Die Teufel - Dritter Band - Fjodor M Dostojewski - E-Book

Die Teufel - Dritter Band E-Book

Fjodor M. Dostojewski

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Beschreibung

Bei dieser Ausgabe handelt es sich um den finalen Teil des Romans "Die Teufel" von Fjodor M. Dostojewski. Im dritten Band überschlagen sich dramatische Ereignisse in einer russischen Provinzstadt nahe Sankt Petersburg. Es geht um Verrat, Mord und Brandstiftung, die im Zusammenhang mit dem Handeln des Revolutionärs Pjotr Werchowenskij und dem ambivalenten Nikolai Stawrogin zu deuten sind...-

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Fjodor M Dostojewski

Die Teufel - Dritter Band

Roman

Übersezt von Hermann Röhl

Saga

Die Teufel - Dritter Band

 

Übersezt von Hermann Röhl

 

Titel der Originalausgabe: Besy

 

Originalsprache: Russischen

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1872, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726981278

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Erstes Kapitel

Das Fest

I

Das Fest kam zustande trotz der bedenklichen Begebnisse des »Schpigulinschen Tages«. Ich glaube, selbst wenn Lembke gerade in dieser Nacht gestorben wäre, hätte das Fest dennoch am Vormittage stattgefunden; eine so ganz besondere Bedeutung legte ihm Julija Michailowna bei. Leider verharrte sie bis zum letzten Augenblicke in ihrer Verblendung und hatte kein Verständnis für die Stimmung der Gesellschaft. Es glaubte zuletzt niemand mehr, daß der festliche Tag ohne irgendein kolossales Ereignis vorübergehen werde, ohne eine Katastrophe, wie sich manche ausdrückten, indem sie sich schon im voraus die Hände rieben. Viele bemühten sich allerdings, eine finstere Miene anzunehmen, welche Sorge für das Gemeinwohl ausdrücken sollte; aber im allgemeinen belustigt den Russen jede skandalöse Affäre, die sich in den Kreisen der vornehmen Gesellschaft zuträgt, ganz außerordentlich. Freilich kam bei uns noch ein Moment hinzu, das sehr viel ernster war als bloße Skandalsucht: es herrschte eine allgemeine Gereiztheit, eine unbändig boshafte Stimmung; es schien, als ob allen alles schrecklich zuwider geworden sei. Es war ein allgemeiner, unklarer Zynismus verbreitet, ein übertriebener Zynismus, zu dem man sich gewissermaßen erst zwang. Nur die Damen waren sich klar und einig, wenn auch nur in einem Punkte: in einem schonungslosen Hasse gegen Julija Michailowna. In diesem Gefühle kamen alle bei den Damen bestehenden Richtungen zusammen. Aber die Ärmste argwöhnte davon nichts; sie war bis zur letzten Stunde immer noch der Überzeugung, sie sei von einem großen Anhange umringt und alle seien ihr fanatisch ergeben.

Ich habe schon angedeutet, daß bei uns mancherlei elende Subjekte auftauchten. In den trüben Zeiten des Schwankens oder des Überganges finden sich solche elenden Subjekte immer und überall. Ich rede nicht von den sogenannten »leitenden Männern«, die stets allen voraneilen (das ist ihre Hauptsorge) und dabei ein zwar sehr oft recht dummes, aber doch mehr oder weniger bestimmtes Ziel verfolgen. Nein, ich rede nur von dem Gesindel. In jeder Übergangszeit erhebt sich dieses Gesindel, das in jeder Gesellschaft vorhanden ist und nicht nur kein Ziel, sondern nicht einmal eine Spur von einem Gedanken hat und nur seine innere Unruhe und Ungeduld mit aller Kraft zum Ausdruck bringt. Dabei gerät dieses Gesindel, ohne es selbst gewahr zu werden, fast immer unter die Herrschaft jenes kleinen Häufchens »leitender Männer«, die bei ihrer Tätigkeit ein bestimmtes Ziel verfolgen, und dieses Häufchen lenkt dann jenen ganzen Kehricht, wohin es ihm beliebt, wenn die »leitenden Männer« nur nicht selbst vollständige Idioten sind, was freilich ebenfalls vorkommt. Bei uns sagt man jetzt, wo alles vorüber ist, Peter Stepanowitsch habe seine Weisungen von der Internationale erhalten, Julija Michailowna die ihrigen von Peter Stepanowitsch, und diese habe nun nach seinem Kommando dem ganzen Gesindel die Richtung gewiesen. Die verständigsten Köpfe bei uns wundern sich jetzt über sich selbst, wie sie es nur fertiggebracht hätten, damals solche Fehlgriffe zu begehen. Worin eigentlich das Wesen unserer trüben Zeit bestand, und aus welchem Zustande und zu welchem Zustande sie bei uns den Übergang bildete, das weiß ich nicht, und das weiß, wie ich glaube, auch niemand außer etwa einigen fremden Gästen. Aber dabei bekamen auf einmal die allerelendesten Subjekte das Übergewicht und begannen laut alles Heilige zu kritisieren, während sie vorher nicht den Mund aufzumachen gewagt hatten, und die allerersten Männer, die bis dahin zum Segen des Ganzen die Oberhand gehabt hatten, fingen auf einmal an auf sie zu hören und selbst zu schweigen, zum Teil sogar in schmählichster Weise dazu zu kichern. Menschen wie Ljamschin und Teljatnikow, Gutsbesitzer wie Tentetnikow (in Gogols Roman »Tote Seelen«. Anmerkung des Übersetzers.), einheimische Rotznasen wie Radischtschew, melancholisch, aber hochmütig lächelnde Judenjünglinge, lachlustige, von auswärts gekommene Reisende, Dichter mit hauptstädtischer Richtung, Dichter ohne bestimmte Richtung und ohne Talent, aber dafür mit ärmellosen Jacken und Schmierstiefeln, Majore und Obersten, die sich über die Abgeschmacktheit ihres Berufes lustig machten und für einen Rubel Mehrgehalt bereit waren, sofort ihren Degen abzulegen und Eisenbahnsekretäre zu werden, Generäle, die zur Advokatur übergingen, fortschrittlich gebildete Makler, nach fortschrittlicher Bildung begierige kleine Kaufleute, unzählige Seminaristen, Frauen, die die Frauenfrage an ihrer eigenen Person in die Praxis umsetzten: all dies gewann bei uns plötzlich die Oberhand, und über wen? Über den Klub, über achtungswerte Würdenträger, über Generäle mit Stelzfüßen, über unsere so strenge, unnahbare Damenwelt. Wenn sogar Warwara Petrowna, bevor die Katastrophe mit ihrem Sohne eintrat, sich beinah zur Dienerin dieses ganzen Gesindels herabwürdigte, so kann man unseren anderen Minerven ihre damalige Torheit einigermaßen verzeihen. Jetzt führt man, wie ich schon gesagt habe, alles auf die Internationale zurück. Diese Vorstellung hat sich dermaßen festgesetzt, daß man sogar Fremden, die nach unserer Stadt kommen, über die Vorgänge in diesem Sinne berichtet. Erst neulich hat der Rat Kubrikow, ein Herr von zweiundsechzig Jahren mit dem Stanislausorden am Halse, öffentlich, ohne dazu herausgefordert zu sein, in tiefer Ergriffenheit erklärt, er habe ganze drei Monate lang unzweifelhaft unter dem Einflusse der Internationale gestanden. Und als man ihn mit aller seinen Jahren und seinen Verdiensten schuldigen Hochachtung aufforderte, sich deutlicher darüber auszusprechen, so konnte er zwar dafür keine anderen Beweise anführen, als daß er »durchaus diese Empfindung gehabt habe«, blieb aber trotzdem bei seiner Angabe, so daß man ihn nicht weiter befragte.

