Die Sturmnacht - Marc Short - E-Book

Die Sturmnacht E-Book

Marc Short

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Beschreibung

Nicolas Brighton ist ein Mitglied der Mannschaft der STURMNACHT. Zumindest, bis ein Sturm dieses Schiff in die Tiefe reißt. Bevor er jedoch ertrinkt, rettet ihn Amphitrite, die Meerfrau des Poseidon. Denn sie sieht, was Nicolas Brighton wirklich ist: ein gefallener Stern. Doch der gefallene Stern ist in Gefahr. Nicht nur die Meerhexe, sondern auch der Klabauterkönig Kosalk versuchen seine Gunst zu bewahren, um eigene Interessen durchzusetzen. Wird sich Nicolas behaupten können? Und wird er Amphitrite wieder sehen, um mit ihr nach den Sternen zu greifen?

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Marc Short

Die Sturmnacht

Kuss der Sterne

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Robbys Wut

2. Der Klabautermann

3. Geheime Zauber

4. Die Verbannte

5. Gefährliche Jagd

6. Der Gezeitenschlund

7. Unerwartete Rückkehr

8. Delphurs Botschaft

9. Die Abtrünnigen

10. Im goldenen Palast

11. Alte Feinde

12. Das Sternschiff

Glossar & Übersicht

Impressum neobooks

1. Robbys Wut

Ein Kurzroman

Mehr als nur ein beunruhigender Blick der Mannschaft fiel in die dunklen Tiefen des Ozeans und mehr als nur ein Mannschaftsmitglied schlief mit einem laut knurrenden Magen ein.

Nicolas Brighton war so ein junger Bursche. Die Fahrt auf hoher See kostet ihn mehr als nur Kraft. Der Blick ins Wasser ließ sein Gesicht erbleichen. Das Essen ließ Nicolas Brighton oftmals stehen. Aus seiner Kabinentüre, über dem Waschbecken, traten dazu meist noch seltsame Geräusche zutage – wie bei einem Mann, den das Leben verlassen hatte und der seine letzten, röchelnden Atemzüge tat.

Nicolas Brighton – den viele auch Blueboy nannten – fuhr sich durch sein kurz geschorenes, braunes Haar. Der Wind strich darüber hinweg wie über weiße Berggipfel jenseits dieser Meere. Unruhe erfasste ihn. Er blickte über die Reling in die dunklen, im Mondlicht glänzenden Wassermassen. War da nicht etwas? Dort im Wasser - Bewegungen – die nicht sein durften? Die nicht sein konnten!

Außer dem blaugrauen Wasser geriet auch Nicolas Brighton immer mehr in Aufruhr. Blasen stiegen plötzlich auf, immer mehr, immer lautere. Die Wellen schlugen jetzt wie Rammböcke gegen die hölzerne Schiffswand. Hier draußen, gelehnt an die Reling, war die wahre Kraft des Meeres zu spüren. Gute alte Sturmnacht, dachte Nico, führe mich sicher durch diese unendlichen Weiten, dem Horizont entgegen und trotze den Gewalten auf ewig. Er spürte, wie sich seine Stirn bei der Frage, ob das klappen konnte, kräuselte und die Fingernägel krallten sich in das von der See feuchte Holz. Gedankenverloren murmelte er: »Oder wenigstens solange, bis ich von Board bin! Die Götter des Meeres mögen mir gnädig sein.«

Ein Krachen. Dann das Bersten von Glas. Ein lauter, immer wieder hallender Ruf: »Blueboy! Blueboy!« Seine Knie wurden zittrig, der Schweiß lief ihm kalt den Rücken hinunter und hinterließ dort, wo er gekrochen war, eine nie gekannte Kälte. Eisig wie die Nacht selbst schlich sie bis in den letzten Winkel seines Körpers.

Die Stimme, die ihn rief, war hart und rau. Gnadenlos. Nicolas Brighton sah den Mann, zudem sie gehörte vor sich, noch ehe er wirklich anwesend war: Robby, den Mann an der Maschine, der diesen Koloss steuerte und die gesamte Crew unter seiner Gewalt hatte.

