Die Tierärztin von Fairbanks - Stimme der Wildnis (Die Tierärztin von Fairbanks, Bd. 3) - Christopher Ross - E-Book

Die Tierärztin von Fairbanks - Stimme der Wildnis (Die Tierärztin von Fairbanks, Bd. 3) E-Book

Christopher Ross

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Beschreibung

Die Geschichte einer starken Frau im Einsatz für die Tierwelt! Es ist Alexandra Morrisons dritter Winter in Fairbanks. Ihre Tierarztpraxis hat sich erfolgreich etabliert. Doch plötzlich erreichen Alex Meldungen, dass sich einige Wildtiere vermehrt stark aggressiv benehmen. Nach einer Legende der Inuit setzen sich die Tiere wohl gegen die Ausbeutung durch den Menschen und den dadurch verursachten Klimawandel zur Wehr. Erst eine geheimnisvolle Frau, die auf ihre Art mit den Tieren kommunizieren kann, würde sie zur Ruhe bringen können. Alex nimmt sich diese Idee zu Herzen und versucht sich in der Not als Vermittlerin zwischen Mensch und Tier ... Der dritte Band der Tierärztin-Reihe von Christopher Ross rund um Tiere in der Wildnis Alaskas – gefühlvoll erzählt mit einem Hauch von Sehnsucht

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Es ist Alexandra Morrisons dritter Winter in Fairbanks. Ihre Tierarztpraxis hat sich erfolgreich etabliert. Doch plötzlich erreichen Alex Meldungen, dass sich einige Wildtiere vermehrt stark aggressiv benehmen. Nach einer Legende der Inuit setzen sich die Tiere wohl gegen die Ausbeutung durch den Menschen und den dadurch verursachten Klimawandel zur Wehr. Erst eine geheimnisvolle Frau, die auf ihre Art mit den Tieren kommunizieren kann, würde sie zur Ruhe bringen können. Alex nimmt sich diese Idee zu Herzen und versucht sich in der Not als Vermittlerin zwischen Mensch und Tier ...

Die Geschichte einer starken Frau im Einsatz für die Tierwelt!

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

1

Alex sah die Wölfe zuerst. Sieben oder acht Tiere, die am anderen Ufer des zugefrorenen Sees durch den Schnee liefen und genau zu wissen schienen, dass Menschen in der Nähe waren. Obwohl sie nur als dunkle Schatten zu erkennen waren, war sie sicher, dass es Wölfe waren. So bewegten sich nur Tiere, die in der Wildnis zu Hause waren und sich selbst in der eisigen Kälte wohlfühlten.

»Wölfe!«, rief Alex ihrem Freund zu. Sie saß hinter Lenny auf dem Snowmobil und hatte beide Arme um seine Hüften geschlungen. Ihr roter Anorak leuchtete in der schwachen Mittagssonne. »Am Ufer drüben! Am Waldrand!«

Lenny hielt an und schaltete den Motor aus. Er war ein kräftiger Mann mit breiten Schultern und muskulösen Beinen. Die waren als Cowboy nötig, um sein Pferd im Zaum zu halten.Tatsächlich hatte er auf der Ranch seiner Großeltern in Montana gearbeitet, bevor er nach Alaska gezogen war und dort in einer Autowerkstatt angeheuert hatte. Sobald er genug Geld gespart hatte, wollte er eine eigene Werkstatt eröffnen. Er blickte angestrengt durch sein Fernglas.

Auch Alex hatte ihr Fernglas auf den Ausflug mitgenommen. Auf ihrer Visitenkarte stand »Dr. Alexandra Morrison, Tierärztin«, aber jeder sagte nur »Alex« oder »Doc Alex« zu ihr. Durch ihr Fernglas erkannte sie, dass sie sich nicht geirrt hatte. »Wölfe!«, wiederholte sie. »Sieben Tiere, das muss das Moose Mountain-Rudel sein. Hast du eine Ahnung, was die so weit im Süden suchen? Ihr Revier liegt viel weiter im Norden, um den Moose Mountain rum.«

Jetzt hatte auch Lenny das Wolfsrudel entdeckt. »Ich hab noch nie Wölfe so nahe bei der Stadt gesehen. Und ich erzähle jedem, Wölfe würden sich nichts aus Menschen machen, und man bräuchte keine Angst vor ihnen zu haben.«

»Normalerweise stimmt das ja auch«, erwiderte Alex. »Schon gar nicht tagsüber. Während der paar Stunden, die es im Januar hell ist, bleiben sie lieber in Deckung. Es sei denn, sie finden keine Beute mehr in den Bergen und haben so großen Hunger, dass sie ihr Revier verlassen und woanders räubern. Aber auch dann warten sie die Dunkelheit ab. Wölfe jagen vor allem nachts.«

Alex blickte wie gebannt auf die Wölfe. Sie kamen aus dem Schatten einiger Bäume heraus und waren jetzt deutlicher zu sehen. Ihr Anführer lief vornweg, dahinter die Wölfin und hinter ihr die jüngeren Wölfe. Ein Rudel auf der Wanderschaft? Doch sie wirkten eher forsch und aggressiv, als wären sie auf der Jagd.

Die junge Ärztin wollte das Fernglas gerade absetzen, als die Wölfe stehen blieben. Der Anführer blickte in ihre Richtung und zeigte seine scharfen Zähne. Als Tierärztin wusste sie, dass seine aufgestellten Ohren und sein waagrecht abstehender Schwanz eine drohende Haltung signalisierten. Sie glaubte, ihn knurren zu hören, obwohl sich Wölfe meist auf ihre eindeutige Körpersprache verließen.

