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Gefühlvoll erzählt Daudet die Geschichte einer vom Schicksal getroffenen Familie. Während der kleine Bruder, ein Gymnasiast, die wahre Stütze der Familie wird, nimmt der gehätschelte Ältere Reißaus vor Verantwortung und Pflichten, schreckt zurück vor Familie und all dem Ernst des Lebens.
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Seitenzahl: 526
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Die Stütze der Familie
Alphonse Daudet
Inhalt:
Alphonse Daudet – Biografie und Bibliografie
Die Stütze der Familie
Die Jugend Raimund Eudelines
Zur Wunderlampe
Nach dem Ball
Ein galantes Abenteuer
Anonyme Briefe
Der Einzug
Die Tagfrau und die Nachtfrau
Memoiren eines Geheimagenten
Ein Ehrenhandel
Die Regierungskreise
Zwischen Paris und London
"Eine französische Familie"
Der fünfte Pfeil
Ein Held
Ein Schwächling
Die Stütze der Familie, Alphonse Daudet
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849652913
www.jazzybee-verlag.de
Franz. Schriftsteller, geb. 13. Mai 1840 in Nimes, gest. 16. Dez. 1897 in Paris, machte während der ersten Jahre seines Pariser Aufenthalts eine herbe Lehrzeit durch, bis der Herzog von Morny ihm als Privatsekretär ein sicheres Brot und die Mittel zu Studienreisen gab. Nach poetischen und dramatischen Versuchen erzielte der junge Schriftsteller seinen ersten durchschlagenden Erfolg mit dem selbstbiographischen Roman »Le petit Chose, histoire d'un enfant« (1868; deutsch u. d. T.: »Der kleine Dingsda«, Berl. 1877). Dann machten die »Lettres de mon moulin« (1869) und namentlich der meisterhafte komisch-satirische Roman »Les aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon« (1872) den Namen A. Daudets immer bekannter, bis er mit dem Roman »Fromont jeune et Risler aîné« (1874; deutsch, Berl. 1876), der über 60 Auflagen erlebte, in die Reihe der gelesensten Schriftsteller Europas vorrückte. Bald lösten nun die Erfolge einander ab mit ».Jack« (1876), »Le Nabab« (1877), »Les rois en exil« (1879), »Numa Roumestan« (1882), »L'Évangéliste« (1883), »Sapho« (1884), »Tartarin sur les Alpes« (1886), »L'Immortel«, eine Satire auf die französische Akademie (1888), »Port Tarascon, dernières aventures de l'illustre Tartarin« (1890), »Rose et Ninette« (1892), »La petite paroisse« (1895) und »Soutien de famille« (1898). Die meisten dieser Werke sind fast gleichzeitig mit dem Original in deutschen Übersetzungen erschienen. D. huldigt der realistischen Richtung, weiß aber dabei seinem Gegenstand immer eine intime, gemütvolle Seite abzugewinnen. Er wird daher oft der Nachahmung Dickens' geziehen; allein er hat vor diesem die künstlerische Gestaltung wie eine bestrickende Virtuosität der Sprache voraus. Seine Erinnerungen hat er niedergelegt in »Trente aus de Paris (A travers ma vie et mes livres)«, »Souvenirs d'un hommes de lettres« (1888) und »Notes sur la vie« (1899). Von den Theaterstücken Daudets sind zu nennen: »L'Arlésienne« (1872, mit musikalischen Einlagen von Bizet), dann die Bearbeitungen seiner Romane: »Fromont«, »Jack«, »Les rois en exil«, »Sapho«, »Numa Roumestan«, sowie die selbständigen Arbeiten: »La lutte pour la vie« (1889), »L'Obstacle« (1890), »La Menteuse« (1892, nach einer Erzählung der »Femmes d'artistes«). Eine auf 18 Bände berechnete illustrierte Ausgabe seiner »Œuvres complètes« begann 1899 in Paris zu erscheinen. Vgl. Gerstmann, A. D., sein Leben und seine Werke (Berl. 1883, 2 Bde.); Léon A. Daudet, Alphonse D. (Par. 1898); B. Diederich, Alphonse D., sein Leben und seine Werke (Berl. 1900). – Seine Gattin Julia, geborne Allard, geb. 1847 in Paris, früher Mitarbeiterin verschiedener Zeitschriften, veröffentlichte »Impressions de nature et d'art« (gesammelte Aufsätze, 1879), »L'enfance d'une Parisienne« (1883), »Fragments d'un livre inédit« (1885), »Enfants et mères« (1889) und »Journées de Femme« (1898), von seiner Beobachtung zeugende Skizzen, deren Stil etwas geziert ist.
Ein majestätischer Saaldiener, der eine Lampe trug, ging vorüber. Victor Eudeline hustete, um sich einen Ton zu geben, und bat, den Herrn Vorsteher gefälligst an ihn erinnern zu wollen. Der Mann machte, ohne sich umzudrehen, ein bejahendes Zeichen und verschwand im Dunkel einer Doppeltür.
Der Bittsteller wartete, auf einer mit Moleskin belegten Holzkiste sitzend, seit einer Stunde in dem langen Vorzimmer des Pariser Gymnasiums mit dem gebleichten Fußboden und den mit einer ungeheuern glasierten geologischen Karte bedeckten Wänden. Der Tag, ein Spätfrühlingstag, ging zur Neige, und durch die Vorzimmerfenster sah Eudeline, wie sich auf allen Stockwerken des Hofes hohe, rechteckige Gaslaternen der Reihe nach entzündeten. Dieser dunkelnde Hof überströmte für ihn von triumphierenden Erinnerungen. Hier hatten Raimund und Antonin, seine beiden Knaben, die Ersten der Klasse im Gymnasium Charlemagne, ihm drei Jahre hintereinander – auch noch im vorigen Sommer – die Freude bereitet, den so bescheidenen Namen Eudeline, den Namen eines durch Glück und Energie zum Meister vorgerückten Tischlergesellen, unter Zujauchzen und Fanfarenklang nennen zu hören. Oh, die Aufregung in diesem Hof, der mit Kindern und festlich gekleideten Eltern gefüllt war, in dem es von Hermelinpelzen und verbrämten Röcken wimmelte! Und sein Zug durch die Menge, zwischen den mit Kränzen und Erfolgen beladenen Söhnen, das ehrenvolle Gemurmel, das sich um sie und ihren armen, in einem funkelnagelneuen Überrock vor Stolz und Gesundheit strotzenden Papa mit dem rotgelben Bart erhob – den Papa Eudeline, Nachfolger von Guillaume Aillaume, einem der größten Fabrikanten des Faubourg du Temple! Und dann das Glück, gleich nach der Preisverteilung mit den Kindern in einen Wagen zu springen – in einen offenen Wagen, in dem das Gold der Bucheinbände und Kränze flimmerte –, durch ganz Paris zu fahren, sich auf allen Boulevards zu zeigen, indem sie zuerst ihren Freund Pierre Izoard im Palais Bourbon und von dort Fräulein Javel, die Hausbesitzerin, in ihrem Palais auf den Champs-Elysées besuchten!
"Der Herr Vorsteher läßt bitten."
Bei diesem, in trotzigem Tone ergangenen Ruf fuhr Eudeline jäh aus seinem Traum und trat in die Schreibstube, in der ein alter, ganz in Grau gekleideter Herr, mit einer Samtmütze auf dem Ohr, einen Brief zu Ende schrieb.
"Herr Eudeline," hob er mit zerstreuter Stimme an, ohne den vor ihm stehenden gutmütigen Riesen auch nur anzusehen, "ich hoffe, daß Sie erschienen sind, um nun endlich mit der Administration ins reine zu kommen."
"Leider nein, Herr Vorsteher – ich komme im Gegenteil, um Sie zu bitten – dringend zu bitten –"
Der von diesem unerwarteten Empfang außer Fassung gebrachte arme Teufel stammelte, verschluckte sich, und seine Wangen wurden durch das aufsteigende Blut lila gefärbt.
"Verzeihen Sie," murmelte er endlich, indem er einen allzu neuen, riesigen Zylinder, der ihm fast ebenso peinlich war wie das, was er zu sagen hatte, auf den Tisch niederlegte. "Sie kennen mich kaum, Herr Vorsteher, und auch das nur durch meine Kinder. Ich möchte, ehe ich Ihnen meine Bitte vortrage, erzählen, wer ich bin und wer meine Bürgen sind –"
Der Beamte wollte gegen eine zu lange Geschichte Verwahrung erheben, aber das Wort "Bürgen" ließ ihn auf der Hut sein. In dieser demagogischen Zeit haben manchmal ganz kleine Leute ganz hohe Beschützer. Er vernahm also mit Ergebung, daß Victor Eudeline, der alles nur durch sich selbst geworden war, in der Rue de l'Orillon, zwischen den Hobelspänen eines Tischlerladens, das Licht der Welt erblickte. Nach zwei oder drei Jahren Elementarschule kam er zu Guillaume Aillaume in die Lehre und blieb bei ihm. Der Chef hinterließ ihm, nachdem er ihm seine Tochter zur Frau gegeben hatte, auch sein Geschäft, das aber leider in der Hand Eudelines nicht so gedeihen wollte wie in der seinen.
"Und doch, das sehen Sie selbst, Herr Vorsteher, mache ich einen anständigen Eindruck und habe nichts an mir, was die Kundschaft abstoßen könnte. Ich schreie gern, ja, ich schreie, bin jähzornig, das Blut schießt mir gleich in den Kopf; aber Böses habe ich noch niemand getan, wer es auch immer sei ... Nun wahrhaftig, eine Schwäche habe ich, die mir schaden mußte: ich liebe das Bauen gar zu sehr. Was ich schon für Werkstätten, Phalanstères, Arbeiterhäuser und so weiter ausgegeben habe –"
Die gereizte Gebärde, mit welcher der Vorsteher seine Troddelmütze zurechtrückte, ließ ihn innehalten; aber als jener ihm winkte, fortzufahren, sprach Victor Eudeline mit Feuer weiter.
