Die Tore der Zeit - Anke Simon - E-Book

Die Tore der Zeit E-Book

Anke Simon

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Beschreibung

Kennst du die andere Seite der Tore schon? Ein seltsamer Ruf erreicht die Magischen Vier. Die Urkräfte des Bösen beanspruchen das kommende Zeitalter des Terukanis-Weltenverbundes für sich. Der dunkle Zauberer Marwin, den sie einst besiegten, war ihr erster Bote. Doch es wird ein neuer Bote gesandt und der Kampf um das Schicksal der Erde entbrennt. Die Magischen Vier gelangen an die Häuser des Wissens, da ruft sie der Anführer der Hüter der Tore in seine Welt Erindala. Der Herr der Finsternis ist nun selbst dort eingefallen, um seine mächtigsten Waffen, die Stäbe des Todes, hervorzuholen. Gemeinsam mit den Hütern der Tore versuchen die Magischen Vier, dies zu verhindern.

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Der Herr der Finsternis ist gekommen

und hat schon eine Welt eingenommen.

Kurunthan steht unter seinem Bann.

Nun greift er die Erde an.

Die Hüter der Tore brauchen die Magischen Vier.

Erindala öffnet die Tür.

Das Netzwerk der Tore der Zeit ist in Gefahr.

Einen Teil der Herrschaft stellt es dar.

Wird der Herr der Finsternis die Hüter bezwingen

oder können sie den Sieg erringen?

Da erhebt sich der erste Todesstab

und es beginnt eine gefährliche Jagd.

Widmung

Für Stefan

Inhalt

1. Das Zeichen

2. Der Anführer der Hüter der Tore

3. Das Tor der Visionen

4. Kampf in der nicht magischen Welt

5. Die Trauer

6. In Delphi

7. Die Druidinnen der Erde

8. Im unterirdischen Reich der Zwerge

9. Eine dunkle Vision

10. Die Prophezeiung des Menschenorakels

11. Die Häuser des Wissens

12. Die Magie des Lernens

13. Das Elixier des Lebens

14. Angriff auf die Erde

15. Die Magie der Amethystbetten

16. Efon und die Elfentore

17. Der Schwarze Zauberer

18. Immer noch Freunde

19. Die Welt der Hüter der Tore

20. Die Klippen der Zeit

21. Schlacht um Erindala

22. Gefangene Hüter

23. Der erste Stab des Todes

24. Krisha hilft

25. Dreimal! Herr des Feuers! Dreimal!

26. Ein entweihter Tempel

27. Befreiung mit Hindernissen

28. Verlorene Tore und Welten

DAS ZEICHEN

Es waren grüne Augen, aber nicht irgendwelche. Solch ein Grün hatten sie noch nie gesehen. Es war rätselhaft und drang bis in die tiefste Zelle hinein. In diesen magisch grünen Augen spiegelte sich der Zugang zu einer anderen Welt wider. Aber das war noch nicht alles. Die Augen schauten aus einer Uhr, genauer gesagt, aus der Wanduhr in Tims Zimmer. Ein unergründlicher Hauch von Kühle umwehte sie. Sprachlos starrten Tim, Nick, Robby und Selina auf die geisterhafte Uhr.

Es war der dreißigste März, Tims fünfzehnter Geburtstag. Die Zeiger der Uhr zeigten die zehnte Stunde abends an. Auf der Rosenstraße in Rhog war Ruhe eingetreten. Die Menschen verabschiedeten den Tag und bereiteten sich auf die Nachtruhe vor. Shaja war vor zwei Stunden durch ein Elbentor auf die Erde gekommen und hatte Tim nach Maleia geholt. Er wollte dort mit ihr noch feiern. Aber Tim war zurückgekehrt und hatte sofort seine Freunde zu sich gerufen!

WAR DAS ZEICHEN JETZT DA? Kam es aus dieser Uhr, der ganz offensichtlich Magie zugrunde lag? Sie war ein Geschenk der Elbenkönigin und trug ein Elbensymbol in der Mitte. Ein Dreieck mit einem doppelten Torbogen, dessen Zwischenraum mit hellen Strahlen ausgefüllt war. Das Ziffernblatt verblasste plötzlich.

Ein dreiviertel Jahr war vergangen. Viel zu lange. So empfanden es jedenfalls Tim und Nick. Sie wollten unbedingt auf die magische Seite des Tores zurück, an die fünf Häuser des Wissens. Selina und Robby hatten es damit nicht ganz so eilig. Sie hatten sich schnell wieder an ihren Alltag auf der nicht magischen Seite gewöhnt und die Erinnerung an ihre Erlebnisse auf der magischen Seite des Tores verblasste. Vor allem Robby fühlte sich besser denn je. Durch seinen Status als Selinas Freund und einer der Entdecker des Tores von Rhog war sein Ansehen bei den Schülern erheblich gestiegen.

Auch Lea verschwendete keinen Gedanken mehr an die magische Seite des Tores. Sie hatte im vergangenen Sommer die Schule abgeschlossen und befand sich nun auf Reisen quer durch Europa. Damit erfüllte sie sich ihren lang gehegten Traum. Anschließend wollte sie mit Mia und Rena, ihren beiden besten Freundinnen, durch Südamerika reisen. Nur weit fort von Rhog. Ihre Elbenkleidung, der Erdstab, ihr Elbenschwert, der Feengürtel, der Zirkonstein und der Amethystobelisk lagen gut verstaut im Kleiderschrank ihres Zimmers. Ihr Leben war genauso, wie es sich Lea vor ihrem magischen Abenteuer gewünscht hatte. Aus ihrer Sicht bestand kein Bedarf mehr, auf die magische Seite des Tores zurückzukehren. Selbst das Elixier des Lebens hatte sie vergessen. Wenn alles ruhig blieb, brauchte sie es nicht mehr.

Die Menschen in Rhog wussten nun, dass die Legende von den Toren der Zeit auf Wahrheit beruhte. Rhog war wieder zu einem Ort mit einem Geheimnis geworden, aber niemand würde es preisgeben und das Dorf einem unnötigen Rummel von neugierigen und sensationslüsternen Menschen aussetzen. Die Familien wollten ein ruhiges Leben führen. Also hatte sich der Alltag in Rhog kaum verändert. Das Tor im Schulkeller wurde von dem Geschichtslehrer des Gymnasiums gehütet. Olowen Scout hatte sich freiwillig gemeldet und den Gang verschlossen. Nur mit seiner ausdrücklichen Erlaubnis konnte man zum Tor gelangen. So ungefähr jeder Bürger von Rhog hatte es inzwischen gesehen und die Besichtigungen hatten nachgelassen.

Am Anfang waren Tim, Lea, Nick, Robby und Selina wie Könige und Königinnen behandelt worden. Vor allem Tim war ein beliebtes Objekt bei den Mädchen, obwohl er immer sehr unbeteiligt tat. Und wenn er doch einmal mit einem Mädchen sprach, eilte Selina schnell mahnend herbei. «Shaja denkt bestimmt jede Minute an dich.» Dafür erntete sie immer nur ein müdes Lächeln von Tim. Irgendwann hatte sich der Rummel um sie dann gelegt.

Nun rief die Magie wieder nach ihnen.

Die merkwürdigen grünen Augen in der Wanduhr wurden immer fordernder. Mit unverminderter Kraft durchbohrten sie jeden Einzelnen im Raum.

Der kühle Hauch, der sie hartnäckig umwehte, brachte noch ein leises Pfeifen mit. «Sssss …», wisperte es durch die Luft.

