Die Tochter – Deiner Vergangenheit entkommst du nicht! - Rose Klay - E-Book
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Die Tochter – Deiner Vergangenheit entkommst du nicht! E-Book

Rose Klay

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Beschreibung

In Kathis Familie sind schreckliche Dinge geschehen, und alle wissen es. Die alleinerziehende Mutter hat sich damit abgefunden, eine Außenseiterin zu sein. Doch seit kurzem benimmt sich ihre Tochter Lucy seltsam.

Dann verschwindet ein Mädchen, das Lucy in der Schule das Leben zur Hölle macht. Und ausgerechnet Kathi hat es als letzte lebend gesehen. Wird man sie verdächtigen? Unterstützung findet sie nur bei der neu zugezogenen Jennifer. Aber während Kathi damit beschäftigt ist, sich von dem Verdacht zu befreien und die Geister der Vergangenheit zurückzudrängen, entgleitet ihr zunehmend die Kontrolle ...

Schicht um Schicht legt Rose Klay das Grauen hinter der alltäglichen Fassade frei - ein psychologischer Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen kann!

DAS SAGEN UNSERE LESERINNEN UND LESER:

"Ein Thriller, der absolut überzeugt, berührt und erschreckend nah an der Realität zu sein scheint. Rose Klay hat mich gefangen genommen, in eine Welt voller falscher Fassaden und Geheimnisse begleitet und mich mit dem Ende der Geschichte begeistert zurückgelassen." (Sasazoom, Lesejury)

"Immens spannend bis zum Ende! Entführungsgeschichten und -thriller gibt es viele da draußen - Rose Klay's "Die Tocher" sticht dennoch aus der Masse heraus." (LenaF, Lesejury)

"Ein Thriller vom Feinsten, das kann ich ohne Übertreibung sagen. Atemlos musste ich immer weiterlesen, es ging einfach nicht anders. Eine Story, die im Gedächtnis haften bleibt." (Magnolia, Lesejury)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.


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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Epilog

Über dieses Buch

In Kathis Familie sind schreckliche Dinge geschehen, und alle wissen es. Die alleinerziehende Mutter hat sich damit abgefunden, eine Außenseiterin zu sein. Doch seit kurzem benimmt sich ihre Tochter Lucy seltsam.

Dann verschwindet ein Mädchen, das Lucy in der Schule das Leben zur Hölle macht. Und ausgerechnet Kathi hat es als letzte lebend gesehen. Wird man sie verdächtigen? Unterstützung findet sie nur bei der neu zugezogenen Jennifer. Aber während Kathi damit beschäftigt ist, sich von dem Verdacht zu befreien und die Geister der Vergangenheit zurückzudrängen, entgleitet ihr zunehmend die Kontrolle …

Über die Autorin

Rose Klay, Jahrgang 1968, kommt aus Düsseldorf. Sie studierte Psychologie, unterbrach ihre Diplomarbeit für Wehen, zog mit Mann und Sohn nach Mexiko-Stadt, bekam noch zwei weitere Söhne, zog sechs Jahre später weiter nach Peking. Zur Zeit lebt die Autorin mit ihrer Familie in Houston, Texas.

Rose Klay

Die Tochter

Deiner Vergangenheit entkommst Du nicht!

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anne Pias

Lektorat/Projektmanagement: Lukas Weidenbach

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven © Dollatum Hanrud/shutterstock; © arcangel/Miguel Sobreira

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-8745-2

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Die Tür zum Besucherzimmer war zu schwer für sie. Judith presste die Stirn gegen das trübe Glas und versuchte zu erkennen, ob Mama schon da war.

So lange hatte Judith auf diesen Tag gewartet, dass sie nun einen Kloß im Bauch und einen im Hals hatte und ihr die Luft knapp wurde.

Endlich tauchte Regina auf, um ihr die Tür zu öffnen. Sobald der Spalt groß genug war, zwängte sich Judith hindurch.

Da stand Mama und breitete ihre Arme aus.

Judith rannte und flog hinein. Endlich, endlich war es so weit! Heute würde Mama sie mitnehmen. Schließlich hatte sie es ihr beim letzten Besuch versprochen. »Beim nächsten Mal, ganz bestimmt«, hatte sie gesagt. »Und dann gehen wir in den Park oder zum Wildgehege, und da darfst du die Rehe füttern.«

Doch ein Besuchstermin nach dem anderen war verstrichen, ohne dass jemand nach Judith gerufen hatte.

»Deine Mama muss erst mal lernen, sich um sich selbst zu kümmern«, hatte Regina gesagt, »aber sie kommt bestimmt, sobald sie kann.«

Manchmal war Judith wütend darüber, dass Mama immer noch nicht gelernt hatte, sich um sich selbst zu kümmern. Meist allerdings überwog die Panik, dass sie vielleicht gar nicht wiederkommen würde, besonders weil Leni gern behauptete, dass Judith genauso enden würde wie die anderen hier auch: allein.

Jetzt war all das vergessen. Mama war da. Und sie hatte ihr etwas mitgebracht, in einer braunen Papiertüte.

Judith schaute hinein. Darin waren ein Cheeseburger, in knisterndes Papier eingewickelt, und ein Pappbecher, in dem ein gestreifter Strohhalm steckte.

Ihr Herz tat auf einmal furchtbar weh. Man brachte niemandem Essen mit, den man gleich mitnehmen würde.

»Du kommst mich doch holen, Mama, nicht wahr? Heute?«, fragte Judith, ohne den Blick von der Tüte zu heben.

»Aber Judith, was ist denn das für eine Begrüßung? Möchtest du nicht erst mal Hallo sagen?« Ihre Mutter klang angespannt.

Judith hatte den falschen Ton getroffen. Auf einmal war ihre Kehle so trocken, dass sie kein Wort mehr herausbrachte. Sie durfte Mama nicht aufregen, sonst musste sie auf jeden Fall hierbleiben. Wenn Mama nervös war, war sie wie ein straff gespanntes Drahtseil, das nach jeder winzigen Berührung sirrte und vibrierte, und dann musste sie sich ganz viel Mühe geben, bis sie sich wieder beruhigt hatte. So hatte Regina ihr das erklärt, obwohl Judith das eigentlich schon längst gewusst hatte. Schließlich hatte sie ihr Leben damit verbracht, auf Mamas Schwingungen zu achten.

Judith griff nach dem Pappbecher und sog an dem gestreiften Strohhalm. Der Milchshake war eiskalt und schmeckte wie die Zahnpasta, mit der sie sich die Zähne geputzt hatte, als sie noch bei Mama gewohnt hatte. Judith trank, bis ihr Kopf vor Kälte schmerzte.

Inzwischen redete Mama drauflos. Sie sprach sehr schnell, und ihre Augen sahen auf einmal richtig jung aus. Doch die Aufregung in ihrer Stimme hatte nichts mehr mit Judith zu tun, und das war gut.

»Du wirst ihn bestimmt mögen, er ist ein ganz Netter, wirklich. Und er kümmert sich gut um mich. Stell dir vor, morgens bringt er mir sogar Kaffee ans Bett. Mir hat noch nie ein Mann Kaffee ans Bett gebracht, wirklich nie. Darauf musst du unbedingt achten, wenn du einen Mann kennenlernst, dass er auch was für dich tut, nicht nur umgekehrt. Schau nicht so skeptisch, es gibt keinen Grund. Dieses Mal wird es bestimmt besser, ganz bestimmt. Holger hat gar nichts dagegen, wenn du zu uns ziehst. Er mag Kinder. Wir können eine ganz normale Familie sein.«

Judith spürte Hoffnung in sich hochschnellen, unkontrolliert und schmerzhaft.

