einseitig orientierter Aufmerksamkeit, die sie für alles andere blind macht. Mir gab es die Gelegenheit unbemerkt im lokalen Bus zu verschwinden.

Sieh mal an, diesem Hoffnungsträger ist es als Einzigen nicht entgangen. Schon seit Guaymas folgt er mir und glaubt allen Ernstes ich merke es nicht. Jetzt gerade ist er ganz verstohlen bei der hinteren Tür eingestiegen. Was er will ist offensichtlich. Möglich, dass dieser kalifornische Student tatsächlich der Andere ist, den die Gelegenheit mir zuspielt. Aufmerksam und für einen Gringo ungewöhnlich ausdauernd ist er schon. Vorerst jedoch werde ich ihn weiter im Auge behalten, während er meint mich zu beobachten).

Bei den einfachen Bussen wie diesem, die den ländlichen Bereich bedienen, konnte man auch hinten einsteigen. Neben dem Fahrer war stets noch ein Zweiter im Wagen, der durchging und kassierte.

(Zum Glück sitzt er ganz vorne. Da wird er nicht gesehen haben, wie ich hinten einstieg. Es ist noch spannender, als ich es mir vorgestellt hatte. Keine Ahnung wie es weitergeht. Dranbleiben ist vorerst die Devise.)

„Wohin ich will?“

(Woher kann ich wissen, wo der aussteigen wird? Am besten ist….)

„Ja, lösen Sie mir bis Endstation.“

(Was soll´s? Da kann jedenfalls nichts schief gehen.)

Quälend langsam zog sich die Fahrt dahin. In jedem Ort wurde gehalten, oft auch noch langwierig verhandelt über den Preis für größeres Gepäck.

Die Nacht hatte sich bereits über das Land gesenkt, als in einem dieser nichtssagenden Kaffs das Objekt von Daves Observierung ausstieg. Zum Glück ging dieser gleich um die nächste Ecke, so dass er nicht sehen konnte, wie Dave ebenfalls ausstieg, um ihm vorsichtig zu folgen.

(Wie nicht anders zu erwarten, ist er auch ausgestiegen bei der rückwärtigen Tür. Ich höre es an seinen Schritten. Denn soll es wohl so sein, dass er der gesuchte Andere ist. Ich werde jetzt im Ort ein wenig mehr als nötig umhergehen, um dann hinter einer Ecke ihn auflaufen zu lassen. Wie auch immer, der Test mit dem Obsidianspiegel wird mir genaueres sagen.)

Der kleine Platz, an dem der Bus hielt, war gerade noch durch zwei Laternen spärlich beleuchtet. Die Gassen dahinter blieben dunkel und verlassen. Kein Mensch war zu sehen zwischen diesen schmucklosen Wänden ärmlicher Häuser. Die meisten lagen verborgen hinter hohen Mauern mit abfallendem Putz oder überhaupt nur aufeinander gesetzten Feldsteinen. Einige wirkten schon halb verfallen. Auch wenn dahinter in manchen Fenstern noch Licht brennen mochte, so gelangte es nicht bis auf die Wege. Nach all den Ecken und Abzweigungen war es nicht einfach, den Verfolgten im Auge zu behalten ohne selber aufzufallen.

(Verdammt! Ich fürchte, jetzt habe ich ihn doch verloren. Was macht überhaupt diese steinerne Statue hier hinter der Häuserecke? Um ein Haar wäre ich dagegen gerannt. In dieser Dunkelheit sieht man ja nicht mal….Oh nein, - nein! Das ist er! Warum steht er so regungslos wie erstarrt da, wie eine antike Plastik? Nur diese Augen! Sie starren mich unentwegt an. Mir ist, als tasten sie mein Gesicht ab. Überall, an allen Stellen. Wie lange geht das noch? Ich kann auch gar nichts sagen. Er muss die ganze Zeit gemerkt haben, dass ich ihm folgte. Unerträglich peinlich ist das. Wenn er wenigstens etwas sagen würde. Von mir aus soll er mich jetzt anschnauzen, herunterputzen, zur Minna machen. Wenn nur diese quälende Situation ein Ende nimmt.)

Die Stimme war nicht kalt, nur so emotionslos wie beiläufig:

„Nun gut, du sollst haben, was du suchst.“

Dann drehte der alte Indianer sich um und ging wortlos weiter. Dave nahm das als Aufforderung, ihm zu folgen.