Als hätte er jagdbares Wild entdeckt, änderte der Anführer plötzlich die Richtung und führte sein Rudel in ihre Richtung. »Irgendwas stimmt nicht mit ihnen«, sagte sie. »Sie kommen auf uns zu. Verschwinden wir lieber! Ungefähr eine Meile von hier gibt es eine Hütte, da können wir unterkriechen.«

Lenny hatte bereits den Motor gestartet. Mit Vollgas folgten sie dem schmalen Trail, der über weite Schneefelder und gelegentliche Wäldchen bis in die Ausläufer der nahen Berge führte. Der Moose Mountain ragte in den leichten Dunst, der mit dem Wind vom Yukon River und den Seen im Norden kam. Alex und Lenny hatten das sonnige Winterwetter für einen Ausflug mit dem Snowmobil genutzt und wollten einen steilen Pfad am Moose Mountain erkunden. Auf dem Gepäckträger lagerte ein Rucksack mit heißem Tee und Kuchen. Den Kuchen hatte Mrs Wilkes spendiert, die alle paar Wochen mit ihrem übergewichtigen Kater in ihrer Praxis erschien, sich aber eigentlich nur unterhalten wollte.

Alex drehte sich auf dem Rücksitz um und erkannte, dass die Wölfe schon die Mitte des Sees erreicht hatten und tatsächlich hinter ihnen her waren. »Schneller, Lenny!«, rief sie. »Sie haben es auf uns abgesehen!«

Lenny kannte den Trail nicht, kam aber gut mit einem Snowmobil zurecht. Er hatte im letzten Winter das Snowmobilfahren gelernt und wusste, dass es vor allem darauf ankam, das Gleichgewicht zu halten. Anders als auf einem Motorrad konnte man sich nicht in eine Kurve legen, und die Gefahr, auf einem kurvenreichen Trail umzukippen, war groß. »Wie weit noch?«, rief er.

»In dem Wäldchen da vorn! Ist gar nicht zu übersehen!«

Alex drückte sich fest an ihren Freund, um dem Wind möglichst wenig Widerstand zu bieten, und blickte sich alle paar Sekunden nach den Wölfen um. Sie hatten noch nicht mal das Ufer erreicht. Als Lenny und sie in dem Wäldchen untertauchten, verschwanden die Wölfe aus ihrem Blickfeld. Lenny ließ sich nicht beirren und gab weiter Vollgas. Er stöhnte erleichtert auf, als die einsam gelegene Hütte unweit vom Trail in Sicht kam, und parkte vor dem Eingang.

»Da ist schon jemand drin!«, rief Lenny, als er ein parkendes Snowmobil sah.

Sie stiegen ab, nahmen den Rucksack vom Gepäckträger und liefen zur Hütte und traten ein. Erleichtert lehnten sie sich mit den Rücken gegen die verschlossene Tür.

»Das war knapp!«, stieß Lenny hervor.

In der Hütte war es angenehm warm. Nur die Einrichtung ließ zu wünschen übrig: außer einem Tisch mit einer Sitzbank, einem Stuhl, einem baufälligen Schrank mit Geschirr und einigen Konservendosen und zwei Stockbetten mit durchgelegenen Matratzen war dort nur noch ein altmodischer Kanonenofen zu finden. Auf der Herdplatte stand eine Emaille-Kanne mit heißem Tee. Auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe. Das einzige Fenster war beschlagen. Es roch nach würzigem Pfeifentabak und noch weniger angenehmen Dingen.

»Willkommen in meinem trauten Heim!«, krächzte jemand.

Erst jetzt entdeckten sie den alten Fallensteller im Halbdunkel des Raumes. Er saß auf einem der Betten, ein hagerer Mann mit zottigen Haaren, schmutzigen Leggins und einem fleckigen Sweatshirt. Auf dem Stuhl lag seine Wollmütze, neben dem Ofen standen seine Stiefel. Wie alt er war, ob sechzig, siebzig oder achtzig, ließ sich bei seinem verwitterten Gesicht nicht erkennen.

»Tut mir leid, ihr Turteltäubchen«, entschuldigte er sich, »ihr seid sicher gekommen, um ein wenig Spaß zu haben. Aber meine Frau hat mich rausgeworfen, und ich brauch dringend ein Dach über dem Kopf. Zumindest für eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hat und mir nicht ständig mit einem Besen nachrennt.« Er kicherte und schüttelte beiden die Hand. »Moses Fowler.«

»Alex … und das ist Lenny, mein Verlobter.«

»Alex? So heißt mein Bruder in Wasilla.«

»Alex wie Alexandra Morris. Ich bin Tierärztin in Fairbanks.«

»Brauch ich nicht mehr«, sagte der Fallensteller, »ich hab meine Huskys schon vor ein paar Jahren ausgemustert, obwohl ich lieber mit dem Hundeschlitten als dem verdammten Snowmobil unterwegs bin. Zu teuer, die Hunde. Die haben mir sogar im Sommer, wenn ich sie nicht gebraucht habe, die Haare vom Kopf gefressen. Als Fallensteller verdient man heute nicht mehr viel, wisst ihr. Die Menschen tragen keine echten Pelze mehr, und selbst mit kostbaren Hermelinpelzen wirst du heute nicht mehr reich. Zu wenig Pelztiere.«

»Und einen anderen Job suchen?«, fragte Alex.