«Tim, was passiert hier?» Selinas Augen vergrößerten sich argwöhnisch. Ihre Farbe schien sich dem tiefen Grün in der Wanduhr anzupassen. Ein leichtes Unwohlsein stieg in Selina auf. Sie befanden sich allein im Haus. Tims Eltern waren für ein paar Tage verreist. In Gegenwart von Erwachsenen fühlte sich Selina immer noch etwas sicherer, selbst wenn Tim magische Fähigkeiten besaß.

«Ist das jetzt das Zeichen?», fragte Nick gespannt.

Tim schwieg.

Der kreisrunde Vollmond am Himmel sandte ein unfassbar helles Licht auf die Erde. Dieses ungewöhnliche Leuchten verlieh der Finsternis der Nacht die Helligkeit des Tages. Man konnte nicht schlafen, war munter und hätte die ganze Nacht durchmachen können.

«Sssss …», sirrte es abermals durch Tims Zimmer. Aus dem kühlen Hauch wurde nun ein stetig wachsender Sog.

«Tim? Ist es das Zeichen?», bohrte Selina nach. Sie saß mit Robby auf Tims Bett und rutschte noch näher an ihn heran. Ihr Freund war immer für sie da, machte alles mit, was ihr gefiel, und sie hatte sich an diesen Zustand gewöhnt. Jetzt griff sie nach seinem Arm und klammerte sich an ihn. Auch Robby war wie sie alle in den letzten Monaten noch gewachsen. Durch seine Ruhe und seine kräftige Statur wirkte er auf sie wie ein Fels in der Brandung. Manchmal fand Selina Robby zu schweigsam und zu zurückhaltend, aber jetzt war er genau das, was sie brauchte.

Tim nickte endlich. «Ja, es ist das Zeichen.»

«Es fühlt sich unheimlich an», stellte Nick verwundert fest. «Wieso nur? Es sollte doch alles gut sein.»

«Der Wandel der Zeit hat begonnen», erklärte Tim ernst. «Das alte Zeitalter in unserem Weltenverbund geht zu Ende und ein neues Zeitalter soll beginnen. Der Herr und die Herrin der Finsternis und der Herr und die Herrin des Lichts kämpfen um die Herrschaft der neuen Zeitepoche. Sie erhalten ein Zeichen, wenn ein neuer Wandel der Zeit anbricht, und senden ihren Ruf an ihre Krieger in die Welten hinaus. Diese beginnen den Kampf. Derjenige, der seinen Ruf zuerst aussendet, erhält eine zusätzliche Kraft. So lautet das Gesetz des Wandels. Bisher ist das noch nie geschehen. Beide Seiten haben sich an das Gesetz gehalten und ihren Ruf gleichzeitig ausgesandt. Aber diesmal …» Tim brach unvermittelt ab.

«WAS IST DIESMAL?» Selinas Finger schraubten sich tief in Robbys Arm hinein.

«Aua, du tust mir weh.»

Selina lockerte ihre Hände nur ganz leicht und Robby versuchte heldenhaft, diesen schmerzvollen Klammergriff auszuhalten.

«Diesmal hat der Herr Finsternis das Gesetz des Wandels gebrochen, das Zeichen nicht abgewartet und seinen Ruf zuerst ausgesandt. Die Erde sollte als erste Welt in seine Hände fallen und Marwin war sein erster Bote. Der Herr der Finsternis dachte, er hätte leichtes Spiel mit dieser Welt. Er hat nicht damit gerechnet, dass die Magischen Vier so schnell zusammenfinden und die Elben den Menschen auch noch helfen würden. Er hatte gehofft, dass Marwin einen der Magischen Vier vernichten kann und der Bund nicht zustande kommt. Deshalb wurden wir damals auf dem Weg zum großen Frühlingsfest im Park von Schattenkriegern angegriffen. Ich sollte sterben.»

«Das … das ist entsetzlich», hauchte Selina.

«Ja, und wenn die Finsternis den Kampf gewinnt, fallen alle Welten in unserem Verbund bis zum nächsten Wandel der Zeit in die Dunkelheit.»

«So habe ich mir das Zeichen nicht vorgestellt.» Selina versuchte ihre Tränen zu unterdrücken. Ihr Griff um Robbys Arm verstärkte sich wieder.

«Sssss …», wisperte es erneut durch die Luft.

«Selina! Du tust mir weh!» Robby musste seine ganze Kraft aufbringen, um Selinas Klammergriff endlich loszuwerden. Es reichte ihm, und dann sagte auch er etwas.

Nur sehr widerstrebend löste sich Selina.

«Die Magischen Vier werden wieder gebraucht und sollen zu den fünf Häusern des Wissens kommen», erklärte Tim.

«Und was ist mit uns?» Nick gefiel das nicht.

Tim druckste herum. «Ihr sollt auch mitkommen. Aber wir werden kämpfen müssen. Ihr seid hier sicherer.»

«Nichts da!», sagte Nick entschieden. «Wir haben das Abenteuer gemeinsam begonnen und werden es auch gemeinsam beenden. Ich komme mit, basta!»

«Du willst doch bloß an die Häuser des Wissens wegen der Magie.» Wenn es gefährlich war, zurückzugehen, dann wollte Selina lieber Tims Ratschlag befolgen und hierbleiben.

«Nein, ich gehe, weil Tim mein Freund ist», beharrte Nick.

«Wir können doch gar nicht kämpfen. Wir sind nicht stark genug.» Selina wollte nicht aufgeben.

«Auch in Rhogat sind wir sicher. Nichts Dunkles kann dort eindringen, schon vergessen?»

«Hab ich nicht», behauptete Selina, obwohl sie tatsächlich nicht mehr daran gedacht hatte.

«Wir sind alle gerufen worden. Sag was, Tim, und du auch Robby. Nur weil Selina hierbleiben will, muss das nicht für dich gelten. Mach ja nicht immer alles, was sie will.»

«Wir haben eben dieselben Interessen», verteidigte sich Robby ziemlich lahm und Nick verdrehte nur die Augen.

«Ihr solltet hierbleiben.» Tim rückte nicht ab von seiner Meinung. Er wollte sich um seine Freunde keine Sorgen machen müssen. In seiner Elbenkleidung und mit seinem Schwert und Feuerstab bewaffnet, gab er eine beachtliche Erscheinung ab. Sein Elbenblut machte sich immer mehr bemerkbar. Auch seiner Schwester ging es so, nur wollte sie einfach davor fliehen. Vielleicht war sie auch deshalb auf Reisen. Jeder Tag hielt andere Eindrücke für sie bereit und sie konnte die Hitze ihres Blutes ignorieren.

Nick akzeptierte Tims Antwort nicht. «Das ist nicht deine Entscheidung», sagte er bestimmt.

«Sssss …», rauschte es durchs Zimmer.

Die Freunde richteten ihr Augenmerk wieder auf den magischen Gegenstand an der Wand. Die intensiven grünen Augen in der Uhr sahen jeden von ihnen eindringlich an.

«Härchen stellen sich auf,

ganz vertraut auf meiner Haut.

Ich spüre die Augen und Tiefe mich durchdringen.

Nach Luft muss ich ringen.

Bin weg von hier und fliege zu dir.»

Selina murmelte die Worte leise vor sich hin und lief, wie von Geisterhand gezogen, Schritt für Schritt auf die magische Uhr zu.

«Selina!» Robby packte sie und zerrte sie zurück. Selina schien unter einer merkwürdigen Hypnose zu leiden.

Tok, Tok, Tok.