Nicht lange, und sie hatten das Ende des Dorfes erreicht. Der ungepflasterte Weg führte weiter gerade hinaus, um sich leicht ansteigend zu verlieren in den kahlen Bergen. Nach wenigen Minuten hielt Juan vor einem einsamen, unbeleuchteten Haus an der linken Seite des Weges, so ärmlich und unscheinbar wie alle anderen, an denen sie vorbeigegangen waren. Immer noch wortlos öffnete er die Tür und schob Dave hinein.

Ein anderer älterer Indianer saß in dem kahlen Raum an einem Tisch.

„Das ist Benigno“,

sagte Juan und zu diesem gewandt:

„Das hier ist Dave.“

Benigno nickte nur ohne aufzusehen und widmete sich weiter seinem Teller mit Frijoles.

Erst wesentlich später kam es Dave in den Sinn:

(Woher konnte der eigentlich meinen Namen wissen?)

Juan deutete nur zu einem leeren Stuhl am gleichen Tisch und ging nach nebenan. Zurück kam er mit zwei Tellern Frijoles. Einen schob er Dave hin sowie einen Löffel. Jeder aß wortlos. Als sie damit fertig waren, unterbrach Juan das Schweigen.

„Es wird eine längere Fahrt.“

Und:

„Wir müssen dir die Augen verbinden.“

Nachdem sie ein Tuch um seinen Kopf so fest verknotet hatten, dass er auch bei bestem Bemühen weder irgendwo durchschauen noch etwas verschieben konnte, ohne jedoch das Atmen zu beeinträchtigen, führten sie ihn hinter das Haus und auf den Rücksitz eines Autos.

Die Fahrt währte die ganze Nacht und den längsten Teil des folgenden Tages. Nur einmal unterbrachen sie für ein paar Minuten, vermutlich um den Fahrenden abzulösen. Zu Dave sagten sie, wenn er austreten müsse, wäre das jetzt die Gelegenheit. Dave hatte keine blasse Ahnung, wohin es ging, noch nicht einmal in welche Richtung. Aber er war in seinem Glück. Wie so manch anderer seiner Generation, hatte er jahrelang die Kultbücher von Castaneda verschlungen. Wie man so sagt, sie waren seine Bibel geworden. Jetzt endlich glaubte er erreicht zu haben, wovon die Anderen nur träumten.

Unvermutet flackerte ihm dazwischen auch der Gedanke auf:

(Was ist, habe ich mich vielleicht am Ende in die Hände des Mörders von Gonzalves begeben? Weiß ich, was diese beiden Typen mit mir vorhaben? Ich wäre denen, wenn es drauf ankommt, doch hoffnungslos ausgeliefert. Quatsch! Solche Ängste sind nur dazu angetan mir den ganzen Trip zu versauen.

Ich bin dran! Ich bin dran!

Das große Abenteuer, von dem die Anderen alle nur träumen, dem rolle ich jetztentgegen. Ist doch wohl klar, dass ich diese einmalige Chance auch genießen will.)

Die Wunschvorstellung von dem so lang ersehnten großen Abenteuer erwies sich als übermächtig. Er war jetzt dran, in den Fußstapfen Carlitos. Keine noch so lange Fahrt vermochte diese aufregende Erwartung zu dämpfen. Vor lauter Erregung hatte er kaum Schlaf gefunden, verbrachte die lange Fahrt in den schillerndsten Tagträumen, von keinerlei Wahrnehmung getrübt.

Die Beiden auf den Vordersitzen wechselten kein einziges Wort. Auch das Radio, so es denn überhaupt eines gab, blieb stumm. Das Tuch um seinen Kopf war so dicht, dass er nicht einmal in der Lage war, den Stand der Sonne als Orientierungspunkt auszumachen. Das Einzige was er wahrnehmen konnte, am Nachmittag des folgenden Tages hatten sie scheinbar die Asphaltstraße verlassen. Jedenfalls rumpelte der Wagen die letzten Stunden stark.

Am Ziel angekommen, halfen sie ihm aus dem Auto und nahmen das Tuch um die Augen ab. Jedoch zu sehen gab es da wenig, eine öde Berglandschaft von trockenen Büschen bewachsen. Einsam darin eine Hütte, die nur aus einem Raum bestand.

Aus dem Kofferraum holten die Beiden einen Behälter mit den Zutaten einer einfachen Mahlzeit. Gebratene Hühnerteile, etwas Chilisoße, gemischten Salat und Tortillas legten sie auf den Tisch. Ein 5-Liter-Gefäß mit Wasser kam noch dazu. Nachdem sie, wiederum wortlos das Mitgebrachte verzehrt und alles abgeräumt hatten, brachte Juan ein Bündel herbei. Bedächtig schlug er das Tuch auf und platzierte den Inhalt auf den Tisch: Den Obsidianspiegel.