»Aber jetzt kommt das Allerbeste«, fuhr Mama fort. »Holger ist der Chef von einem McDonald’s. Ist das nicht toll? Du kannst immer Milchshakes haben, und deinen Geburtstag können wir da in dem Laden feiern, und du kannst alle, alle Kinder einladen.«

Ihren letzten Geburtstag hatte Judith hier im Heim verbracht. Von der Heimleitung hatte Judith einen abgepackten Marmorkuchen und ein kleines Geschenk aus der Kiste in Reginas Arbeitszimmer bekommen. Es war ein Band für Gummitwist, das sofort gerissen war, als sie mit Leni »Teddybär, Teddybär, dreh dich um« gespielt hatte und Leni sich dabei zu oft eingedreht hatte. Sie hatte sich nicht mal entschuldigt.

Doch jetzt würde Leni sehen, was sie davon hatte. Judith hatte eine Mutter – Leni nicht. Und sie würde Judith mit nach Hause nehmen. Ganz bestimmt. Vielleicht schon heute.

Die Mutter strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Weißt du«, sagte sie und lächelte zufrieden, »man kann richtig sehen, wie gut es dir hier geht. Du hast ganz rosige Wangen. Regina ist doch ein Schatz, nicht wahr?«

Judiths Herz wurde zu Eis. Die rosigen Wangen musste sie vor Aufregung bekommen haben, denn es ging ihr nicht gut, gar nicht gut. Sie wartete jeden Tag, jede Stunde darauf, dass Mama sie holen würde. Ihre Mutter durfte nicht denken, dass es ihr gut ging, sonst würde sie noch länger bleiben müssen.

»Kommst du mich nicht holen?«, fragte sie mit vor Angst erstickter Stimme.

»Doch, natürlich, mein Liebling. Du musst nicht mehr lange warten. Ich habe Holger schon gefragt, wann wir dich holen, und er hat gesagt, bald. Sobald wir dein Zimmer eingerichtet haben. Du brauchst ja schließlich ein Bett.«

»Ich brauche kein Bett«, versicherte Judith eifrig. »Ich kann doch bei dir schlafen.« Und als ihr einfiel, dass Mama das vielleicht gar nicht wollte, fügte sie hinzu: »Oder ich schlafe auf dem Sofa oder dem Fußboden, ehrlich, es macht mir nichts aus.«

»Auf dem Fußboden, also wirklich, mein Schätzchen, glaubst du, dass ich zulasse, dass du auf dem Fußboden schläfst? Nein, nein, wir werden dir ein wunderschönes Zimmer einrichten, mit einem richtigen Himmelbett und kuscheligen rosa Kissen, ist das nicht eine tolle Idee?«

Judith nickte zaghaft. Das klang schön, aber sie wäre lieber sofort mitgegangen, auch wenn sie dafür kein Himmelbett bekam.

»Nun mach doch nicht so ein Gesicht. Es dauert ja nicht mehr lange.«

Judith wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Aber ich … ich möchte lieber heute schon mitkommen«, flüsterte sie.

Die Mutter hatte die Beine übereinandergeschlagen und wippte heftig mit dem Fuß. Der Zeigefinger trommelte im gleichen Takt auf den Tisch. Das Drahtseil spannte sich, Judith konnte dabei zusehen.

»Denk an dein Bett, Judith. Denk einfach an dein wunderschönes Himmelbett!«

Dann ging sie auf ihren hohen Schuhen davon.

An der Tür winkte sie noch einmal, aber sie drehte den Kopf nur noch halb Richtung Besucherzimmer, nicht weit genug, um es zu sehen.

Judith winkte trotzdem wie wild zurück, mit beiden Händen.

Sie versuchte, nicht zu weinen.

Wie lange konnte es schon dauern, ein Bett zu kaufen? Einen Tag? Zwei Tage? Eine Woche?

Sie nahm die Papiertüte und drückte sie an sich.

Es ging bestimmt ganz schnell. Sie stellte sich das Bett vor, mit einem hellen Himmel aus zartem Stoff und langen, luftigen Vorhängen, die sich bauschten, wenn der Wind durchs Fenster pustete. Mama musste es nur noch kaufen und ein paar rosa Kissen darauflegen, dann konnten sie endlich wieder zusammen sein. Ganz bald.

Doch Judith irrte sich.

Es war der letzte Besuch ihrer Mutter gewesen.

Kapitel 1

Ich schleppte mich erst mittags aus dem Bett, weil es klingelte. Lucy kam bereits aus der Schule, und ich hatte noch nicht mal gekocht.

Meine Stimmung war am Boden. Eigentlich mochte ich den November, diesen düsteren Vorboten des Winters. Kein Monat eignete sich besser zum Verkriechen, und das war etwas, was ich sehr gerne tat. Doch heute fühlte ich mich, als säße jemand mit einem Presslufthammer unter meiner Schädeldecke. Dagegen half auch Verkriechen nicht.

Vor der Tür stand nicht Lucy, sondern Rolfie. Er hatte das Talent, immer dann aufzutauchen, wenn es gerade wirklich nicht passte, etwa während ich Lucy zu Bett brachte oder wenn ich mich gerade auf den Weg zur Arbeit machte.

Er zog hastig ein paar Zettel aus einer schmuddeligen Plastiktüte und streckte sie mir entgegen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn in letzter Zeit schon zweimal abgewiesen hatte. Trotzdem versuchte ich wieder, ihn abzuwimmeln. Mir war gerade nicht danach, mich um seine Rechnungen zu kümmern.

»Heute ist kein guter Tag«, sagte ich. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen.«

Das war eine Untertreibung. Mein Kopf hämmerte, und mir war übel.

»K…k…ein P…p…p…problem«, sagte Rolfie und stopfte seine Unterlagen wieder in die Tüte. Wenn er aufgeregt war, stotterte er schlimmer als sonst. Er war fast einen Meter neunzig groß und hatte die Statur eines Mannes, der immer körperlich gearbeitet hatte, aber mit den nach vorn fallenden Schultern und dem eingezogenen Kopf hatte er etwas von einem Riesenbaby.

Hinter ihm tauchte Lucy auf und rollerte in die Einfahrt. Sie strahlte. »Rolfie! Ich habe heute gar keine Hausaufgaben. Spielst du mit mir ›66‹? Bitte, bitte!«

»Da musst du deine Mama fragen«, sagte Rolfie.

Er konnte mit kaum einem Menschen sprechen, ohne rot anzulaufen und zu stottern, aber bei Lucy war das kein Problem. Wahrscheinlich fürchtete er sich einfach nicht vor ihr. Er hatte eine leichte Form von Autismus. Stundenlang spielte er mit Lucy Karten. Ich war froh darüber, denn ich langweilte mich bei Kartenspielen zu Tode.

»Mir ist nicht gut«, sagte ich in der Hoffnung, dass Lucy von ihrem Plan Abstand nehmen würde, Rolfie als Spielpartner zu verpflichten. Aber sie dachte gar nicht daran.

»Rolfie isst doch mit uns zu Mittag, oder Mama?«

»Ich habe noch nichts gekocht. Ich wollte dir nur ein Brot machen.«

»Das macht Rolfie nichts aus, nicht wahr, Rolfie?«

Rolfie schüttelte den Kopf. Er sah auf einmal hungrig aus, fand ich.