"Trotz alledem würde ich mich aus der Patsche gezogen haben, da treffliche Freunde, sehr mächtige Persönlichkeiten mich unterstützten: Pierre Izoard, Unterchef der Kammerstenographen, ein sehr einflußreicher Mann, der mit einer liebenswürdigen, leider auf der Brust recht schwachen Nizzaerin verheiratet ist. Aber Herr Vorsteher müssen meinen Freund Izoard ja kennen... er war früher Universitätsprofessor, hat Anno zweiundfünfzig seine Demission gegeben –"
"Ich kenne ihn nicht," entgegnete jener trocken.
"Meine hohe Gönnerin war auch meine Hausbesitzerin, Fräulein Javel –"
"Eine Verwandte des Deputierten?"
"Jawohl – des Unterstaatssekretärs im Ministerium des Innern –, sie war seine Tante. Ach, Herr Vorsteher, dieses edle Wesen war ebenso reich als großmütig. Als sie sah, welche Mühe ich mir gab, um meine Kinder zu erziehen und meinen Arbeitern etwas zu helfen, da gewann sie mich und meine Frau lieb. Die rückständigen Mietzinse zählten gar nicht mehr bei ihr. Unser Vertrag ging zu Ende – sie erneuerte ihn für fünfzehn Jahre, ohne uns um einen Sou zu steigern. Sogar meine unmäßige Baulust ermutigte sie, indem sie mir umsonst das Recht verlieh, in meinem Hof eine große Werkstätte zu bauen, die ich vermieten durfte und die mir beinahe meinen Zins eingetragen hätte. Als das Gebäude fertig und zum Vermieten angezeigt war, wäre ich bald aus der Patsche heraus gewesen: mit einemmal stirbt Fräulein Javel an einem Embolid – nein, so ist's nicht richtig – ich bitte um Entschuldigung, die fremden Worte sind nicht meine Stärke – und ich habe es nun mit ihrem Neffen und einzigen Erben, besser gesagt mit seinem Advokaten, Herrn Petit-Sagnier, Anwalt beim Appellgericht, zu tun, der mich wie einen Banditen, einen Ausbeuter alter Frauen behandelt und mich in aller Form benachrichtigt hat, daß bei dem ersten Zinsrückstand Herr Marc Javel wieder in den Besitz des Mietvertrages sowie des Gebäudes treten würde, das ich dem lieben Fräulein durch meine Schwindeleien erpreßt hätte."
"Herr Petit-Sagnier vertrat das Interesse seines Klienten – ich vermag ihn deswegen nicht zu tadeln," schnaubte der Oberadministrator, dessen Gesicht seit einem Augenblick einen härteren Ausdruck angenommen hatte.
Eudeline, der plötzlich sehr blaß wurde – es war die rötliche Blässe der Sanguiniker mit breiten Wangenflächen –, hielt an sich, um nicht zu schreien, sich nicht zu etwas Heftigem hinreißen zu lassen. Er preßte den Rand des Schreibtisches mit seinen haarigen, kurzen Fingern zusammen und fuhr sehr gelassen fort:
"Sie können sich wohl denken, Herr Vorsteher, daß ich mich anstrengte, den Zins nicht mehr im Rückstand zu lassen ... Ich habe dafür die letzten Schmucksachen meiner Frau geopfert, die sie für unsre Kleine aufhob – ihre Brillanten, ihren Kaschmirschal – ich versetzte sogar –"
Das gräßliche Geständnis, das er diesem Manne machen wollte, erschreckte ihn, und er verbesserte sich:
"Ich entzog sogar meinen Kindern die Erziehung, auf die ich so stolz war, nachdem ich selbst keine erhalten hatte ... Ach, Herr Vorsteher, ich, der als ganz kleiner Junge neidisch vor dem Gitter des Charlemagne stehen blieb, um die Kinder der Reichen zu betrachten, die hineingingen, um zu lernen, ich, der durch seine Unwissenheit so viel gelitten hat und dessen Stolz es war, sich sagen zu können: meine Jungen werden Gelehrte sein, meine Jungen werden Lateinisch können ... Stellen Sie sich meine Verzweiflung vor, als es so weit kam, daß ich sie monatelang zu Hause halten mußte, um das Schulgeld für den Zins verwenden zu können! – Ich weinte, ich weinte mit der Mutter zusammen, wenn ich sie in Hausschuhen von einem Zimmer ins andre schlurfen sah – und insbesondere der Gedanke, das so viele Opfer zu nichts dienten, daß man uns trotzdem versteigern würde – und so ist es gekommen – wir sollen versteigert werden –"
Schluchzen erstickte ihn. Eine Bewegung des Vorstehers gab ihm die Kraft, es tief in sich hineinzudrücken.
"Oh, seien Sie ruhig, Herr, ich komme nicht, um mir von Ihnen Geld auszuborgen, sondern bloß, um eine Gnade zu erbitten. Jetzt werden bald die Preisarbeiten gemacht werden: lassen Sie meine Kinder an den Prüfungstagen ins Gymnasium kommen. Beide sind überzeugt, daß ein jeder von ihnen in seiner Klasse bei Schulschluß einen Stipendienplatz bekommen wird. Entziehen Sie ihnen das nicht – entziehen Sie es vor allem nicht mir; denn das ist die einzige Freude, die ich noch habe."
"Unmöglich, Herr, das geschieht nie – die jungen Leute können in die Klasse nur wieder eintreten, wenn Sie das rückständige Trimester bezahlen."
Eudeline, mit beiden Händen an den Schreibtisch wie an seine Idee festgeklammert, drängte und flehte ... Der ältere, wenigstens nur der ältere ... der war in der dritten, in dem Jahr, wo der große Konkurs stattfand ... wenn er zugleich mit seinen Kameraden ...
Der Vorsteher erhob sich jäh.
"Die Administration erhebt dagegen Einspruch." Gleichzeitig legte er den Finger auf den Knopf einer neben ihm herabhängenden elektrischen Klingel. Ohne den Eintritt des Saaldieners abzuwarten, verbeugte sich Eudeline und ging.
Vorhin, als er die breite steinerne Treppe, auf der das Gas angezündet wurde, hinangestiegen war, hatte er noch eine Hoffnung, das Vertrauen zu den Herren vom Gymnasium, seine abgöttische Ehrfurcht vor denen, die Latein konnten, im Herzen getragen. Er erwartete keine wirkliche Hilfe, aber freundliche Worte, tröstliche Zitate aus den alten Schriftstellern; und wenn auch sein Stolz seit Monaten vor diesem Schritt zurückgeschreckt war, so hatte er ihn doch in der vollständigen Gewißheit auf Erfolg getan: der Gedanke, daß Raimund den Konkurs mitmachen und der Name Eudeline zum erstenmal unter der Halle der Sorbonne ertönen werde, schirmte ihn gegen all sein Unglück. Jetzt, nachdem diese Hoffnung zusammengebrochen, war alles zu Ende. Unter all den Katastrophen sah er nur diese einzige. Woher das Geld für die zwei rückständigen Trimester nehmen?
Als er das Gitter des Gymnasiums Charlemagne durchschritt, fuhr ihm ein Name durch den Kopf – Izoard, der Beamte des Palais Bourbon, dem man nicht zu sagen gewagt hatte, daß die Kinder seit drei Monaten nicht mehr ins Gymnasium gingen ... Aber wie viele Hindernisse erhoben sich alsogleich! Izoard, der seine Frau nach Nizza gebracht hatte, war vielleicht noch nicht zurückgekehrt, und dann – man war ihm schon so viel schuldig: die letzten vierzehntägigen Löhnungen, die zehntausend Franken für den Bau. – Nein, nein, er mußte etwas andres finden. Aber was? An welche Tür sollte er klopfen?
Plötzlich merkte er an dem kühlen, feinen Regen, der sein Haar, seine heißen Schläfen näßte, daß er seinen Hut noch immer in der Hand hielt. In was für einen Zustand war er durch den Besuch geraten! Ach, dieser alte Robert Macaire in der Hausmeistermütze ahnte nicht, daß sein Tisch, sein ungeheures Tintenfaß, sein ganzer Haufen von Pappschachteln und Papierzeug einen Augenblick nahe daran gewesen war, in die Luft zu fliegen, und er damit zusammen!
Eudeline fühlte, wie ihm von diesem verhaltenen Zorn die Hände noch schlaff, die Beine über den Knien wie abgesägt waren. Er schritt so schief über das spiegelnde und kotige Pflaster wie damals, als er sich zum einzigenmal in seinem Leben berauscht hatte. Das war bei dem Bankett der Handlungsreisenden gewesen, wo just Marc Javel den Vorsitz geführt hatte. Hatte der aber diesen Abend einen guten Atem, der Deputierte von Indre-et-Loire! Wie schwoll die weiße Weste und die Brustplatte des schönen, großen Mannes von den tönenden Perioden, die er ihnen mit tränenreicher Stimme und zuckenden Lidern über die gegenwärtigen Pflichten eines guten Franzosen, die weltliche und republikanische Nächstenliebe zum besten gab! Übrigens glaubte er vielleicht an diese Solidarität der Menschen, von der er mit solcher Beredsamkeit sprach, und war es nur sein Anwalt Petit-Sagnier, der ihn zu so grausamen Maßregeln wie die für Sonnabend festgesetzte Versteigerung aufhetzte.