Jetzt drangen auch noch merkwürdige Laute aus der Uhr.

Durch diese Laute kam Selina wieder zu sich und klammerte sich erneut an Robby, der die Schmerzen, die von Selinas Griff ausgingen, tapfer wegatmete.

Tok, Tok, Tok.

Die Uhr durchlief jetzt eine erstaunliche Veränderung. Sie erwachte zum Leben. Das sirrende Pfeifen in der Luft war verschwunden und schien diesem Tok, Tok, Tok endgültig gewichen zu sein.

Tim stellte sich mit erhobenem Schwert hin und falls nötig, war er bereit, seine Freunde zu verteidigen.

Der stetig kühle Hauch um sie herum nahm immer mehr zu und bildete bald einen trichterförmigen Sog, der vor ihnen wie ein kleiner Wirbelsturm herumtanzte.

Solch einen Sog kannten die Freunde von einem Tor der Zeit. Wer wollte zu ihnen kommen? Freund oder Feind?

Robby streifte ganz vorsichtig Selinas Hand von seinem Arm. Der Schmerz war unerträglich geworden. Selina ließ es geschehen, rückte aber nicht von Robby ab.

Nick blieb im Gegensatz zu Robby und Selina ruhig und blickte aufmerksam zu dem heftigen Sog.

Tok, Tok, Tok.

Die grünen Augen in der Uhr wurden größer.

Plötzlich erkannten die Freunde, dass die Wanduhr ein Tor der Zeit war. Sie hatten gelernt, dass sich in vielen Dingen Tore der Zeit verbergen konnten. In einer Uhr, einem Fenster, einem Baum, einem Kristall, einem Bild, einem Ring und vielem mehr. Die grünen Augen in der Wanduhr gehörten offensichtlich jemandem, der durch dieses Tor zu ihnen blickte. Die Zeiger hörten nun gänzlich auf, sich zu bewegen und verblassten genauso wie das Ziffernblatt. Doch der heftige Sog, der sie umwehte, gehörte nicht zur Uhr. Wollten sich hier etwa gleich zwei Tore öffnen? Aus den magischen Augen in der Wanduhr schoss ein grüner Blitz quer durchs Zimmer. Fassungslos wichen die Freunde zurück, ohne ihre Blicke von der Uhr zu wenden.

«Spürst du sie, die Lichtmagie?»

Jetzt kamen nicht nur merkwürdige Laute aus der Uhr, sondern auch eine ferne, singende Stimme.

«Wer hat da gerufen?», fragte Selina bange. Hoffentlich fiel sie nicht wieder in eine Hypnose.

«Ich glaube, das ist der Ruf des Lichts», vermutete Tim. «Nachdem die Finsternis ihren Ruf in die Welten von Terukanis gesandt hat, tut es das Licht jetzt auch.»

«Kämpfer des Lichts, haltet euch bereit.

Unser Ruf hallt durch die Zeit.»

Dann geschah alles gleichzeitig. Der Amethystobelisk und der Zirkonstein auf Tims Schreibtisch vibrierten plötzlich. Das ganze Zimmer vibrierte. Der Sog vor ihnen brach auf und ein gleißendes Licht kam zum Vorschein. Ein Tor der Zeit wurde geöffnet. Es war eines jener Elbentore, durch das Shaja in den vergangenen Monaten ab und zu auf die Erde gekommen war, um Tim zu besuchen. Jetzt flogen drei Gestalten in Tims Zimmer. Diona, Shaja und Tiros. Der Sog verschwand und mit ihm verschloss sich das Tor der Zeit.

«Wir grüßen euch», sagte die Elbenkönigin freundlich. «Tim, wir wollen dich und deine Schwester holen.»

«Meine Schwester ist nicht hier.»

Tok, Tok, Tok.

Die Zeiger und das Ziffernblatt in der Wanduhr waren nun völlig verschwunden und ein Gesicht kam zum Vorschein. Das Symbol in der Mitte der Uhr leuchtete hellgrün auf.

«Oron?», fragte Diona leise in die Uhr hinein.

Tiefgrüne Strahlen brachen aus der Uhr hervor. Das Tor der Zeit in der Uhr öffnete sich und eine männliche Gestalt mit tiefgrünen, magischen Augen schwebte in Tims Zimmer. Der Mann überragte alle um mehr als eine Haupteslänge. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er besaß ein markantes und jugendlich wirkendes Gesicht. Die schimmernden, tiefgrünen Augen waren das Bemerkenswerteste an ihm. Langes braunes Haar, welches von einem silbernen Reif um die Stirn gehalten wurde, bedeckte sein Haupt. Er trug einen hellgrauen Umhang, graue, mit Ornamenten verzierte Stiefel über einer hellgrauen Hose und ein grünes Hemd mit einem breiten, braunen Gürtel. An seiner rechten Hand befand sich ein glitzernder, grüner Kristallring, dessen Leuchten gerade verebbte. Er hatte diese magisch grünen Strahlen ausgesandt. Der Sog verflüchtigte sich und endlich herrschte Ruhe im Raum.

DER ANFÜHRER DER HÜTER DER TORE

«Oron, ich grüße dich», sagte Diona freundlich zu dem großen Mann aus der Uhr.

«Und ich grüße euch.» Oron lächelte und wandte sich an die jungen Erdlinge. «Ich bin ein Hüter der Tore der Zeit hier in Terukanis und seit ein paar Tagen auch ihr Anführer.»

Das Staunen der jungen Erdenmenschen wurde immer größer. Die Tore der Zeit besaßen also Hüter.

«Terukanis? Was bedeutet das?» Nicks Wissensdrang meldete sich.

«So heißt unser Weltenverbund. Er wird als riesige Sonne dargestellt. Raána heißt sie. Es gibt zwölf Welten. Zwei Welten kennt ihr bereits. Terra, die Erde mit den Menschen und Maleia, die Elbenwelt. Ich lebe mit den anderen Hütern der Tore in einem kleinen Teil von Erindala, der Mutterwelt von Terukanis. Der andere Teil ist nicht bewohnbar.

«Welche Welten gibt es denn noch?» Nick war in seinem Element. Hier konnte er viel lernen.

«Lavenyja zum Beispiel, die Welt der Magier. Wir nennen sie Zhauri, ihr sagt auch Zauberer.»

«Aus welcher Welt kommt Krisha?» Zanello sah das Kristallwesen vor sich, violett schimmernd und schön.

«Krisha kommt aus Krysantis, der Kristallwelt.»

«Gibt es auch Drachen?» Wenn Robby mal einen von Tims Romanen las, dann am liebsten mit Drachen.

«Die Drachen leben in Ashantur zusammen mit den Ashantanen. Aus ihnen gehen die Drachenreiter hervor. Sie sind groß und kräftig wie die Lharunen, die in Kurunthan leben. Dann gibt es noch Tarantur. Dort leben die Elvorani. Sie sind den Elben sehr ähnlich.»

Nick druckste herum. «Ich bin gern im Wasser. Manchmal hab ich mir schon vorgestellt, dass sich tief unten im Ozean ein eigenes Reich befindet.»

Tim, Robby und Selina sahen Nick verwundert an. Er war für sie immer der analytische Professor, nun stellte sich heraus, dass er doch noch so etwas wie Fantasie besaß.

«Du hast nie etwas gesagt», meinte Tim.

«Ich hab nicht an Fabelwesen gedacht, einfach an untergegangene Welten», gab Nick zu.