Ich wiederhole noch einmal. Es hatte sich auch bei uns ein kleines Häufchen vorsichtiger Leute erhalten, die sich gleich zu Anfang zurückgezogen und sich sogar eingeschlossen hatten. Aber welches Türschloß hält gegen das Naturgesetz stand? Auch in den vorsichtigsten Familien gibt es heranwachsende junge Mädchen, die notwendig manchmal ein bißchen tanzen müssen. Und so subskribierten denn schließlich auch diese vorsichtigen Leute sämtlich für das Fest zum Besten der Gouvernanten. Der geplante Ball sollte glänzend werden, etwas noch nie Dagewesenes:, man erzählte sich Wunderdinge davon; es gingen Gerüchte über zugereiste Fürsten mit Lorgnetten; über ein Dutzend Festordner, sämtlich junge Kavaliere mit Schleifen an der linken Schulter; über einige Herren aus Petersburg, die als Triebräder der geistigen Bewegung zu betrachten seien; Gerüchte, daß Karmasinow, um die Einnahmen zu erhöhen, eingewilligt habe, sein » Merci« im Kostüm einer Gouvernante unseres Gouvernements zu lesen; daß eine »literarische Quadrille« getanzt werden würde, ebenfalls vollständig in Kostümen, und jedes Kostüm eine bestimmte literarische Richtung versinnbildlichen werde; endlich daß auch »der ehrenhafte russische Gedanke« einen Kostümtanz ausführen werde, was schon an sich eine vollständige Neuheit darstelle. Wie sollte man da nicht subskribieren? Es subskribierten alle.

II

Der festliche Tag zerfiel nach dem Programm in zwei Teile: in eine literarische Matinee vom Mittage bis vier Uhr, und dann in einen Ball von zehn Uhr an die Nacht hindurch. Aber gerade in dieser Anordnung lagen schon die Keime von Unstimmigkeiten verborgen. Erstens hatte sich gleich von vornherein unter dem Publikum das Gerücht verbreitet, es werde gleich nach der Matinee oder sogar während derselben in einer extra dazu eingerichteten Pause ein Frühstück gereicht werden, natürlich gratis, als Teil des Programmes, und zwar mit Champagner. Der hohe Preis des Billetts (drei Rubel) trug dazu bei, daß das Gerücht Glauben fand. »Sonst hätte es ja gar keinen Zweck, daß ich subskribiere. Für das Fest ist ein ganzer Tag in Aussicht genommen; na, da gebe man uns auch etwas zu essen; sonst bekommt der Mensch Hunger.« In dieser Weise wurde bei uns über die Sache gesprochen. Ich muß bekennen, daß Julija Michailowna selbst durch ihre Leichtfertigkeit die Entstehung dieses Gerüchtes verschuldet hatte. Einen Monat vorher, als der große Gedanke noch seinen ersten Zauber auf sie ausübte, hatte sie diesem und jenem etwas von ihrem Feste zugeflüstert und unter anderm geäußert, es würden dabei Toaste ausgebracht werden; ja sie hatte sogar an eine der hauptstädtischen Zeitungen eine Mitteilung dieses Inhalts gesandt. Gerade diese Toaste waren es, was sie damals reizte: sie wollte sie selbst ausbringen und beschäftigte sich in ungeduldiger Erwartung bereits damit, sie abzufassen. In diesen Toasten sollte sozusagen unsere Fahne entrollt werden (was für eine Fahne? ich möchte wetten, daß die arme Frau so gut wie nichts zustande brachte), und sie sollten dann in Gestalt von Korrespondenzen in die hauptstädtischen Zeitungen übergehen, die höchste Behörde entzücken und bezaubern, dann sich über alle Gouvernements verbreiten und überall Bewunderung und Nachahmung hervorrufen. Aber für die Toaste war Champagner obligatorisch, und da man Champagner nicht auf nüchternen Magen trinken kann, so wurde selbstverständlich auch ein Frühstück notwendig. Als sich dann später durch ihre Bemühungen bereits ein Komitee gebildet hatte und man die Sache ernstlicher in Angriff nahm, da wurde ihr sofort deutlich bewiesen, daß, wenn man an Schmausereien denke, für die Gouvernanten nur sehr wenig übrigbleiben werde, selbst bei reichsten Einnahmen. Es boten sich demnach zwei Möglichkeiten dar: ein sardanapalischer Schmaus und Toaste und etwa neunzig Rubel für die Gouvernanten, oder Erzielung einer bedeutenden Einnahme für die letzteren bei einem sozusagen nur formellen Charakter des Festes. Übrigens hatte ihr das Komitee damit nur ein bißchen Bange machen wollen und ersann schließlich selbst eine vermittelnde, verständige Lösung der Frage: nämlich es solle ein in jeder Hinsicht sehr anständiges Fest gegeben werden, jedoch ohne Champagner; auf diese Art werde eine recht hübsche Summe übrigbleiben, weit mehr als neunzig Rubel. Aber Julija Michailowna war damit nicht einverstanden; ihr Charakter verachtete die kleinbürgerliche Mittelstraße. Sie erklärte sogleich, wenn der erste Gedanke undurchführbar sei, so müsse man sich unverzüglich für das entgegengesetzte Extrem entscheiden, das heißt eine kolossale Einnahme erzielen und dadurch alle übrigen Gouvernements neidisch machen. »Das Publikum muß denn doch begreifen,« schloß sie ihre flammende Rede im Komitee, »daß die Erreichung allgemein menschlicher Ziele unvergleichlich viel höher steht als leibliche Genüsse von kurzer Dauer, und daß ein Fest im Grunde nur die Verkündigung einer großen Idee ist, und daher muß es sich mit einem ganz ökonomisch eingerichteten kleinen Balle in deutscher Manier begnügen, der lediglich eine Art von Symbol sein will, wenn es denn einmal ohne einen solchen unausstehlichen Ball schlechterdings nicht geht!« Dermaßen haßte sie ihn auf einmal. Aber schließlich beruhigte man sie doch. Damals wurden zum Beispiel die »literarische Quadrille« und andere ästhetische Dinge als Ersatz für die leiblichen Genüsse ausgedacht und in Vorschlag gebracht. Damals erklärte auch Karmasinow endgültig seine Bereitwilligkeit, sein » Merci« vorzulesen (bis dahin hatte er das Komitee nur mit undeutlichen Redensarten gequält) und dadurch schon den bloßen Gedanken an das Essen in den Köpfen unseres unenthaltsamen Publikums zu ertöten. Auf diese Weise wurde der Ball wieder ein herrliches Prachtstück, wiewohl nunmehr in anderer Art. Und um sich nicht ganz in die Wolken zu verlieren, beschloß man, es solle zu Beginn des Balles Tee mit Zitrone und kleinen runden Kuchen gereicht werden, dann Orangeade und Limonade und gegen den Schluß sogar Gefrorenes, aber weiter auch nichts. Für diejenigen aber, die unfehlbar immer und überall Hunger und namentlich Durst verspürten, solle am Ende der Zimmerflucht ein besonderes Büfett aufgestellt werden; hier solle Prochorytsch, der Oberkoch im Klub, seines Amtes walten und (allerdings unter strengster Aufsicht des Komitees) den Gästen beliebige Speisen und Getränke verabfolgen, aber gegen besondere Bezahlung, und daher solle an der Tür des Saales ausdrücklich ein Plakat angebracht werden, daß das Büfett nicht zum Programme gehöre. Am Vormittag aber solle das Büfett überhaupt nicht geöffnet sein, um eine Störung der Vorlesung zu vermeiden, trotzdem das Büfett fünf Zimmer weit entfernt von dem Weißen Saale eingerichtet werden sollte, in welchem Karmasinow sein »Merci« vorzulesen eingewilligt hatte. Es ist merkwürdig, daß man diesem Ereignisse, nämlich der Vorlesung des »Merci«, im Komitee anscheinend eine ganz kolossale Wichtigkeit beimaß und sogar sehr praktisch denkende Menschen diese Auffassung teilten. Was nun aber gar die poetisch veranlagten Naturen anlangt, so erklärte zum Beispiel die Frau Adelsmarschall Herrn Karmasinow, sie werde sogleich nach der Vorlesung in die Wand ihres Weißen Saales eine Marmortafel einfügen lassen mit der goldenen Inschrift, daß an dem und dem Tage und Jahre hier an dieser Stelle der große russische und europäische Schriftsteller, nachdem er die Feder niedergelegt, sein »Merci« vorgelesen und auf diese Weise zum erstenmal vom russischen Publikum in der Gestalt der Vertreter unserer Stadt Abschied genommen habe; diese Inschrift sollten alle schon sogleich auf dem Balle lesen können, das heißt nur fünf Stunden nach der Vorlesung des »Merci« . Ich weiß zuverlässig, daß gerade Karmasinow darauf bestand, das Büfett dürfe am Vormittag während seiner Vorlesung unter keinen Umständen geöffnet sein, obwohl mehrere Komiteemitglieder bemerkten, daß dies zu unseren Sitten und Gewohnheiten nicht recht stimme.