Eindringlich klärte er Dave auf über Bedeutung und Funktion, prägte ihm ein, was er zu tun hätte. Vor allem aber, was er nicht zu tun hätte, nämlich sich umdrehen. Abschließend stellte er noch die Petroleumlampe auf den Tisch und eine Schachtel Streichhölzer. Die könne er anzünden, wenn das Tageslicht bald nachlassen würde und seine Beobachtung einschränkte. Auch das wäre einfach zu bewerkstelligen ohne sich umzudrehen. Dann ließen sie ihn allein. Er hörte den Wagen starten und davonfahren.

Das war nun schon geraume Zeit her. Doch immer noch tat sich auf der Oberfläche des Obsidiansteins so gar nichts. Bewegungslos blieb sie, von unergründlicher Schwärze, einst in unzähligen Stunden und Tagen spiegelglatt poliert.

Mittlerweile war es schon dunkel geworden. Dave hatte die Petroleumlampe entzündet und starrte immer noch auf diesen makellos glatten, schwarzen Stein vor sich. Den Blick konzentriert darauf halten sollte er und auf keinen Fall sich umdrehen. So war ihm eingeschärft worden. Nicht nur die gewünschte Wirkung würde dann ausbleiben. Unmöglich vorauszusagen, was dann geschehen könnte. Auf jeden Fall Bedrohliches würde man damit heraufbeschwören, Dinge, auf die man sich besser nicht einlassen sollte. Aus noch voraztekischen Zeiten stammte dieser magische Stein. Von den Tolteken, die für ihre Fähigkeiten so berühmt waren, dass bis zum heutigen Tage herausragende Handwerker oder Künstler Toltecatli genannt wurden. Mehr noch aber, als auf diese Fähigkeiten der Fertigung, verstanden sie sich auf die Anwendung magischer Praktiken. Dieses vulkanische Glasgestein war dabei eines ihrer bevorzugten Materialien. Generationen solcher der Magie kundigen Tolteken hatten an diesem Spiegel gearbeitet.

Was immer es auch damit auf sich haben sollte, besser er hielt sich daran, dachte Dave. Zu sehen gab es ohnehin nichts in dieser einfachen Hütte. Leere Adobewände und den Tisch vor ihm, auf dem dieser Obsidianspiegel lag. Auf dessen Oberfläche sollten die Erscheinungen auftreten. Sie würden Dave in jene magische Welt führen, nach der er so fieberte. Irgendwann würde es passieren, wenn er nur konsequent seinen Blick darauf hielte. Bislang tat sich immer noch nichts. Aber wie Dave gesagt wurde, war es für ihn das Tor in jene andere Welt.

(Wenn sich diese Schemen vielleicht noch zu blass, zu zart abzeichneten, um bei dem dürftigen Licht der Petroleumlampe erkannt zu werden?)

Dave bewegte die Lampe und verschärfte den Blick, ohne erkennbare Resultate. (Diese Generationen von Brujos werden genau gewusst haben, was sie da anfertigten. Möglich auch, dass es bei einem Newcomer wie mir länger dauert. Auf jeden Fall geduldig dran bleiben, nicht nachlassen mit der Konzentration. Dann wird sich dieses Tor auch für mich öffnen.)

Ach ja, dann war da noch auf dem gleichen Tisch, etwas weiter entfernt zu seiner Rechten, dieses kleine Keramikgefäß mit der glühenden Holzkohle darin. Der herbe Geruch, den das langsam verbrennende Kraut darauf ausströmte, sollte ihm Moskitos vom Leibe halten. Wenn es völlig ausgebrannt wäre, könnte er das Kraut ersetzen aus dem Schälchen daneben. Auf keinen Fall aber, so wurde ihm eingeschärft, sollte er Blätter aus dem Korb dahinter auf die Glut legen. Deren beim Verbrennen entstehender Rauch verursachte ganz spezielle Wirkungen. Magische Wirkungen für die Dave noch nicht reif wäre.

Gar zu gern hätte er gewusst, was das denn für Wirkungen sein sollten. Je länger er darüber nachdachte, desto bohrender wurde diese Frage.

(Und überhaupt, wie will wer denn so schnell über den Daumen gepeilt beurteilen können, wofür ich reif wäre und wofür nicht?)