›Wie, wenn ich zu Marc Javel ginge – zu ihm in die Wohnung, in die Rue de la Ville-l'Evêque? Wenn ich ihn um Gnade bäte – ihn, und nicht den Anwalt?‹ So dachte Eudeline, während er den Fabrikhof durchschritt. Die Arbeiter waren eben fortgegangen, alle Gebäude dunkel; nur vor der Kasse brannte noch eine wachsame Gasflamme. Er blieb am Fuße der Treppe, vor der Portiersloge, zögernd stehen.
"Etwas für Sie, Herr Eudeline," sagte der Portier mit jener düsteren, gleichsam fernen Stimme eines Untergeordneten, der weiß, daß die Firma es nicht mehr lange machen wird. Eudeline ergriff die beiden dargereichten Papiere – einen Gerichtsbescheid, die Verständigung von der Versteigerung, und dann einen Brief, den er gleichgültig öffnete und, seinen Augen nicht trauend, in einem Zuge las ... Eine Aufforderung, morgen um elf Uhr vor dem Untersuchungsrichter zu erscheinen ... Da sollen doch tausend Donnerwetter dreinschlagen! Den hatte er vergessen. – Es war ihm, als stürze ihm das Treppenhaus über dem Kopf Zusammen; er schwankte und sagte zweimal ganz laut – man hörte es bis in die Portiersloge: "Jetzt sterben – jetzt bleibt nichts übrig, als zu sterben!"
Er stieß die Tür des im Erdgeschoß gelegenen Kassenzimmers auf, entließ den Rechnungsführer, Herrn Alexis, und ging erst am nächsten Morgen, bei Tagesanbruch, in seine Wohnung hinauf. Die Nacht brachte er damit zu, zwei Briefe zu schreiben, die er zweifellos gar manches Mal von neuem begonnen hatte. Hier die Kopie eines dieser Briefe, besser gesagt Testamente:
"Mein lieber Freund Pierre, die Osterferien sind vorbei, und die Kammer tritt wieder zusammen. Ich nehme an, daß Sie Ihre Kranke mit Ihrer lieben Tochter in Nizza lassen mußten und daß diese Karte, meine Todesanzeige, Sie wieder im Palais Bourbon antreffen wird. Ja, meine Todesanzeige, Sie haben ganz richtig gelesen. Unvorhergesehene Umstände, die meine Kräfte übersteigen, zwingen mich, das Leben auf gewaltsame Art zu verlassen. Meine arme Frau wird Ihnen – wenn es ihr möglich ist – die Beweggründe erzählen, die mich zu dieser Tat der Verzweiflung trieben; ich wage es nicht, ich würde mich zu sehr schämen, Ihnen zu gestehen, daß Ihr Freund, ein echter Achtundvierziger, gegen die Ehre seines Namens gefehlt hat. Auf jeden Fall wollte ich nicht sterben, ohne Ihnen Lebewohl und Dank gesagt sowie Sie um Verzeihung gebeten Zu haben. Oh, vor allem bitte ich Sie um Verzeihung wegen der zehntausend Franken, die Sie uns liehen, und die ich jetzt mitnehme. Wenn Herr Marc Javel, mein neuer Hauswirt, ein Ehrenmann ist, so wird er Ihnen das Geld für diesen Bau, den Sie bezahlten und dessen Mieterträgnis ihm gehören wird, zurückerstatten. Ich schreibe gleichzeitig auch an ihn und hoffe, daß er so gut sein wird, dies zur Kenntnis zu nehmen sowie Ihnen bei der Erlangung eines Staatsfreiplatzes für meine Jungen zu helfen – damit sie doch ihre Studien beenden können, großer Gott! Hauptsächlich wünsche ich das für den älteren, den Raimund, der mich ersetzen, der nach meinem Tode das Haupt, die Stütze der Familie werden muß. Alter Freund, ich bitte Sie – daß wenigstens dieser seine Studien beendet und niemals ins Geschäft kommt! – Der Handelsstand ist ärger als das Bagno. Täglich ist man dabei dem Ruin und der Schande ausgesetzt. Von meinen beiden Jungen soll wenigstens einer dem entgehen. Und nun, alter Kamerad, umarme ich Sie zum letztenmal, indem ich Ihrer Frau und Fräulein Geneviève für alle ihre Aufmerksamkeiten gegen meine Frau und die kleine Dina danke. Sie können sich denken, wie mir das Herz blutet, daß ich mich von allen meinen Kleinen losreißen muß; aber es muß sein – ihr Glück fordert diesen Preis.
Es lebe die demokratische und soziale Republik! Victor Eudeline."
*
Pierre Izoard war seit gestern abend in seine enge Wohnung im Abgeordnetenhause zurückgekehrt, die ihm durch die Abwesenheit seiner Frau und seiner Tochter ungeheuer groß und trostlos erschien. Er wollte sich eben vor dem offenen Fenster, das auf den mit großen Fliesen gepflasterten inneren Hof des Palastes ging und durch das das Klirren der Gläser und Teller der andern frühstückenden Beamten heraufdrang, ganz allein zu Tische setzen, als ein Bureaudiener ihm diesen Brief heraufbrachte. Ohne bis zur Unterschrift zu lesen, warf er die Serviette hin, steckte alles Geld zu sich, was er im Hause hatte, und der erste Fiaker, der durch die Rue de Bourgogne fuhr, trug den kleinen, kurzgeschorenen Mann mit den schwarzen Augenbrauen und dem langen, ergrauenden Bart zu der Höhe des Faubourg du Temple hinauf.
"Eudeline sich umbringen!" schrie er, zum Wagenschlag hinausgestikulierend, mit echt Marseiller Nachdruck und Akzent, in das Getöse des Pflasters. "Eudeline gegen die Ehre verstoßen! ... Macareù, das müßte ich erst sehen, ehe ich es glaube ..."
Längs der ganzen Vorstadt, deren aufsteigende Straßen von einer ausgehungerten, brausenden Menge wimmelten, zwischen den Obst-, Blumen-, Fisch- und Gemüsehändlern, deren Handkarren sich am Rande des Trottoirs hinzogen, inmitten des Geruches von heißem Brot und Gebäck, des Gedränges und Geschreies großer Mädchen mit Arbeitskitteln, der nacktbrüstigen Arbeiter, die unterm Arm ein rundes Brot, in der Hand ein öliges Papier trugen, bestärkte jede Umdrehung der Räder Pierre Izoard in seinen optimistischen Anschauungen. Überall, von den Türmen der Kirchen, in den Höfen der Fabriken, läutete es Mittag – Mittag, die selbstsüchtige Stunde des Hungers, des Lebens, die allen Augen auf der Straße die gleiche gierige und zerstreute Starrheit, den gefräßigen Blick des Hais auf seiner submarinen Jagd verleiht. – Sich umbringen? Warum nicht gar! Und das Mittagessen? ... Trotzdem ward dem Marseiller kalt ums Herz, als er beim Aussteigen aus dem Wagen im Hintergrunde des mit Holzpfosten aller Längen und Arten angepfropften Eudelineschen Hofes den weißen Bewurf eines neuen Gebäudes und darauf den Anschlagzettel erblickte: "Großes Lokal zu vermieten". Er hatte geglaubt, daß die Werkstätte vermietet sei. Infolge der Krankheit, der Reisen hatte man sich ja schon so lange nicht gesehen! Noch betroffener wurde er, als ein Lehrling, der barhäuptig und pfeifend durch den Hof ging, ihm mitteilte, daß der Chef gleich morgens weggegangen sei und daß man ihn nicht zurückkommen gesehen habe. Seine Hand zitterte, als er im ersten Stock klingelte.
In der halb offenen, altmodischen, um drei Stufen erhöhten Tür zeigten sich die tränenverschmierten Wangen und das erschrockene, ängstliche Pierrotgesicht eines langaufgeschossenen blonden Jungen von vierzehn oder fünfzehn Jahren.
"Nun, Raimond, was gibt's?" fragte der Stenograph.
Ohne etwas zu antworten, rief ihn der Junge mit einer verzweifelten Gebärde herein, zog ihn in den Gang und stürzte ihm unter lautem Schluchzen um den Hals.
"Wo ist der Papa, Herr Izoard? ... Sagen Sie uns, wo ist der Papa?" Gleichzeitig fühlte Izoard Küsse und brennende Tränen auf seinen Händen: es war der andre Bruder, Toni, ein kleiner Rotkopf, der sich, wie aus der Erde gewachsen, an ihn anklammerte und ebenfalls fragte, wo der Papa sei! Aber er fragte es ganz leise, mit zusammengepreßten Zähnen, während seine Kinnbacken nervös krachten. Der Marseiller, von diesem so echten Schmerz ergriffen, wischte sich die Augen und suchte nach irgendeiner Antwort.
"Aber, meine lieben Kinder, ich weiß ja nicht, wo euer Vater ist ... Ich komme eben aus dem Süden zurück ... ich bin nur zufällig hergekommen ..."
Als er dann in dem unordentlichen, armseligen Zimmer, in das sie getreten waren, zwischen den beiden Brüdern saß, gelang es ihm endlich, aus ihren stoßweise hervorgeschluchzten, klagenden Reden das Familiendrama herauszuschälen, an das er nun wohl glauben mußte.
Der Vater hatte die ganze Nacht in der Schreibstube zugebracht. Morgens wurden sie durch den Lärm einer furchtbaren Szene im Zimmer ihrer Eltern geweckt. Eudeline schrie, daß er sich in den Kanal "schmeißen" werde, daß ihm sonst nichts übrigbleibe. Daraufhin war er fortgelaufen, und die Mutter, die weinte und ihn mit gefalteten Händen beschwor, nicht zu sterben, hinterdrein. Seither saßen die Kleinen in banger Erwartung da und wußten von nichts.