Dies war die Lage der Dinge, während man in der Stadt immer noch an einen sardanapalischen Schmaus glaubte, das heißt an ein vom Komitee gestelltes Büfett; man glaubte daran bis zur letzten Stunde. Sogar die jungen Damen phantasierten von einer Unmenge von Konfekt und Eingemachtem und anderen schönen Dingen. Alle wußten, daß die Einnahme sehr reich ausgefallen sei, daß sich die ganze Stadt dazu dränge, daß auch aus den Kreisen viele angereist kämen und die Billette nicht ausreichten. Es war auch bekannt, daß über den festgesetzten Preis hinaus noch bedeutende Spenden dargebracht waren: Warwara Petrowna zum Beispiel hatte für ihr Billett dreihundert Rubel bezahlt und wollte zur Ausschmückung des Saales alle Blumen aus ihren Gewächshäusern liefern. Die Frau Adelsmarschall (Komiteemitglied) gab ihr Haus und die Beleuchtung her; der Klub stellte die Musik und die Bedienung und überließ dem Komitee für den ganzen Tag seinen Prochorytsch. Auch sonst waren noch Spenden gemacht, wenngleich nicht so beträchtliche, so daß sogar der Gedanke auftauchte, den ursprünglichen Preis des Billetts von drei Rubeln auf zwei herabzusetzen. Im Komitee hatte man tatsächlich zuerst gefürchtet, daß bei drei Rubeln die jungen Damen nicht kommen würden, und vorgeschlagen, Familienbillette einzurichten, dergestalt, daß jede Familie nur für eine junge Dame bezahlen solle und alle übrigen zu der Familie gehörigen jungen Damen, selbst wenn sie zehn an Zahl wären, freien Eintritt hätten. Aber alle Befürchtungen erwiesen sich als grundlos: im Gegenteil, gerade die jungen Damen erschienen zahlreich. Selbst die ärmsten Beamten brachten ihre jungen Mädchen mit, und es war ganz klar, daß, wenn sie keine jungen Mädchen gehabt hätten, es ihnen selbst gar nicht in den Sinn gekommen wäre, zu subskribieren. Ein Sekretär in untergeordneter Stellung brachte seine sämtlichen sieben Töchter mit, seine Frau natürlich ungerechnet, und außerdem noch eine Nichte, und jede von diesen Damen hatte eine Eintrittskarte für drei Rubel in der Hand. Man kann sich vorstellen, was für eine Revolution in unserer Stadt herrschte! Man ziehe auch in Betracht, daß, da das Fest in zwei Abteilungen zerfiel, auch für jede Dame zwei Toiletten erforderlich waren: eine Matinee-Toilette für die Vorlesung und eine Balltoilette für die Tänze. Viele Familien aus dem Mittelstande versetzten, wie sich später herausstellte, zu diesem Tage alles, sogar die Wäsche, die Bettlaken und beinahe auch die Matratzen bei unseren Juden. (Von Juden hat sich im Laufe der letzten zwei Jahre eine erschreckende Menge eingenistet, und der Zuzug wird immer noch je länger je stärker.) Fast alle Beamten ließen sich einen Gehaltsvorschuß geben, und manche Gutsbesitzer verkauften notwendiges Vieh; und alles nur, damit ihre Fräulein Töchter bei dem Feste wie Marquisinnen auftreten könnten. Die Pracht der Toiletten war diesmal eine für unseren Ort unerhörte. Die Stadt war in den vorhergehenden zwei Wochen voll von Familiengeschichtchen, die alle sogleich von unseren Spöttern der Frau Gouverneur zugetragen wurden. Karikaturen einzelner Familien wurden in Umlauf gesetzt. Ich selbst habe in Julija Michailownas Album mehrere derartige Zeichnungen gesehen. All dies wurde natürlich auch denjenigen Personen, auf die sich die Geschichtchen bezogen, nur zu gut bekannt; dies war, wie mir scheint, der Grund, weswegen in den Familien in der allerletzten Zeit ein so starker Haß gegen Julija Michailowna heranwuchs. Jetzt schimpfen alle auf sie und knirschen bei der Erinnerung an das Geschehene mit den Zähnen. Aber es war schon vor dem Feste klar, daß, falls das Komitee irgendeinen Fehler beginge oder der Ball in irgendwelcher Hinsicht mißglückte, ein unerhörter Ausbruch von Empörung erfolgen werde. Daher erwartete jeder im stillen einen Skandal; wenn aber alle ihn schon so erwarteten, wie hätte er da nicht eintreten sollen?

Pünktlich um zwölf Uhr fing das Orchester an zu spielen. Da ich zu den Festordnern gehörte, das heißt, einer der zwölf jungen Männer mit Schleifen war, so habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie dieser Tag schmählichen Angedenkens begann. Er begann mit einem maßlosen Gedränge am Eingange. Wie kam es, daß alles gleich von Anfang an mißglückte und als erste die Polizei Fehler beging? Dem wirklichen Publikum messe ich keine Schuld bei: die Familienväter, auch hochgestellte, suchten sich nicht durchzudrängen und drängten niemanden, sondern gerieten vielmehr, wie man sagt, schon auf der Straße in Verlegenheit beim Anblick des für unsere Stadt ungewöhnlichen Andranges der Menge, die das Portal belagerte und nicht einfach hineinging, sondern einen Sturmangriff ausführte. Unterdessen kamen fortwährend Equipagen angefahren und versperrten schließlich die Straße. Jetzt, wo ich dies schreibe, habe ich sichere Beweise für die Behauptung, daß mehrere Personen des gemeinsten Gesindels unserer Stadt von Ljamschin, Liputin und vielleicht noch von einem dritten, welche alle drei, ebenso wie ich, zu den Festordnern gehörten, einfach ohne Billette hereingelassen wurden. Wenigstens wurden sogar ganz unbekannte Individuen sichtbar, die aus den Kreisen und anderswoher herbeigekommen waren. Kaum hatten diese Wilden den Saal betreten, als sie sich sofort einstimmig (wie wenn sie dazu instruiert gewesen wären) erkundigten, wo sich das Büfett befinde, und, sowie sie erfuhren, daß keines da sei, ohne allen Anstand und mit einer bisher bei uns noch nicht dagewesenen Dreistigkeit zu schimpfen begannen. Allerdings waren manche von ihnen betrunken angekommen. Einige waren wie Wilde von der Pracht des Saales der Frau Adelsmarschall überrascht, da sie noch nie etwas Ähnliches gesehen hatten, wurden beim Eintritt ein Weilchen still und sahen sich mit offenem Munde um. Dieser große Weiße Saal war tatsächlich prächtig, wenn auch von einem schon aus der Mode gekommenen Baustile: er war von gewaltigen Dimensionen, ging durch zwei Stockwerke und hatte eine altertümlich gemalte und mit Vergoldung geschmückte Decke, Galerien, Wandspiegel, rote Draperie auf weißem Grunde, Marmorstatuen (vielleicht nicht sehr schöne, aber immerhin Statuen) und altertümliche, schwere Möbel aus der napoleonischen Zeit, weiß mit Gold und mit rotem Samt überzogen. Zurzeit befand sich am einen Ende des Saales eine hohe Estrade für die Literaten, welche Vorlesungen halten sollten, und der ganze Saal war wie das Parkett eines Theaters dicht mit Stühlen vollgestellt, mit breiten Durchgängen für das Publikum. Aber nach den ersten Augenblicken des Erstaunens begannen die sinnlosesten Fragen und Bemerkungen. »Wir wollen vielleicht noch gar keine Vorlesung ... Wir haben unser Geld bezahlt ... Das Publikum ist in einer unverschämten Weise betrogen worden ... Wir sind hier die Herren vom Hause, und nicht die Lembkes! ...« Kurz, es machte den Eindruck, als seien sie gerade zu diesem Zwecke hereingelassen worden. Besonders erinnere ich mich an ein Renkontre, bei welchem sich der fremde junge Fürst auszeichnete, der am Vormittag des vorhergehenden Tages bei Julija Michailowna gewesen war, einen großen Stehkragen getragen und wie eine Holzpuppe ausgesehen hatte. Er hatte sich ebenfalls auf ihre dringende Bitte bereitfinden lassen, sich eine Schleife an die linke Schulter zu stecken und mit uns zusammen das Amt eines Festordners zu versehen. Nun stellte es sich heraus, daß diese stumme Wachsfigur, die sich nur durch ein Federwerk zu bewegen schien, wenn auch nicht zu reden, so doch in ihrer Art zu handeln verstand. Als ein pockennarbiger, hochgewachsener Hauptmann a. D., gestützt auf einen ganzen sich hinter ihm herdrängenden Schwarm von allerlei Gesindel, ihm mit der Frage zusetzte, wo man hier zum Büfett komme, da winkte er einem Polizisten. Seine Weisung wurde unverzüglich ausgeführt: trotz seines Schimpfens wurde der betrunkene Hauptmann aus dem Saale hinausspediert. Unterdes begann endlich auch das »wirkliche« Publikum zu erscheinen und zog sich in drei langen Strömen in den drei Durchgängen zwischen den Stühlen hin. Das unordentliche Element wurde ruhig; aber das Publikum, auch das »beste«, machte unzufriedene und erstaunte Gesichter; manche Damen waren geradezu ängstlich.