Der Duft, den die kokelnden Blätter aus dem verbotenen Korb verbreiteten, war noch herber, um nicht zu sagen ziemlich beißend. Obendrein entwickelten sie einen Rauch, der das ganze Umfeld leicht einnebelte. Nicht nur das sichtbare Umfeld, auch Daves Kopf fühlte sich etwas eingenebelt. Ihm war als blickte er auf verwackelte Fotos. Das dämpfte aber keineswegs seine Neugierde. Die wurde zunehmend aufdringlicher, geradezu penetrant. Was denn passieren würde, wenn er zur Seite den Blick abwand oder sich umdrehte?

(Was sollte denn schon passieren? Es sieht doch niemand. Ich bin hier auf weiter Flur allein.)

Die Beiden hatte er längst davonfahren gehört. Sonst war da, wer weiß wie weit, kein Mensch, auch keinerlei Geräusch zu hören.

(Als wenn das irgendwas beweisen könnte. Wie denn? Bin ich denn bekloppt? Wollen die vielleicht nur testen, wie einfältig ich bin? Wie lang es dauert, bis bei mir der Groschen fällt? Und jetzt kommt es mir erst: Was hatten die denn noch geredet, nach dem sie hinausgegangen waren? Wo sie sich doch sonst immer so wortkarg gaben. Natürlich in irgendeiner Indianersprache, die ich nicht verstehe. Aber gelacht hatten sie daraufhin. Na, worüber wohl? Ich sitze hier Stunde um Stunde, gaffe dieses angeblich magische Objekt an und trau mich nicht ´mal, einfach aufzustehen und mich umzusehen.)

Gesagt, getan. Er erhob sich und wendete den Blick auf die Eingangstür.

Was er nicht wusste: Die Gefahr kam aus einer anderen Realität und besaß die Fähigkeit in verschiedenen Versionen zu erscheinen.

Durchdringendes Rasseln abertausender Grillen ließ den ganzen Urwald vibrieren wie eine schrille Alarmsirene. Unberührt davon verharrte ahnungslos das ausgespähte Opfer immer noch wohlig grasend auf der Lichtung. In seiner Arglosigkeit näherte es sich sogar langsam, Schritt für Schritt immer mehr dem drohenden Unheil, dem es schon längst im Blick war. Eine leichte Brise trug dessen Geruch jedoch hinfort in die andere Richtung.

Ein unschuldiges Tier war es, was er da lauernd im Visier hatte, von jugendlichem Wuchs und unerfahrenen Bewegungen. Es war nicht so, dass er kein Auge für so etwas und kein Wohlgefallen daran hatte. Nur war das Gesetz des Waldes unumstößlich. Und das besagte, die letzte Stunde dieses Geschöpfes war gekommen. So gesehen war er nicht mehr als ein zwangsläufiger Vollstrecker dieses Gesetzes, der sich jetzt lautlos noch ein wenig näher heran schlich bis auf Sprungnähe. Als er sich gerade tiefer duckte und seine Muskeln anspannte, zum Unausweichlichen, geschah etwas Außergewöhnliches, bisher noch nie Gekanntes. Das bedrohliche Rasseln der Grillen erstarb schlagartig. Kein Vogel war mehr zu hören. Betäubende, leblose Stille war nur mehr. Alle Wesen des Waldes spürten, da war etwas Neues, völlig fremdes. Ob es gut oder unheilbringend war, wusste keines von ihnen, nur so viel, dass es jenseits der Gesetze des Waldes lag. Das soeben noch todgeweihte Opfer entwich in dichtes Unterholz.

Seit seinem dritten Lebensjahr, als er voll erwachsen wurde, gab es für ihn nie mehr einen Anlass zur Furcht. Dennoch packte ihn jetzt ein unbehaglich irritierendes Gefühl. Umsichtig in alle Richtungen witternd schlich er sich in das tiefste Dickicht, wo verborgen die alte Stadt lag. Unbekannt war sie immer noch außerhalb des Waldes geblieben. Nahe den Überresten eines größeren Bauwerks bot ein Spalt zwischen den riesigen Steinen den Eingang zu einer dunklen Höhle. Eine Stätte, an die er sich gut erinnerte, wurde er doch hier zusammen mit seinen beiden Brüdern geboren. In diesem Versteck wurde er aufgezogen, und es blieb für ihn zeitlebens der sicherste Rückzugsort. Diese Stadt war so lange schon verlassen, dass nichts mehr an ihre einstigen Bewohner erinnerte. Selbst der sonst so beharrlich anhaftende Geruch war längst verflogen.