»Pizza-Bote? Fremdenführer?«

»Wildnis-Guide wär doch nicht übel. Es kommen immer mehr Touristen nach Alaska, die wollen die Wildnis erleben, am Polarkreis wandern und Grizzlys, Elche und Wölfe sehen. Und Jäger, die einen Bären schießen wollen.«

Moses kicherte wieder. »Die würden mir endgültig den Garaus machen. Die Leute auf diesen Touren fangen doch schon bei zwei Grad unter null zu zittern an, und wenn sie einem Elch begegnen, wollen sie ihn am Geweih packen und ein Selfie machen. Und bleibt mir mit den Jägern weg! Die treffen doch nur, wenn man ihnen den Grizzly vor die Nase setzt und ihn an den Ohren festhält. Alles Amateure, und mit Amateuren kann ich nicht.« Er griff nach der Kanne. »Tee?«

Alex und Lenny tauschten einen Blick, was für ein seltsamer Kauz. Sie nickten beide, und Moses holte zwei Becher aus dem baufälligen Schrank und schenkte ein. Ungefragt zog er einen Flachmann aus seiner Hosentasche und würzte den Tee mit etwas Alkohol. »Ohne kann man ihn nicht trinken.«

Sie stießen miteinander an und tranken einen Schluck. Alex trank normalerweise keinen Alkohol und schüttelte sich. Auch um etwas dagegenzusetzen, packte sie die mitgebrachten Sandwiches aus und gab Moses eines ab. Auch die halbe Tafel Schokolade teilte sie gleichmäßig zwischen ihnen auf. Während des Essens lag die Pfeife des Fallenstellers qualmend auf einem Stück Pappe.

»Wir sind wegen der Wölfe hier«, sagte Alex, »die hab ich noch nie so aufgebracht gesehen wie heute. Ich dachte, die kommen nur so nahe an die Städte ran, wenn sie nichts mehr zu fressen finden. Uns hat ein Rudel bis hierher verfolgt, zumindest bilden wir uns das ein. Die hatten es nahezu auf uns abgesehen!«

Moses wurde nachdenklich. »Das Moose Mountain-Rudel … dem bin ich auch begegnet. Hab sie mit ein paar Schüssen vertrieben. Keine Ahnung, warum die plötzlich so aggressiv sind. In den Bergen gibt’s genug Beute. Vielleicht wollen sie sich an den Menschen rächen. Im letzten Sommer waren Wolfsjäger der Regierung hier und haben zwei junge Wölfe des Rudels erschossen. Ich hab wenig für Wölfe übrig, aber ein Rudel mit Hubschraubern zu verfolgen und willkürlich abzuschießen, finde ich ziemlich bescheuert.«

»Sie haben Angst, dass die Wölfe zu viele Karibus reißen.«

»Unsinn!«, erwiderte Moses. »Die haben doch keine Ahnung. Selbst diese Wildlife Troopers kennen sich kaum noch in der Wildnis aus. Mit Flugzeugen und modernen Waffen bringt man die Natur nur noch mehr aus dem Gleichgewicht. Am wohlsten fühlen sich Pflanzen und Tiere, wenn man sie in Ruhe lässt. Die Natur versteht es besser als jeder andere, das Gleichgewicht zu halten. Was immer diese Moose Mountain-Wölfe aufgebracht hat, es stecken Menschen dahinter.« Er goss mehr Whiskey in seinen Becher und trank einen Schluck. »Ich weiß, uns Fallenstellern sagt man auch nach, dass wir die Natur zerstören. Das mag für die russischen Pelztierjäger gegolten haben, die vor mehr als zweihundert Jahren die Seeotter so gut wie ausgerottet haben, und auch für die Hudson Bay Company, die ganze Brigaden von Jägern in die Wälder geschickt haben. Aber die paar Pelztierjäger, die es heute noch gibt?«

»Haben Sie Ihre Fallen hier ausgelegt?«, wollte Alex wissen.

»Etwas weiter nördlich«, antwortete Moses. »Meine Frau und ich wohnen in Livingood … das heißt, wenn sie mich noch reinlässt. Sie ist ziemlich streng mit mir. Ich bin mit einer Athabaskin verheiratet. Ich hatte doch nur einen über den Durst getrunken. Aber Whiskey hätte viele, die ihr lieb waren, umgebracht, sagt sie und hat wahrscheinlich recht, aber mein alter Körper braucht das Zeug nötiger als Blut, sonst gehe ich bald vor die Hunde.«

Alex war nicht nach Lachen zumute. »Was sagt denn Ihre Frau zu den Wölfen? Sie haben ihr doch sicher von dem aggressiven Rudel erzählt, oder?«

»Hab ich! Sie hat nur gelacht.«

»Gelacht?«, wunderte sich Alex.

»Wenn ich’s doch sage. Ich dürfte mich nicht beschweren, wenn mir die Wölfe das Fell über die Ohren ziehen würden. Ausgleichende Gerechtigkeit und so. Die Athabasken haben einen ganz eigenen Sinn für Humor. Ich solle bloß nicht glauben, dass sie Mitleid mit uns Fallenstellern hätte.«

»Hart.« Alex verkniff sich ein Grinsen.

Lenny blickte amüsiert zur Seite.