Vielleicht war es gar nicht schlecht, dann konnte Rolfie Lucy beaufsichtigen – oder umgekehrt – und ich mich wieder hinlegen.

Also machte ich den beiden ein Butterbrot. Rolfie aß mit gutem Appetit, obwohl das Brot schon etwas trocken war und ich als Belag nur noch Schmierkäse dahatte.

Dann döste ich weiter auf dem Sofa, während Lucy das Kartenspiel aus dem Regal holte. Ab und zu brummte ich etwas, wenn Lucy mich ansprach, aber mein Kopf war wie mit Watte gefüllt. Vorsichtshalber stellte ich den Wecker auf meinem Handy.

Als er klingelte, schreckte ich hoch. Lucy und Rolfie spielten immer noch.

»Hochzeit!«, rief Lucy und knallte die Karten auf den Tisch.

»Du hast schon wieder gewonnen«, sagte Rolfie, als wäre das eine äußerst erstaunliche Angelegenheit.

Dabei gewann sie immer. Manchmal hatte ich den Verdacht, dass Rolfie sie absichtlich gewinnen ließ. Wahrscheinlich konnte er sich alle Karten merken. Rolfie verfügte trotz seiner Defizite in Alltagsangelegenheiten über ungewöhnliche Fähigkeiten. Er konnte zum Beispiel puzzeln wie kein Zweiter. Er sah auf einen Blick, welche Formen zusammenpassten und welche nicht. Wenn er ein Teil in die Hand nahm, passte es genau in die Lücke. Immer.

»Lucy, du musst zum Turnen«, sagte ich und rieb mir die Schläfen. »Hol deinen Turnbeutel. Er ist noch neben der Waschmaschine.«

»Och, heute nicht, Mama. Wir spielen gerade so schön.«

»Keine Widerrede! Du gehst. Ich habe schließlich bezahlt«, sagte ich.

Der Turnverein war der einzige Luxus, den wir uns leisteten, das wusste Lucy. Sie seufzte ergeben. Eins hatte sie von Geburt an gelernt: Wenn es um Geld ging, spaßte ich nicht. Dafür hatte ich einfach nicht genug.

»Lass mir deine Unterlagen einfach da, Rolfie«, sagte ich, als mir einfiel, dass er noch weniger hatte. »Ich kümmere mich darum.«

»D…d…danke, K…kathi. Komm Lucy, ich bring dich noch bis zur Ecke.«

Rolfie holte den Roller für Lucy aus der Garage, während ich ihre kinnlangen Haare zu einem kurzen Zopf zusammenband und ihre dicke Jacke zuzog.

Ich ging mit vor und sah ihnen nach. Rolfie legte die riesige Hand auf Lucys Rücken und schob sie die Straße hinunter. Weil er so groß war, musste er sich dazu bücken und kleine Trippelschritte machen. Es sah sehr ungelenk aus.

Das war also die männliche Bezugsperson für meine Tochter. Kopfschüttelnd schloss ich das Gartentor. Der Efeu überwucherte es inzwischen fast völlig, als bemühe er sich, die rostige Schande zu verbergen, doch es nutzte nichts. Nicht einmal an Sankt Martin klingelte ein Kind, obwohl der Zug genau hier vorbeikam. Die Eltern zerrten ihre Sprösslinge am Haus vorbei. Zu viele Menschen wussten, was damals hier passiert war. Sicher war es kein Ort des Glücks gewesen. Dennoch war ich froh, es zu haben. Es gab uns ein Dach über dem Kopf, und das lernte man zu schätzen, wenn man nur wenige Euros von der offiziellen Armutsgrenze entfernt lebte und die Verantwortung für ein Kind trug. Es wäre mir lieber gewesen, das Haus hätte nicht ausgerechnet in Lohausen gestanden, dieser merkwürdigen Ansammlung von Gewerbebetrieben, Garni-Hotels für Messegäste, Einfamilienhäusern und Bauernhöfen, wo man immer den Fluglärm hörte.

Denn trotz alldem war Lohausen für die Einwohner vor allem ein Dorf. Es gab Reitställe, zwei Kirchen, eine evangelisch, eine katholisch, einen Schützenplatz, der einmal im Jahr geschmückt wurde, um den Schützenkönig zu feiern, und eine winzige Dorfschule. Die Wohnhäuser befanden sich oft seit Generationen in Familienbesitz. Man konnte nur schlecht untertauchen, weil sich fast alle kannten. Das war ein Nachteil, mit dem ich leben musste. Der Immobilienboom ließ zwar die Preise hochschnellen, trieb aber auch ein paar Neuzugänge hierher, die stets verräterisch an den Himmel starrten, wenn eine A380 im Landeanflug war, denn mit solchem Lärm musste man aufgewachsen sein, um ihn ignorieren zu können. Aber ansonsten hatten mich bei meiner Rückkehr haargenau dieselben Gesichter erwartet, die ich schon seit meiner Kindheit kannte.

Ich schmiss noch drei Ibuprofen ein, warf einen Blick in Rolfies Unterlagen, konnte mich jedoch nicht konzentrieren und sah mir stattdessen eine Soap im Fernsehen an.

Schließlich raffte ich mich auf und ging in die Küche. Zu den immer noch hämmernden Kopfschmerzen plagte mich das schlechte Gewissen, dass meine Tochter noch keine warme Mahlzeit bekommen hatte, und ich kochte Nudeln mit einer Tomatensoße, die hauptsächlich aus Ketchup bestand.

Die Welt draußen verlor bereits ihre Farben. Meine Gedanken waren ebenso trüb: Lucy hatte nicht gerade das große Los gezogen. Ich war alleinerziehend und hatte ständig Geldnot. Mehr Familie als mich gab es nicht. Und in der Schule trat Lucy in meine Fußstapfen und wurde mehr und mehr zur Außenseiterin.

Die Kinder machten sich über sie lustig: über ihre Kleidung vom Discounter, die falsche Marke ihrer Buntstifte, den Tornister, der mit Eisbären statt den angesagten Einhörnern bedruckt war. Und vor allem darüber, dass Lucy die Frage, wo eigentlich ihr Vater war, nicht beantworten konnte. Leider konnte ich ihr dabei auch nicht helfen. Mehr, als dass Oliver nie da war, wo wir waren, wusste ich nicht von seinem Aufenthaltsort.

Es waren vor allem zwei Mädchen, die Lucy auf dem Kieker hatten. Und Charlotte und Annabel gingen ebenfalls zum Turnen. Ich hätte Lucy zwei Stunden Ruhe in der Woche vor ihnen gegönnt.

Ich überlegte, ob die Mädchen Lucy heute ärgern würden, weil Rolfie sie zum Turnen gebracht hatte.

Denn Rolfie … nun ja, war eben Rolfie. Es stand völlig außer Frage, dass er ein seltsamer Zeitgenosse war. Wir waren beide Sonderlinge, aber wir hatten durch die Jahre zusammengehalten und uns gegenseitig unterstützt. Er half mir ab und zu im Haus, ich kümmerte mich um seinen Papierkram. Wenn ich mich dazu aufraffen konnte.

Ich zog den heißen Nudeltopf vom Herd und schüttete die Spaghetti so schnell in das Sieb über der Spüle, dass mich ein paar Spritzer kochendes Wasser an der Hand trafen. Schnell drehte ich den kalten Wasserhahn auf und kühlte die verbrannten Stellen.