Endlich hatten alle Platz genommen; nun schwieg auch die Musik. Man fing an sich zu schneuzen und sich umzusehen. Man wartete jedoch mit gar zu stolzer Miene, was an sich schon immer ein schlechtes Vorzeichen ist. Aber Lembkes waren noch nicht da. Seide, Samt und Brillanten glänzten und leuchteten auf allen Seiten; die Luft war von Wohlgerüchen erfüllt. Die Männer hatten ihre sämtlichen Orden angelegt, und selbst die alten Herren trugen Uniform. Endlich erschien auch die Frau Adelsmarschall, von Lisa begleitet. Noch nie war Lisa so blendend schön gewesen wie an diesem Tage und noch nie in so reicher Toilette. Ihr Haar war in Locken frisiert, ihre Augen blitzten, auf ihrem Gesichte strahlte ein Lächeln. Sie machte augenscheinlich Effekt; man betrachtete sie und flüsterte einander Bemerkungen über sie zu. Man sagte, sie suche mit den Augen nach Stawrogin; aber weder Stawrogin noch Warwara Petrowna waren anwesend. Ich verstand damals Lisas Gesichtsausdruck nicht: warum zeigte dieses Gesicht so viel Glückseligkeit und Freude, so viel Energie und Kraft? Ich erinnerte mich an das Geschehnis vom vorhergehenden Tage und war völlig verblüfft. Aber Lembkes waren immer noch nicht da. Schon dies war ein Fehler. Ich habe später erfahren, daß Julija Michailowna bis zum letzten Augenblicke auf Peter Stepanowitsch gewartet hatte, ohne den sie in der letzten Zeit keinen Schritt tun konnte, obwohl sie sich dessen nie so recht bewußt war. Ich bemerke in Parenthese, daß Peter Stepanowitsch am vorhergehenden Tage in der letzten Komiteesitzung die Schleife eines Festordners abgelehnt und die Frau Gouverneur dadurch sehr betrübt hatte, sogar so, daß sie Tränen vergoß. Zu ihrem Erstaunen und nachher auch zu ihrer größten Bestürzung (ich werde das später erklären) blieb er den ganzen Vormittag unsichtbar und erschien auch nicht zu den literarischen Vorlesungen, so daß ihn bis zum Abend niemand zu sehen bekam. Endlich begann das Publikum deutlich seine Ungeduld zu bekunden. Auch auf der Estrade zeigte sich noch niemand. In den hinteren Reihen begann man in die Hände zu klatschen wie im Theater. Die älteren Herren und Damen machten finstere Gesichter und bemerkten: »Lembkes benehmen sich offenbar schon gar zu vornehm.« Sogar bei den besseren Teilen des Publikums begann ein törichtes Geflüster: das Fest werde vielleicht wirklich nicht stattfinden, Lembke sei vielleicht wirklich ernstlich krank, und so weiter und so weiter. Aber Gott sei Dank, endlich erschienen Lembkes: er führte sie am Arme; ich muß gestehen, ich war selbst sehr besorgt gewesen, ob sie kommen würden. Aber nun waren alle Mutmaßungen zu Ende, und die Wirklichkeit trat in ihr Recht. Das Publikum atmete gewissermaßen auf. Lembke selbst schien völlig gesund zu sein, und diesen Eindruck gewannen, wie ich mich erinnere, alle von ihm; denn man kann sich vorstellen, wie viele Blicke sich auf ihn richteten. Ich merke noch als charakteristisch an, daß es überhaupt im Kreise unserer höchsten Gesellschaft nur sehr wenige Leute gab, die da annahmen, daß Lembke irgendwie geistig erkrankt sei: sie fanden seine dienstlichen Handlungen vollständig ordnungsmäßig, dergestalt, daß sie sogar den Vorgang, der sich am vorhergehenden Tage auf dem Platze abgespielt hatte, beifällig aufnahmen. »So hätte er nur gleich von Anfang an verfahren sollen,« sagten die höheren Beamten. »Aber da kommen nun solche Herren mit philanthropischen Anschauungen her und müssen doch schließlich zu dem alten Verfahren greifen und merken dabei nicht, daß das gerade um der Philanthropie willen notwendig ist.« So urteilte man wenigstens im Klub. Man tadelte nur, daß er dabei hitzig geworden war: »So etwas muß mit größerer Kaltblütigkeit geschehen; na, aber er ist noch neu in seinem Amte,« sagten die Sachverständigen. Mit der gleichen Neugier richteten sich alle Blicke auch auf Julija Michailowna. Über einen gewissen Punkt kann natürlich von mir, dem Berichterstatter, niemand sehr eingehende Details verlangen: es handelt sich da um ein Geheimnis, um eine Frau. Ich weiß nur so viel: am Abend des vorhergehenden Tages war Julija Michailowna in Andrei Antonowitschs Arbeitszimmer gekommen und bis lange nach Mitternacht bei ihm geblieben. Sie hatte ihm vergeben und ihn getröstet. Die beiden Ehegatten hatten sich über alles geeinigt; alles war vergessen; und als am Schlusse der Aussprache v. Lembke mit Schrecken sich an die Schlußszene der vorhergehenden Nacht erinnert hatte und vor seiner Frau auf die Knie gefallen war, da hatte das reizende Händchen und nach dem Händchen auch die Lippen der Gattin den flammenden Erguß der reuigen Worte des ritterlich zartfühlenden, aber von Rührung überwältigten Mannes gehemmt. Alle sahen die Glückseligkeit auf ihrem Gesichte. Sie schritt mit offener Miene und in prächtiger Toilette einher. Sie schien auf den Gipfel ihrer Wünsche gelangt zu sein: das Fest, welches das Ziel und die Krone ihrer Politik bildete, war zur Wirklichkeit geworden. Während sie zu ihren dicht an der Estrade befindlichen Plätzen hindurchgingen, verneigten die beiden Lembkes in Erwiderung der Verbeugungen des Publikums sich nach allen Seiten. Sie wurden sofort umringt. Die Frau Adelsmarschall erhob sich, um sie zu begrüßen ... Aber da begab sich ein garstiges Mißverständnis: das Orchester ließ ohne jeden Anlaß einen schmetternden Tusch ertönen, nicht einen Marsch, sondern einfach einen Tafeltusch wie bei uns im Klub bei Tisch, wenn bei einem offiziellen Diner auf jemandes Gesundheit getrunken wird. Ich weiß jetzt, daß dies Ljamschin in seiner Eigenschaft als Festordner angeordnet hatte, als sollte damit den eintretenden Lembkes eine Ehre erwiesen werden. Freilich konnte er sich immer damit herausreden, er habe es aus Dummheit oder aus Übereifer getan ... Leider wußte ich damals noch nicht, daß diese Buben sich um Entschuldigungen überhaupt keine Sorge mehr machten und mit jenem Tage alles zum Abschluß zu bringen gedachten. Aber mit dem Tusche war es noch nicht genug: während das Publikum noch ärgerlich staunte und lächelte, erscholl plötzlich am Ende des Saales und auf den Galerien ein Hurra, ebenfalls wie den Lembkes zu Ehren. Es waren nicht viele Stimmen; aber sie setzten, wie ich gestehen muß, das Rufen eine ziemliche Weile fort. Julija Michailowna wurde dunkelrot, und ihre Augen fingen an zu funkeln. Lembke blieb an seinem Platze stehen, wandte sich nach der Seite hin, von wo das Geschrei kam, und ließ einen majestätischen, strengen Blick über den Saal schweifen. Man veranlaßte ihn, sich schleunigst hinzusetzen. Ich bemerkte wieder mit Angst auf seinem Gesichte jenes gefährliche Lächeln, mit dem er am Vormittage des vorhergehenden Tages im Salon seiner Gemahlin dagestanden und Stepan Trofimowitsch angesehen hatte, ehe er an ihn herantrat. Es schien mir, daß auch jetzt sein Gesicht einen unheilverkündenden und, was das Allerschlimmste war, einen etwas komischen Ausdruck trug, einen Ausdruck, als ob er in Gottes Namen sich zum Opfer bringen wolle, um nur damit den höheren Zielen seiner Gemahlin zu dienen ... Julija Michailowna winkte mich schnell zu sich und flüsterte mir zu, ich möchte zu Karmasinow laufen und ihn dringend bitten anzufangen. Und siehe da: kaum daß ich mich umgedreht hatte, da trug sich eine andere Abscheulichkeit zu, nur noch weit garstiger als die erste. Auf der Estrade, auf der leeren Estrade, wohin bis jetzt die Blicke und Erwartungen aller gerichtet waren, und wo nur ein kleiner Tisch, dahinter ein Stuhl und auf dem Tische ein Glas Wasser auf einem silbernen Präsentierteller zu sehen waren, auf der leeren Estrade erschien plötzlich die riesenhafte Gestalt des Hauptmanns Lebjadkin im Frack und mit weißer Halsbinde. Ich war so überrascht, daß ich meinen Augen nicht traute. Der Hauptmann schien verlegen zu sein und blieb im Hintergrunde der Estrade stehen. Auf einmal hörte man aus dem Publikum rufen: »Lebjadkin! du?« Die dumme, rote Visage des Hauptmanns (er war total betrunken) verzog sich bei diesem Anrufe zu einem breiten, stumpfsinnigen Lächeln. Er hob die Hand in die Höhe, wischte sich mit ihr die Stirn, schüttelte seinen struppigen Kopf, machte dann, wie wenn er zu allem entschlossen wäre, zwei Schritte vorwärts und – brach plötzlich in ein prustendes Lachen aus, das nicht laut, aber helltönend, langgezogen und glückselig war, und bei dem die ganze wuchtige Masse seines Körpers in schaukelnde Bewegung geriet und die kleinen Augen sich zusammenzogen. Bei diesem Anblick fing beinah die Hälfte des Publikums an zu lachen, und etwa zwanzig Menschen klatschten Beifall. Der ernste Teil des Publikums wechselte finstere Blicke; das Ganze dauerte indes nicht länger als eine halbe Minute. Liputin mit seiner Festordnerschleife und zwei Diener liefen schnell auf die Estrade; sie faßten den Hauptmann behutsam unter die Arme, und Liputin flüsterte ihm etwas zu. Der Hauptmann runzelte die Stirn, murmelte: »Na, wenn's so ist!«, machte eine Handbewegung, als verzichte er, wendete dem Publikum seinen gewaltigen Rücken zu und verschwand mit seinen Begleitern. Aber einen Augenblick darauf sprang Liputin wieder auf die Estrade. Auf seinen auch sonst stets lächelnden Lippen lag die süßeste Sorte von Lächeln, die er hervorbringen konnte, und die gewöhnlich an Essig mit Zucker erinnerte; in der Hand aber hielt er ein Blatt Briefpapier. Mit kleinen, aber schnellen Schritten trat er an den vorderen Rand der Estrade.