Für seine Mutter war es daher nichts anderes gewesen als irgendein Felsengebilde welches den erwünschten Schutz bot. Für ihn blieb es zeitlebens der Ort von Sicherheit und Geborgenheit. An der Wand gegenüber schaute ihn sein Abbild an, viele Generationen vor seiner Zeit als Relief in den Stein gemeißelt, den Gott der Unterwelt darstellend.

Dave schüttelte sich, als wollte er sich erstaunt von etwas befreien.

(Ein wenig benebelt fühl ich mich zwar. Aber wer weiß, sollte das vielleicht schon eine Offenbarung des Obsidiansteins sein?)

Während er noch verstört darüber grübelte, den Blick auf die Eingangstür gewandt, erfasste ihn ein kalter Lufthauch. Krachend flog die Tür auf, und aus dem geöffneten Rechteck pechschwarzer Nacht heraus stürmte ein halbes Dutzend Männer herein. (Wo kommen die denn auf einmal her?)

Wunderte er sich nur. Bevor er noch irgendetwas sagen konnte, hatten sie ihn schon mit geübten Griffen so fest eingeschnürt, dass er weder Arme noch Beine bewegen konnte. Jaguarfelle hatten die über die muskulösen, braunen Oberkörper gezogen. Soviel hatte er gerade noch sehen können, und dass ihre Köpfe ganz in Nachbildungen dieser Raubtierschädel verschwanden, bevor man ihm schon wieder die Augen verband. Wie er in der kurzen Zeit zu erkennen glaubte, waren weder Juan noch Benigno unter ihnen. Dann wurde er hochgehoben und nahm einzig diesen strengen Geruch wahr, der ihn an irgendetwas erinnerte. Wenn er nur wüsste an was?

(Aber klar ist das die Öffnung des Obsidiansteins. Was denn wohl sonst? So unwirklich wie dies ist, kann es nur der erste Schritt in eine jenseitige Welt sein. Mann, denn hab ich es ja doch geschafft! Jetzt geht es echt los.)

Jaguarmänner, dämmerte es ihm nun auch, das war doch eine geläufige Kriegerkaste bei den Azteken. Bisher kannte er sie nur von Abbildungen. Aber diese Kostümierung erschien ihm ziemlich perfekt.

(Auch merkt man ihnen die Schauspieler gar nicht an. Allein diese zügellose Wildheit geben sie ziemlich gelungen wieder. Nur, wer hat die hierher geschickt? Und was wollen die? Oder ist das alles nur Fiktion? Durch den magischen Stein verursachte Imagination? Ich kann das gar nicht mehr auseinander halten. Wozu soll das auch wichtig sein? Wirklichkeit oder Imagination, ist da irgendwer, der das mit Gewissheit unterscheiden kann? Jedenfalls spannend ist es schon – und endlich Action!)

Etwa eine halbe Stunde mochten sie ihn getragen haben, unentwegt im Laufschritt. Es war schwer, die Zeit abzuschätzen. Dann gewahrte Dave, wie es für eine kurze Weile steil bergauf ging. Als sie ihn schließlich ablegten, spürte er kalten, harten Stein unter seinem Rücken. Der musste stark abgerundet sein, denn er merkte, wie er sich darauf mit der Brust nach oben bog.

Das erste, was er sah, als sie ihm die Augenbinde abnahmen, war ein nächtlicher Himmel über ihm, von wandernden Wolkenfetzen durchzogen. Nur hin und wieder schaute ein fahler Mond hervor, der die ganze Szenerie spärlich beleuchtete. Arme und Beine waren noch immer nicht zu bewegen. Nur waren es jetzt menschliche Hände, die sie umklammerten. Mehrere Gesichter sah er da um sich herum, alle seltsam bleich. Aber das mochte an dem Mondlicht liegen. Ihn fröstelte.

Wenigstens den Kopf konnte er heben. Wenn er ihn etwas nach vorn neigte, erblickte er zu seiner Rechten, schräg gegenüber eine mächtige, dunkle Silhouette.

(Sieht aus wie eine Pyramide.)

Als der Mond aus einem Spalt der Wolken wieder hervortrat, konnte er deutlicher die vier Abstufungen bis zur abgeflachten Spitze erkennen. Kalkig weiß, wie Knochen wirkte in diesem Licht der Stein. Die Treppen und die Figuren daneben waren nur undeutlich zu erahnen. Die sanften Schrägungen ließen das ganze Bauwerk noch entrückter erscheinen.

(Moment, das ist doch die Sonnenpyramide von Teotihuacan. Aber natürlich, kein Zweifel! Es gibt kein Bauwerk, welches ihr ähnelt. Also, muss ich folglich hier auf der Mondpyramide liegen.)