Ein letzter Blick nach unten. Vor ihm, im Wasser ein riesiger Schatten – es fehlten lediglich bernsteinfarben blitzende Augen wie die eines Raubvogels. Da war es wieder! Dieses Aufleuchten. Aber auch der Ruf nach ihm: »Blueboy!«

Es half nichts, er musste sich hiervon ab und dem schwierigerem Fall zuwenden. Das Unbekannte hinter sich lassen und das Bekannte erdulden. Wissend, dass da mehr war, mehr als nur der Ozean und seine Tiefe. Und sicherlich auch mehr als nur ein großer Wal.

Wieder krachte es. Eine weitere Flasche ging zu Boden und dort zu Bruch. Erst jetzt begriff Nicolas, dass das Geräusch aus seiner Kabine kam. »Blueboy!« Die Stimme war jetzt wie ein Donnerschlag und er fühlte sich wie nach einem direkten Treffer. Nur das hölzerne Deck des Schiffs gab ihm halt, denn es hatte die Kraft und den Widerstand der Jahrhunderte. Auch Nico hatte diese, obwohl man in ihm einen Jungen von gerade einmal zwanzig Jahren sah. Noch, er hoffte auch weiterhin, dass dies so blieb. Aber das Ächzen in diesem Moment ließ die Hoffnung schwinden. »STURMNACHT, gib gut auf dich Acht! Und sei du es, die über mich wacht. Bei Tag und auch bei Nacht.« Damit wand er sich endgültig ab, um sein Schicksal anzunehmen – eine lange, endlose Nacht mit Tätigkeiten, die sonst niemand zu machen einsah.

Lautes Gebrüll – bei dem Nico vermeinte, das letzte Stück Hirn würde ihm aus dem Kopf geblasen, würde ihn durch die Nacht geleiten. »Es ist nur zu deinem Besten, Blueboy. Du musst noch viel lernen und Übung macht bekanntlich den Meister.«, würde es heißen, wenn er wagte zu widersprechen. Dann würde dieses Lachen folgen, das auch jetzt wieder Realität wurde. Robby, die Seele dieses Schiffs, wie er sich gern nannte, stand vor ihm. Der ewige Wächter der STURMNACHT.

Doch diesmal war etwas ganz und gar anders. Hinter ihm, in seinem Rücken manifestierte sich etwas viel, viel Schlimmeres als Robby. Und niemand, außer ihm, schien es zu bemerken.

Zu leben ist nicht immer einfach. Auch oder gerade, wenn man in Tiefen wohnte, die ein Mensch nie betreten konnte. Nicht lebend jedenfalls.

Von oben glitzernd und strahlend wie ein Diamant, darin schwimmend leicht und alles umgebend, darin tauchend – unendlich weit und Sehnsüchte erfüllend. Ja, so war es, das Wasser. Aber darin zu leben bedeutet viel mehr und stellte alles in ein anderes Licht. In ein für sie dunkles Licht.

Amphitrite saß auf einem Felsvorsprung in mehreren tausend Metern Tiefe. Unter ihr öffnete sich eine ozeanische Schlucht wie ein Gewaltiger, alles zermalmender Kiefer. Amphitrites azurblaues, wie Lasurit schimmerndes Haar, wallte in der immerwährenden Strömung wie ein Vorhang aus Tang, wie hunderte aneinander gereihte Fäden bester Qualität – kostbar und rar jedes Einzelne von ihnen und geschaffen durch die Natur. Ihre Fußflosse schwang immer wieder wie der Kopf eines in Gedanken versunkenen Menschen. Die beiden Hände, deren Fingerspitzen in weichen Nägeln endeten, die auf Befehl zu scharfen Krallen werden konnten, hatte sie vor ihr Gesicht geschlagen. Die Meerfrau barg darin tiefgrüne, runde Augen, leuchtend wie eine Quelle. Einnehmend konnten sie sein. Ja, sehr einnehmend. Und besitzergreifend.