»Meine Herrschaften,« wandte er sich an das Publikum, »durch Unachtsamkeit ist ein komisches Mißverständnis entstanden, das bereits beseitigt ist; aber hoffnungsvoll habe ich den Auftrag übernommen und die tiefe, ehrerbietige Bitte eines in unserer Stadt lebenden Dichters ... durchdrungen von dem humanen, hohen Ziele ... trotz seines persönlichen Zustandes ... demselben Ziele, das uns alle vereinigt hat ... die Tränen armer gebildeter Mädchen unseres Gouvernements zu trocknen ... würde dieser Herr, das heißt, ich will sagen, dieser hiesige Dichter ... trotz des Wunsches, sein Inkognito zu bewahren ... er würde sehr wünschen, sein Gedicht vor dem Beginne des Balles vorgelesen zu sehen ... das heißt, ich wollte sagen, vor dem Beginne der Vorlesungen. Obgleich dieses Gedicht nicht im Programm steht und nicht darin stehen kann ... weil es erst vor einer halben Stunde eingeliefert ist, so wollte es uns doch scheinen« (wem denn: »uns«? Ich führe seine unzusammenhängende, konfuse Ansprache wörtlich an), »daß wegen der bemerkenswerten Naivität des Gefühls, das sich mit einer gleichfalls bemerkenswerten Heiterkeit vereinigt, das Gedicht vorgelesen werden könne, das heißt, nicht als etwas Ernstes, sondern nur als etwas zum Feste Passendes ... Mit einem Worte, zur Idee ... Um so mehr, da es nur einige Zeilen sind ... und ich wollte dazu die Erlaubnis des wohlgeneigten Publikums erbitten.«

»Lesen Sie es!« brüllte eine Stimme am Ende des Saales.

»Also soll ich es lesen?«

»Lesen Sie, lesen Sie!« riefen viele Stimmen.

»Ich werde es mit Erlaubnis des Publikums lesen,« sagte Liputin und verzog sein Gesicht wieder zu demselben zuckerigen Lächeln.

Indessen schien er sich doch nicht recht dazu entschließen zu können, und es kam mir sogar so vor, als befinde er sich in Aufregung. Trotz all ihrer Dreistigkeit fühlen sich solche Leute doch manchmal unsicher. Übrigens hätte der Seminarist sich nicht unsicher gefühlt; aber Liputin gehörte noch zur älteren Generation.

»Ich sage im voraus, das heißt, ich habe die Ehre im voraus zu sagen, daß dies nicht etwa eine Ode ist, wie sie früher für Feste geschrieben wurden, sondern sozusagen beinahe ein Scherz, aber voll unzweifelhaften Gefühles, das sich mit spaßhafter Heiterkeit vereinigt, und voll sehr realistischer Wahrheit.«

»Vorlesen, vorlesen!« Selbstverständlich konnte ihn niemand daran hindern. Überdies war er mit seiner Festordnerschleife aufgetreten. Mit helltönender Stimme deklamierte er:

»Der vaterländischen Gouvernante der hiesigen

Gegenden von einem Dichter zum Feste gewidmet.

 

›Sei gegrüßt uns, arme Gouvernante!‹

Rufen alle wir unisono!

Ob man deinen Wert auch oft verkannte,

Heute sei fidel und juble froh!«

»Das ist von Lebjadkin! Wirklich, von Lebjadkin!« erschollen mehrere Stimmen.

Gelächter ließ sich vernehmen; es wurde sogar applaudiert, wiewohl nicht von vielen.

»Kinder lehrst französisch du parlieren,

Wischst die rotz'gen Nasen ihnen rein,

Und du würdest dich gewiß nicht zieren,

Wollt' ein Kirchendiener um dich frei'n.«

»Hurra, hurra!«

»Doch in dieser Zeit voll Not und Jammer

Führt dich auch ein Kirchendiener nicht

Als sein Ehweib in die Hochzeitskammer,

Wenn es an Moneten dir gebricht.«

»Sehr richtig, sehr richtig! Das ist der echte Realismus! Ohne Moneten ist nichts anzufangen!«

»Aber heute wird es uns gelingen,

Schmausend, tanzend hier in diesem Saal,

Gouvernante, für dich aufzubringen,

Was du brauchst, ein tücht'ges Kapital.