Erst da warf ich einen Blick auf die Uhr – und erschrak. Lucy hätte bereits seit einer halben Stunde zu Hause sein müssen. Ich versuchte, mir den Nachmittag wieder ins Gedächtnis zu rufen. Hatte Lucy etwas zu mir gesagt, was ich nicht richtig mitbekommen hatte? Eine Verlängerung der Turnstunde wegen der geplanten Aufführung an Weihnachten zum Beispiel? Mit meinem Kopfweh hatte ich ihr die ganze Zeit nur halb zugehört.

Zeitgleich schossen mir Bilder von Lieferwagen durch den Kopf, mit fremden Männern am Steuer, auf der Suche nach einsamen Kindern. Natürlich hatte ich Lucy immer wieder eingetrichtert, niemals mit Fremden mitzugehen, aber auf einmal kam mir diese Schutzmaßnahme völlig lächerlich vor. Lucy war erst acht! Sie hatte doch keine Chance gegen einen Erwachsenen, der ihr Böses wollte.

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich musste sie suchen.

Ich warf meinen Parka über, griff nach dem Schlüssel und schlüpfte in die Gummistiefel, weil das schneller ging, als meine Winterschuhe zuzuschnüren.

Vor der Haustür überlegte ich kurz. Der Nachhauseweg rechts über den Nagelsweg war kürzer als links über den Lohauser Feldweg. Deshalb kam Lucy fast immer über den Nagelsweg. Fast immer, aber eben nicht immer. Ich lief nach rechts. Ich musste die Statistik zu Hilfe nehmen. Sonst hatte ich keine Verbündeten.

Auf dem Weg zur Schule holte die Dunkelheit mich endgültig ein.

Es war kein Kind mehr auf der Straße. Alles war wie leer gefegt. Die meisten Kinder wurden vom Turnen abgeholt, auch wenn sie nur eine Straße weiter weg wohnten.

Lucy nicht.

Ich fing an zu rennen, schaute in die Hauseingänge und Vorgärten, ob ich irgendwo ihren Roller sah. Die Schule war höchstens sieben-‍, achthundert Meter von unserem Haus entfernt, es schien mir eine Distanz zu sein, die Kinder allein zurücklegen konnten. Aber jetzt machte ich mir Vorwürfe. Wieso holte ich meine Tochter nicht auch ab? Nur weil ich mich, wenn ich dort mit den anderen Eltern in der Halle herumstand, wie jemand fühlte, der nicht dazugehörte?

Ich benutzte nicht das Haupttor, sondern rannte den schmalen Fußweg entlang, der direkt zur Turnhalle führte.

Vor der Halle standen keine Roller und keine Fahrräder, und im Vorraum brannte auch kein Licht mehr. Ich rüttelte trotzdem an der Hallentür. Sie war abgeschlossen. Ich legte die Hände an die Scheibe und lugte hinein.

»Hallo?«, rief ich. In der Halle blieb es dunkel und unbewegt.

Da fiel mir Rolfie ein. Vielleicht war Lucy ja zu ihm gelaufen, um weiter Karten zu spielen?

Rolfie wohnte auf dem Lohauser Feldweg, also lief ich andersherum zurück.

Das Vorderhaus der alten Frau Prott, in dessen Nebengebäude Rolfie ein Zimmer mit Bad und Kochnische bewohnte, war stockdunkel. Das war ungewöhnlich, denn Frau Prott verließ ihr Haus nur noch selten. Ob sie bei Rolfie war? Doch auch das Nebengebäude im Hinterhof lag verlassen im Dunkeln.

Ich klingelte trotzdem Sturm. Niemand öffnete.

Vielleicht hatte Rolfie Lucy ja wieder nach Hause gebracht, und Lucy sorgte sich, weil ich nicht da war? In der Eile hatte ich vergessen, einen Zettel zu schreiben.

Ich hatte Lucy mal gesagt, dass ich einen Ersatzschlüssel unter dem roten Blumentopf im Garten aufbewahrte. Ob sie sich daran erinnerte? Sie hatte ihn noch nie benutzen müssen.

Ich rannte, so schnell ich konnte. Die Gummistiefel waren dafür nicht besonders geeignet und kosteten mich jetzt mehr Zeit, als sie mir beim Anziehen gespart hatten. Sie scheuerten bei jedem Schritt, was mich ständig daran erinnerte, dass ich in ihnen zu langsam war.

Als ich zu Hause ankam, schrie ich atemlos Lucys Namen durch den Flur. Ich machte die Lichter an, überall, lief auch in den oberen Stock, den wir kaum nutzten.

Nichts.

Das war eine der Situationen, in denen mir das Leben mit glasklarer Schärfe meine Einsamkeit vor Augen führte. Ich wusste niemanden, den ich hätte um Hilfe bitten können.

Rolfie war nicht zu Hause. Thea war in Portland. Außer ihr hatte ich keine Freundin.

Ich hatte nicht einmal Verwandte.

Wo konnte Lucy sein?

Ich wollte die Polizei rufen, hatte aber gleichzeitig Angst davor.

Was, wenn sie meinen Namen in den Computer tippten und auf meine Geschichte stießen? Ich fühlte eine tiefe Furcht, dass man mir Lucy wegnehmen würde. Zwar konnte man mir nicht das Sorgerecht aufgrund der Vergangenheit meiner Familie entziehen, aber viele Menschen glauben an das Böse in den Genen, auch Polizisten. Und ich hätte dem wenig entgegenzusetzen. Alles, was sie sähen, würde ihr Bild von mir bestätigen. Die schäbige Kleidung, das nur halb geheizte Haus, die billigen Möbel, mein Status als alleinerziehende Mutter. Nahm man alles zusammen, wäre das Bild über Lucy und mich komplett, bevor ich irgendetwas erklärt hatte.

Ich holte mein Handy aus der Hosentasche und suchte die Nummer von Carola heraus. Ihr Sohn turnte schon seit dem Kindergarten in Lucys Gruppe mit.

»Hier ist Kathi. Kannst du Sven mal schnell fragen, wann Lucy heute vom Turnen weg ist?« Ich versuchte meine Stimme nicht allzu sehr zittern zu lassen.

»Sven!«, rief Carola. »Sven! Hast du schon wieder Kopfhörer an? Mach doch mal leiser! Wann ist Lucy vom Turnen weg?«

»Die war heute gar nicht da«, hörte ich Svens Stimme, und ich wusste schon, dass es stimmte, bevor Carola noch mal nachbohrte.

»Bist du sicher?«

»Ich bin doch nicht blöd!«

Lucy war also bereits seit mehr als zwei Stunden unauffindbar.

Jetzt geriet ich endgültig in Panik.

Die einzige Person, die zu mir gehörte, war nicht nach Hause gekommen. Und ich hatte keine Ahnung, wo ich sie suchen sollte.

Ich versuchte mit aller Gewalt, mich zusammenzureißen. Eine Entführung, machte ich mir klar, war extrem unwahrscheinlich. Thea hatte mir einmal erklärt, dass über 99 Prozent der Kinder, die vermisst gemeldet würden, binnen weniger Stunden wieder auftauchten. Andererseits nützte einem die Wahrscheinlichkeit gar nichts, wenn man die Mutter dieses einen Kindes war. Ich setzte mir selbst ein Ultimatum: Wenn ich Lucy innerhalb der nächsten zwanzig Minuten nicht fand, würde ich die Polizei rufen, auch wenn ich schreckliche Angst davor hatte, dass daraufhin irgendwo ein amtlicher Vermerk über meine unzureichenden Fähigkeiten als Mutter gemacht werden konnte.

Ich wischte diesen Gedanken beiseite und konzentrierte mich entschlossen auf die wahrscheinlicheren Möglichkeiten. Wohin konnte Lucy gelaufen sein, wenn sie nicht zum Turnen gegangen war?