«Es gibt Aquala, die Welt der Meere und Lande», erklärte Oron. «Dort leben die Wassermenschen. Sie können im Wasser und über dem Wasser atmen.»

«Also wenn ich richtig gezählt habe, fehlen noch drei Welten», meldete sich Selina zu Wort. Diese fremden Gestirne waren ihr nicht geheuer, aber sie wollte nicht dastehen, als ob sie gar kein Interesse hätte.

«Das sind Inutaris, Eshatorr und Paratamar. Ihr werdet noch einiges über sie erfahren», mischte sich Diona ein. «Habt ihr den Ruf des Lichts gehört?»

«Ja …», bestätigten die Freunde.

«Ich wollte sogar durch das Tor gehen», gab Selina zu.

«In euch steckt eine Kraft, von der ihr noch nichts ahnt.» Oron lächelte kurz, dann verdüsterte sich sein Gesicht. «Der Herr der Finsternis hat nicht nur das Gesetz des Wandels der Zeit gebrochen. Er kam selbst in diesen Weltenverbund.»

«Das ist unmöglich. Die Herrscher der Finsternis und die Herrscher des Lichts dürfen einen Weltenverbund nichtbetreten. Sie lenken stets von ihrer Sphäre den Kampf um eine neue Zeitepoche», warf Tiros ein.

«So war es bisher», resümierte Oron dumpf. «Der Herr der Finsternis will beweisen, dass er das mächtigste Wesen ist, das es gibt.»

«Er ist wahnsinnig geworden», sagte Tiros erschüttert. «Wenn er seinen Ruf als Erster ausgesandt hat, dann hat er auch noch eine zusätzliche Kraft bekommen. Wo ist er jetzt?»

«In Kurunthan. Wir konnten es durch ein Tor der Zeit sehen. Die erste Welt unseres Verbundes ist in seine Hände gefallen. Der König von Kurunthan wurde getötet, die Bewohner mit dem dunklen Bann belegt und die Männer zu Morkas gewandelt. Der Herr der Finsternis ist ein Meister der Täuschung. Er lenkte mit der Dunkelfee und dem Schwarzen Zauberer die Aufmerksamkeit auf die Elbenwelt und die Erde, während er Kurunthan einnahm. Wir sahen es zu spät.»

«Die Herrin des Lichts muss zu uns kommen. Sie ist der Gegenpol zum Herrn der Finsternis», begehrte Tiros auf.

«Ob die Herrin des Lichts das Gesetz auch brechen wird, ist nicht gesagt.» Der Anführer der Hüter der Tore sah traurig aus. «Ich hätte euch gewünscht, dass das Zeichen, auf die magische Seite des Tores zurückzukehren, anders aussehen würde.»

«Wir kehren doch jetzt nicht auf die andere Seite des Tores zurück», entrüstete sich Selina. «Das ist viel zu gefährlich, Herr … Herr Anführer.» Selina würde sich nicht noch einmal in ein Abenteuer stürzen, von dem sie schon vorher wusste, dass es gefährlich sein würde. Ruf hin oder her, Freunde hin oder her. Selbst wenn sie immer noch gern Zeit in Tims Gegenwart verbrachte, hatte alles seine Grenzen.

«Da muss ich Selina ausnahmsweise mal zustimmen. Meine Freunde bleiben hier.»

Selina hätte Tim umarmen können. Er wollte sie immer noch nicht gehen lassen. Robby pfiff die angehaltene Luft aus dem Mund. Er wollte mit Selina nur allzu gern hierbleiben.

Oron blinzelte irritiert. «Ihr seid alle auserwählt. Und nennt mich bitte nur Oron, nicht … Herr Anführer.» Dann wandte er sich an Tim. «Wo ist deine Schwester?»

Tim rollte mit seinen Augen. Er kam sich vor wie in einer Wiederholungsschleife von Ereignissen. Schon wieder wurde er nach seiner Schwester gefragt, die weit weg war. Sie würde nicht kommen. Wie sollte sie auch? Ein Tor der Zeit konnte sie noch nicht öffnen. «Lea reist durch Europa.»

«WAS? Ich dachte, sie wäre hier.» Nun war Oron wirklich besorgt. «Wir müssen Lea so schnell wie möglich holen. Ich bin gekommen, um euch sicher auf die magische Seite der Erde zu bringen. Seit der Herr der Finsternis in Terukanis ist, sind wir vorsichtig geworden. Er hat es auf die Tore der Erde abgesehen. Durch Marwin haben wir ein Tor von Kiltúr verloren. Das erste dunkle Tor im bisher großen, lichtvollen Netzwerk der Tore der Erde. Ein silberschwarzer Blitz zischt hindurch. Dunkle Wesen können kein Tor des Lichts durchschreiten. Das bedeutet ihren sicheren Tod. Also müssen sie es wandeln. Und lichtvolle Wesen können kein dunkles Tor durchschreiten, ohne ihre Kräfte zu verlieren oder gar der Dunkelheit zu verfallen. Wir wissen noch nicht, wie stark sich die Magischen Vier gegen den dunklen Bann in solch einem Tor wehren können, alle anderen können es nicht. Ihr erkennt ein dunkles Tor an dem schwarzen Ring, der es umgibt und an dem dunklen Sog, der daraus hervortritt. Einzig die Tore der Hüter sind unantastbar. Ich bin nicht nur gekommen, um euch Botschaften zu bringen, sondern alle durch mein Tor nach Rhogat zu senden. Die Tore der Erde sind angreifbar geworden.»

«Worauf warten wir dann noch? Auf nach Rhogat.»

«Der Professor wieder …», mokierte sich Selina. «Du willst nur Magie lernen.»

Oron lachte. «Magie lernt ihr am besten an den fünf Häusern des Wissens.»

Etwas regte sich plötzlich draußen und lenkte ihre Aufmerksamkeit dorthin. Obwohl es kein Gewitter gab und die Nacht sternenklar war, erscholl am fernen Horizont ein düsteres Donnergrollen. Eisige Winde wehten durch das offene Fenster und schienen ein drohendes Unheil anzukündigen. Silberschwarze Blitze zerfetzten die Nacht. Sie gaben groteske Gebilde vor dem Hintergrund des hellen Mondes ab.

«Ich kann den Tod spüren.» Tiros’ Sinne waren hellwach. Der Elbenhauptmann spähte zum Fenster.

Die silberschwarzen Blitze formten sich am Nachthimmel zu einem dunklen, wabernden, ovalen Ring.

Oron trat an das Fenster und lauschte. Das magische Grün in seinen Augen vertiefte sich und schien die Luft förmlich durchbohren zu wollen. Besorgt drehte er sich zu den anderen um. «Die Nacht spricht zu uns. Ein dunkles Tor der Zeit will sich öffnen.»

«Die Finsternis kommt auf die Erde.» Diona griff an ihre rechte Hüfte, wo unter ihrem Kleid in einem langen, magischen Elbenschaft ihr Schwert hing. «Das ist ein Tor von Kurunthan. Morkas werden kommen. Sie sind hinter Tim und Lea her. Ich habe gerade die Stimme des Elbenorakels in meinem Ohr gehört. Erstaunlich, die Kraft eines Orakels ist an seine Welt gebunden. Das Menschenorakel muss dem Elbenorakel geholfen haben. So konnte ich die Worte verstehen. Zum Schluss wisperte die Orakelstimme noch Leas Namen.»