Izoard suchte sie zu beruhigen. Sie kannten ja ihren Vater, der so hitzig, so heftig war, aber an den Seinen so zärtlich hing ... Welche Katastrophen hätten nicht eintreten müssen, um ihn zu einem so wilden Entschluß zu treiben!
"Katastrophen, Herr Izoard?"
Der ältere Junge nahm beim Sprechen jene ältliche Miene an, welche die Frühreife des Unglücks den Kindern verleiht.
"Wir haben ja alle möglichen gehabt, seit Sie fort waren. Sehen Sie sich um – die Uhr samt den Vorhängen ist weg – es sind fast gar keine Möbel mehr da. Gott weiß, was nicht alles verkauft, versetzt wurde, um diesen schrecklichen Zins zu zahlen! Toni mußte die Sachen aufs Leihhaus tragen – ich wagte es nicht, und Papa und Mama waren zu bekannt. – Aber das ist noch nichts. Werden Sie es glauben, daß wir seit drei Monaten nicht mehr ins Gymnasium gehen?"
Die zwei Kleinen, die weder Westen noch Krawatten trugen und die Füße in Pantoffeln stecken hatten, besaßen in der Tat jenes verbummelte, unordentliche Aussehen, das allen Schul- und Kasernenfaulenzern gemein ist.
"Daß er uns aus dem Gymnasium nehmen mußte, kränkte ihn am meisten, noch mehr, als daß er unser Schwesterchen Dina zu ihrer Patin schicken mußte, die sie zu sich nach Cherbourg nahm ... Ah, da ist die Mama!"
Sie ließen ihr nicht Zeit, sich niederzusetzen, den Schleier von ihrem fiebernden Munde, ihren blassen, ganz fleckigen Wangen zurückzuschieben.
"Was hast du mit dem Papa gemacht?" fragten beide zugleich.
"Nun, Kinder, euer Vater, euer Vater –"
Sie hatte sich aufs Lügen vorbereitet, um ihnen nicht sofort einen zu schweren Schlag zuzufügen; allein die unvorhergesehene Anwesenheit Izoards, dieses freundliche, mitleidige Gesicht nahm ihr allen Mut. Der Brief ihres Mannes war ihr bekannt, und sie wußte, daß nur ein Wort, nur ein einziges Wort, das sie miteinander wechseln würden, sie dahin bringen würde, aufzuschluchzen und alles zu sagen. Sie begnügte sich daher mit einem stummen "Guten Tag!" und fuhr, ihn gleichsam aus der Szene entfernend, fort:
"Ich habe euern Vater in ruhigerer Stimmung verlassen – ich hoffe, daß wir für heute nichts zu fürchten haben."
Die arme Frau wendete den Kopf ab und bemühte sich, den mißtrauischen, spähenden Augen zu entschlüpfen.
"Aber warum hast du ihn allein gelassen, Mama?" fragte Raimund in argwöhnischem, fast strengem Ton.
Die Mutter senkte den Kopf.
"Um euch schneller zu beruhigen, meine geliebten Kinder," antwortete sie ganz leise, ganz demütig, als sei ihr Gatte anwesend, oder als vertrete der ältere Sohn bereits seine Autorität.
Und um weiteren Fragen zu entgehen, fuhr sie, einen herzzerreißenden, alles bekennenden Blick auf Izoard richtend, fort:
"Ach, Herr Marc Javel ist recht grausam gegen uns."
"Das kann ich mir gar nicht vorstellen!" donnerte der kleine Mann mit dem langen, fließenden Bart. "Javel, mit dem ich in der Kammer verkehre, ist ein Republikaner von der guten Art, wie wir zu sagen pflegen, ein Kind des Volkes, und im kleinen Handelsstand, dessen ganzes Elend er kennt, geboren. 1870, während der Belagerung, hörte ich ihn auf einer Volksversammlung über die Erneuerung fälliger Wechsel sprechen. Mit ein paar Worten über die Angst der Schuldner bei dem zu zahlenden Wechsel rührte er den ganzen Saal. Ein Mann, der so etwas sagt, wäre der schändlichste Heuchler. Übrigens, Frau Eudeline, habe ich einen Wagen vor der Tür stehen; die Kinder sollen einsteigen, wir fahren zum Unterstaatssekretär. Ich bin überzeugt, er weiß nichts davon, daß sie versteigert werden sollen, und bürge Ihnen jedenfalls, daß die Versteigerung nicht stattfinden wird."
"Gott erhöre Sie, lieber Freund!" seufzte die Mutter.
Und ohne daß sie es wagte, die Kinder anzusehen, befahl sie ihnen, sich recht rasch anzuziehen.
Als sie fort waren, brach das Schluchzen, das sie erstickte, herzzerreißend los.
"Die armen Kinder!" murmelte sie, das Gesicht in die Hände vergrabend.
Izoard setzte sich auf den Rand des Diwans, auf dem sie zusammengebrochen war. Er wagte kaum, sie auszufragen. Wäre es möglich? Eudeline hätte seine Drohung ausgeführt?
Das Gesicht noch immer zwischen den Netzhandschuhen verbergend, nickte sie "ja".
Er sah sie verblüfft an.
"Aber Sie waren nicht dabei? Sie hätten es ja nicht zugelassen – und dann, wer bringt sich denn wegen Geld um – he, ich bringe ihm ja Geld – nicht viel, aber doch etwas."
Die unglückliche Frau schüttelte zu diesen feurigen, von lebhaften Gebärden unterbrochenen Worten bloß den Kopf.
"Ach, Herr Izoard, wenn Sie wüßten –"
Plötzlich erinnerte er sich an jenes Vergehen wider die Ehre, dessen der Brief Eudelines erwähnte. Um was handelte es sich eigentlich? Einem Freunde wie ihm konnte man doch alles sagen.
"Nun denn –"
Demütig und mit gesenkter Stirne, wie im Beichtstuhl, flüsterte sie ihm mit trauriger Stimme das herzzerreißende Geständnis zu, das der arme Eudeline ihr selbst abgelegt hatte, während sie längs des Kanals hinschritten. Ach, immer wieder der schreckliche Hauszins, immer wieder die Furcht vor Marc Javel! Waren, die in der Fabrik im Depot lagen, kurz vor dem Zinstermin versetzt und dann verkauft, weil das Geld zum Erneuern fehlte – die Klage, der Untersuchungsrichter, Abgabe an das Zuchtpolizeigericht, Gefängnis, Schande – für ihn, für die Kinder –
"Ach, lieber Freund, das hauptsächlich machte ihn toll – der Gedanke, daß unsre Kleinen sich ihres Namens schämen, daß brave Leute wie Sie nicht mehr wagen würden, sie zu empfangen. ›Wenn ich sterbe,‹ sagte er zu mir, ›wird man mich nicht verfolgen und der Name unsrer Kinder wird nicht durch eine Verurteilung beschmutzt werden.‹ Sie können sich denken, daß ich mich widersetzte, daß ich ihn bat, sich nicht umzubringen. Aber er sprach mit so überzeugender Kraft, er fand so gerechte Gründe, um mir zu beweisen, daß sein Tod die einzige Möglichkeit sei, alles zu retten – ihn vor dem Gefängnis und unsre Kleinen vor der Schande. Zuletzt wußte ich nicht mehr, was ich antworten sollte. Sie wissen ja, daß ich ihm, heftig und despotisch, wie er war, immer nachgegeben habe. Ich hätte schreien, mich an ihn anklammern müssen. Ich war wie vernichtet, verblödet. Plötzlich sagte er: ›Gib mir einen Kuß, Mutterchen, und geh weg, ohne dich umzudrehen.‹ Ich tat, wie er mich geheißen hatte – und jetzt bin ich da, ohne zu wissen, wie – Gott schütze dich, mein armer Mann!"
Die Kinder traten wieder ins Zimmer. Sie unterbrach sich und untersuchte mit zitternden Händen ihre Toilette, während Izoard entsetzt an diesen heldenmütigen Selbstmord dachte, den die unglückliche Helotin dort so naiv zugelassen hatte. ›Nun, wenn sein Tod wenigstens etwas nutzt,‹ dachte er bei sich, während er mit den Kindern in die Rue de la Ville-l'Evêque fuhr, wo der Unterstaatssekretär neben dem Ministerium des Innern einen alten Palast mit einem Garten bewohnte. Der Unterchef der Kammerstenographen macht die Sitzungsberichte für den Druck zurecht, indem er sie mit "Bravos auf der Rechten oder Linken – Lärm auf einigen Bänken – Langandauernder Beifall" und so weiter ausschmückt. Es ist also begreiflich, daß die Deputierten großes Interesse daran haben, sich gut mit ihm zu stellen. Der Marseiller war daher sicher, daß der Herr Unterstaatssekretär beim Empfang seiner Karte – selbst wenn er gerade beim Frühstück war – sich wohl hüten würde, ihn warten zu lassen oder auf einen andern Tag zu bestellen, wie er nicht ermangelt hätte, bei weit höheren Beamten zu tun. Kaum hatte man sie in ein Arbeitszimmer geführt, wie es die Kinder noch nie gesehen hatten – das des Vorstehers im Gymnasium sah dagegen wie ein Vorzimmer aus –, prunkvoll, hoch wie eine Kirche, mit langen, gemalten Fensterscheiben, dicken Teppichen, Leder- und alten Eichenholzstühlen, die in majestätischer Entfernung voneinander standen –, so verloren die ohnehin eingeschüchterten Knaben gänzlich die Fassung, als sie einen vornehmen Herrn mit ausgestreckten Händen auf sich zukommen sahen. Er besaß eine rosige Gesichtsfarbe, einen blonden, gepflegten Schnurrbart, weiche Bewegungen, trug Kleider aus dunkelm englischem Stoff und hatte die Frühstücksserviette als einen Fingerzeig über den Arm geworfen.