Oliver schoss mir durch den Kopf. War das möglich? Aber selbst wenn er wieder aufgetaucht wäre, warum sollte er sich auf einmal für seine Tochter interessieren?

Das Flüchtlingsheim fiel mir ein.

Eine Klasse unter Lucy war ein Flüchtlingsmädchen, mit dem Lucy gern zusammen war. Sie war in den Pausen so viel allein, dass dieser Kontakt ihr wertvoll geworden war. Oft gingen sie nach der Schule ein Stück zusammen. Ob sich daraus eine Freundschaft entwickelt hatte, die mir bisher verborgen geblieben war?

Ich beschloss, nachzusehen. Ich hatte nicht viel Auswahl. Dieses Mal hinterließ ich ihr eine Nachricht auf einem großen Zettel und legte ihn auf den Küchentisch. »Suche dich. Ruf mich sofort an, wenn du nach Hause kommst!«

Vorsichtshalber schrieb ich meine Handynummer dahinter. Sie war zwar im Festnetzapparat gespeichert, aber ich wusste nicht, ob Lucy sich daran erinnerte. Sie rief mich nie an. Wozu auch – sie war entweder in der Schule, beim Turnen oder bei mir.

Ich holte mein Fahrrad aus der Garage und fuhr den Nagelsweg entlang, diesmal nicht zur Schule, sondern Richtung Rhein. Ich trat in die Pedale, so fest ich konnte. Dabei umklammerte ich mein Handy, damit ich auf keinen Fall einen Anruf von Lucy verpasste. Meine Gedanken sprangen hin und her zwischen Katastrophenszenarien und Strategien, Lucy zu finden.

Auf dem Sportplatz der International School spielten einige Jungen Fußball. Die Flutlichter schienen kalt auf die Spieler. Vom Boden stiegen Dunstschwaden auf. Mein Blick eilte den Zaun entlang, zur nebelfeuchten Wiese, zum verlassenen Parkplatz. Keine Spur von Lucy.

Ich fuhr weiter, bog auf den Leuchtenberger Kirchweg. Die Straße, die parallel zum Rheindamm verlief, schien mit meiner Welt nichts mehr zu tun zu haben, obwohl sie nur wenige Hundert Meter von meinem eigenen Haus entfernt lag. Ein schicker Reitstall stand am Anfang dieser Straße. Ob Lucy vielleicht Pferde anschauen wollte?

Natürlich wusste sie, dass Reitunterricht für uns außerhalb des Denkbaren lag. Hatte sie vielleicht deshalb eine Leidenschaft für Pferde vor mir verborgen? Um uns beiden ein Nein zu ersparen? Ich sagte viel zu oft Nein zu ihr.

Mir schwirrte der Kopf. Es gab so viele Möglichkeiten, wo sie sein konnte.

Das Flüchtlingsheim lag inmitten der weiß getünchten Villen. Obwohl es anfänglich Protest gehagelt hatte, hatte sich das kleine Containerdorf inzwischen in die Landschaft eingefügt, als gehöre es dort immer schon hin. Es hatte bisher nie Ärger mit den Bewohnern gegeben.

Aber was, wenn dort jemand auf Lucy gelauert hatte?

Die Proteste fielen mir wieder ein: Die vielen alleinstehenden Männer dort schürten die Angst vor Übergriffen auf Frauen und Kinder. Andererseits konnte Lucy genauso gut hinter eine der Villenmauern geschleppt worden sein. Oder in ein Auto gezogen. Als seien das nicht schreckliche Möglichkeiten genug, lag auch noch auf der anderen Seite, hinter der Wiese des Flüchtlingsheims, ein riesiges Schrebergartengebiet. Und jede einzelne Parzelle besaß eine Hütte, in die man ein Kind zerren konnte.

Inzwischen kribbelten meine Arme und Beine vor Panik. Auch wenn ich wusste, wie schnell die Polizei bereit war, falsche Schlüsse zu ziehen, ich konnte nicht länger allein suchen. Die Zeit zerrann mir zwischen den Fingern. Es war sinnlos. Ich brauchte ihre Hilfe. Und hatte ich nicht schon tausend Mal im Fernsehen gehört, die ersten Stunden seien die entscheidenden, wenn ein Kind verschwand?

Was tat ich hier eigentlich?

Ich blieb stehen. Mein Atem kondensierte in der kühlen Abendluft. Ich wischte über das Display meines Handys.

Vor Aufregung vertippte ich mich. Die Wahl des Codes war alles andere als originell, erschien mir aber auf einmal besonders bedeutsam: Es war Lucys Geburtsdatum. Tränen stiegen mir in die Augen. Ich tippte ihn erneut ein. Das Telefon entsperrte sich. Ich starrte auf den Ziffernblock. Musste man die Vorwahl von Düsseldorf wählen, wenn man die Polizei rief? Ich versuchte es erst mal ohne. Ein Glück, es tutete.

Beinahe hätte ich es nicht wahrgenommen, weil ich so konzentriert auf den Anruf war. Doch genau in dem Moment, als eine Stimme »Polizeinotruf« sagte, hörte ich hinter mir das leise Geräusch von Gummirädern auf dem Asphalt. Ich fuhr herum. Dort rollerte meine Tochter über den schmalen Fußweg vom Rheindamm auf den Nagelsweg.

Kapitel 2

Mit einem Schlag fiel die Angst von mir ab. Die Erleichterung war so groß, dass ich sie körperlich spüren konnte. Die Statistik, mit der ich mich beruhigt hatte, hatte recht behalten. Hatte ich noch vor einer Sekunde wirklich geglaubt, dass ausgerechnet hier, wo man die Uhr nach dem Rasenmäherbrummen seines Nachbars stellen konnte, jemand Kinder verschleppte? Innerhalb einer einzigen Sekunde war dieser Gedanke absurd geworden.

Hastig stellte ich mein Fahrrad auf den Seitenständer und rannte ihr entgegen. Ich riss sie an mich, doch sie versteifte sich in meinen Armen.

»Wo warst du? Warum warst du nicht beim Turnen? Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Ich drückte sie noch einmal, aber sie war immer noch voller Abwehr.

Schließlich schob ich sie auf Armeslänge von mir und sah ihr ins Gesicht. Sie schaute auf den Boden.

»Wo warst du?«, fragte ich noch einmal, dieses Mal eine Spur bestimmter als zuvor. »Im Dunkeln, am Rheindamm, wo keine Menschenseele dich hört? Weißt du nicht, wie gefährlich das ist?«

Sie antwortete nicht.

»Ist alles in Ordnung?«

Lucy nickte, aber ihr Blick war immer noch auf den Bürgersteig gerichtet. Ich inspizierte sie rasch. Sie sah noch genauso aus wie vorhin, als sie das Haus verlassen hatte: das Haar zu einem kurzen Zopf gebunden, den Reißverschluss ihrer Daunenjacke bis unter das Kinn zugezogen, was nur dann der Fall war, wenn ich ihre Jacke schloss, was mich auf unbestimmte Weise beruhigte. Der Turnbeutel schlenkerte am Lenkrad des Rollers.

»Ab nach Hause«, beschloss ich, da ich keine Ahnung hatte, wie ich mit so einer Situation umgehen sollte. Bisher hatten wir immer über alles geredet. Hatte ich zumindest gedacht. Dass meine Tochter Geheimnisse haben sollte, die über versteckte Gummibärchen oder unerlaubt benutzte Handys hinausgingen, schien mir abwegig. Es musste eine ganz einfache Erklärung geben.