«Leas Namen?» Tims Herz pochte ihm bis zum Hals. Seine Unruhe stieg. Wie hatte er nur so sorglos sein können? Er hatte sich von Lea anstecken lassen. Sie war sehr schnell in ihr normales Leben zurückgekehrt, hatte so getan, als hätte ihr ganzes Abenteuer nie stattgefunden. Lea konnte doch nicht verleugnen, wer sie waren und wohin sie gerufen wurden. Sie musste es doch tief in ihrem Herzen fühlen.

Erneut zerstach ein silberschwarzer Blitz die Nacht.

«Ihr bleibt hier!» Oron öffnete das Fenster und flog hinaus.

Tim, Nick, Robby, Selina, Diona, Shaja und Tiros sahen durch das geöffnete Fenster, wie Oron die Magie seines grünen Ringes entfachte und ein magischer Strahl zu dem schwarzen Gebilde in der Luft schoss. Das dunkle Tor der Zeit wurde von grüner Magie durchdrungen. Dennoch gelang es einigen Schattenkriegern, daraus hervorzukommen. Sie waren schon zu weit vorgedrungen.

«Die holen wir uns.» Tims Blut floss wie heiße Lava durch seine Venen, sein feuriges Element meldete sich. Er musste seine Freunde und die Menschen, die hier lebten, beschützen. Entschlossen holte er seinen Feuerstab von seinem Rücken und rauschte durch das sperrangelweit geöffnete Fenster in die sternenklare Nacht hinaus.

«Tim! Nicht so stürmisch. Wir kommen mit!», rief Shaja. Eilends flog ihm die Elbenprinzessin nach. Ihre Mutter und Tiros folgten ihnen. Die Elben hatten unterdessen auch den Flugzauber mit dem Elixier bekommen.

Acht Schattenkrieger sprangen kraftvoll auf die Erde.

«Ihr habt hier nichts zu suchen.» Tim schwang seinen Stab des Lebens. «FEUER!» Ein glühend roter Strahl brach hervor und vernichtete vier Schattenkrieger.

«Jeder übernimmt einen», rief Shaja und stellte sich einem dunklen Krieger zum Kampf.

Die Rosenstraße wurde von einer unglaublichen Magie erfüllt und die Menschen kamen aus ihren Häusern. Viele trugen ihre Pyjamas, was darauf hinwies, dass sie entweder gerade ins Bett gehen wollten oder durch die Vorgänge auf der Straße aus dem Bett geholt wurden. Schreckensstarr harrten sie vor ihren Haustüren aus und starrten auf das kriegsträchtige Geschehen. Auch wenn sie von den Toren der Zeit wussten, überstieg dieser Anblick doch ihr Vorstellungsvermögen. Die Tore der Zeit schienen auch Gefahr zu bedeuten.

Shaja, Diona, Tiros, Tim und Oron hatten keine Zeit, sich um die Menschen zu kümmern. Die drei Elben und Tim kämpften jeweils gegen einen Schattenkrieger. Oron wandelte unterdessen das dunkle Tor der Erde mit seinem magisch grünen Licht wieder in ein helles Tor und verschloss es. Der Torwandel hatte ihn geschwächt, dennoch konnte er noch in den Kampf eingreifen und einige Zeit später waren die Morkas besiegt. Ihre toten Körper lösten sich auf und mit ihnen ihre schwarzen Schwerter.

Jubel brandete los und ein lautes Klatschen.

Jetzt sahen die Retter zu den vielen Leuten, die vor ihren Häusern standen. Frau Leander, die bei ihrer Schwester in der Rosenstraße zu Besuch war, und ein kleiner beleibter Mann traten zögernd vor.

Tim wollte loslaufen und wurde von Oron zurückgehalten. Der Anführer der Hüter der Tore trat auf die Menschen zu. «Wer seid ihr?», fragte Oron die Frau und den Mann.

«Ich bin Frau Leander, die Schulleiterin der Grundschule in Rhog, wo sich auch das Tor der Zeit befindet.»

«Und ich bin Herr Morris, der Bürgermeister von Rhog.» Sein ansehnlicher Bauch wippte leicht auf und ab.

Oron musterte die beiden aufmerksam und lächelte schließlich. «In dir fließt das Blut einer Hüterin und in dir das Blut eines Anführers. Ihr habt das Herz auf dem rechten Fleck.»

Frau Leander starrte Oron verwirrt an. «Ich bin keine Hüterin.»

«Auch wenn du es nicht wusstest, so hast du das Tor der Zeit im Schulkeller gehütet. Niemand durfte in den Keller gehen. Dass Tim einen Weg gefunden hat, konntest du nicht beeinflussen. Es war sein Schicksal.»

Alle Blicke richteten sich staunend auf Frau Leander, die kaum glauben konnte, was sie da gehört hatte, auch wenn sie fühlte, dass ein Funken Wahrheit in diesen Worten lag. Und Herr Morris war für alle der richtige Bürgermeister. Er setzte sich für die Leute und das Dorf ein und hatte noch nie aus dem Tor der Zeit eine Touristenattraktion machen wollen, nur damit mehr Geld in die Kasse von Rhog floss. Sie hatten zusammen beschlossen, das Geheimnis nicht preiszugeben und das Tor und den Ort zu schützen.

«Bewohner von Rhog», wandte sich Oron an die Menschen. «Ich bin ein Hüter der Tore der Zeit, das da sind Elben und Tim kennt ihr.» Oron deutete auf seine Begleiter. «Es gibt viele Welten, von denen ihr noch nichts wisst. Wenn es an der Zeit ist, werdet ihr mit diesem Wissen vertraut. Die Elbenkönigin und ich besitzen die Magie, euch die Erinnerung daran zu nehmen. Doch das wollen wir nicht. Wir haben euch geprüft. Ihr werdet das Geheimnis des Tores hüten.»

«Das tun wir!», riefen die Bewohner von Rhog geehrt.

«Geht nun in die Häuser zurück und bleibt dort. Ich werde einen magischen Schutz um euer Dorf legen.»

Die Menschen nickten und verschwanden in ihr Heim.

Noch bevor Oron den Schutz um Rhog legen konnte, vernahm Tim plötzlich seinen Namen. «Lea?» Ihm war, als hätte er die Stimme seiner Schwester gehört. Mit einem Mal tauchte ein heller Sog auf. Ein Tor der Zeit öffnete sich und zog ihn mitten hinein in ein Muster aus braunen Bergen und grünen Wiesen.

DAS TOR DER VISIONEN

Fassungslos starrte Tim auf die Gebilde vorbeiziehender Landschaften und flog mitten hindurch. Er konnte sogar den Blumenduft auf den Wiesen riechen, aber wehren konnte er sich nicht. Wieso wurde er so unvermittelt durch ein Tor der Zeit gezogen? Warum kamen die anderen nicht mit? Was war das für ein Tor? Das Muster änderte sich. Nur noch weiße Stille umfing ihn.

Tim wankte, als ihn der Sog losließ. Er landete auf einem Hügel. Vor ihm baute sich ein runder, weißer Tempel auf, weiter unten befanden sich kleine weiße Tempelhäuser und ein runder Platz, der aussah wie eine kleine Arena. Weiße, saubere Wege führten zwischen den terrassenförmig angelegten Bauten hindurch. Eine große Säule aus Sandstein behauptete ihren Platz auf der ersten Terrassenstufe unter ihm. Wo war er? Aufmerksam sah er sich um und stutzte. Hinter einer Säule trat seine Schwester hervor!

«Du bist wirklich hier?», sagte Lea fassungslos.

«Ja. Wo ist hier?»

«Wir sind in einer Vision, genauer gesagt, in meiner Vision, die ins antike Griechenland nach Delphi führt.»