Vor nicht allzu langer Zeit war die Meerfrau vor dem Gott der Ozeane geflohen. Amphitrite schüttelte den Kopf. Wie bei den Menschen, so auch bei uns, dachte sie. Und als sie daraufhin an Poseidon dachte, musste sie ebenso an Atlas denken. Ja, mit dem männlichen Geschlecht war es nicht immer einfach, weder hier unten, noch dort oben. Denn auch hier, im immerwährenden Nass trachteten die Götter und Gottähnlichen danach, sich das Weibliche einzuverleiben. Es ganz und gar zu besitzen. Eine Art die Dinge zu sehen und zu behandeln, die ihr nicht wohlgesinnt war. Jedenfalls nicht so. Aber was konnte, was sollte sie tun? Zu Göttern beten? Ein verzweifeltes Gurgeln drang aus ihrer Kehle, Luftblasen stiegen dabei auf. Musste sie zu ihm zurück? Um ihn nicht zu erzürnen? Oder konnte, ja sollte sie kämpfen?

Amphitrite besah ihre Hände mit den langen Nägeln. Soll ich sie zu Speerspitzen erstarren lassen und damit wie eine Furie herumwirbeln?, überlegte sie. Die Meerfrau schüttelte das Haupt im nächsten Moment so stark, dass die Ausläufe ihres Haars einer Peitsche ähnlich umher schwangen.

Sie hatte keine Wahl. Nicht sie. Und auch kein anderer. Weder gottähnlicher Seefahrer, noch Mensch, noch eine unsterbliche Seele. Nicht gegen die Gewalt der Götter. Und doch war in ihr ein Teil, der das so nicht akzeptieren wollte. Ein leiser, kleiner Kern der Rebellion. Entschlossen erhob sie sich auf ihre Schwanzflosse. Und wenn es mein letztes Aufbäumen wird! Ohne Kampf werde ich nicht zu haben sein, sprach Amphitrite stumm zu sich. Auch Götter müssen sich beweisen. Schade nur, dass die meisten es taten, indem sie andere in den Untergang rissen. Poseidon insbesondere, indem er die Meere aufwühlte und den Ozean in einen brodelnden Kessel verwandelte.

Nein, wer sie haben wollte, musste sie verzaubern.

Entschlossen straffte sich ihr Körper. Dann verdrehte sie sich und formte eine in sich bizarre Struktur. Kurze Bewegungen ihres Flossenfußes und ausgleichende, richtungweisende Bewegungen ihrer Arme.

Verzeih mir Atlas. Und danke für deinen Hort der Stille. Einst werde ich zurückkehren und dir meinen Dank zollen, dachte sie, einen letzten Blick auf die maskuline, stattliche Statue werfend, die auf ihren Schultern eine Kugel trug. Und dann war sie fort – auf und davon.

2. Der Klabautermann

Die STURMNACHT schaukelte dahin wie ein einsamer Riese im aufkeimenden Taifun. Der Kurs, den sie verfolgte, war Nicolas unbekannt. Auch, ob sie auf dem richtigen Weg waren. Für Nicolas Brighton zählte gerade etwas ganz anderes: sein weiterer Verlauf des Lebens auf dem Schiff. Denn das Scheppern und daraufhin folgende Brüllen war kein gutes Zeichen. Bei den Göttern des Meeres, was ist hier los?, fragte er sich, die Knie weich wie Pudding, die Arme schwer wie Eisblöcke. Sein eigener Körper zog ihn nach unten und am liebsten würde er im Deck versinken.

»Nicolas Brighton! Ich sage es ein letztes Mal: Komm endlich hervor und lass diesen Unfug! Sprechen wir von Mann zu Mann. Jetzt. Und klären das endgültig.«

Nico schluckte. Endgültig klären, hallte es in ihm nach. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Nur weiteres, endgültiges Übel. Und seine Verdammung. Er sah sich bereits den Gewalten des Meeres übergeben, als Spielball der Mächte des Wassers. Er würde ein gefundenes, wehrloses Fressen abgeben. Aber was sollte er, was konnte er dagegen tun? Nur eines: Sich stellen und nicht zulassen, dass er unterging. Schwer atmend und mit taumelnden Schritten machte sich Nicolas Brighton zu seiner Kajüte auf.