»Sie sagt, bei ihrem Volk gäbe es eine Legende. Sie haben viele Legenden, wissen Sie? Der Legende nach wären die Wölfe über Jahrhunderte hinweg als blutgierige Bestien verteufelt worden und hätten so lange unter den Menschen leiden müssen, dass ihnen irgendwann der Geduldsfaden reißen würde. Bei einigen früher und bei anderen später. Und das Moose Mountain-Rudel scheint eben den Anfang zu machen und sich an den Menschen zu rächen. Sie schließen sich zusammen und wollen Jagd auf die Menschen machen, sie zu Tode erschrecken, ihre Kälber und Schafe reißen … ihnen zeigen, dass sie tatsächlich blutgierige Bestien sein können. Das ist nur eine Legende. Hört sich gut an, wenn man sie am Lagerfeuer erzählt, hat aber mit der Wahrheit sicher nichts zu tun. So schlau sind Wölfe nun auch wieder nicht. Da steckt was anderes dahinter. Vielleicht haben sie die Tollwut oder irgendwas in der Art.«

»Nein, die sind gesund.«

»Woher wollen Sie das wissen? Haben Sie die Biester untersucht?«

»Nein, aber ein Team der University of Alaska überwacht das Moose Mountain-Rudel. Wenn sie die Tollwut hätten, wäre das doch längst bekannt.«

»Wer weiß?«

Alex räumte den Tisch ab und trat gerade vor die Tür, um etwas Schnee in einen Blecheimer zu füllen und für den Abwasch zu schmelzen, als sie den Wolf auf der Lichtung stehen sah. Der Anführer des Rudels, da war sie ganz sicher. Ein prächtiger Rüde mit silbergrauem Winterfell und bernsteinfarbenen Augen, die sie feindselig zu mustern schienen. Sein Körper war sehnig, es war kein Gramm Fett zu viel an ihm, und seine kräftigen Beine verrieten, dass er ein ausdauernder Läufer und ausgezeichneter Kletterer war. Er rührte sich nicht von der Stelle, als sie nach draußen kam, musterte sie lediglich aufmerksam.

Lenny und Moses erschienen hinter ihr, der Fallensteller mit seinem Gewehr, und wollten eingreifen, aber Alex hielt sie mit einer Handbewegung zurück. Sie war wie gebannt vom Anblick des wunderschönen Tieres und konnte sich nicht vorstellen, dass seine Feindseligkeit ernst gemeint war. Sie hatte jeden Tag mit Tieren zu tun und glaubte, ihre Gefühle einschätzen zu können.

»Hallo, Wolf«, sagte sie mit ruhiger Stimme. »Warum bist du hinter uns her? Mein Beruf ist es, Tieren zu helfen. Ich habe nichts gegen euch. Ich glaube, dass ihr genauso zur Wildnis gehört wie Bären, Elche und andere Tiere.«

Der Wolf änderte seine Haltung nicht, bewegte sich weder nach vorn noch zurück. Seine Augen leuchteten misstrauisch, aber seine Körpersprache verriet eine erstaunliche Gelassenheit, als hätte er nicht die geringste Angst vor den Menschen. Er gab keinen Laut von sich, hatte das Maul aber leicht geöffnet.

Als Alex sich mit dem Eimer langsam erhob, entdeckte sie die anderen Wölfe des Rudels am Waldrand. Sie standen verteilt unter den Fichten und schienen auf das Kommando ihres Anführers zu warten. »Wir wollen euch nichts Böses«, betonte sie noch einmal. »Geht zurück in die Berge, da gibt es genug Tiere, die ihr jagen könnt. Ein Angriff auf Menschen bringt doch nichts. Damit versetzt ihr die Wolfsjäger nur in Rage, und sie jagen euch erst recht. Wir schießen nicht auf Wölfe … wir verteidigen uns nur, wenn ihr angreift. Sind wir uns einig?«

Der Wolf verstand natürlich kein Wort, reagierte aber auf die sanfte Stimme der Tierärztin. Es war die gleiche Stimmlage, mit der sie ängstliche vierbeinige Patienten beruhigte, bevor sie eine Spritze gab oder eine Narkose verabreichte. Noch bevor Alex wieder in die Hütte gegangen war, zogen sich die Wölfe in den Wald zurück.

Sie reichte Lenny den Eimer mit dem Schnee. »Puh!«, sagte sie. »Der Kerl sah gefährlich aus. Der würde es auch mit einem Menschen aufnehmen. Ich hatte richtig Gänsehaut.«

Moses füllte ihren Becher nach, und Alex nahm einen kräftigen Schluck. »Sie gefallen mir«, sagte er. »Ich glaube fast, Sie würden diesem Wolf die Leviten lesen, wenn er Sie angreifen würde. So mutig wäre nicht mal meine Häuptlingstochter. Ganz recht, meine Frau ist die Tochter des Dorfältesten. Ich sollte eigentlich sein Erbe übernehmen. Er hat keinen Sohn, und ich gehöre inzwischen schon fast zu ihrem Stamm. Aber nee, ich tauge nicht zum Chief. Außerdem würden sie mich sofort rauswerfen, wenn sie den Whiskey bei mir entdecken würden.«

Alex verkniff sich ein Lachen über Moses’ fortlaufendes Geschwafel und schaute mit warmen Blick zu Lenny hinüber, der gerade den Ofen nachheizte. Dann sah sie aus dem Fenster und stellte erleichtert fest, dass sich die Wölfe verzogen hatten. Ob sie ihre Beteuerungen verstanden hatten oder sich sowieso davongemacht hätten, wusste sie nicht. Hauptsache, sie waren verschwunden.