Wir brachten Roller und Fahrrad in die Garage, und sie folgte mir in die Küche.

Im Sieb über dem Spülbecken waren die Nudeln inzwischen zusammengepappt. Ich schaufelte einen Klumpen davon auf einen Teller und gab einen Klecks lauwarme Tomatensoße darüber.

Dann schob ich den Teller Lucy vor die Nase. »Wenn du pünktlich gewesen wärst, würden sie besser schmecken«, sagte ich in dem Versuch, die Stimmung zu wenden. Bisher hatte meine Erleichterung, sie wiederzuhaben, Lucy eine Art Freibrief ausgestellt. Solange ich damit beschäftigt war, mich über sie zu freuen, brauchte sie weder eine Befragung noch eine Bestrafung zu befürchten. Aber jetzt wollte ich Antworten.

»Iss was«, sagte ich, als sie stumm vor ihrem Teller saß und die Gabel nicht anrührte.

»Hab keinen Hunger«, sagte Lucy schließlich leise.

Ich seufzte. »Du hast heute Mittag nur ein Brot gegessen.«

»Trotzdem.«

Ich nahm die Gabel, pikste ein paar Spaghetti auf und hielt sie ihr an den Mund wie einem Kleinkind, doch sie schüttelte den Kopf. Schließlich schob ich mir die Gabel selbst in den Mund. Die Spaghetti schmeckten mehlig, aber ich aß weiter, nur, um etwas zu tun.

»Du warst nicht beim Turnen.«

Lucy schwieg.

»Wo warst du?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht. Du warst über zwei Stunden verschwunden.«

Ihr Blick flackerte unsicher zu mir herauf. Offenbar hatte sie ihre Verspätung bisher noch gar nicht wahrgenommen.

»Warum warst du nicht beim Turnen?«

»Charlotte und Annabel ärgern mich immer.«

Jetzt bewegte sie sich auf sicherem Boden. Ich hörte es an der Art, wie sie antwortete. Natürlich, die beiden wieder. Die Töchter waren Kopien ihrer Mütter. Charlottes Mutter Henriette gehörte zu den Zugezogenen, aber Gabi hatte mir schon als Kind das Leben zur Hölle gemacht.

Sobald sie mich irgendwo ausfindig gemacht hatte, hatte sie mit ausgestrecktem Zeigefinger angefangen zu lachen. Die Anlässe dafür waren so banal gewesen, dass ich mich gegen sie nie hatte wappnen können. Einfach alles hatte Gabi zur Schadenfreude animiert: meine runtergerutschte Socke, der Aufdruck auf meinem T-Shirt, meine Zahnlücke, jeder Fehler im Unterricht, der umgekrempelte Saum meiner Jeans. Es war furchtbar gewesen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie ich mich vor ihr hätte schützen können, außer indem ich mich vor ihr versteckte. Noch heute ging ich ihr aus dem Weg, wo ich nur konnte.

»Die lassen mich auch nie aufs Klo«, fuhr Lucy fort.

»Was soll das denn heißen?«, fragte ich.

»Immer, wenn eine von denen aufs Klo muss, stellt sich die andere in die Tür. Die bestimmen dann, wer reindarf und wer nicht. Die wollen das ganze Klo für sich haben. Und die sind da immer. Jede Pause. Und mich lassen sie nie rein. Aber wenn ich das Frau Klose sage, behaupten sie, das stimmt gar nicht und ich würde lügen.«

Mein Kopf fing wieder an zu pochen. »Das ist ja nicht zu fassen«, sagte ich. »Aber was machst du denn dann?«

»Wenn ich dringend muss, geh ich heimlich aufs Jungenklo. Aber letztens war der Max in der Kabine und hat behauptet, ich wäre nur da, weil ich ihm auf sein Ding schauen wollte.« Lucy wurde rot. »Und dann hat er das allen Jungen erzählt, und die sagen jetzt immer ganz gemeine Sachen zu mir.«

Das war nicht gut. Auf keinen Fall wollte ich, dass Lucy einen Ruf als frühreifes Mädchen bekam.

»Du darfst jedenfalls nicht mehr aufs Jungenklo gehen«, sagte ich hastig, »das ist keine gute Idee. Besser, du sagst Annabel und Charlotte, sie sollen dich aufs Mädchenklo lassen, das gehört schließlich nicht ihnen. Hast du das schon probiert?« Schon als ich es aussprach, fand ich mich verlogen. Ich machte meinem Kind eine Welt vor, die nicht existierte. In der man auch mit Leuten über ein Problem reden konnte, die gar kein Interesse an einer Lösung hatten. Aber so funktionierte es nicht.

»Das nützt doch nichts«, sagte Lucy, die das offensichtlich schon selbst herausgefunden hatte.

Seit dem Tag, an dem mich Gabi ins Klo geschubst hatte, von dem sie auch noch vorsorglich die Brille hochgeklappt hatte, wusste ich, wie es sich anfühlte, auf der Verliererseite zu stehen. Auf dem Schulhof hatte Gabi auf meine nasse Hose gezeigt und geschrien: »Kathi hat sich in die Hose gemacht! Kathi hat sich in die Hose gemacht!« Auch wenn sie später vom Schulleiter verwarnt worden war, die Lacher waren auf ihrer Seite gewesen. Die Verwarnung war nicht öffentlich geschehen ‒ meine Demütigung schon.

Dass ausgerechnet Gabis Tochter jetzt meine Lucy mobbte, riss die alten Wunden auf. Doch was sollte ich meinem Kind sagen?

Ich unterdrückte eine unpassende Bemerkung über Gabi und Annabel, indem ich mir noch mehr Spaghetti in den Mund schob und wütend darauf herumkaute.

Es war nicht ratsam, sich mit Gabi anzulegen. Sie war giftig wie ein Kugelfisch, und sie blähte sich genauso gern auf. Eines war schon in der Grundschule klar gewesen: Gabi wollte nach oben. Obwohl sie selbst aus eher einfachen Verhältnissen kam, versuchte sie ständig, sich aufzuwerten, indem sie sich nur mit den besser gestellten Kindern anfreundete – und über die anderen lachte.

Ich konnte mir gut vorstellen, wozu jemand wie Gabi fähig war, wenn man sich an ihrem Statussymbol vergriff. So nämlich kam mir Annabel vor, die immer ausstaffiert war wie eine Puppe und trotzdem nur aussah wie eine Kopie von Charlotte. Zwar hatte auch Gabi es inzwischen bis in die Pastor-Bröhl-Straße geschafft, in eine relativ neue und gehobene Siedlung neben der Internationalen Schule. Das Bauunternehmen ihres Mannes Uwe hatte von der Baukonjunktur der letzten Jahre ordentlich profitiert. Aber Charlottes Familie toppte das locker. Sie lebte auf dem Leuchtenberger Kirchweg, und zwar auf der Rheinseite. Eine teurere Ecke hatte Lohausen nicht zu bieten.

Lucy biss sich ein Stück von ihrem Daumennagel ab. »Und außerdem denkt Charlotte, sie wäre besser als alle anderen«, sagte sie.

»Charlotte? Wirklich?« Ich stellte mich dumm, dabei erschien es mir nur logisch.