Das ist Schicksal. Und jetzt geht es um mein Schicksal. Mit diesem Gedanken kam Nico an.

»Du …« – die brummige Stimme unterbrach sich. »Aber du müsstest in der Kabine sein!«, sagte der Koloss von Mann mit gefährlich funkelnden Augen, die Stirn in tiefe Falten gezogen. Sein Missverständnis war ihm deutlich anzusehen. Der alte Mann schien zu überlegen. »Du wagst es, mich auf den Arm zu nehmen!«

Nicolas schüttelte nur den Kopf.

»Blueboy, ich will dir mal etwas sagen: Denkst du, du könntest hier so einfach« - Der Kapitän unterbrach sich selbst. Lauschte. Auch Nicolas. Ich habe es geahnt, dachte er. Die weitaus größere Gefahr lauert da unten. Direkt unter uns. Und keiner sieht sie.

Ein Knacken wie bei morschem Holz war wiederholt zu hören. Der Kapitän schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen. »Du kannst hier nicht einfach auf den Putz hauen. Die Kabine abschließen und darin wie ein Berserker wüten! Das ist nicht dein Eigentum.«

Stille.

»Ich hoffe, du bereust es schon. Zugegeben, die Flucht durchs Fenster – oder wie auch immer – war geschickt und« - wieder wurde der Kapitän unterbrochen. »Was zum Teufel…« - weiter kam der Mann diesmal nicht, denn sein massiger Körper wurde herumgerissen, ohne dass man sah, woher der Schlag wirklich kam. Aber jeder hier an Board musste ihn fühlen. Nicolas hatte zum Glück längst an einem mächtigen Balken des Schiffes Halt gesucht. »Was zum…« - hörte Nicolas den Kapitän wieder fluchen. Dann knallte es wie bei einem Schuss. Ein Krachen folgte. Schritte, die Schritte der Mannschaft. Nico zog ein Kreuz vor seiner Brust. Im nächsten Moment sah er wie Robby, der Kapitän, endgültig zu Fall ging. Ein Lächeln wollte sich auf sein Gesicht stehlen und gelang dennoch nicht. Die aufkeimende Genugtuung schwang in ein mulmiges Gefühl über und Nico warf einen scheuen Blick hinter sich über die Reling. Nein, er wollte nicht in die brodelnde Tiefe blicken. Wusste aber, dass es von dort kam. Aber was war dann das in seiner Kabine?

Deutlich sah er vor seinen Augen das Bild, das sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte: ein Männchen, klein und korpulent, in Matrosenkleidung – aussehend wie ein alter Seebär. Nur in Miniaturausgabe. Geschrumpft auf vielleicht dreißig Zentimeter. Also kaum auszumachen. Und doch hatte er es gesehen. Tausende von Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und immer wieder dieses eine Bild: das Bild eines alten Seemanns mit blutrotem langem, lockigem Haar. Die Haut alt und von Bartstoppeln übersät. Und vor allem dieses Grinsen mit den grün stechenden Augen, die ihn angesehen hatten als wollen sie ihn verschlingen. Ein Klabautermann, dachte Nico mit Erschrecken. Eine Legende.

Da erklang die Stimme des Kapitäns erneut. Er musste sich wieder gefasst haben. »Segel setzen! Alle Mann auf ihre Posten. Nehmt gefälligst eure Plätze ein. Wir verlassen diesen Ort und segeln noch jetzt zum Treffpunkt Nord! Der Teufel soll uns holen, sollte das nicht gelingen. Und wehe es wagt einer, sich zu drücken!«

Die Gewalten der Meere waren unfassbar, ja unberechenbar. Nicolas hatte mehr als nur das begriffen. Doch auf diesem Schiff gab es kein Entrinnen. Ein Schiff, eine Mannschaft. Sie saßen alle im selben Boot. In der STURMNACHT.