«Wie bitte? Du kannst selbst Visionen erschaffen? Und wieso das antike Griechenland?» Tim blickte verständnislos auf die Anlage.

«Ich kam vor drei Tagen hier an und in der ersten Nacht ging es schon los. Plötzlich wachte ich auf und mein Blut wurde heiß. Ein weißes Tor der Zeit öffnete sich, aus dem das Orakel der Erde stieg.»

«Das Orakel der Erde? Wie das?»

«Nachdem ich nach unserem Abenteuer meine erste Vision erhalten hatte, sagte mir das Orakel, dass ich auch selbst welche erschaffen kann, sogar hineingehen und jemanden in diese Vision rufen. Dazu muss ich mich mit meinem Element verbinden, das Tor der Visionen öffnen und mir ganz klar vorstellen, wohin es geht. Es gibt sogar einen Spruch dafür:

Öffne dich Tor der Visionen.

Botschaften in dir wohnen.

Ich stelle mir das antike Griechenland vor.

Öffne dich heiliges Tor.

Ich sollte dieses Tor öffnen, in diese Vision gehen und dich rufen, damit wir verstehen, was Magie alles vollbringen kann, und damit du das Menschenorakel kennenlernst. Auch wenn ich mir vollkommen lächerlich vorkam, in einer Vision jemanden zu rufen, hab ich es getan. Jetzt bist du da.»

«Ich hab dich gehört, dann öffnete sich ein Tor der Zeit und zog mich hinein.»

«Das ist doch verrückt.»

«Ich glaube, irgendwie sind wir das auch.»

«Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit», schmunzelte Lea.

Tim erzählte seiner Schwester, was vorgefallen war. Sie sollte so schnell wie möglich zurückkehren.

Lea ging in die Knie. Unter ihr bildete sich sofort ein Stein, auf den sie sich setzen konnte. «Ich habe es gesehen. Den Kampf, die Magischen Vier, eine fremde Welt …», sagte sie tonlos. «Ich hatte gehofft, dass diese Vision nur ein Trugbild war. In den vergangenen Monaten war es ruhig.» Auch wenn sich Lea damit abgefunden hatte, Magie zu besitzen, wäre sie froh, sie nicht mehr einsetzen müssen. Die Erkenntnis, dass sie es doch tun musste, erfasste sie wie eine Sturmflut und riss sie mit sich hinfort. Es dauerte eine Weile, ehe Lea Tim ansehen konnte. Ein trauriges Lächeln umspielte ihren Mund. «Ich habe Magie nie gewollt und ich habe meine Zweifel, sie einzusetzen.»

«Wir machen das gemeinsam», sagte Tim aufmunternd.

«Mein kleiner Bruder.» Leas Lächeln vertiefte sich. «Wie immer optimistisch.»

Tim wollte etwas erwidern, da wurde die Vision mit einem Mal lebendig. «Sieh nur!», rief er und zeigte nach vorn.

Drei Priesterinnen in weißen, langen Kleidern kamen zu dem runden Tempel. Ihre Stirn war mit einem goldenen Band geschmückt, von dem sich weitere gewellte Bänder durch das ausnahmslos lange Haar woben. Die Farbe der Haare unterschied sich von Priesterin zu Priesterin. Rot. Braun. Blond. Goldene Armreife und Gürtel dienten als weiteres Zierwerk und goldene Sandalen schmückten die Füße. Sie trugen Blumenkränze, die sie singend vor der weißen Frauenstatue in der Mitte des Tempels niederlegten.

«Das ist bestimmt irgendeine Gottheit, zu der sie beten!», vermutete Tim.

«Nein, das ist das Orakel der Erde.» Lea blickte ungläubig auf die Statue.

Drei weitere Priesterinnen schritten feierlich durch Tim und Lea hindurch in die hell erleuchtete Tempelhalle. Die Geschwister bemerkten, dass sie unsichtbar waren, Geister, die niemand sehen und hören konnte. Ein ungewöhnliches Gefühl. Still beobachteten sie weiter.

Die Priesterin in der Mitte entfachte Feuer in ihren Händen und legte es in die bronzefarbene Schale, die vor der Statue stand.

«Sie beherrscht das Element Feuer wie du», flüsterte Lea, obwohl sie auch hätte schreien können, denn die Geschwister waren nicht zu hören.

«Sicher konnten auserwählte Menschen schon immer mit den Elementen umgehen», flüsterte Tim zurück. Er hatte sich automatisch an den Tonfall seiner Schwester angepasst.

«Ich gehe zum Orakel», sagte die Priesterin, die das Feuer entfacht hatte. «Né lán karyjé.» Mit der rechten Hand wischte sie leicht durch die Luft.

Tim und Lea rissen ihre Augen auf. Fassungslos nahmen sie einen goldglänzenden, wabernden Schleier wahr, so fein wie Spinnweben, der sich nun teilte. Gleißendes Licht brach dahinter hervor, in das die Priesterin feierlich schritt, auf einen schillernden Kristallpalast zu. Dann löste sich das Bild auf.

WUSCH!

Ein warmer Sog umwehte Tim und Lea.

ZISCH!

Ein leuchtender, grüner Blitz mit braunen Streifen!

MAGIE ENTFALTETE SICH!

Helle, grüne und goldene Farben malten sich in die Vision hinein und ein Tor öffnete sich, das von einem goldenen Rand umgeben war. Ein Kreis aus grünem Efeu und goldenen Blumen erschien und um das Tor leuchteten braune, grüne und goldene Strahlen.

Aus diesem Muster schwebte eine Frau, die ein steter kristallener Glanz umgab. Durchdringende braune Augen mit grünen Funken. Lange braune, gewellte Haare bis zu den Hüften. Goldene Blumen im Haar und lange grüne Bänder. Ein schillerndes, braun-grünes, langes Kleid am schlanken Körper. Auf dem Kopf ein helles Kristalldiadem mit einem Stein. Er sah aus wie ein Diamant. Ein lieblicher Rosenduft entströmte ihr.

Sprachlos starrten Tim und Lea auf die eindrückliche Erscheinung.

«Die magischen Geschwister. Welch eine Ehre. Ich grüße euch. Ich bin Delyjá, das Orakel der Erde oder auch das Menschenorakel, wie ihr wollt. Und du bist sicher Tim.»

«Ja», sagte Tim ergriffen. «Lebt Ihr hier?»

«Nur Delyjá bitte. Ja, ich lebe hier. Das menschliche Auge kann den Ort, an dem mein Kristallpalast steht, nicht erfassen. Ein Schutzschleier umgibt ihn. Nur Auserwählte mit hoher Magie können zu mir gelangen.»

«Das haben wir gesehen.» Lea spürte ihr Element bei dem Orakel in solch einer Intensität, dass ein leichtes Zittern ihren Körper erfasste.

«Ihr solltet das auch sehen. Die Priesterin, die das Feuer entfacht hatte, war übrigens die erste Große Seherin der Erde», erwiderte das Orakel mit seiner tiefen, melodischen Stimme.

Die erhabene Art des Orakels beeindruckte Tim und Lea. Sie hingen förmlich an den weichen Lippen der alterslosen Frau, die so ruhig und in gleichmäßigen Wellen sprachen. Unfassbar, die Erde besaß ein Orakel.

«Es gibt eine Sage, die sich um das Orakel von Delphi rankt. Dort heißt es, dass die Erdgöttin Gaia eine zweiflügelige Schlange oder besser gesagt einen Drachen gebar, der später getötet wurde.» Tim hatte einiges über diese Sage gelesen.