"Mein lieber Maître, was verschafft mir das Vergnügen dieses Besuches?"
Izoard zeigte auf die zwei Kinder. "Herr Unterstaatssekretär, die Söhne Ihres Mieters Eudeline –"
Alsogleich erstarrte das Lächeln Marc Javels, seine Mundwinkel und Augenwinkel senkten sich, und matt, mit niedergeschlagenen Lidern, murmelte er ein paar erklärende Worte. Gerade heute vormittag habe er von diesem Herrn Eudeline einen sehr exaltierten Brief erhalten – einen von jenen Briefen, wie bekannte Leute deren so viele bekommen. Er habe ihn seinem mit der Regelung der Erbschaft betrauten Anwalt, Petit-Sagnier, zugesendet, und das sei die kleine Depesche, die der Anwalt als Antwort geschickt habe.
Der Unterstaatssekretär reichte dem Vater Izoard diskret das Telegramm, aber dieser sagte sehr rasch:
"Ach, leider brauchen wir vor diesen Kindern nichts zu verheimlichen," und las laut:
"Ich glaube kein Wort von dem Selbstmord. Mit dem Neffen soll dasselbe Ausbeutungssystem fortgesetzt werden wie mit der Tante. Es bleibt bei der Versteigerung übermorgen Sonnabend."
Die beiden Kinder hatten sich unwillkürlich in einen Winkel gedrückt; dieselbe Aufwallung von Wut und Empörung trieb sie jetzt vorwärts. Beide wollten zugleich sprechen; aber Toni, der kleine, der Rotkopf, konnte seinen Zorn nur durch Gebärden ausdrücken. Ein nervöser Krampf lieh die Worte zwischen den zusammengepreßten Zähnen, die sie zermalmten, nicht heraus. Der ältere, Raimund, war mit seiner mutierenden Stimme und dem langen, allzu rasch aufgeschossenen, schlotterigen Körper nicht viel beredter; da jedoch der in ihrer Gegenwart so ungerecht Beschimpfte einen Verteidiger brauchte, so wußte sich das Kind herauszuhelfen. Nein, der Vater war kein Betrüger. Wenn er gesagt hatte, daß er sich umbringen werde, so wollte er es sicherlich tun; und er brachte sich nur um, um den bösen Affen, die über ihn herfielen, zu entgehen – dem Herrn Petit-Sagnier und andern. Das sollte die Welt erfahren, er würde es überall erzählen, er würde es in die Zeitung schreiben – jawohl, jawohl –
"Der Vater ist tot, Herr Minister, man hat es ihnen noch nicht erzählt," murmelte der Marseiller, den dieses verzweifelte Ungestüm beunruhigte; aber ein unbestimmtes, mitleidiges Lächeln auf den Lippen Marc Javels beruhigte ihn sofort, und fest überzeugt, daß der hohe Würdenträger ebenso bewegt sei wie er selbst, zerdrückte er nun ohne Scheu zwei große Tränen, die dieser Aufschrei des Kindes ihm ins Auge getrieben hatte. Ach, der arme alte Graubart! Als ob ein praktischer Mensch, ein Politiker, der solide englische Stoffe trug, sich über dieses kleine Familiendrama aus der Zeit Diderots aufregen könnte! Aber der Junge hatte von Journalisten gesprochen, und der Herr Unterstaatssekretär fürchtete diese Journalisten. Er stellte sich einen Pariser Leitartikel vor, der unter dem Titel "Die Erbschaft Javels" den freiwilligen Tod Victor Eudelines und den Besuch der Kinder in der Rue de la Ville-l'Evêque schildern würde. Das gäbe einen schönen Skandal. Jetzt galt es, den Schnitzer Petit-Sagniers rasch wieder gutzumachen. Glücklicherweise war der ebenso wohltätige wie geschwätzige Izoard von Marseille da. Er streckte ihm die weit offene, loyale Rechte entgegen und sagte:
"Mein lieber Maître" – Marc Javel gab diesen Titel allen jenen, denen er keinen andern geben konnte –, "mein lieber Maître, ich danke Ihnen, daß Sie mir die jungen Leute hergebracht und mir Gelegenheit gegeben haben, ein Unrecht wieder gutzumachen."
Dann wendete er sich mit himmlischer Sanftmut zu dem verblüfften Raimund:
"Mein junger Freund, ich weiß nicht, ob euer Vater seinen verhängnisvollen Entschluß ausgeführt hat. Ich wage noch zu hoffen, daß dem nicht so ist. Auf jeden Fall sagen Sie Ihrer Frau Mutter in meinem Namen, daß, wenn die Männer des Gesetzes ihre eigne Sprache haben auch die Ehrenmänner eine besitzen. Weder übermorgen noch an den folgenden Samstagen wird bei euch eine Versteigerung stattfinden."
"Ich habe es ja gewußt, daß ich meinen alten Marc Javel wiederfinden werde!" rief freudig der Stenograph und mußte sich zurückhalten, um dem Minister nicht um den Hals zu fallen.
In der Tat fand am drittnächsten Tage keine Versteigerung statt, wohl aber das Begräbnis Eudelines, den man nach ein paar Stunden aus dem Kanal gezogen hatte. Seine Frau hatte es durchgesetzt, daß er in St. Joseph de Belleville eingesegnet ward, und das Leichenbegängnis, dessen Kosten Jzoard bestritt, war sehr anständig. Es waren sehr viel Leute anwesend, besonders Arbeiter und kleine Geschäftsleute, die großen Firmen grollten dem Nachfolger von Guillaume Aillaume wegen seiner menschenfreundlichen und soziologischen Ideen. Aber wieso konnte man ihr Fernbleiben bedauern, als man erfuhr, daß der Unterstaatssekretär des Innern bis zum Friedhof mitgekommen sei? Marc Javel hatte begriffen, daß er, um den schlechten Eindruck beim Publikum zu mildern, dem Begräbnis seines Opfers beiwohnen müsse; er war sogar so gescheit, seinen Anwalt, Petit-Sagnier, den Typus eines feisten, genußsüchtigen Advokaten, als Sündenbock mitzunehmen, und nur die allgemein unterrichteten Fabrikarbeiter empfingen denselben mit Murren und störrischen Mienen. Was Marc betraf, so begrüßte ihn, als man ihn schwarz behandschuht und höchst korrekt vor der abgelegenen Vorstadtkirche aus dem Ministerwagen steigen sah, ein Gefühl allgemeiner Sympathie. Pierre Jzoard und die Kinder, die ihn im Peristyl erwarteten, da sie wußten, daß er in seiner Eigenschaft als Freimaurer und Logenmeister nie eine Kirche betrat, gingen ihm mit tränenden, geröteten Gesichtern zusammen entgegen, um ihm für sein Kommen zu danken.
" Fortitudo animi!" sagte der Stenograph ganz leise, indem er auf den kerzenstrahlenden Katafalk unter der Halle zeigte. Seine Rührung rief ihm die alten Stellen aus seiner Professorzeit wieder ins Gedächtnis.
Der Minister verstand kein Latein und verheimlichte das wie einen Aussatz; aber er begriff aufs Geratewohl, daß dieses Fortitudo auf den heroischen Tod dieses für seine Kinder gestorbenen Vaters anspielte, und da der älteste Sohn neben ihm stand, zog er ihn mit einer großartigen, gleichsam adoptierenden Gebärde an sich.
"Kinder," sagte er mit seiner angenehmen, vollen Stimme, die weit vernehmbar war, "euer Vater war einer jener Republikaner von altem Schrot und Korn, denen die Regierung der Republik nichts versagen darf. Alles, was Victor Eudeline in seinem Briefe von jenseits des Grabes für Raimund Eudeline, den Sohn der Witwe, die Stütze der Familie, verlangt, wird geschehen. Dafür bürge ich in Gegenwart aller, die mich hören."
Und es waren deren genug!
An diesem Tage tat Marc Javel den ersten, den entscheidenden Schritt auf der Bahn der großen Popularität, auf der wir ihn seither mit beispielloser Geschmeidigkeit und Schnelligkeit seine Schwenkungen ausführen sahen. Von diesem Tage an nahm auch Raimund von seiner neuen Stellung als Stütze der Familie Besitz. Er erriet deren Verantwortlichkeit und Dienstbarkeit aus einer Art von Mitleid, von Ehrfurcht, von der er sich, während er mit seinem Bruder hinter der Bahre einherschritt, plötzlich umgeben fühlte. Der Tod dieses trotz seiner Heftigkeit so nachsichtigen, so zärtlichen Vaters verursachte ihm zweifellos einen furchtbaren Schmerz; aber in seinen persönlichen Kummer mischte sich ein gewisser Stolz und selbst ein wenig Pose. Er weinte nicht gleich Antonin wie ein Kind, sondern schritt mit rundem Rücken wichtig und feierlich dahin.
Diese düstere, weit über sein Alter hinausgehende Stimmung, diese stets übertriebene und etwas falsche Empfindsamkeit blieb ihm während der drei oder vier Jahre, die er als Freischüler im Gymnasium Louis-le-Grand zubrachte. Seine Geschichte, die im Gymnasium so ziemlich bekannt war, vor allem die Gunst des Ministers, dem er, wie man wußte, seine Freistelle verdankte, verschaffte ihm eine gewisse Berühmtheit. Die Schüler zeigten ihn im Sprechzimmer ihren Eltern und sagten:.