Nach einer weiteren halben Stunde waren die drei einigermaßen sicher, dass die Wölfe nicht zurückkommen würden. Sie stellten die gespülten Becher in den Schrank und verschnürten ihre Rucksäcke. Das ungeschriebene Gesetz in solchen Jagdhütten verlangte, sie genauso zurückzulassen, wie man sie vorgefunden hatte. Moses faltete sogar die Wolldecken auf einem der Stockbetten.

»War mir ein Vergnügen«, sagte er, als sie sich voneinander verabschiedeten. »Lasst euch mal blicken, wenn ihr in meine Gegend kommt. Meine Frau kocht den besten Elcheintopf nördlich des Äquators. Und dass ich den besten Tee braue, habt ihr ja inzwischen gemerkt. Viel Glück, ihr beiden!«

Alex und Lenny warteten, bis der Fallensteller davongefahren war, schnallten den Rucksack fest und stiegen auf ihr Snowmobil. Bevor Lenny den Motor startete, sahen sie sich noch einmal aufmerksam um.

»Zum Moose Mountain?«, fragte Lenny.

»Lass uns zu den Seen im Westen fahren, das ist sicherer«, antwortete Alex. »Ich hab keine Lust, den Wölfen noch mal zu begegnen. Ungefähr zwei Meilen von hier führt der Trail über einige Hügel, dort hat man eine tolle Aussicht.«

»Alles klar, mein Schatz.«

Sie fuhren über die Lichtung und durch den spärlichen Fichtenwald nach Nordwesten. Wolfsspuren waren in dem Neuschnee nicht zu sehen. Anscheinend hatte sich das Rudel wirklich verzogen. Alex dachte immer noch über das Verhalten der Wölfe nach. Sie besaß einige Erfahrung mit den Tieren. Zu ihren Patienten gehörten auch die Wölfe eines Wolf Center beim Denali National Park und sie war außerdem dabei gewesen, als die Ranger die Wölfe eines wilden Rudels mit Sendern markiert hatten. Aus dem Hubschrauber hatte einer der Männer die Tiere mit einem Betäubungsgewehr sediert und so anderen Rangern ermöglicht, sie näher zu untersuchen und die Halsbänder mit den Sendern anzubringen. An ihren Computern in der University of Alaska verfolgten nun Biologen die Wanderung des Wolfsrudels.

Noch trugen die Wölfe des Moose Mountain-Rudels keine Sender, aber Alex wusste, dass man auch diese Wölfe beobachtete. Sie nahm sich vor, nach ihrer Rückkehr mit den Verantwortlichen zu sprechen. Irgendetwas stimmte im Moment nicht mit diesen Tieren, und sie wollte wissen, was sie so aggressiv machte.

»Halt dich gut fest!«, rief Lenny nach hinten, als sie die Hügel erreichten. Der Trail führte in zahlreichen Serpentinen steil bergauf, und man musste gut mit einem Snowmobil umgehen können, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Passierte einem hier der kleinste Fehler, würde man in den abschüssigen Tiefschnee stürzen.

Alex umklammerte Lenny noch fester. »Es kann losgehen!«

2

Sie hatten den Hügel fast erklommen, als sie ein heftiger Windstoß vom Trail drängte. Es geschah so plötzlich, dass Lenny nicht mehr gegensteuern konnte und sie hilflos erleben mussten, wie das Snowmobil in den Tiefschnee kippte. In einer dichten Schneewolke rauschten sie den Abhang hinab.

Alex wurde von der Sitzbank gerissen. Sie überschlug sich zweimal und landete tief im eisigen Schnee, der sie wie ein riesiges Kissen auffing und verhinderte, dass sie sich schwerer verletzte. Lenny ließ im selben Moment den Lenker los und wollte sich zur Seite werfen, wurde aber nach vorn geschleudert. Er schaffte es nicht mehr, sein Bein rechtzeitig zurückzuziehen, als die Maschine auf seinen linken Knöchel stürzte.

Sein Schmerzensschrei riss Alex aus ihrer Benommenheit. Sie stemmte sich keuchend aus dem Schnee hoch und blieb schwankend stehen. Dann lief sie so schnell sie konnte zu Lenny. Obwohl es bereits dämmerte, erkannte sie sofort, was geschehen war. Sein linker Fuß war unter der aufrecht gelandeten Maschine eingeklemmt. Er lag vornübergebeugt und stöhnte laut.

»Lenny!«, rief sie erschrocken.

Er blickte mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihr hoch. »Alex! Bist du okay? Der Wind … er kam so plötzlich … ich konnte die Maschine nicht mehr halten!«

»Alles klar … und du? Kannst du den Fuß bewegen?«

Er beugte sich nach vorn und zog mit beiden Händen an seinem Bein. Der Schmerz war so heftig, dass er wieder aufschrie und beinahe ohnmächtig wurde. »Er steckt fest«, brachte er mühsam hervor. »Das Snowmobil ist zu schwer.«

Sie griff nach ihrem Handy. »Ich rufe die Troopers.«

»Die kommen sicher nicht wegen so etwas. Außerdem würde das viel zu lange dauern.« Er blickte auf das Snowmobil, das in dem Tiefschnee kaum etwas abbekommen hatte. »Der Motor läuft noch. Warum fährst du die Kiste nicht einfach ein Stück vor? Zwei Zoll würden reichen.«

»Und wenn wir Pech haben, erwischt es deinen Fuß noch schlimmer.«

»Hast du vielleicht eine bessere Idee?«

Alex kletterte zögerlich auf die Maschine und stützte sich mit den Füßen am Boden ab, um möglichst wenig Druck auszuüben. Ohne Lenny anzublicken, fuhr sie ein Stück nach vorn. Er heulte vor Schmerz erneut auf, aber sein Fuß war frei und die Qualen schienen wenigstens ein bisschen nachzulassen. »Oh, verdammt!«, fluchte er.