«Deine Vorliebe für Mythen und Legenden wurde dir in die Wiege gelegt, Tim. Dadurch kannst du altes Wissen bergen und hast das Tor von Rhog gefunden. Ihr wisst, dass es Drachen gibt?»

Die magischen Geschwister nickten.

«Gaia hat keinen Drachen geboren. Auch die Drachen kamen aus Ashantur, ihrer Welt, in andere Welten. Ein Drache ließ sich in Delphi nieder und beschützte die Menschen. Er wies mir den Weg zu dem verborgenen Kristallpalast, in dem ich fortan als Orakel lebte. Doch mit dem nächsten Wandel der Zeit wurde er von Dunkelheit ergriffen und richtete erheblichen Schaden an. Aus Häusern und Tempeln wurden Ruinen, viele starben. Kein Mensch konnte ihn töten. Ein Krieger aus Kurunthan, der sich auf Drachenmagie verstand, vollbrachte das Werk. Im Sterben löste sich der dunkle Bann. Die reine Magie des Drachens floss in den Ort und beschützt ihn noch heute.»

«Der junge Krieger war der Gott Apollon», rief Tim begeistert von der Geschichte.

Delyjá lächelte. «Eure Götter sind Wesen aus einer anderen Welt, nichts weiter.»

«Aber wieso ist dieser Ort ausgestorben und du bist als Orakel ein Mythos geworden?», wollte Lea wissen.

«Seht selbst.» Delyjá öffnete ein Tor der Visionen, das tief in die Zeit der Erde zurückführte.

Das Menschenorakel baute den verbrannten Ort mit seiner Magie wieder auf. Da auch die Priesterinnen von dem Drachen verbrannt worden waren, kamen neue. Sie liefen in den Tempel, legten selbst gemachte Blumenkränze an der Statue des Orakels nieder und sangen:

«Wir ehren die Kraft des Orakels.

Wir ehren die Gabe der Großen Seherin.

Wir ehren die Magie des Drachens.

Wir ehren diesen Ort.

Die Magie ist ewiglich, geht nie fort.»

Plötzlich stürmten mit langen Stöcken bewaffnete Priester in den Tempel und befahlen den Priesterinnen, zu verschwinden. Eine sollte bleiben, um weiterhin Botschaften des Orakels zu empfangen. Das Orakel war entsetzt über diese Entweihung und zog sich zurück. Die Priesterin verstand die Botschaften nicht mehr und wurde schließlich getötet. Die enttäuschten Priester verließen den Ort und nur noch trister Stein blieb übrig.

Abermals wechselte das Bild im Tor der Visionen und zeigte eine Mutter, die in der Nähe von Delphi lebte, wie sie ihr neu geborenes Mädchen in den Armen hielt. Das Menschenorakel erschien ihr und prophezeite, dass dies die neue Große Seherin der Erde werden würde, die es lange nicht mehr gegeben hatte. Sie öffnete ein Tor der Zeit und schickte die Mutter auf die magische Seite der Erde nach Rhog. Dort sollte sie leben und ihre Tochter an den fünf Häusern des Wissens unterrichten lassen. Das Mädchen sollte Rose heißen und einst zwei magischen Geschwistern bei der Erfüllung ihres Schicksals helfen.

Das Tor der Visionen verschloss sich wieder. Tim und Lea fühlten sich noch ganz benommen von dem, was sie gesehen hatten. Die Sprache schien im Moment etwas völlig Fremdes für sie geworden zu sein und musste wohl erst wieder aus ihrem tiefsten Inneren hervorgeholt werden.

Dafür sprach Delyjá. «Als die Magie von den Menschen missbraucht wurde, zog Dunkelheit in die Erde. Ihr habt es gesehen, als die Priester in den Tempel einfielen. Ich zog mich zurück. Die Menschen würden mich nicht mehr verstehen. Die Hüter der Tore verschlossen die Erdentore. Nichts Dunkles durfte in die anderen Welten von Terukanis dringen. Die Magie verschwand. Lediglich die Feen, Elfen und Zwerge haben sich ihre Magie bewahrt und um ihr Reich einen magischen Ring gezogen. Fortan war es die magische Seite der Erde. Eines Tages sollten sie ihre Tore wieder öffnen. Nun ist diese Zeit gekommen.»

Tim und Lea konnten sich immer noch nicht rühren, geschweige denn sprechen. Es sah aus, als ob sie sich an der Orakelstatue aus der Vision ein Beispiel nehmen wollten.

Das Orakel der Erde strich sanft über ihre Stirn, bis sie sich wieder bewegten.

«Ich glaube, wir wissen noch nicht viel über unsere Welt», sagte Tim endlich.

«Sucht die Wahrheit in den Sagen, Mythen und Legenden», antwortete das Orakel. «Das tust du bereits, Tim. Sucht jenseits der Gedanken. Dort findet ihr die Magie des Lebens, und eine unglaubliche Welt öffnet sich euch.»

«Durch die Feen haben wir von der Magie des Lebens gehört», meinte Lea.

«Sie sind gute Lehrerinnen. Du weißt jetzt, wie du ein Tor der Visionen nutzen kannst. Das ist wichtig im Kampf um den Wandel der Zeit. Sei stark und ohne Zweifel, dann ist ein Tor der Visionen sicher. Bist du es nicht, können die Mächte der Finsternis eintreten. Töten können sie dich in einer Vision nicht, aber wenn du die Vision verlässt, bist du geschwächt.»

«Geschwächt? Ich wusste, warum ich keine Magie will!»

«Ich sehe deine Zweifel, Lea. Gaben sind angeboren. Dagegen kannst du nichts tun. Sie wollen sich entfalten, wenn es an der Zeit ist.»

Lea stierte in das weiße Nichts der Vision und schwieg verbissen.

Delyjá seufzte. «Hört meine Botschaft. Ihr seid Menschen und Teil der Magischen Vier, und ich bin das Orakel der Menschen. Nur ich kann euch diese Botschaft überbringen. Ein entfernter Ausdruck bildete sich auf Delyjás Gesicht:

Die Erde ist in Gefahr, dunkle Tore wurden wahr.

Schattenkrieger werden kommen.

Der Frieden auf der Erde ist genommen.

Die Hüter der Tore sollen ihre Magie einsetzen

und den Herrn der Finsternis nicht unterschätzen.»

Auch wenn das Orakel keinerlei Gemütsregung zeigte, weil es seine Botschaften nicht bewertete, spürten Tim und Lea den kühlen Hauch der Warnung in den Worten und erschauerten.

«Ihr müsst schnell zurück.» Delyjás Augen wurden wieder klar. «Ich sende euch durch ein Tor der Zeit in den Augenblick zurück, als Tim verschwand. Auch ich muss wieder in meinen Kristallpalast. Orakel dürfen nicht allzu lange wegbleiben, sonst werden sie sterblich. Über dem Ort, an dem sie leben, liegt ein besonderer Schutz. Er trägt die Kraft der Unsterblichkeit und gibt sie an das Orakel weiter. Bei zu langer Abwesenheit bricht die Verbindung ab und das Orakel wandelt sich wieder in einen sterblichen Bewohner seiner Welt. Das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Deine Sachen sind bereits bei dir zu Hause, Lea. Auch ich will die Erde vor der Dunkelheit bewahren und werde alles tun, was ich kann.»

Das Orakel war fertig und Tim und Lea gingen in den braun-grünen Sog hinein, der von dem neu geöffneten Tor der Zeit ausging. Sie wurden erfasst und flogen durch magische Muster aus grünen Wiesen und braunen Bergen in ihre Welt zurück.