"Sieh dir den großen Blonden dort aus der dritten B an; er ist erst fünfzehn Jahre alt und schon die Stütze der Familie."
Und der Aufseher, den die Mütter ebenfalls befragten, flüsterte mit geheimnisvollem Ton:
"Der junge Mann hat hohe Protektion –"
Wie immer war diese Protektion mehr illusorisch als wirklich vorhanden. Ein paar Wochen nach dem Begräbnis Eudelines ließ sich der Unterstaatssekretär bei der Witwe melden; sie war auf diesen Besuch sehr stolz und empfing ihn und seinen Sachwalter, Petit-Sagnier, in jener Schreibstube zu ebener Erde, in welcher der Verzweifelte zwischen dem Kassengitter und zwei Reihen schwarzbraun gebundener Geschäftsbücher seine Todesnacht durchlebt hatte. Auch Pierre Jzoard und der Rechnungsführer Alexis waren anwesend; es geschah auf das ausdrückliche Verlangen Marc Javels, mit dem Frau Eudeline angesichts der Unmöglichkeit, das Geschäft ihres Gatten fortzuführen, diesen Familienrat vereinbart hatte. Eine weiche, träumerische Natur hatte der mutterlosen Tochter Guillaume Aillaumes, deren Erziehung zuerst im Sacré-Coeur, dann in dem einsamen Schloß Morangis, wohin sich der Alte zurückgezogen hatte, von einer romantischen Erzieherin geleitet wurde, nicht erlaubt, jenen Zuschuß weiblicher Tätigkeit und Intelligenz in die Ehe zu bringen, der so viele Vermögen in der Pariser Geschäftswelt erklärt. Neigung für das Geschäft und Geschäftsinstinkt gingen ihr ab; die Heftigkeit ihres Gatten flößte ihr Abscheu und zitternde Angst davor ein. Dieser treffliche Mann, der sie anbetete, jagte sie mit seinem Geschrei in die Flucht, und nach achtzehn Jahren eines im allgemeinen ziemlich glücklichen Zusammenlebens war sie so verwirrt und beinahe so taub wie der Kanonier eines großkalibrigen Seegeschützes. Ein Detail besagt vielleicht mehr als alles andre: seit ihrer Hochzeit hatte sie die Geschäftsräume, in denen der Familienrat stattfand, keine zweimal betreten. Man begreift daher, daß die derart entwaffnete, mit ganz jungen Kindern zurückgebliebene unglückliche Frau vor einer Fortführung des Geschäftes zurückschreckte. Der über die Sauberkeit und Ordnung in seinen Büchern triumphierende Rechnungsführer schilderte ihr alle Gefahren, alle Verlegenheiten einer solchen Fortführung. Die Firma war gewiß sehr gesucht, aber bereits veraltet; große Unordnung herrschte, es gab verjährte Schuldscheine und Schulden, ganz abgesehen von den rückständigen Mietzinsen, den Schulden, die durch die einbringlichen Rechnungen gewiß nicht gedeckt werden würden. Wieso sollte sie sich da heraushelfen? Das Geschäft verkaufen? Aber da müßte es zuerst schuldenfrei sein; wer würde sonst ein abgenutztes Geschäft wollen, das so löcherig war "wie die Pfanne in Babet"? Herr Alexis, der auf seine berrichonner Redensart viel hielt, wiederholte sie mehrmals, während Herr Jzoard und Frau Eudeline einander bestürzt betrachteten.
"Nun denn, ich habe einen Käufer," sagte Petit-Sagnier auf ein Zeichen seines großen Klienten.
Er nannte die Gebrüder Nathan, kleine Möbelhändler in der Rue de Charonne, die das Geschäft samt Schulden und rückständigen Mietzinsen übernehmen würden.
"Und das Hofgebäude?" fragte Pierre Jzoard lebhaft.
Der Anwalt breitete die Arme aus, als lasse er die Sache fallen. Von dem Gebäude, das übrigens in dem ohnehin zu kleinen Hof Luft, Licht und Platz wegnahm, hatten die Nathans nicht gesprochen; sie wären froh, es los zu werden. Frau Eudeline hielt mit Mühe ihre Tränen zurück. Wie, nicht einmal die Baukosten, die zehntausend Franken, die Pierre Jzoard ihnen geliehen hatte, sollten zurückerstattet werden! Der dicke Advokat schob verächtlich die Lippe vor: die Idee mit diesem Bau war einer der zahlreichen Irrtümer des armen Herrn Eudeline gewesen.
"Liebe Freundin, denken Sie nicht mehr daran," fiel der Stenograph ein. "Die Person, die Ihnen das Geld geborgt hat, braucht es nicht dringend zurück."
"Diese Person ist wohl sehr reich?" fragte Marc Javel mit nachsichtigem Lächeln.
"In meinen Verhältnissen, Herr Minister," antwortete der Marseiller strahlend.
"In diesem Fall, mein lieber Maître –"
Der Herr Unterstaatssekretär zog eine elegante seehundslederne Brieftasche aus seinem Jackett, entnahm ihr einen Scheck, den er am Rande des Schreibtisches mit der Feder des Herrn Alexis unterfertigte – wieder ein "danke, lieber Herr" –, und überreichte dem Stenographen einen Bon für fünftausend Franken, damit sein unvorsichtiger Freund nicht der ganzen Summe verlustig gehe.
Jzoard errötete, widersetzte sich, dann aber sagte er nach einigem Nachdenken:
"Nun denn, ja – ich nehme es für Frau Eudeline an, die noch weniger reich ist als ich und mein Freund."
Die arme Frau wußte nicht mehr, wie ihr war – diesem guten Herrn Javel verdankte man schon so viel! Vor ein paar Tagen die Freistelle Raimunds, dann einen Empfehlungsbrief an Esprit Cornat, das ehemalige Mitglied der Konstituante und gegenwärtigen Direktor einer großen Fabrik elektrischer Apparate, in der Pierre Jzoard Antonin als Lehrling untergebracht hatte. Und jetzt obendrein diese fünftausend Franken!
"Gnädige Frau, ich bitte Sie –" murmelte Marc Javel sanft und väterlich wie das Evangelium.
Als der Wagen des Ministers im schnellsten Trab den kotigen Abhang der Vorstadt hinabfuhr, machte der Advokat Petit-Sagnier seinem Klienten über diese unnütze Großmut Vorwürfe.
"Zum Teufel, ich bringe die Sache großartig in Ordnung, befreie Sie von einem lächerlichen Mietvertrag, einem gefährlichen Mieter, beschenke Sie mit einem prächtigen Gebäude – und Sie verderben mir mit Ihren fünftausend Franken mein ganzes Meisterwerk!"
"Herr Petit-Sagnier," sagte der hohe Würdenträger, indem er eine Havannazigarre, die ebenso geschniegelt und ebenso rotbraun wie sein Schnurrbart war, an die Nase führte, "ich liebe allzu gute Geschäfte nicht und mißtraue allem, was nichts kostet. Glauben Sie mir, das ist kein verlorenes Geschäft. Sie sind dazu da, um die Erbschaft der Tante zu schützen; ich aber habe über meine politische Laufbahn zu wachen –"
"Und Sie verstehen sich darauf!" rief der Advokat mit respektvoller Heiterkeit. Bisher hatte er seinen Klienten nur für einen Glückspilz gehalten.
Diese fünftausend Franken erlaubten – bis Raimund alt genug sein würde, um seine Stelle als Stütze der Familie wirksam auszufüllen – der Witwe, die sich zur Schwester ihres Mannes nach Cherbourg zurückgezogen hatte, dort etwas weniger beschränkt zu leben und dem Internisten von Louis-le-Grand und dem Lehrling Esprit Cornats einige Vergünstigungen zukommen zu lassen. Die Briefe, die sie an ihre Knaben, besonders an den mit ihrer aller Zukunft betrauten Ältesten schrieb, klagten über die Verbannung, zu der Mutter und Tochter sich auf lange Zeit hinaus verurteilt sahen; und auf die Unterschrift folgte unabänderlich ein und dasselbe Postskriptum: "Arbeite, mein Kind, arbeite und hilf uns so rasch als möglich von hier fort." Der Arme arbeitete; aber infolge eines außerordentlichen Pechs konnte er, der früher im Gymnasium Charlemagne ohne jede Anstrengung alle Preise der Klasse davongetragen, jetzt, da seine Studien ein bestimmtes Ziel besaßen, zum Schluß des Jahres nicht einmal einen Preis erringen. Seine Lehrer, die seinem Fleiß vertrauten und Zeugen seiner Anstrengungen waren, schrieben dieses plötzliche Stocken der Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses bei einem Wesen von so vollkommenem Ebenmaß der Ermüdung des Wachstums zu. Jzoard erklärte es durch die Nervenerschütterung, die der tragische Tod des Vaters den beiden Kindern verursacht hatte.
"Sehen Sie doch Antonin, den jüngeren an," sagte er eines Tages zu Marc Javel, als sie in einem der Couloirs der Kammer miteinander über diesen Gegenstand sprachen. "Seit Eudelines Selbstmord ist dem armen Kleinen gleichsam ein Stottern zurückgeblieben; er stammelt, sucht nach Worten. Wer weiß, ob sich diese Sprachschwierigkeit, dieses Stocken beim Reden bei dem älteren Bruder nicht auf die Spannkraft des Willens geworfen haben."
"Sehr möglich, lieber Maitre. Aber das ist ja gleich; schicken Sie ihn mir einmal an einem Sonntagvormittag ins Ministerium. Auf Wiedersehen und vergessen Sie nicht, mir den jungen Mann mitzubringen."