 

Mit 'ner Mitgift kann dir's dann nicht fehlen;

Man bewirbt sich stark um deine Hand;

Wirst im Handumdrehen dich vermählen,

Und dann spuck auf deinen früh'ren Stand!«

Ich muß gestehen, ich traute meinen Ohren nicht. Dies war eine so offenkundige Frechheit, daß keine Möglichkeit blieb, Liputin auch nur mit Dummheit zu entschuldigen. Und Liputin war überhaupt nicht dumm. Die Absicht war klar, wenigstens für mich: es sollte so bald wie möglich alles in Unordnung gebracht werden. Einige Verse dieses verrückten Gedichtes, zum Beispiel der letzte, waren derartig, daß keine Dummheit sie entschuldigen konnte. Liputin schien auch selbst die Empfindung zu haben, daß er mit der Ausführung dieser seiner Heldentat zu weit gegangen sei; er bekam einen solchen Schreck über seine eigene Dreistigkeit, daß er nicht einmal von der Estrade herunterging, sondern stehen blieb, wie wenn er noch etwas hinzufügen wollte. Er hatte sicherlich angenommen, daß die Sache einen anderen Ausgang nehmen werde; aber selbst das Häufchen von Tumultuanten, das während der Ausführung des schändlichen Streiches applaudiert hatte, schwieg auf einmal, wie wenn es selbst erschrocken wäre. Das Allerdümmste war, daß viele von ihnen das ganze Gedicht zunächst als echtes Pathos aufgefaßt hatten, das heißt, nicht als ein Pasquill, sondern tatsächlich als wirkliche Wahrheit über die Gouvernanten, als eine tendenziöse Dichtung. Aber die übermäßige Ungeniertheit des Ausdrucks machte schließlich auch sie stutzig. Was nun das gesamte Publikum anlangt, so fühlte sich der ganze Saal nicht nur unangenehm berührt, sondern offensichtlich beleidigt. Ich irre mich nicht, wenn ich dies als die allgemeine Empfindung bezeichne. Julija Michailowna sagte später, sie sei nahe daran gewesen, in Ohnmacht zu fallen. Einer der achtungswertesten alten Herren veranlaßte seine Gattin aufzustehen, und beide verließen, von den aufgeregten Blicken des Publikums begleitet, den Saal. Wer weiß, vielleicht hätte dieses Beispiel noch manchen zur Nachahmung bewogen, wenn nicht in diesem Augenblicke Karmasinow selbst auf der Estrade erschienen wäre, in Frack und weißer Binde und mit einem Hefte in der Hand. Julija Michailowna richtete einen Blick voll Entzücken auf ihn wie auf einen Retter ... Ich aber war schon hinter den Kulissen; ich mußte mit Liputin sprechen.

»Das haben Sie mit Absicht getan!« sagte ich und ergriff ihn empört am Arme.

»Ich habe mir, weiß Gott, nichts dabei gedacht,« erwiderte er sofort, indem er sich zusammenkrümmte; er log und spielte den Unglücklichen. »Die Verse waren soeben gebracht worden, und ich dachte, daß sie als ein heiterer Scherz …«

»Das haben Sie gar nicht gedacht. Halten Sie denn dieses abgeschmackte Zeug wirklich für einen heiteren Scherz?«

»Ja, das tue ich.«

»Sie lügen einfach, und das Gedicht ist Ihnen gar nicht eben erst gebracht worden. Sie haben es selbst mit Lebjadkin zusammen verfaßt, vielleicht schon gestern, um einen Skandal hervorzurufen. Der letzte Vers rührt zweifellos von Ihnen her; ebenso das von dem Kirchendiener Gesagte. Warum ist er denn im Frack auf die Estrade gekommen? Offenbar war von Ihnen alles dazu vorbereitet, daß er das Gedicht selbst vorlesen sollte, wenn er sich nicht betrunken hätte.«

Liputin blickte mich kalt und boshaft an.

»Was geht Sie das an?« fragte er auf einmal mit seltsamer Ruhe.

»Was ist das für eine Frage? Sie tragen ebenfalls diese Schleife ... Wo ist Peter Stepanowitsch?«

»Ich weiß es nicht; er wird wohl hier irgendwo sein; wieso?«

»Ich will sagen, daß ich jetzt alles durchschaue. Das ist einfach ein Komplott gegen Julija Michajlowna, um das Fest durch einen Skandal zu stören ...«

Liputin warf mir wieder einen schrägen Blick zu.

»Was kümmert es Sie?« sagte er lächelnd, zuckte mit den Achseln und ging zur Seite.

Es überlief mich kalt. Alle meine bösen Ahnungen gingen in Erfüllung. Und ich hatte noch gehofft, daß ich mich irrte! Was sollte ich nun tun? Ich dachte schon daran, Stepan Trofimowitsch um Rat zu fragen; aber dieser stand vor dem Spiegel, probierte verschiedene Arten des Lächelns und blickte alle Augenblicke auf einen Zettel, auf dem er sich Notizen gemacht hatte. Er sollte unmittelbar nach Karmasinow auftreten und war nicht mehr imstande mit mir ein Gespräch zu führen. Sollte ich zu Julija Michailowna laufen? Aber dazu war es noch zu früh; für sie war eine weit stärkere Lektion erforderlich, um sie von der Einbildung zu kurieren, daß sie von Anhängern »umringt« und alle ihr »fanatisch ergeben« seien. Sie hätte mir nicht geglaubt und mich für einen Gespensterseher gehalten. Und wodurch hätte sie auch helfen können? »Ach was!« dachte ich; »was geht es mich eigentlich an? Ich werde die Schleife abmachen und nach Hause gehen, sobald die Geschichte losgeht.« Ich gebrauchte diesen Ausdruck: »sobald die Geschichte losgeht«; das ist mir noch im Gedächtnis.

Aber ich mußte hingehen und Karmasinow hören. Als ich zum letztenmal einen Blick hinter die Kulissen warf, bemerkte ich, daß sich dort ziemlich viel fremdes Volk herumtrieb, kam und ging, darunter sogar Weiber. Dieses »hinter den Kulissen« war ein ziemlich enger Raum, der vom Publikum durch einen Vorhang vollständig abgeschlossen war und nach hinten zu über einen Korridor weg mit den anderen Zimmern in Verbindung stand. Hier warteten unsere Vorleser, bis sie an die Reihe kamen. Aber mich setzte in diesem Augenblicke besonders der Lektor in Erstaunen, der auf Stepan Trofimowitsch folgen sollte. Dies war ebenfalls eine Art Professor (ich weiß auch jetzt nicht genau, was er eigentlich war), der freiwillig nach einem Studentenkrawalle von einer Hochschule abgegangen und aus irgendwelchem Grunde nach unserer Stadt gekommen war, und zwar erst vor einigen Tagen. Er hatte ebenfalls Empfehlungen an Julija Michailowna mitgebracht, und sie hatte ihn voll Verehrung aufgenommen. Ich weiß jetzt, daß er vor der Vorlesung nur an einem Abend bei ihr gewesen war, den ganzen Abend über bei ihr geschwiegen, über die Scherze und den ganzen Ton der Gesellschaft, die sich um Julija Michailowna scharte, zweideutig gelächelt und durch sein hochmütiges und gleichzeitig bis zur Schreckhaftigkeit empfindliches Wesen auf alle einen unangenehmen Eindruck gemacht hatte. Zu einer Vorlesung hatte ihn Julija Michailowna selbst angeworben. Jetzt ging er von einer Ecke in die andere und flüsterte ebenfalls, gerade wie Stepan Trofimowitsch, etwas vor sich hin, blickte aber zu Boden und nicht in den Spiegel. Er probierte nicht verschiedene Arten des Lächelns, obwohl er häufig und grimmig lächelte. Es war klar, daß auch mit ihm nicht zu reden war. Er war von Statur klein, anscheinend etwa vierzig Jahre alt, kahlköpfig, mit grauem Barte, anständig gekleidet. Aber am meisten interessierte es mich, daß er bei jeder Wendung die rechte Faust in die Höhe hob, sie in der Luft über seinem Kopfe schüttelte und dann auf einmal niederfallen ließ, als ob er einen Gegner zu Boden schmetterte. Diesen Hokuspokus machte er alle Augenblicke. Mir wurde bänglich zumute. Ich lief so schnell wie möglich hin, um Karmasinow zu hören.