Mauerhoch türmten sich die Wellen jetzt auf und schlugen über Board. Drangen auf den Rumpf und die Mannschaft ein, wirbelten sie umher wie Spielfiguren. Nico kam sich wie ein Zuschauer vor, der sein eigenes Schicksal mit ansehen durfte.

Poseidon, dachte sie wie sooft die Tage und sah in der klaren Nacht zu den Sternen. Amphitrite hielt sich im oberen Drittel des Wassers auf und träumte von einem freien Wesen, das sie auf ungewöhnliche Weise verzauberte. Doch immer wieder blitzte der Name ihres jetzigen Herrschers auf. Plötzlich wurde die Meerfrau von außergewöhnlichen Strömungen eingefangen. Der unbekannte Sog erfasste ihren Unterleib und zog an der Fußflosse. Amphitrite brachte all die Kraft, die in ihr steckte auf, um nicht ins Trudeln zu kommen. Ihre Nägel verhärteten sich und gerade so gelang es ihr noch, sich nicht zu überschlagen. Der Meerfrau dämmerte, wohin der Sog sie führen würde. Es gab nur einen Ausweg: Die obere Region aufsuchen und nahe der Oberfläche bleiben. Dies stellte allerdings auch eine hohe Gefahr für sie dar. Zu leicht konnte sie in ein Fangnetz geraten oder gesehen werden. Und dann gab es nur eine Möglichkeit: Den Beobachter verzaubern und in die Tiefen reißen. Sich in eine Sirene zu verwandeln. Aber das war nicht in ihrem Sinne. Die Meerfrau fühlte sich wie zwischen den Strömungen zerrieben und schoss dabei wie ein Pfeil steil aufwärts. Dabei drehte sie sich um die eigene Achse, erzeugte so einen weißen Wirbel um sich, begleitet von schäumenden Blasen. Die Oberfläche spürte sie bald, wogte immer stärker. Die Stürme des Poseidons werden entfacht! Bei den Meeren, lass nur keine Schiffe hier sein. Sie wären dem Untergang geweiht.

Das unangenehme Ziehen in der Brust wurde stärker, wenn sie daran dachte, weswegen die Stürme aufzogen. Nur wegen ihr; weil die Meerfrau nicht wollte, wie sie sollte – nach Meinung des Göttlichen.

Das Meer war zum Kessel geworden. Meterhohe Wellen brachen sich an der Grenze zwischen Wasser und Luft. Und sie hatten ein Opfer gefunden: ein weiteres Schiff für die Sammlung. Genug um zu spielen und sie zu quälen.

Amphitrite durchstieß die Oberfläche. Freiheit, sprach es in ihr, als sie die kühle Luft auf ihrer Haut fühlte. Doch dann sah sie in den Gewalten dieses Elements, das taumelnde Schiff, das kämpfte wie ein Fisch an Land. Aussichtslos und auf verlorenem Posten. Der Mast war längst eingeknickt.

Sie sah mehrere Mitglieder der Mannschaft in den wogenden Massen um ihr Leben zappeln. Die Frontseite hob sich immer mehr nach oben, würde bald wie eine Speerspitze zu den Sternen zeigen. Riesige Balken brachen, das Holz splitterte und Teile davon schlugen links und rechts von ihr ins Nass. In all diesem Chaos leuchtete etwas, leuchtete jemand wie ein herabfallender Stern. Die Meerfrau konnte solche Wesen erspüren. Doch wie die Anderen würde auch er nicht überleben. Amphitrite traf in diesem Moment eine Entscheidung.