Jzoard vergaß es gewiß nicht, aber es fügte sich, daß der Freischüler von Louis-le-Grand während der Dauer seiner Studien im ganzen zweimal, und jedesmal kaum fünf Minuten, empfangen wurde, trotzdem er seinem Protektor im Ministerium des Innern, der Finanzen oder des Handels – den verschiedenen Posten, die Marc Javel der Reihe nach bekleidete – unzählige Besuche abstattete. Und jedesmal bekam er dieselbe Marktschreierei wie unter dem Tor von St. Joseph, dieselben Versprechungen zu hören, die im Namen der Republik Raimund Eudeline, dem ältesten Sohne der Witwe, der Stütze der Familie, gemacht wurden. "Vergessen Sie das nicht, junger Mann."
Es wäre besser gewesen, wenn der junge Mann seine schweren und feierlichen Zukunftspflichten eine Zeitlang vergessen hätte; denn die Vorstellung, die er sich von seiner Aufgabe machte, die Furcht, daß er nicht die Kraft haben würde, sie auszufüllen, mußte ihn unbedingt lähmen und ihm alles Feuer, alle Freude seiner kurzen Jugendjahre rauben. Bei einer Matinee im Thêatre Français, wohin zwei Abteilungen von Louis-le-Grand geführt wurden, sah Raimund zum erstenmal den "Hamlet". Er erfüllte ihn mit einer Verzweiflung, die wie immer etwas theatralisch und gezwungen war; aber die Ursache derselben gestand er nur einem Primaner namens Marquès, der bei der Rückkehr vom Theater neben ihm in der Reihe schritt.
"Weißt du, Marquès, warum mir dieser Prinz von Dänemark leid tut, warum ich über ihn weine, als wäre er einer von den Unsern? Weil er mir gleicht, weil er wie ich eine Aufgabe hat, die über seine Kräfte geht, an die er stündlich denkt, die ihm jedes Vergnügen verbietet. Auch er hat nicht das Recht, jung zu sein, zu lieben und geliebt zu werden. Er muß ein Held, ein Rächer sein, und er fühlt, daß er das nicht sein kann. Das bricht einem das Herz."
Dieses Geständnis erzählte der Primaner abends seiner Mutter. Seither erwachte in dieser Dame – der Gattin eines Ministers, wenn ich bitten darf, welche die republikanische hohe Gesellschaft noch immer die "schöne Marquès" nannte – ein lebhaftes Interesse für diesen blonden Jungen, der eine so romantische Seele und eine so hübsche Haarfarbe besaß; aber diese heimliche Neugierde wurde erst später befriedigt. Damals wollte Raimund niemand sehen und nahm gar keine Einladung an. Seine Sonntage verbrachte er im Palais Bourbon bei Izoard, häufiger noch in Morangis, einem kleinen Dorfe in der Bannmeile von Paris, wo der Stenograph seit der Krankheit seiner Frau einen Teil des Jahres zu verleben pflegte. In diesem selben Morangis hatte auch der alte Fabrikant Guillaume Aillaume nach seinem Rücktritt von den Geschäften gewohnt, und durch den gemeinsamen Landaufenthalt war das Band zwischen den beiden Familien entstanden.
Vordem stiegen Jzoard und Eudeline an jedem Samstagabend in der Station Antony aus, ließen Frau Eudeline und ihre Tochter mit dem Omnibus fahren und gingen zu Fuß einen jener von großen Ulmen, diesen altmodischen Bäumen, beschatteten Hohlwege entlang, welche die ungeheuere Ebene zwischen Belle-Epine und dem Turm von Montlhery durchschneiden. Dieser einstündige Marsch zwischen zwei Hecken von Hagedorn und Pflaumenbäumen, Arm in Arm mit dem alten Stenographen, bot dem Vorstadtfabrikanten immer neue Wonnen. Jzoard enthüllte ihm die Unterströmungen in der Kammer, die Geheimnisse der Couloirs und schrie mit seiner Donnerstimme: "Gambetta hat es mir erst heute am Büfett gesagt" – oder "Ich weiß durch Dufaure, daß das Gesetz nicht durchgehen wird ...", während Raimund und Antonin herumtollten, die Süßklee- und Runkelrübenfelder mit ihren Heften und Büchern besäten und ihre lärmende Fröhlichkeit mit dem Tirili der Lerche vermischten, die, von dem hellgelben Netz der untergehenden Sonne gleichsam gefangen, über den Kornfeldern aufstieg und wirbelte.
Am Eingang von Morangis, bei der Kreuzung dreier Wege, erhob sich inmitten eines grünen ebenen Platzes eine große italienische Pappel, die eine politische Vergangenheit hatte. Der alte Aillaume, der bereits Anno achtundvierzig in der Gegend Grundbesitzer war, erinnerte sich noch, wie sie, aller Zweige und der Rinde entblößt, in drei Farben bemalt, von dem Pfarrer jener Zeit "der Baum der Freiheit" getauft worden war. Unter dieser seither zur Natur und ins bürgerliche Leben zurückgekehrten Pappel harrte auf unsre Pariser am Samstagabend Geneviève Jzoard, während sie den Klappstuhl der ganz in Tücher eingemummten Kranken mit Aufmerksamkeit betraute. Neben ihr befand sich der alte Guillaume Aillaume, ein von Labiche retuschiertes Voltairegesicht, die Tabaksdose stets in der Hand und zwischen zwei Fingern eine tüchtige Prise haltend. Er ging seinen angebeteten Enkelkindern entgegen. Eine Weile blieb man beisammen, um zu politisieren, ohne daß je eine Einigung erzielt werden konnte; denn es waren verschiedene Generationen beisammen, von denen jede ihre eigne Denk-, sogar Sprechweise hatte. Dann ließ die Abendkühle den großen Baum bis zum Wipfel erschauern, Geneviève gab, um ihre Mutter besorgt, das Signal zum Aufbruch, und man ging auseinander: die Kranke schritt zwischen dem Gatten und der Tochter langsam dem von ihnen bewohnten, aus einem Erdgeschoß mit einer Freitreppe bestehenden, sehr alten Jagdpavillon zu, dessen hohe Fenster mit den ganz kleinen Scheiben zehn Meilen weit auf Korn- und Rapsfelder blickten; auf der entgegengesetzten Straße ging der Großvater Aillaume mit seinen flinken, kleinen Schritten an der Spitze der Familie Eudeline nach der Richtung des Schlosses Morangis, dessen von zwei großen Tulpenbäumen flankierte Fassade ungeheuer und schwarz auftauchte. Die von der untergehenden Sonne geröteten Fenster verliehen ihm das Aussehen eines brennenden, wie durch einen Zauber stehengebliebenen Gebäudes.
Von Jahr zu Jahr sah der Freiheitsbaum, dessen Krone sich allmählich entblößte, den kleinen Freundeskreis vom Samstagabend sich lichten. Zuerst fehlte der alte Guillaume, dann Victor Eudeline, ein paar Monate später Frau Jzoard, die ihre ewigen Klagen auf dem Friedhof von Nizza zur Ruhe getragen hatte, und schließlich Frau Eudeline und Dina, deren Verbannung in der Provinz noch lange dauern zu müssen schien. So war eines Abends zum Empfange des von Paris kommenden Stenographen beim Kreuzweg niemand mehr da als Geneviève in tiefer Trauer und ihre Freundin Casta. Diese kleine, dicke Person mit der Brille hieß mit ihrem wahren Namen Sophie Castagnozoff und war die Tochter eines großen Getreidehändlers in Odessa; gegen den Willen der Ihrigen nach Paris gekommen, um hier Medizin zu studieren, gab sie, um ihre Vorlesungen bezahlen zu können, Stunden in allen lebenden und toten Sprachen, in all den Kenntnissen, die ihr slawisches Gedächtnis und ihre ungeheure Intelligenz aufgestapelt hatten. Pierre Jzoard der zufällig die geringschätzigen Theorien seines Freundes und Meisters J. B. Proudhon über das weibliche Gehirn nicht teilte, wollte, von der Freundin Casta unterstützt, seinem Töchterchen die vollständige klassische Ausbildung der Knaben geben. Allein die Krankheit der Mutter, die Reisen in den Süden hinderten Geneviève, die zwei Examina zu machen, wie ihr Vater es wünschte. Als sie allein, ganz bleich in ihren schwarzen Gewändern, mit allzu glänzenden Augen und pfefferroten Lippen aus dem Süden zurückkehrte, erschraken ihre Freunde; sie mußte auf dem Lande leben, jede Ermüdung vermeiden, und Sophie kam nur noch als Arzt der Freundin in das Häuschen zu Morangis, wo ihre Vorstellungen von idealer Gerechtigkeit und allgemeiner Befreiung ein Echo fanden. Trotzdem wußte Geneviève, obwohl sie mitten in ihren Studien unterbrochen worden war, genug, um dem jüngeren Raimund bei seinen Arbeiten zu helfen und ihm Nachhilfstunden in Latein und sogar in Mathematik zu geben. An diese Stunden dachte der Schüler die ganze Woche und träumte von den Sonntagnachmittagen, die er in einem Winkel des je nach der Jahreszeit hellen oder düsteren Speisezimmers von Morangis zu Füßen dieser entzückenden großen Schwester verbrachte, die von den Kindern "Tantchen" genannt wurde, auf deren Knien, die ihn durch die Röcke hindurch verbrannten, der aufgeschlagene Virgil lag.