Alex stieg schnell ab und holte den Erste-Hilfe-Kasten aus der Satteltasche. Sie stapfte zurück und umarmte Lenny liebevoll, bevor sie ihn verarztete. Behutsam tastete sie die Schwellung seines Knöchels ab. »Hoffentlich nicht gebrochen«, sagte sie. »Wenn wir Glück haben, hast du ihn dir nur verstaucht.«

»Sehr witzig. Es tut höllisch weh, Alex!«

Sie gab ihm zwei Schmerztabletten und flößte sie ihm mit warmem Tee aus der Thermosflasche ein. »In einer Viertelstunde geht’s dir besser«, versprach sie. »Den Schuh lässt du besser am Fuß, sonst schwillt der Knöchel und du musst ohne einen Schuh nach Fairbanks zurück. Kein Vergnügen bei der Kälte.« Sie schnaufte. »Jetzt müssen wir dich nur noch wieder aufs Snowmobil bringen.«

»Und wie soll das gehen?«

»Du weißt nicht, wie schwer die Huskys sind, die ich manchmal auf den OP-Tisch heben muss. Gegen die schweren Brocken bist du ein Leichtgewicht.«

Sie schob ihre Unterarme unter seine Achseln und half ihm ächzend aus dem Schnee. Er bemühte sich nach Kräften, mitzuhelfen, fand aber kaum Halt und keuchte schmerzerfüllt, als er aus Versehen seinen verletzten Fuß belastete.

»Vorsichtig!«, sagte Alex. »Schaffst du es auf einem Bein?«

Die Aktion wurde zu einer schrecklichen Tortur für Lenny. Obwohl Alex ihn tatkräftig unterstützte, kam er nur vorwärts, wenn er bei jedem Schritt seinen verletzten Fuß belastete, und er biss jedes Mal verkrampft die Zähne zusammen. Wie in Zeitlupe schleppten sie sich durch den Tiefschnee. Sie brauchten über eine Viertelstunde für die wenigen Schritte, und noch mal genauso lange, um auf die Sitzbank zu klettern. Alex schob die Schutzbrille, die noch um ihren Hals hing und vom Sturz leicht verbogen war, über die Augen und gab vorsichtig Gas.

»Halt dich gut fest!«, rief sie Lenny zu.

Das Snowmobil benahm sich wie ein störrisches Maultier, verharrte widerspenstig auf der Stelle und schoss plötzlich übermütig nach vorn. Alex hatte in den letzten zwei eisigen Wintern gelernt, mit einem Snowmobil umzugehen, hatte aber große Mühe, bei dem Wind das Gleichgewicht zu halten. In dem tiefen Schnee konnte sie schon froh sein, wenn sich die Maschine überhaupt bewegte und nicht zur Seite kippte und sie beide unter sich begrub.

»Komm schon!«, rief Alex ungeduldig.

Mit heulendem Motor erreichte sie den Fuß des Abhangs. Noch einmal trieb sie ihr Snowmobil durch angehäuften Tiefschnee und schaffte es nach einiger Mühe auf einen Trail, der nur stellenweise Tiefschnee aufwies. Dort kam sie besser voran und erreichte den Trail, über den sie und Lenny gekommen waren.

Alex hielt an und drehte sich nach ihm um. »Bist du einigermaßen okay?«

»Die Tabletten wirken langsam. Gibst du die auch Grizzlys?«

»Nur wenn ich sicher sein will, dass sie stillhalten, wenn ich ihnen eine Spritze gebe«, erwiderte sie lachend. »Halt dich weiter gut fest! Ich hab keine Lust, dich noch mal auf die Maschine zu hieven. Du bist schwerer, als ich dachte. Und noch mehr Verletzungen brauchen wir nicht.«

Die junge Ärztin trat einige Schneebrocken vom Schutzblech und wischte die Scheinwerfer sauber. Sie würden das Licht auf der Rückfahrt brauchen. Wie an jedem Winterabend wurde es rasch dunkler, und noch bevor die Menschen in Fairbanks beim Abendessen saßen, würde sich der Himmel verdunkeln und der Mond, die Sterne und gelegentliche Nordlichter würden sich zeigen. Schon jetzt hatte der Wind aufgefrischt, und eine eiskalte Brise strich über den Schnee.

Alex’ Gedanken schweiften zurück zu den Wölfen. Sie war nicht so zuversichtlich, wie sie sich gegeben hatte. Die Wölfe waren nicht mehr aufgetaucht, mussten aber immer noch in der Nähe sein. Sie hatten nichts dabei, womit sie sich im Notfall gegen die Tiere zur Wehr setzen konnten. Normalerweise gingen Wölfe den Menschen aus dem Weg und hüteten sich, sie anzugreifen. Sie mussten schon sehr verzweifelt sein, falls sie es wagten.

Die Legende, die Moses ihnen erzählt hatte, nach der die Wölfe sich an den Menschen rächen wollten, glaubte sie nicht.

Sie fuhr weiter und litt mit Lenny mit, als sie über einen holprigen Teil des Trails fuhren und er hinter ihr qualvoll stöhnte. Sie ließ sich aber nicht aus der Ruhe bringen. Die eisige Kälte, die sich mit der Dunkelheit über das verschneite Land legte, spürte sie kaum. Die Wölfe waren bisher nicht zu sehen und tauchten auch nicht auf, als sie am Seeufer entlangfuhren. Die Hütte, in der sie den Fallensteller getroffen hatten, lag verlassen in der Dunkelheit. Lenny umklammerte sie wie ein Ertrinkender. Er schien Angst zu haben, das Bewusstsein zu verlieren, hielt aber glücklicherweise durch.