Dave hatte genügend Bücher gewälzt und Fotos betrachtet, was die Überreste vorkolumbianischer Kulturen betraf, um sich da ganz sicher zu sein.

(Teotihuacan, was heißt: Der Ort, wo man zum Gott wird, der Begräbnisplatz der Könige, die nach ihrem Tod zu Göttern mutierten. Die rituelle Hauptstraße, der sogenannte Totenweg, führte schnurgerade auf die Mondpyramide zu und endete auf deren Spitze. Das wäre genau da, wo ich jetzt liege. In Verbindung gebracht wurde diese Spitze mit der Milchstraße. Bin immer mehr gespannt, wie die Show weitergeht. Zum Glück bin ich ja im 20.Jahrhundert. Das alles kann also nur eine symbolische Zeremonie, eine historische Nachahmung sein.)

Inzwischen waren noch einige Adlerkrieger hinzugetreten, die andere kostümierte Kriegerkaste der Azteken.

(Wer sind alle diese Leute? Wer inszeniert diese Show? Und wieso gerade ich?) Soweit er es überblicken konnte, standen inzwischen hier auf der Plattform der Mondpyramide mindestens ein Dutzend Männer herum.

(Teotihuacan muss so etwas wie die Heilige Stadt der Tolteken gewesen sein, die Stätte ihrer höchsten Rituale. Die Ansichten der Altertumswissenschaftler, wie ich gelesen habe, gehen allerdings auseinander. Manche meinten Teotihuacan wäre der Ort einer noch früheren Kultur. Die Indianer jedenfalls identifizieren es mit den Tolteken, für sie die große, alte Leitkultur. Der Name deren Herkunftslandes ist nur in Aufzeichnungen überliefert. Wie bei so manchen alten Sprachen, bestehen alle Worte im Prinzip aus drei Radikalen, in diesem Fall A, T und L. Das hätte irgendwas mit Wasser zu tun, habe ich gelesen. Es hieß auch, dass ihre Hauptstadt auf Wasser gebaut war. Wie das ausgesprochen wurde, wusste kein Mensch mehr, nicht mal die Leute von Tollan, die heute noch Tolteken genannt wurden. Sie glaubten, ihre Vorfahren waren von jenseits des Meeres gekommen, von einem Land welches sie, wie man vermutet, At-Tollan nannten. Klingt verdächtig nach Atlantis, zumal das „is“ vermutlich von den Griechen angehängt wurde.)

Während Dave noch in solchen Vorstellungen schwelgte, waren weitere dazu gekommen, deren harte, bleiche Gesichter nicht gerade freundlich aussahen. Sie fielen auf durch ihr wirres, zerzaustes Haar. Lange Umhänge trugen sie, die ungepflegt aussahen. Beim Näherkommen sah man deutlich die großen, rotbraunen Flecken darauf, die wie getrocknetes Blut wirkten. Obendrein umgab sie auch noch ein abstoßender Geruch.

(Teotihuacan war doch bekannt als friedfertig,)

beschwichtigte Dave sich selbst.

(Keine Mauern wurden bei Ausgrabungen hier gefunden, keine Waffen. Der höchste Gott war kein finsterer, bedrohlicher wie bei den späteren Azteken. Es war der Regengott Tlaloc, auch Herr über Tlaloccin, das Paradies. König war der ebenso friedfertige wie fortschrittliche Quetzalcoatl, der später auch zum Gott wurde.)

Dave grübelte so vor sich hin.

(Es muss eine großartige Kultur gewesen sein, eine Zeit der Reifung, des Lernens und der Forschung.)

Sagte er sich noch, als er bereits vier von den stinkenden Männern, offenbar Priester, heran treten sah. Sie lösten die Anderen ab und drückten mit Macht jeder einen Arm oder einen Fuß von ihm nach unten. Gänzlich durchgebogen und bewegungsunfähig lag er jetzt stramm über den kalten Stein gespannt.

Wieso fiel es ihm gerade jetzt erst ein?

(In der Spätzeit, hatte doch der finstere Texcatlipoca den lichten Quetzalcoatl verdrängt. Dieser, ebenfalls später zum Gott gewordene, aber zu einem grausamen, religiösen Fanatiker, der die Menschenopfer einführte. Diese Opfer wurden stets auf die oberste Plattform einer Pyramide gebracht und auf einen abgerundeten Stein gelegt, der ihre Rippen etwas weiten sollte. Arme und Beine wurden von vier Priestern festgehalten. Ein Oberpriester schnitt sodann mit einem Obsidianmesser die Brust auf und riss das Herz heraus. Das wurde den Göttern oder der Sonne geopfert und der noch zuckende Leichnam vom Tempel herunter geworfen.