»Und ich glaube, dass Charlotte Annabel befiehlt, mich nicht aufs Klo zu lassen. Die redet fast nie mit jemandem, aber Annabel flüstert sie immer alles ins Ohr, dass sie irgendwelche Sachen machen soll, und Annabel macht das dann.«

Es war schon erstaunlich, wie Kinder das Verhalten ihrer Eltern kopierten. Viel besser hätte ich die Beziehung zwischen Henriette und Gabi auch nicht beschreiben können. Henriette, obwohl die Vorsitzende der Elternvertretung, ließ bei Elternabenden grundsätzlich Gabi sprechen, beugte sich nur ab und zu zu ihr und korrigierte sie leise, aber gerade so laut, dass es irgendjemand in der ersten Reihe noch verstand und weitererzählen konnte. Trotzdem wirkte Gabi ihr gegenüber stets diensteifrig und nie beleidigt.

Lucy wischte sich mit der Hand über die Augen. »Und außerdem hat Charlotte gesagt, weil ich keinen Papa habe, darum sind wir arm.«

Das versetzte mir einen Stich.

»Vielleicht hast du das falsch verstanden«, sagte ich nach einer kurzen Pause.

»Nein. Am liebsten würde ich Charlotte verprügeln. Aber Annabel passt immer auf sie auf, und zu zweit sind sie stärker als ich«, sagte Lucy und blitzte mich wütend an.

»Vielleicht sollte ich besser erst mal mit der Lehrerin sprechen«, versuchte ich sie zu besänftigen. »Gewalt bringt dich nicht weiter. Man kann doch über alles reden.«

Meine Antworten klangen wie aus einem der Ratgeberbücher für Eltern, die ich in Unmengen verschlungen hatte, aus lauter Sorge, dass ich mich als schlechte Mutter entpuppen könnte.

Ich fand mich erbärmlich.

Lucy reagierte nicht einmal. Warum musste ich meine Tochter auch mit solchen Standardsprüchen quälen? Es hörte doch kein anderer zu.

»Und wo warst du jetzt die ganze Zeit?«, fragte ich nach einer kurzen Pause, die wir beide gebraucht hatten, um uns von meiner feigen Bemerkung zu erholen.

»Spielen«, antwortete Lucy schließlich.

»Aha«, sagte ich. »Am Rhein?«

»Ja.«

»Unten am Rhein? Auf den Wiesen?«

»Ja!« Lucy verschränkte die Arme.

»Mit dem Roller?«

Jetzt wurde sie aufmerksam. Sie sah konzentriert an die Wand und dachte nach. Ich kannte sie so gut. Wahrscheinlich dachte sie darüber nach, dass sie ihren Roller nicht unbeaufsichtigt auf dem Damm hätte liegen lassen dürfen. Wir konnten nicht ohne Weiteres einen neuen kaufen. Und fahren konnte man auf den schlammigen Wegen zu den Rheinwiesen herunter nicht.

»Ja«, sagte sie schließlich, »den Roller habe ich aber mitgenommen.«

»Wie denn?«

»Geschoben.«

»Du hast den Roller geschoben?«

»Ja«, sagte Lucy und schob die Unterlippe vor.

»Wieso war er dann nicht dreckig?«

Sie schwieg, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Gerade hatte sie gelernt, an was man alles denken musste, wenn man log.

»Lucy«, begann ich mit möglichst sanfter Stimme, »du kannst mir doch sagen, wo du warst. Ich schimpfe nicht. Versprochen.«

»Ich war am Rhein spielen!« Es klang so verzweifelt, dass ich nicht noch einmal nachhakte.

»Okay, wenn du das sagst«, sagte ich stattdessen. Ich machte eine Pause. »Dann geh dir jetzt die Zähne putzen. Es ist Bettzeit.«

Lucy schob den Stuhl so erleichtert zurück, dass er beinahe umkippte. Noch nie war sie freiwillig so schnell zum Zähneputzen verschwunden.

Ich rührte mich nicht. Meine Tochter belog mich. Was war schiefgelaufen? Was hatte ich falsch gemacht?

Und wo um Gottes willen war sie gewesen?

Kapitel 3

In der Nacht konnte ich kaum schlafen.

Lucy hatte mir nicht mehr verraten, wo sie gewesen war, auch nicht, als ich nach der Gute-Nacht-Geschichte die Bettdecke um sie herum festgestopft und noch einmal nachgefragt hatte.

Der Kuss auf ihre Stirn hatte sich mit einem Mal sonderbar angefühlt, beinahe so, als stünde er mir nicht länger zu.

Als ich in meinem Bett lag, war ich auf eine tiefere Art einsam als sonst.

Wir schliefen in den beiden nebeneinanderliegenden Zimmern im Erdgeschoss, die hinten an das Wohnzimmer anschlossen. Das Erdgeschoss bestand aus der Küche und vier Zimmern, von denen wir aber nur diese drei benutzten. Im ersten Stock nutzten wir nur das Badezimmer, die restlichen Zimmer standen leer.

Es war ein völlig verbautes und verwinkeltes Haus, das längst eine Sanierung nötig gehabt hätte. Die Ausstattung stammte noch von meinen Großeltern aus den Siebzigerjahren: die tiefer gehängten Decken aus Holzpaneelen, der ausgetretene Teppichboden, die Wand aus Glasbausteinen neben der Haustür und die gluckernde, alte Ölheizung im Keller. Nichts davon war heute noch Standard. Lediglich das Badezimmer hatte vor ein paar Jahren eine kostengünstige Renovierung durch Rolfie erfahren. Er hatte eine Ladung von übrig gebliebenen Fliesen von einer Baustelle mitnehmen dürfen und sie bei mir angebracht.

Ansonsten zeigte sich das Haus von seiner hässlichsten Seite. Es zu verkaufen, wäre trotz des anhaltenden Immobilienbooms schwierig. Nicht nur dass die Kosten für die Modernisierung dieses Ungetüms den Kaufpreis schnell überstiegen hätten, ihm haftete auch der Makel der Vergangenheit an.

Doch nach Lucys Geburt wieder zurückzukehren, war für mich die günstigste Lösung gewesen. Außerdem hatte Thea noch nebenan gewohnt. In der anstrengenden Zeit als frischgebackene und alleinerziehende Mutter wäre ich ohne sie kaum zurechtgekommen.

Inzwischen jedoch war Thea in die Staaten gezogen. Ich vermisste sie.

Auf einmal hörte ich nebenan ein Geräusch. Lucy weinte. Sie litt in letzter Zeit unter Albträumen, was mir zunehmend Sorgen bereitete. Heute war ich beinahe froh darüber. So hatte ich einen Grund, sie in mein Bett zu holen. Das vermied ich sonst, weil ich mal gelesen hatte, dass alleinerziehende Mütter dazu neigten, Kinder als Ersatz für den Partner in ihrem Bett schlafen zu lassen, und dass dies schädlich für die Entwicklung sei.

Aber ein weinendes Kind war mit Sicherheit eine Ausnahme. Ich ging hinüber und holte sie zu mir.

»Du darfst nie, nie wieder einfach woanders hingehen, ohne mir Bescheid zu geben. Versprich mir das!«, sagte ich, während ich ihr durchs Haar strich. Sie schmiegte sich an mich. Für diesen kurzen Moment war meine Welt wieder in Ordnung.

Doch als ich später den zarten Körper meiner schlafenden Tochter im Arm hielt und ihren unruhigen Schlaf beobachtete, wusste ich, dass ich es nicht mehr länger vor mir herschieben konnte. Ich musste mit den Müttern von Charlotte und Annabel sprechen. Wenn es nur nicht ausgerechnet Henriette und Gabi gewesen wären. Die beiden waren nicht nur die Elternvertreterinnen in Lucys Klasse, auch sonst stand ich auf der sozialen Leiter weit unter ihnen.