Mit entschlossenen Flossenschlägen glitt sie durch die See auf den gefallenen Stern zu. Es handelte sich um einen jungen Mann mit mandelbraunen Augen. Braun wie die Erde, ruhig wie das Land. Darin spiegelte sich Traurigkeit, gemischt mit Erkenntnis. Die Meerfrau sprang jetzt wie ein Delfin über das Wasser. Kurz vor ihm stoppte sie und drückte mit den Nägeln ihrer rechten Flossenhand auf seine Stirn. Der Mann sagte nichts. Blieb still, ruhig wie die Erde. Nur sein schwerer Atem war zu hören. Wie das Brodeln eines Schwefelvulkans. Amphitrite zögerte. Sie roch das Blut, das aus mehreren Wunden seines Körpers kam und schmeckte es mit den Poren ihrer Schuppenhaut. Nur kurz schloss sie die Augen, genoss die eigene Marke des Mannes. Es geht um mehr als das Schicksal eines Einzigen, dachte die Meerfrau. Letztlich ging es um ihr Eigenes, und damit um ihre Zukunft. Ihre Flossenhand umschloss den Kopf des Ertrinkenden, umfasste ihn ganz fest. Sie sah in seine Augen und näherte ihre Lippen, bis sie die kalte Haut der seinen fühlte, den Geschmack von Honig und Wald schmeckte. Doch noch bevor sie den Kuss in all ihrer Form fühlen und ausfüllen konnte, zog sie sich zurück und war fort von ihm.

Mit einer Geschwindigkeit, die sie selbst nicht erahnen konnte, machte sie sich auf und davon. Wieder einmal. Doch diesmal hatte sie ein klares Ziel vor Augen. Eines, das ihr entsprach. Und sie tat, was sie noch nie getan hatte: Sie bat eine ihrer Schwestern um Hilfe.

Zurück auf dem Grund der Tiefe traf sie Poseidon kurz vor seinem Herrschersitz. Er lächelte siegessicher. »Unser Palast wird jetzt durch das Portal ziehen. Egal was geschah, du wirst ihn niemals wieder lebend sehen.«

Amphitrite schwamm auf den Meeresgott zu, umtanzte ihn – umwarb ihn und hoffte tief in ihrem Inneren – mit dem Herzen, dass Poseidon nicht weiter darüber nachdachte, was er gesehen hatte. Wenigstens für wenige Stunden.

Denn was niemand wissen konnte: Der Kuss war ein Kuss der Unsterblichkeit gewesen. Er brachte diesem Menschen ewiges Leben. Und das gab der Meerfrau Kraft. Denn jetzt hatte sie alle Zeit der Welt, um ihr Schicksal eines fernen Tages zu ändern. Und während ihre Lippen sich kräuselten, und die von Poseidon im nächsten Wimpernschlag umschlangen, dachte Amphitrite: Viel Glück, gefallener Stern. Ich hoffe, du steigst wieder auf. Und dass dir die Fähigkeit zu erkennen und zu verstehen weiter erhalten bleibt. Dann wirst du eines Tages verstehen, wer dich noch immer liebt, obwohl sie nicht bei dir sein kann. Außer es führt eines Tages ein Weg durch das Portal, zurück zu dir.

3. Geheime Zauber

Amphitrite lag auf einem Stein und starrte wie gebannt auf die gegenüberliegende Seite. Dort ruhte ein in die Wand eingefasster Schrank, dessen Frontseite aus Kristallglas bestand. Poseidon schwamm davor auf und ab, wobei seine Finger sanft über die Scheibe strichen, so wie sie manchmal auch über ihre Haut fuhren.

»All die Schiffe«, sagte er, »die durch mich sanken, deren Mannschaften ertranken, deren Körper du und andere holten, sind hier.«

Die Meerfrau spürte wie ihre innere Unruhe wuchs, ihre Fußflosse wand sich und schillernde Blasen entstanden. Mit einem Ruck wand sie sich in eine sitzende Position.

»Was wir nicht bergen, holt sich der Ozean, denn er ist dunkel und gierig und er ist weit. Kraken in der Tiefe, Haie aus dem Nichts und Seeschlangen im Schatten der Korallen sind nur einige, die sich um Schiffe und Mannschaften kümmern. - Ich bin froh, dass die STURMNACHT unsere Sammlung ergänzt, eine Sammlung dir zu Ehren, meine Liebe!«

»Niemand von der Mannschaft konnten gerettet werden, der Ozean hat sie alle verschlungen und du das Schiff als Trophäe genommen. Warum nur erinnerst du mich immer wieder daran?«