Quetzalcoatl musste fliehen. Wie es hieß, nach Tlapallan, dem Land der Morgenröte, jenseits des Meeres. Das Volk tröstete sich mit der Weissagung, er würde eines Tages wiederkommen, über das Meer und mit ihm wieder glücklichere Zeiten. Was für ein katastrophaler Irrtum, dass man ausgerechnet Cortez für ihn hielt! Nun ja, das alles ist Geschichte oder auch Mythologie. - Die Gegenwart ist da beruhigender, jedenfalls was diese Performance hier betrifft.)

Er wollte, seine Freunde und Kommilitonen aus LA könnten ihn hier sehen, lenkte er sich selber ab. Oder besser noch, einer von ihnen würde das alles mit seiner Videokamera aufnehmen. Das würde ihm doch sonst niemand glauben.

Ungeachtet aller Faszination beschlich ihn dennoch der Gedanke:

(Wer könnte solch eine Show veranlasst haben und zu welchem Zweck? Auch hätte ich gern gewusst, wie lange das noch dauert.)

Allmählich drang ihm nämlich die Kälte in die Knochen von dem harten Stein unter seinem Rücken. Selbst seine Hochstimmung, endlich auf den Spuren Castanedas zu wandeln, hatte erste Bedenkenrisse bekommen. Diese eisernen Griffe an seinen Gelenken von den Händen der im bleichen Mondlicht noch farbloser Wirkenden mit ihren ausgemergelten Gesichtern ließen bei ihm doch ein Gefühl der Hilflosigkeit aufkommen. Die Gewissheit des Ausgeliefertseins begann die noch so aufregenden Phantasien zu unterwandern. Nur den Kopf konnte er noch bewegen. Durch die rasch dahin ziehenden Wolken brach immer wieder Mondlicht hervor, beleuchtete die Seiten der großen Sonnenpyramide rechts gegenüber und ließ jetzt deren Schlangenköpfe erkennen.

Doch dieser Blick wurde abrupt versperrt durch eine neu hinzutretende, dunkle Gestalt, ähnlich den vier Ungepflegten, so penetrant riechenden. Nur die Augen waren noch starrer. Reicher Kopfschmuck aus Federn umgab das unbewegte Gesicht. Alle anderen sah David ehrfurchtsvoll zur Seite treten, außer denen, die seine Glieder weiterhin fest umklammert niederdrückten. Der Neue musste wohl so etwas wie der Oberpriester sein. Ganz nahe herangetreten, erhob er sich wie eine Statue direkt über Dave, die herrischen Gesichtszüge im bleichen Mondlicht erstarrt. Pathetisch begann er einen Text zu rezitieren, in einer Sprache die Dave noch nie gehört hatte. Ihm fiel nur die mehrfache Wiederholung ganzer Passagen auf.

(Ist es die magische Wirkung dieser Worte, die mich lähmt oder ist es die immer mehr in meinen Körper herein kriechende Kälte?)

Als die Rezitation geendet hatte, und Dave sich gerade fragte, was nun wohl noch kommen könnte, oder ob damit das mittlerweile doch recht willkommene Ende der Performance erreicht sei, riss der mit einer raschen Bewegung Daves Hemd auf. Sodann drückte er mit der linken Hand schwer auf seine Brust und erhob mit der Rechten ein Obsidianmesser.

Schlagartig brach für Dave die ganze Konstruktion abenteuerlicher Fantasien zusammen. Betäubende Erkenntnis überfiel ihn, die ganze Zeit einer Illusion aufgesessen zu sein. Unfassbar, was im Sekundenbruchteil das Bewusstsein überfliegen kann. Alle diese Bilder tauchten vor Dave auf, von den Tausenden Geschlachteter auf den Opfersteinen der Tempel. Wie ihnen die Brust mit dem Obsidianmesser aufgeschnitten wurde, das Herz herausgerissen, um es den Göttern zu darzubieten und die noch zuckenden Leichname die steile Pyramide hinunter gestoßen wurden.

Nur kurz sträubte er sich noch die Realität wahrzunehmen, bevor lähmendes Grauen ihn überwältigte.

„Neiiin!!!“

Konnte er gerade noch schreien, bevor ihm eine Hand den Mund zudrückte und alles schwarz wurde.