III

Im Saale herrschte wieder eine unheimliche Atmosphäre. Ich erkläre im voraus: ich verbeuge mich respektvoll vor der Größe eines Genies; aber warum benehmen sich denn diese Herren, unsere Genies, am Ende ihrer ruhmvollen Jahre manchmal vollständig wie kleine Knaben? Was hatte es für Sinn und Verstand, daß Karmasinow mit einer Grandezza auftrat, die für fünf Kammerherrn ausgereicht hätte? Kann man denn das Interesse eines solchen Publikums, wie es das unsrige ist, für einen einzigen Gegenstand eine ganze Stunde lang rege erhalten? Und dann habe ich allgemein die Beobachtung gemacht, daß selbst ein großes Genie bei einer öffentlichen, populären literarischen Vorlesung das Publikum nicht länger als zwanzig Minuten ungestraft mit seiner eigenen Persönlichkeit beschäftigen kann. Allerdings wurde das Auftreten des großen Genies in höchst respektvoller Weise begrüßt: sogar die strengsten alten Herren gaben ihr Wohlgefallen und ihr Interesse zu erkennen und die Damen sogar ein gewisses Entzücken. Das Händeklatschen indes war nur von kurzer Dauer und sozusagen uneinheitlich und verwirrt. Dafür wurde in den hinteren Reihen bis zu dem Augenblicke, wo Herr Karmasinow zu sprechen anfing, keine einzige Ausschreitung begangen, und auch dann geschah fast nichts besonders Schlimmes; es war, als sei man dort im unklaren. Ich habe schon früher erwähnt, daß er eine sehr kreischende, sogar einigermaßen weibische Stimme hatte und außerdem in echt vornehmer, adliger Manier lispelte. Kaum hatte er ein paar Worte gesprochen, als sich plötzlich jemand erlaubte laut zu lachen, wahrscheinlich irgendein unerfahrener Dummkopf, der noch nichts von der Welt kannte und obendrein eine angeborene Lachsucht besaß. Aber es fand nicht die geringste Demonstration statt; im Gegenteil zischte man dem Dummkopf zu, und er versank in ein Nichts. Aber nun erklärte Herr Karmasinow in affektierter Weise, er habe anfänglich sich um keinen Preis dazu verstehen wollen, zu lesen (es war auch wohl sehr nötig, dies zu erklären!). Es gebe Gedanken, die dermaßen aus dem tiefsten Herzen quöllen, daß man sie nicht einmal mit Worten aussprechen dürfe, so daß es in keiner Weise zulässig sei, sie vor das Publikum zu bringen (nun, warum tat er es dann trotzdem?); aber da man ihn dringend gebeten habe, so habe er nachgegeben, und da er überdies die Feder für immer niederlegen wolle und sich geschworen habe, künftig um keinen Preis mehr etwas zu schreiben, so habe er nun in Gottes Namen diese letzte Schrift verfaßt; und da er sich geschworen habe, um keinen Preis künftig jemals wieder etwas dem Publikum vorzulesen, so wolle er nun in Gottes Namen dieses letzte Werk noch dem Publikum vorlesen, und so weiter und so weiter, alles in dieser Art.

Aber alles das wäre noch nichts gewesen, und wer kennt nicht die Vorreden der Autoren? Wiewohl ich bemerke: bei der geringen Bildung unseres Publikums und bei der Reizbarkeit der hinteren Reihen konnte dies alles eine unerwünschte Wirkung ausüben. Wäre es nicht besser gewesen, eine kleine Novelle vorzulesen, eine kurze Erzählung von der Art, wie er sie früher geschrieben hatte, das heißt, zwar affektiert und verkünstelt, aber doch manchmal geistreich? Dadurch hätte er alles retten können. Aber nein, es kam etwas ganz anderes! Es begann eine erbauliche Ansprache! Mein Gott, was war da nicht alles darin! Ich kann mit Bestimmtheit sagen, daß sogar ein hauptstädtisches Publikum dadurch in starre Betäubung versetzt worden wäre, nicht nur das unsrige. Man stelle sich beinah zwei Druckbogen voll des geziertesten, zwecklosen Geredes vor; überdies las dieser Herr noch gewissermaßen von oben herab, mit trüber Miene, wie aus Gnade und Barmherzigkeit, so daß es sogar wie eine Beleidigung unseres Publikums herauskam. Das Thema ... Aber wer konnte es herausfinden, dieses Thema? Es war eine Art von Bericht über Empfindungen und Erinnerungen. Aber über was für Empfindungen und Erinnerungen? Wie sehr wir armen Provinzialen auch während der ganzen ersten Hälfte der Vorlesung unsere Stirnen in Falten zogen, wir konnten nicht daraus klug werden, so daß die zweite Hälfte nur noch aus Höflichkeit angehört wurde. Es war allerdings viel von Liebe die Rede, von der Liebe eines Genies zu irgendeiner Person; aber ich muß gestehen, das kam etwas ungeschickt heraus. Meiner Ansicht nach paßte es nicht recht zu der kleinen, dicken Figur des genialen Schriftstellers, daß er von seinem ersten Kusse erzählte ... Und was wieder beleidigend wirkte, diese Küsse begaben sich in anderer Weise als bei der ganzen übrigen Menschheit. Da mußte unfehlbar ringsumher Ginster wachsen (unfehlbar Ginster oder ein anderes derartiges Kraut, das man erst in der Botanik nachschlagen muß). Außerdem mußte der Himmel unfehlbar eine Art von violetter Färbung haben, die allerdings noch nie ein anderer Sterblicher beobachtet hat, das heißt, es haben sie zwar alle gesehen, aber nicht verstanden, sie zu beobachten, und da sagte er nun gewissermaßen: »Ich habe sie genau beobachtet und schildere sie nun euch Dummköpfen wie etwas ganz Gewöhnliches.« Der Baum, unter dem das interessante Paar saß, mußte unfehlbar eine Art Orangenfarbe haben. Sie sitzen irgendwo in Deutschland. Auf einmal sehen sie Pompejus oder Cassius am Vorabend einer Schlacht, und beide überläuft ein kalter Schauer des Entzückens. Eine Waldnymphe quiekt im Gebüsch. Gluck spielt im Röhricht auf der Geige. Das Stück, das er spielt, heißt En toutes lettres, ist aber niemandem bekannt, so daß man darüber ein musikalisches Nachschlagewerk befragen muß. Inzwischen hat sich ein Nebel zusammengeballt, so zusammengeballt, so zusammengeballt, daß er mehr einer Million von Kissen als einem Nebel gleicht. Und plötzlich verschwindet alles, und das große Genie setzt im Winter bei Tauwetter über die Wolga. Das Übersetzen dauert zwei und eine halbe Seite lang; aber dennoch fällt das Genie in eine Wuhne. Das Genie geht unter, man denkt, es ertrinkt? Fällt ihm nicht ein, das alles hat nur den Zweck, daß, wenn das Genie schon ganz untergegangen ist und Wasser geschluckt hat, vor ihm ein Eisstückchen aufschimmert, ein winziges Eisstückchen, nur erbsengroß, aber rein und durchsichtig »wie eine gefrorene Träne«, und in diesem Eisstückchen spiegelt sich Deutschland wider oder, richtiger gesagt, der Himmel Deutschlands, und diese Widerspiegelung ruft durch ihr regenbogenartiges Farbenspiel dem Genie eben jene Träne ins Gedächtnis zurück: »›Erinnerst du dich wohl, sie rann aus deinem Auge, als wir unter dem smaragdenen Baume saßen und du freudig ausriefst: Es gibt kein Verbrechen!‹ ›Ja,‹ sagte ich unter Tränen, ›aber wenn dem so ist, dann gibt es ja auch gar keine Gerechten.‹ Wir schluchzten und trennten uns für immer.« Sie begibt sich irgendwohin an das Gestade des Meeres, er in eine Höhle; und da steigt er hinab, immer tiefer hinab, drei Jahre lang steigt er in Moskau unter dem Sucharew-Turme immer tiefer hinab, und auf einmal findet er in den innersten Eingeweiden der Erde in einer Höhle ein vor einem Heiligenbilde brennendes Lämpchen und vor dem Lämpchen einen Asketen. Der Asket betet. Das Genie drückt sich an ein kleines vergittertes Fensterchen und hört auf einmal einen Seufzer. Man denkt wohl, daß der Asket geseufzt hat? Mag sein; aber was schert sich das Genie um den Asketen! Bei diesem Seufzer erinnert es sich ganz einfach an den ersten Seufzer jenes weiblichen Wesens vor dreißig Jahren: »›Du erinnerst dich, es war in Deutschland; wir saßen unter dem achatfarbenen Baume, und du sagtest zu mir: Wozu liebt man? Siehe, ringsumher wächst Ocker, und ich liebe; aber der Ocker wird aufhören zu wachsen, und ich werde aufhören zu lieben.‹ Da ballte sich wieder der Nebel zusammen, es zeigte sich Theodor Amadeus Hoffmann, eine Waldnymphe pfiff eine Chopinsche Melodie, und plötzlich erschien aus dem Nebel, mit einem Lorbeerkranze auf dem Haupte, über den Dächern Roms Ancus Marcius. Ein Wonneschauer ging uns über den Rücken, und wir trennten uns für immer«, und so weiter und so weiter. Kurz, ich gebe es vielleicht nicht ganz richtig wieder und verstehe auch nicht, das zu tun; aber der Sinn des Geredes war ganz von dieser Art. Und schließlich, welch eine schmähliche Passion für »elegante Witze« findet sich bei unsern großen Geistern! Die großen westeuropäischen Philosophen, die großen Gelehrten und Erfinder, die Sklaven der Arbeit und Märtyrer, all diese Mühseligen und Beladenen sind für unser großes russisches Genie nur eine Art von Köchen in seiner Küche. Er ist der Herr, und sie erscheinen vor ihm mit der Mütze in der Hand und erwarten seine Befehle. Allerdings lacht er auch über Rußland hochmütig, und nichts macht ihm größeres Vergnügen als vor den Ohren der großen Geister Westeuropas zu erklären, daß Rußland in jeder Hinsicht bankerott sei; aber was ihn selbst anlangt, nein, er ist über diese großen Geister Westeuropas schon weit hinausgestiegen: die liefern alle nur Material für seine Witze. Er nimmt einen fremden Gedanken, verflicht damit das Gegenteil desselben, und der Witz ist fertig. Es gibt ein Verbrechen, es gibt kein Verbrechen; es gibt keine Wahrheit und keine Gerechten; der Atheismus, der Darwinismus, die Moskauer Glocken ... Aber leider glaubt er an die Moskauer Glocken nicht mehr; Rom, der Lorbeer ... Aber er glaubt nicht einmal an den Lorbeer ... Da findet sich der obligate Anfall Byronschen Grames, eine Grimasse aus Heine, eine Äußerung von Petschorin – und nun geht's los, nun geht's los, die Eisenbahn hat gepfiffen ... Und bei sich denkt er: »Übrigens lobt mich nur, lobt mich nur; das habe ich furchtbar gern; ich sage das ja nur so, daß ich die Feder hinlegen werde; wartet nur, ich werde euch noch dreihundertmal langweilen; ihr werdet es müde werden, mich zu lesen ...«