Nach ungefähr einer Stunde tauchten endlich die Lichter von Fairbanks vor ihnen auf. Alex fuhr direkt zum Krankenhaus und hielt vor der Notaufnahme. Mit zwei Krücken, die ihnen eine Schwester gab, humpelte Lenny in den Warteraum, wo außer ihnen noch eine ältere Dame und eine Mutter mit Kind warteten. Das Kind, ein ungefähr zehnjähriger Junge, hatte starke Bauschmerzen und kam vor ihnen dran. Auch die ältere Dame, die über Schwindel klagte und beinahe ohnmächtig wurde, durfte eher in den Behandlungsraum, der sich hinter zwei Schwingtüren verbarg.

»Mr Leonard Larson«, rief eine Schwester schließlich.

Es klang ungewöhnlich, Lennys vollen Namen so zu hören, und Alex erhob sich erst nach kurzem Zögern. Sie half ihrem Freund bis zu den Türen, übergab ihn an eine Schwester und wünschte ihm Glück. »Ich warte hier, okay?«

Sie kehrte auf ihren Platz zurück und checkte ihr Smartphone. Keine E-Mail und keine Whatsapp-Nachricht von Jessie, ihrer jungen Praktikantin. Sie wohnte im Anbau von Alex’ Haus über der Praxis, war aber nur noch den einen Monat bis zum Ende der Semesterferien in Vollzeit da. In der Semesterzeit arbeitete Jessie nur an den Wochenenden bei Alex, um sich einige Dollar dazuzuverdienen. Über weitere Unterstützung hatte Alex noch nicht nachgedacht. Eigentlich gab es in ihrer Praxis inzwischen so viel zu tun, dass sie zwei neue Arbeitskräfte brauchte. Sie hoffte, dass sich genügend Bewerber auf eine Anzeige auf ihrer Website melden würden.

Alex hatte zwar mit einer längeren Wartezeit gerechnet, aber als sie nach einer Stunde noch immer nichts von Lenny hörte, ging sie zum Schalter und erkundigte sich höflich: »Entschuldigen Sie bitte, aber dauert es noch lange bei Mr Larson?«

»Sie müssen sich noch etwas gedulden«, bekam sie zur Antwort. »Mit einer solchen Knöchelverletzung ist nicht zu spaßen, und der Arzt ordnet sicher eine Röntgenuntersuchung und ein CT an. Der Arzt wird sich melden, sobald er mehr weiß.«

Alex kehrte auf ihren Platz zurück und blätterte in einer Sports Illustrated. Viel Football, etwas Basketball, Baseball und Eishockey. Ihr Vater war ein großer Fan der Green Bay Packers gewesen, und sie verfolgte die Spiele des Footballclubs noch heute. Lenny stand mehr auf Rodeo und konnte mit Football weniger anfangen. Da mochte er schon eher wilde Autorennen wie Stock-Car Races und Demolition Derbys. Wahrscheinlich, weil das zu seinem Beruf passte. Er hatte viele Jahre als Cowboy gearbeitet und war ein begeisterter Automechaniker. Aber er schwärmte auch für Natur und Tiere. Das war mit ein Grund, warum sich Alex in ihn verliebt hatte.

Als sie sich kennengelernt hatten, war sie noch mit der mobilen Praxis unterwegs gewesen. Sie hatte sich damals auf Anhieb in Lenny verliebt und nur einmal hatte es bisher gekriselt, als er nach Montana zurückgegangen war, um dort die Ranch seiner Großeltern zu leiten. Alex hatte befürchtet, er würde am Ende dort bleiben. Doch seine Sehnsucht nach ihr und Alaska waren stärker als alles andere gewesen. Die Ranch hatten inzwischen andere übernommen. Alex trug Lennys Verlobungsring und bald würden sie heiraten.

Auch Alex war nicht in Alaska aufgewachsen und erst vor etwas über zwei Jahren aus Minnesota gekommen. Das riesige Land mit seiner ungezähmten Natur war ein idealer Rückzugsort nach dem Unfalltod ihrer Eltern gewesen.

Wie seltsam sich doch manches im Leben fügt, dachte sie. Die Zeitschrift hatte sie längst aus der Hand gelegt. Nicht im Traum hätte sie gedacht, jemals in Alaska zu landen und sich in einen ehemaligen Cowboy zu verlieben. Etwas Besseres hätte ihr gar nicht passieren können, obwohl ihre Verwandten und Freunde in Minnesota anfangs eher skeptisch gewesen waren. Wer zog schon freiwillig nach Alaska? In ein Land, in dem die Winter länger als ein halbes Jahr dauerten, es monatelang dunkel war, und in dem einen mörderische Kälte quälte?

Sie musste jedes Mal lachen, wenn sie so etwas hörte. Besonders im Winter zeigte sich ihre neue Heimat von seiner märchenhaften und manchmal auch geheimnisvollen Seite. Schnee und Eis schufen eine neue Welt, urwüchsig und scheinbar unberührt von den Einflüssen der Zivilisation, so wie das Land schon vor vielen Tausend Jahren ausgesehen haben musste. Sie liebte die stille Schönheit, die mit dem Winter kam. Alex ließ sich auch durch die niedrigen Temperaturen nicht abschrecken und bewunderte die lange Nacht, wenn loderndes Nordlicht die Dunkelheit durchbrach und den Himmel in ein leuchtendes Kunstwerk verwandelte. Von weit her kamen Touristen und bestaunten dieses Phänomen.