Wie flackernd schob sich eine vage Einblendung kurz in sein Bewusstsein. Er war wieder, oder noch immer in der Hütte. Aber nicht vor dem Tisch und dem Obsidianstein sitzend sondern auf der Matte am Boden liegend. Beißender Rauch umgab ihn dort. Viel zu groß und zu nah über ihm war dieses Gesicht, das einer steinernen Statue, einer sehr alten, gemeißelt in vorkolumbianischer Zeit. Es war auch das Gesicht Juans, und doch war es etwas ganz anderes.

Entschieden zu kurz und bruchstückhaft war diese Vision, um sich deutlich zu manifestieren, bevor ihn wieder die völlige Schwärze verschlang.

Das Erste was er sah, als er wieder zu sich kam und versuchte sich zu orientieren, war immer noch das bleiche Gesicht des Oberpriesters. Über ihn gebeugt starrten diese stechenden Augen ihn nach wie vor an. Nur schien der sich inzwischen umgezogen zu haben. Denn er trug jetzt ein langes schwarzes Gewand, ähnlich einem Talar. Das auffallende Federgebilde auf seinem Kopf musste er abgelegt haben. Auch die Anderen, soviel konnte Dave in dem wechselhaft beleuchteten, düsteren Ambiente feststellen, hatten ihre Jaguar- und Adlerkostüme abgelegt. Einige trugen dunkelbraune Kutten, die mit einem einfachen Strick um die Taille gerafft wurden. Die Restlichen hatten nur eine grobe Hose an übersäht mit dunklen Flecken. Darüber war der schwitzende, freie Oberkörper.

Ebenfalls die Umgebung, fiel ihm jetzt auf, hatte sich verändert. Weder die Sonnenpyramide rechts gegenüber war auszumachen, noch eine Mondpyramide, auf deren Spitze mit dem gewölbten Stein er gelegen hatte. Jetzt fühlte er eine gerade, hölzerne Platte unter seinem Rücken, wahrscheinlich eine Art Tisch oder Kasten. Auch die Kälte des harten Steins war gewichen. Dennoch war ihm übel und er zitterte am ganzen Körper. Als wüsste dieser mehr über das, was bevorstand.

(Ich muss lange bewusstlos gewesen sein, denn ich hab‘ gar nicht gemerkt, dass man mich irgendwohin getragen hat.)

Er lag hier nicht mehr unter freiem Himmel, keine Wolken waren mehr über ihm, zwischen denen gelegentlich ein fahler Mond hervorragte. Soweit das flackernde Licht der Fackeln es erlaubte, vermochte er die Wände eher erahnen als genau sehen. Bizarre Gegenstände konnte er darauf ausmachen, vermutlich eine Art ihm unbekannter Werkzeuge. Über sich gewahrte er eine gewölbte Decke. Die Schwärzungen darauf stammten wahrscheinlich vom Ruß der Fackeln. Alles was von denen beleuchtet wurde erschien grellrot und flackernd, der Rest verschwand im Dunkel. Nur dieser unangenehme, penetrante Geruch war noch immer da und bedrängte die Nase.

Auch wenn der Schock des ersten Augenblicks sich etwas gelöst hatte, das Grauen war unvermindert geblieben. Völlige Ungewissheit, wo er hier war, und was das alles zu bedeuten hätte, ließen ihn allein in hilflosem Entsetzen. Sein ziellos umherirrendes Bewusstsein suchte verzweifelt nach irgendeinem Haltepunkt.

„Du gibst also zu, diesem Teufelskult gedient zu haben?“

Fuhr ihn die schneidende Stimme des Oberpriesters an. Er trat erneut heran, und sein ausgemergeltes Gesicht beugte sich mit seinen unangenehmen Ausdünstungen aufdringlich über Dave. Auch die Anderen näherten sich in gespannter Erwartung des Kommenden.

„Ist es nicht so?“

Dave verstand überhaupt nichts mehr.

„Gestehe!“

Insistierte wieder der Oberpriester, so als könnten seine Worte sich in Dave hineinbohren.

„Wir werden ohnehin die Wahrheit aus dir herausholen.“

Erneut hatte Dave diese kurze Einblendung, in der er auf dem Boden der Hütte lag.

Über sich das steinerne, antike Gesicht mit den Zügen Juans. Viel zu kurz, wie ein Aufflackern der Fackeln erschien es.

Umgehend wurde diese Vision wieder verdrängt durch das vorherige, eindringlich fordernde Gesicht über ihm und die abschätzigen Mienen der Gaffer ringsherum.

Nur langsam dämmerte es Dave, was der überhaupt meinte.

„Nein, aber nein, ich sollte vielmehr geopfert werden!“