Selbstverständlich konnte die Sache kein harmonisches Ende haben; aber schlimm war, daß das üble Ende mit einem von ihm selbst begangenen entscheidenden Fehler anfing. Schon lange hatte Scharren, Schneuzen, Husten und alles Sonstige begonnen, was stattzufinden pflegt, wenn bei einer literarischen Vorlesung der Vorleser, wer er auch sei, das Publikum länger als zwanzig Minuten in Anspruch nimmt. Aber der geniale Schriftsteller bemerkte davon nichts. Er fuhr fort zu lispeln und zu kauen, ohne jede Rücksicht auf das Publikum, so daß alle in Erstaunen gerieten. Da plötzlich ließ sich aus den hintersten Reihen eine einzelne, aber laute Stimme vernehmen:

»Herr Gott, was für Quatsch!«

Dieser Ausruf erfolgte ganz unwillkürlich, und ich bin überzeugt, daß damit keine Demonstration beabsichtigt war. Der Betreffende war einfach müde. Aber Herr Karmasinow hielt inne, warf einen spöttischen Blick auf das Publikum und lispelte mit der Würde eines beleidigten Kammerherrn:

»Ich langweile Sie wohl tüchtig, mein Herrschaften?«

Gerade das war ja nun ein Fehler von ihm, daß er als erster ein Gespräch begann; denn indem er auf diese Weise zu einer Antwort aufforderte, gab er eben dadurch dem ganzen Pöbel die Möglichkeit mitzureden und sozusagen sogar mit Fug und Recht, während, wenn er Zurückhaltung beobachtet hätte, sie sich wohl noch immer weiter geschneuzt haben würden, die Sache aber doch wohl noch einigermaßen leidlich abgelaufen wäre ... Vielleicht erwartete er Beifallklatschen als Antwort auf seine Frage; aber dergleichen erfolgte nicht; im Gegenteil, alle hatten gewissermaßen einen Schreck bekommen, krümmten sich zusammen und schwiegen.

»Sie haben Ancus Marcius überhaupt nie gesehen; das sind Phrasen!« rief jemand in gereiztem Tone, ja, als ob ihm ein Schmerz zugefügt sei.

»Ganz richtig,« fiel sogleich ein anderer ein. »Heutzutage gibt es keine Geistererscheinungen, sondern nur Naturwissenschaften. Schlagen Sie im Naturgeschichtsbuch nach!«

»Meine Herrschaften, solche Einwände hatte ich am allerwenigsten erwartet,« erwiderte Karmasinow höchst erstaunt.

Das große Genie hatte sich in Karlsruhe vollständig von den Sitten seines Vaterlandes entwöhnt.

»In unserem Zeitalter ist es eine Schande zu sagen, daß die Welt auf drei Fischen ruhe,« Bezieht sich auf einen Volksglauben.rief ein junges Mädchen. »Daß Sie in eine Höhle zu einem Einsiedler hinabgestiegen wären, Karmasinow, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Und wer spricht jetzt überhaupt von Einsiedlern?«

»Meine Herrschaften, am meisten wundere ich mich darüber, daß Sie das so ernst auffassen. Übrigens ... übrigens ... haben Sie durchaus recht. Niemand kann die realistische Wahrheit höher schätzen als ich ...«

Er lächelte zwar ironisch, war aber stark betroffen. Sein Gesichtsausdruck besagte: »Ich bin ja gar nicht so einer, wie ihr meint; ich stehe ja ganz auf eurer Seite; nur lobt mich, lobt mich noch mehr, so viel wie möglich; das habe ich schrecklich gern ...«

»Meine Herrschaften,« rief er endlich, nunmehr aufs tiefste verletzt, »ich sehe, daß mein geringes Dichtwerk hier kein Treffer gewesen ist. Und auch meine eigene Person ist hier wohl kein Treffer gewesen.«

»Er hat auf eine Krähe gezielt und eine Kuh getroffen,« (Eine Redensart im Sinne von »er hat gewaltig vorbeigeschossen.« Anmerkungen des Übersetzers.) rief ein wahrscheinlich betrunkener Dummkopf aus voller Kehle. Natürlich wäre es das Richtige gewesen, ihn gar nicht weiter zu beachten.

Allerdings ließ sich ein respektloses Lachen vernehmen.

»Eine Kuh, sagen Sie?« fiel Karmasinow sogleich ein. Seine Stimme war noch kreischender geworden. »Über Krähen und Kühe zu reden, dessen möchte ich mich enthalten, meine Herrschaften. Ich achte jedes Publikum zu sehr, um mir Vergleiche, wenn auch unschuldiger Art (»Krähe« ist im Russischen eine Bezeichnung für einen Maulaffen. Anmerkung des Übersetzers.) zu erlauben; aber ich hatte geglaubt ...«

»Aber Sie, mein Herr, sollten nicht so sehr ...« rief jemand aus den hintersten Reihen.

»Aber ich hatte gedacht, wenn ich die Feder niederlegte und vom Leser Abschied nähme, so würde man mich anhören ...«

»Ja, ja, wir wollen hören, wir wollen hören!« ertönten endlich einige mutig gewordene Stimmen aus der ersten Reihe.

»Lesen Sie, lesen Sie!« fielen einige enthusiastische Damenstimmen ein, und endlich brach ein Beifallklatschen aus, das allerdings nur dünn und schwach war.

Karmasinow verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln und erhob sich von seinem Platze.

»Seien Sie überzeugt, Karmasinow, daß alle es sich sogar zur Ehre anrechnen ...« konnte sich die Frau Adelsmarschall selbst nicht enthalten zu bemerken.

»Herr Karmasinow,« ertönte auf einmal eine helle, jugendliche Stimme aus der Tiefe des Saales. Es war die Stimme eines sehr jungen Lehrers der Kreisschule, eines hübschen, ruhigen, anständigen jungen Menschen, der noch nicht lange in unserer Stadt wohnte. Er stand sogar von seinem Platze auf. »Herr Karmasinow, wenn ich das Glück hätte, mich so zu verlieben, wie Sie das geschildert haben, so hätte ich wahrhaftig über meine Liebe nichts in eine für eine öffentliche Vorlesung bestimmte Schrift aufgenommen ...«

Er war sogar ganz rot geworden.

»Meine Herrschaften,« rief Karmasinow, »ich schließe. Ich werde den letzten Abschnitt fortlassen und abtreten. Erlauben Sie mir nur noch, die Schlußzeilen vorzulesen!«