Charlottes Vater hatte eine Privatpraxis für Psychiatrie und Psychotherapie mitten in der schmucken Kaiserswerther Altstadt. Schon das glänzende Messingschild an dem schicken Altbau setzte ein Zeichen.

Mit Psychotherapeuten hatte ich so meine Erfahrungen, allerdings mit einer ganz anderen Sorte. Als Kind hatte man mich in Therapie geschickt. Die Therapeutin hatte ihr Büro im LVR-Klinikum gehabt. Es war ein schmuckloser Raum am Ende eines düsteren Korridors gewesen. Noch heute hatte ich den Geruch von Linoleum und Putzmitteln in der Nase.

Und Henriette war Anästhesistin in der Kaiserswerther Diakonie. Als Krankenschwester hatte ich eine Art eingebaute Ehrfurcht vor Ärzten. Sie war gertenschlank, mit dunkelblondem, akkurat geschnittenem Haar und feinen Gesichtszügen. Ihre Haltung war so gerade, dass mir häufig der Begriff »stocksteif« in den Sinn kam. Sie war auf eine andere Art unnahbar, und ich mochte sie deshalb nicht besonders. Während ich die Welt vom Rande der Gesellschaft betrachtete, sah Henriette auf sie herab.

Aber ich musste auch zugeben, dass ich ihre Disziplin bewunderte, wenn ich sie trotz ihres Arbeitspensums schon frühmorgens oder noch spätabends auf dem Rheindamm joggen sah.

Jedenfalls konnte ich nicht abstreiten, dass ich mich davor fürchtete, mich mit diesen Frauen anzulegen. Die Machtverhältnisse waren nun mal nicht gerecht verteilt.

Andererseits konnte ich auch nicht zulassen, dass Lucy zu Freiwild in einer Gesellschaft wurde, die sie wegen ihrer Herkunft – das dürfte vor allem auf Henriette zutreffen, die sich grundsätzlich allen überlegen fühlte – oder wegen unseres Geldbeutels – das wäre eher Gabis Ressort – für minderwertig hielt. Also musste ich mit Gabi und Henriette sprechen. Am besten schon morgen, wenn ich Lucy zur Schule brachte. Dort würde ich die beiden abpassen. Allein bei dem Gedanken daran wurde mir ganz schlecht.

Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, mir vorzustellen, wie die Gespräche im schlimmsten Fall ablaufen würden, damit ich gewappnet war. Henriette würde mich mit diesem immer etwas abwesenden Blick ansehen, und nur ihr Mundwinkel würde kaum merklich in die Höhe zucken, während mich eine vernichtende Bemerkung von ihr verstummen ließ. Währenddessen rechnete ich bei Gabi einfach mit allem.

Das Einzige, was mich da retten konnte, war die Tatsache, dass Annabel in der Schule kein unbeschriebenes Blatt war. Sie hatte bereits zwei Tadel bekommen, weil sie äußerst besitzergreifend war, was Charlotte anging. Charlotte war ein hübsches Mädchen, viel hübscher als die etwas derbe Annabel, und bei den Jungs sehr beliebt. Annabel aber mochte wohl die Aufmerksamkeiten nicht, mit denen die Jungs Charlotte bedachten. Einmal hatte sie einem Jungen einen Stock zwischen die Speichen gesteckt, als er hinter Charlotte hergefahren war. Er war gestürzt und hatte sich die Elle angeknackst. Ein anderes Mal hatte sie einem Jungen die Schaukel an den Kopf geworfen, als er bei einem Fangspiel Charlotte für ihren Geschmack zu lange umklammerte. Beim dritten Tadel konnte eine Klassenkonferenz einberufen werden, die mit Schulausschluss enden konnte. Doch trotz dieses Druckmittels hoffte ich, dass ich Lucys Lage mit einem Gespräch nicht noch verschlimmerte.

Als ich endlich einschlief, träumte ich von dunklen Sümpfen, in denen ich immer tiefer versank, je mehr ich strampelte. Über mir saß meine Mutter auf einem Ast und sang »Schlaf, Kindchen schlaf«. Ich schrie um Hilfe, und sie streckte mir in allerletzter Sekunde einen Stock entgegen, doch als ich nach ihm greifen wollte, tauchte plötzlich neben mir ein Kopf aus dem Sumpf auf und jemand anders griff nach dem rettenden Zweig. Ich erwachte schweißgebadet. Mein Kopf schmerzte wieder.

Ich dachte kurz über die Bedeutung des Traums nach. Selbst im Untergang war es für mich schwer vorstellbar, dass ich meine Mutter um Hilfe anrief. War ich vielleicht selbst die Mutter und saß singend auf einem Ast, während meine Tochter unterging?

Umso dringender war es, dass ich mein Vorhaben durchzog und gegen Charlotte und Annabel vorging. Wenn mir nur nicht so mulmig gewesen wäre!

»Reiß dich zusammen«, sagte ich mir, während ich das Schulbrot für Lucy schmierte. »Du wirst doch noch ein simples Gespräch führen können.« Die Selbstbeschwörung funktionierte nur unzureichend. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals.

Vor der Schule herrschte ein ziemliches Gewühl aus Eltern, Autos, Rollern, Fahrrädern und Kindern.

Lucy hob nur kurz die Hand zum Abschied und rollerte zum Tor hinein. Frau Klose hatte uns von Anfang an dazu angehalten, die Kinder nicht auf den Hof zu begleiten, und so tat ich es auch nicht.

Ich blieb aber stehen, um Lucy zu beobachten. Sie setzte sich allein auf die Stufen zum Schulhaus und sah den anderen Kindern beim Spielen zu.

Wie erwartet waren Annabel und Charlotte noch nicht da. Sie kamen oft erst auf den letzten Drücker, ganz so, als würden sie schon einmal den großen Auftritt üben.

Ich hoffte darauf, dass zuerst Charlotte gebracht wurde und ich erst mal mit Henriette sprechen konnte. Auch wenn sie einen von oben herab behandelte, war Henriette von den beiden Müttern das kleinere Übel, da sie für niemanden eine Ausnahme machte. Ihre Arroganz verteilte sie gerecht.

Doch dann hielt statt des Geländewagens von Henriette der Porsche von Charlottes Vater vor der Schule. Das brachte mich völlig aus dem Konzept.

Ich kannte Gerald Süssbrich – Doktor Gerald Süssbrich – zwar seit Lucys Kindergartenzeit, jedoch nur flüchtig, von einigen Elternabenden und Schulfesten. Er war der Typ Mann, den ich schon allein deshalb nicht leiden konnte, weil sich jeder für seinen Freund hielt. Solche Leute fand ich per se verdächtig. Er schaffte es so überzeugend, den Kumpel von nebenan zu geben, dass man ihm sogar den etwas albernen Porsche verzieh. Zu allem Überfluss sah er auch noch gut aus. Groß, sportlich, dichtes Haar, das eine Spur zu lang in die Stirn fiel und das er sich gern mit einer Mischung aus spitzbübischem und entnervtem Grinsen aus der Stirn strich, als habe er wieder einmal versäumt, rechtzeitig einen Friseurtermin zu machen.

Gerald Süssbrich stieg aus und öffnete seiner Tochter galant die Tür. »Guten Morgen, die Damen!«, rief er in Richtung der Mütter, die sich vor dem Schultor versammelt hatten.

Obwohl ich abseitsstand, lächelte er auch mir zu und lupfte einen imaginären Hut.

Ich errötete und ärgerte mich darüber.