Raimund näherte sich seinem achtzehnten Jahre und kam nach Prima in die Philosophieklasse. Unsre Gymnasiumsphilosophen erkennt man gewöhnlich an der sorgenvollen Miene, dem Kammerherrenernst, dem Stolz, mit dem sie die zwei in den Rücken eingestickten symbolischen und mystischen Schlüssel tragen, mittels deren Kant und Schopenhauer ihnen die ganze menschliche Seele und das ganze Leben öffnen. Lacht nicht: eine der Miseren unsers Landes besteht in der Wichtigkeit, die man bei uns seit dem siebziger Kriege der Philosophie, besonders der deutschen Philosophie, beilegt und die in unsern Gymnasien jene strahlenden "humanistischen" Fächer vertritt, die so lange das Stelldichein, gleichsam das geistige Zapfenlager der höheren Studien waren.
Raimund, durch die Pflichten und Rechte des ältesten Sohnes, dessen Verantwortlichkeit er übertrieb, ohnehin verdüstert, hatte durch dieses neue Studium in die allerschwärzeste Stimmung gestürzt werden müssen. Der Professor war fürchterlich, seine Doktrin verzweifelt; beim Verlassen der Klasse sprachen die Schüler nur von Selbstmord und Tod, von der Häßlichkeit des Lebens und dem Nichts. Trotzdem war dieses Philosophiejahr, das an einem ganz besonders unvergeßlichen Sonntag im Oktober 1883 anhob, das beste in der düsteren Jugend des Freischülers von Louis-le-Grand.
An diesem Morgen erwarteten Geneviève und ihre Freundin Casta, die bereits tags zuvor in Morangis eingetroffen waren, bei dem Kreuzweg unter dem Freiheitsbaum den Vater, den Raimund von der Station Antony abholen gegangen war. Die Studentin, mit dem Rücken gegen die vom Herbst halb entblätterte große Pappel auf dem gelb werdenden, kurzgeschorenen Grase sitzend, vergrub ihre breite Kalmückennase und ihre Brille in ein medizinisches Notizenheft, das sie nicht las, während Geneviève von einem Wege zum andern wanderte, mit der Spitze ihres Sonnenschirmes die Steine wegschleuderte und allerlei Kreise und Linien, die ganze unbewußte Bilderschrift der zerstreuten Erwartung und Ungeduld, auf den Boden zeichnete.
Der Gegensatz zwischen den beiden Freundinnen war derselbe wie zwischen ihren Bewegungen. Die Russin war plump, kurzgewachsen, ohne ausgeprägte Merkmale des Alters und Geschlechts, hatte eine welke Haut und trug Kleider und Hüte aus den Läden des Studentenviertels. Die andre, wenig über die Zwanzig hinaus, war eine hohe, volle, elegante Erscheinung, und die Halbtrauerkleidung wurde durch einen weißen, mit Veilchen aufgeputzten Strohhut aufgehellt, der ein rosiges, glänzendes Gesicht, ein paar Augen von sammetartigem Grau, einen allzu roten und zu großen Mund von ausgeprägter Güte beschattete. Unter dem Eindruck der Sonntagsstille, jener Unbeweglichkeit aller Dinge, die in der Ebene so sinnfällig wirkt, wo jede Arbeit weit und breit deutlich wahrzunehmen ist, schwiegen sie schon eine lange Weile; plötzlich ertönte in ziemlicher Nähe ein Schuß, der aber von dem leichten Nebel des Spätherbstes gleichsam verstopft wurde.
"Sieh da," sagte Casta, während es unter ihrer Brille spöttisch aufblitzte, "Herr Mauglas Sohn schießt Ihnen ein paar Drosseln."
Der Sonnenschirm Genevièves fuhr noch immer zerstreut auf dem Boden herum.
"Sie sind gegen diesen jungen Mann ungerecht," fuhr Casta fort. "Er scheint Sie anzubeten, er hat Talent, ist bescheiden; denn Sie haben lange Zeit keine Ahnung gehabt, daß der Sohn Ihrer Nachbarn, der alten Gemüsegärtner, die er mit so viel Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit umgibt, der Mauglas aus den ›Débats‹, der ›Revue‹, der gelehrte Musikkritiker und Verfasser der schönen Studien über die griechischen und syrischen Tänze auf Grund der Medaillen ist ... Ich behaupte nicht, daß er schön oder auch nur elegant ist; aber um Ihretwillen strengt er sich an, gibt auf sich acht ... und dann sieht er wie ein Mann aus. Der ist kein verkleidetes Weib."
"So heiraten Sie ihn doch, meine Liebe!" rief Geneviève, indem sie sich trotzig umdrehte.
Die Studentin erhob ihr armes, mit Bändern und Federn herausgeputztes Eskimogesicht von dem Notizenheft und antwortete sanft, ohne den geringsten Groll:
"Ich möchte wohl, aber ihm würde das nicht passen ... so wie ich aussehe ... Aber hören Sie, Kleine..."
Sie rief sie mit einem liebevollen Wort heran und hielt die vor ihr Stehende bei den Händen fest.
"Ich muß Ihnen doch sagen, was mir schon so lange am Herzen liegt ... Was treiben Sie? Wohin gehen Sie? Wohin führen Sie dieses Kind, das vier Jahre jünger ist als Sie, aus dem Sie nie einen Mann machen werden, mögen Sie versuchen, was Sie wollen. Ja, wenn es noch der kleine Bruder, der Toni wäre. Der ist noch nicht einmal sechzehn Jahre alt und ein Stotterer, ein halber Krüppel... aber welche Energie, welche Willenskraft besitzt er!... Der andre hingegen ... Glauben Sie wirklich, daß er gearbeitet hat, während Sie ihn tagelang bei sich, dicht neben sich sitzen ließen und in dasselbe Buch mit ihm schauten? Trotzdem braucht er seine Arbeit, für sich wie für die andern – und Sie lenken ihn davon ab ... Ich denke an all das, was man sich ausgedacht hat, um die augenscheinliche Abnahme der Auffassungskräfte des jungen Eudeline zu erklären ... Um das zu entdecken, bedurfte es keiner Zauberei. Sie waren der Vorwand für die Lässigkeit dieses Lymphatikers, Sie waren sein Opium... Halten Sie inne, meine Liebe ... Sie sind im Begriff, diesen Jungen unglücklich zu machen – vielleicht auch sich selbst. Eine große Schwester, das gibt's nicht; die Sinne sind eine furchtbare Falle, in die er fällt, in die Sie eines Tages selber fallen werden. Und was dann? Seine Frau können Sie nicht sein ... etwas andres auch nicht, nicht wahr? ... Ich sehe voraus, daß Ihr binnen kurzem alle beide unglücklich sein werdet."
Errötend ließ Geneviéve, ohne ihre Hände zurückzuziehen, ohne den Versuch zu einer Unterbrechung oder einem Leugnen zu machen, die Freundin zu Ende reden. Diese Vorwürfe – wie oft hatte sie sich sie nicht selbst gemacht!
"Wollen Sie einen Beweis, liebe Sophie?" Sie hatte ihr Gesicht mit dem treuherzigen, schönen Lächeln der Brille der Kurzsichtigen genähert, um ihr die Klarheit ihrer Gedanken ja recht gut zu zeigen, und sagte ganz leise, ganz dicht vor ihrem Ohr, als sei noch etwas andres in der Nähe als Stille und Einsamkeit:
"Ich werde heiraten, liebe Freundin ..."
"Ah! Braves Mädchen!" rief die Studentin, feurig aufspringend. "Und wen?"
"Meinen alten Bewerber ... den Quästurbeamten Siméon. Er will heute zum Frühstück herkommen und seinen Antrag wiederholen. Aber diesmal ..."
Casta sah sie bestürzt an.
"Wie, wirklich, ist das Ernst? ... Siméon? ... Sie entscheiden sich für Siméon?"
Bei jeder dieser Fragen prägten sich die Bogen ihrer dicken Augenbrauen vor Erstaunen und Verblüffung stärker aus ... Wie, dieser Schönling, methodisch wie ein Remontoirwerk, dieser Hase, der sich vor seinem eignen Schatten fürchtete, ein Mensch ohne Ideen, ohne Leidenschaft, der nie etwas gesagt oder gedacht hatte, was nicht viele andre vor ihm gesagt und gedacht hatten – den zog Geneviéve Jzoard dem stolzen Talent, dem unabhängigen Geiste eines Mauglas vor!
"Hören Sie, Kleine, Sie sind wohl blöde geworden? Sie finden ihn wohl nicht schick genug, nicht jung genug?"
"Nein, das ist es nicht ... ich kenne Mauglas nicht gut genug ... ich habe Angst vor ihm ..."
"Hören Sie, Sie machen mir Angst ... Ich kenne diesen Mann nur durch Sie und habe vor ihm stets frei über mich, über meine Freunde gesprochen. Erst gestern hörte er zu, wie ich erzählte, daß ich in meinem Zimmer ..."
"Oh, seien Sie ruhig!" fiel Geneviéve lebhaft ein. "Ich halte ihn für ehrlich; aber er hat, wenn er lacht, in den Mundwinkeln, in der Krümmung seiner Lippen etwas – ich weiß nicht was – etwas Verborgenes und Zynisches, das mich stört. Der Gedanke, daß dieser Mann an mich denkt, daß er die Erinnerung an mich, mein Bild in seinem Geiste fortträgt, ist mir unangenehm."
"Und ich wäre darüber so glücklich!" murmelte die Russin und setzte seufzend hinzu:
"Wie sich im Leben alles schlecht fügt!"
An der Biegung des Weges ertönten sich nähernde Schritte und Stimmen. Die gelben Wangen der Studentin färbten sich unter ihren schreienden Hutbändern mit unschuldigem Purpur: sie hatte eben hinter Jzoard und Raimund den glänzenden Lauf eines Jagdgewehres und eine auf einem Tirolerhut steckende Fasanhahnfeder erblickt.