»Ms Morrison?« Der Arzt war gekommen und hielt ein iPad mit seinen Aufzeichnungen in den Händen. Außer Alex war niemand mehr im Warteraum und er konnte frei sprechen. »Sorry, dass es so lange gedauert hat, aber wir mussten bei Ihrem Verlobten mehrere Untersuchungen durchführen. Der Verdacht einer Fraktur hat sich glücklicherweise nicht bestätigt, die konnten wir nach Studium des Röntgenbildes und einer CT ausschließen. Aber wir mussten leider eine außerordentlich starke Prellung und eine Abrissfraktur am Sprunggelenk feststellen, so nennen wir den Abriss eines Knochensplitters, der häufig mit einem Bänderriss einhergeht. Ich denke nicht, dass wir operieren müssen. Ich würde Ihren Verlobten aber sicherheitshalber noch zwei Tage hierbehalten, um eine OP völlig auszuschließen. Wir können morgen Mittag noch mal miteinander telefonieren.«

»In Ordnung. Und wie lange wird es insgesamt alles dauern?«, fragte sie.

»Bis er wieder gesund ist?« Der Arzt wiegte den Kopf. »Schwer zu sagen, das ist bei jedem Menschen verschieden. Ich schätze mal mindestens sechs Wochen. Wichtig ist, den verletzten Fuß möglichst ruhigzustellen. Ich werde ihm eine feste Bandage anlegen und Schmerzmittel verschreiben. Auch die Krücken bekommt er von uns, damit kann er sich wenigstens etwas bewegen. Immer vorausgesetzt, dass wir nicht operieren müssen.«

»Mindestens sechs Wochen?«, fragte sie, um ganz sicherzugehen.

»Ungefähr … und daran anschließen sollte sich eine Physiotherapie, die den Heilungsprozess zusätzlich beschleunigen und die schützenden Muskeln stärken wird. Es hätte wesentlich schlimmer kommen können.« Er lächelte. »Wie gesagt, morgen weiß ich mehr.«

»Jetzt kann ich nicht zu ihm?«

»Ich habe ihm ein starkes Schmerzmittel gegeben, er ist ziemlich ausgeknockt. Sobald das Adrenalin nachlässt, sind die Schmerzen bei dieser Art von Verletzung besonders stark.« Er lächelte schwach. »Aber das wissen Sie ja als Tierärztin sicher auch.«

Alex bedankte sich lächelnd und schickte Lenny anschließend eine Nachricht: Gute Besserung, Schatz! Tut mir leid, dass du im Krankenhaus bleiben musst. Wird aber alles wieder, sagt der Arzt. Ich rufe dich morgen an. Ich liebe dich, deine Alex.

Mit gemischten Gefühlen fuhr sie nach Hause. Lenny würde furchtbar niedergeschlagen sein, wenn er erfuhr, wie lange es dauern würde, bis er sich wieder frei bewegen konnte. Ein Mann wie er war nicht dafür geschaffen, länger als eine halbe Stunde stillzusitzen, und auf Krücken zu laufen, würde ihm extrem auf die Nerven gehen. Dass alles keine folgenschweren Verletzungen waren, war sicher nur ein schwacher Trost. Ein amüsiertes Grinsen schlich sich in ihr Gesicht: Er würde unausstehlich sein, und am meisten würde ihn stören, wenn sie ihn bemutterte.

Vor ihrem Haus wurde sie von ihren beiden Hunden Chester und Muffin empfangen. Chester ließ sich kaum noch anmerken, dass er eine starke Verletzung am Bein hinter sich hatte. Alex und Jessie hatten ihn vor dem sicheren Tod gerettet, und seitdem war er zu einem treuen Wachhund geworden, der jeden anbellte, der sich dem Haus näherte. Auch Muffin, der junge Husky, den ihr Arne Pedersen, der norwegische Musher, geschenkt hatte, war inzwischen kräftig gewachsen und mit seinen knapp zweieinhalb Jahren im frechen Teenageralter.

»Chester! Muffin! Nicht so stürmisch!«, begrüßte sie die beiden lachend, als sie vom Snowmobil stieg. »Ich war doch nur einen Tag weg. Beruhigt euch, ihr Lieben!« Sie kramte zwei Leckerlis aus ihren Taschen und gab sie den beiden.

In der Praxis im Anbau brannte noch Licht. Jessie saß am Computer und blickte lächelnd auf, als sie die Tür klappen hörte. Die junge Frau war inzwischen zu Alex’ rechter Hand geworden. Sie hatte zwar ihre sprunghafte Art nicht ganz abgelegt, war aber immer noch mit Benjy Miller zusammen, einem jungen Cowboy der nahe gelegenen Northern Lights Ranch.

Ihr Blick verdüsterte sich, als Alex ihr von dem Unfall mit Lenny berichtete. »Das tut mir leid. Das wird bestimmt nicht leicht für den Armen. Weißt du noch, wie Chester gejammert hat, als er tagelang mit der bandagierten Pfote rumlaufen musste?«

»Ich bin auf alles gefasst«, erwiderte Alex amüsiert. »Aber ich kriege ihn wieder hin. Ich werde ihm keine Zeit lassen, über seine Verletzung nachzudenken.«