Oron, Diona, Shaja und Tiros hatten geduldig gewartet. Nun war Tim wieder da und hatte Lea mitgebracht.

KAMPF IN DER NICHT MAGISCHEN WELT

Nachdem die magischen Geschwister auf ihrer heimatlichen Rosenstraße gelandet waren, wurde Lea freudig begrüßt. Sie und Tim erzählten abwechselnd, was sich ereignet hatte. Als sie über Leas Gabe sprachen, verschwieg sie, dass sie sich im Moment nicht in der Lage fühlte, Tore der Visionen zu öffnen. Sie wollte keine Unruhe verbreiten. Außerdem würde ihnen das Orakel der Erde helfen.

Oron wirkte nach der Botschaft des Orakels alarmiert. Wenn die Hüter der Tore den Herrn der Finsternis nicht unterschätzen sollten, konnte das nur bedeuten, dass die Tore von Terukanis in Gefahr waren. Offensichtlich hatte es der dunkle Herrscher auf das Netzwerk der Tore abgesehen, das von den Hütern bewacht wurde. Bekam er es in seine Hände, konnte er seine dunkle Magie in die Tore der Zeit fließen lassen und der Weltenverbund war verloren. Oron wollte zurück, da spürte er einen kalten Sog, der getragen wurde von Tod, Hass und dem Willen zu beherrschen.

Dunkle Wolken schoben sich plötzlich vor den hell erleuchteten Vollmond. Die stets zuverlässigen Laternen der Rosenstraße mussten ihr Licht zischend aufgeben. Ein Tor der Zeit öffnete sich, das der eisige Sog angekündigt hatte. Er entströmte ihm und färbte sich silbern und schwarz. Dunkle Magie war am Werk. Um das Tor wand sich ein schwarzer Ring, der sich rasant vergrößerte. Innerhalb dieses Ringes erschien eine silberschwarze Rose und ein silberschwarzer Blitz zuckte hindurch.

«Rrhhummm, ich summ das Lied der Dunkelheit.

Unser Ruf hallt durch die Zeit.

Kämpfer der Finsternis haltet euch bereit.»

Eine klirrend kalte Stimme, die unverkennbar auf dem Kriegspfad wandelte, wurde durch diese wabernde silberschwarze Rose auf die Erde gesandt.

«Wer ruft da?» Tim starrte in das Tor der Zeit und ahnte schon, wer daraus hervorkommen wollte.

«Das war der Ruf der Finsternis, der durch dunkle Tore der Zeit an seine Krieger gesandt wurde und ihnen Kraft verleiht. Die silberschwarze Blitzrose ist das Symbol der dunklen Tore. Wenn sie vollendet ist, ist der Wandel zu einem dunklen Tor vollzogen», antwortete Oron. «Ihr müsst euch kampfbereit machen. Meine Magie mag hier nichts mehr zu verrichten. Das Tor ist von zu viel Dunkelheit durchdrungen.»

Die silberschwarze Rose flammte auf. Das Tor der Zeit zeigte, wessen Macht hier herrschte.

Ein silberschwarzer Blitz zischte mit ohrenbetäubendem Donner aus dem Tor durch das offene Fenster in Tims Zimmer hinein. Ein Aufschrei erscholl! Die dunkle Macht wusste offenbar genau, wen sie treffen wollte.

«NEIN!» Tim sah entsetzt zu seinem Elternhaus. Ein silberschwarzer Ring bildete sich darum, auf den plötzlich hellgrüne Strahlen donnerten. Dunkle Magie krachte auf Lichtmagie. Eine Explosion rauschte über die Rosenstraße hinweg. Wenn bisher noch einige Bewohner geschlafen hatten, dann waren sie jetzt alle wach. Eisern blieben sie in ihren Häusern. Hinter mancher Gardine bewegten sich schemenhaft Silhouetten, die meisten rannten jedoch in ihre Keller und verschanzten sich dort angstvoll. Tim sah, wie Oron die Kraft seines unfassbar starken Ringes freiließ. Seine Hilfe war wertvoll, aber sie fehlte den anderen. Eine schwarze Masse quoll aus dem dunklen Tor hervor, gleich dem Brei, der niemals aufhörte, aus dem Topf zu laufen.

SCHATTENKRIEGER! STÄRKER ALS ZUVOR!

«Der Herr der Finsternis ist schlau. In Kurunthan leben die besten Kämpfer von Terukanis. Jetzt sind sie Morkas und unsere Feinde. Das schaffen wir nicht allein!», rief Diona.

«FEUER!»

Ein mächtiger Feuerstrahl strömte aus Tims Stab auf die Reihen der todeshungrigen Schattenkrieger und bildete eine erhebliche Lücke. Die gefallenen Morkas lösten sich auf und neue Schattenkrieger wollten die Lücke schließen. Abermals entfachte Tim die Magie seines Feuerstabs und viele Schattenkrieger wurden verbrannt. «Ich muss zu meinen Freunden», rief er und rannte los.

«TIM! WIR BRAUCHEN DICH HIER!»

Shaja wollte Tim zurückhalten, aber er verschloss seine Ohren vor ihrem Ruf. Seine Freunde waren jetzt wichtiger. Er wusste nicht, wie er seine Aufgabe erfüllen sollte, wenn ihnen etwas geschah.

Tim stürzte ins Haus, erklomm die Treppenstufen nach oben und riss die Tür zu seinem Zimmer auf. Nick, Robby und Selina lagen leblos am Boden. Entsetzt rutschte er zu ihnen hin und fühlte ihren Puls. Eine ungeheure Welle der Erleichterung flutete über ihn hinweg. Sie lebten und waren wie durch ein Wunder unverletzt.

«Ah …» Nick kam als Erster wieder zu sich. «Das war vielleicht was. Ein weißes Licht hat uns vor dunklen Fingern beschützt. Sie haben sich aus diesem silberschwarzen Blitz geformt und wollten nach uns greifen.»

Ein Sog, in dem sich braune, grüne und goldene Strahlen bildeten, entstand plötzlich und ein Tor der Zeit öffnete sich, das von einem weiß-goldenen Ring umgeben war. Ein Kreis aus grünem Efeu und goldenen Blumen wurde sichtbar und das Menschenorakel schwebte heran. «Hole Leas Stab und Schwert aus ihrem Zimmer und geh wieder zu den anderen auf die Straße. Sie brauchen dich. Ich lege einen Schutz um euer Haus. Nur Wesen mit guten Gedanken können es betreten.»

Tim nickte und rannte in Leas Zimmer. Sein Ziel war der Kleiderschrank. Er riss ihn auf und wühlte den Erdstab und das Elbenschwert unter Kleidungsstücken hervor. Beides fest in seinen Händen eilte er wieder hinaus.

Ein Schutzschild bildete sich um Tims Elternhaus, dann war das Orakel verschwunden. Seine Freunde waren in Sicherheit. Nun konnte sich Tim auf den Kampf konzentrieren. Plötzlich schoss ein Morka auf ihn zu, groß und kräftig. Eine silberschwarze Rüstung am Leib. Kalte, graue Augen. Langes, schwarzes Haar. Ein schwarzes Band um den Kopf, ein gefährlich glänzendes, dunkles Schwert in der Hand und den Tod im Sinn. Er hatte Tim aus dem Haus stürzen sehen und war sofort auf ihn zugeflogen. Seine Hand erhob sich zu einem todbringenden Schwerthieb.

Tim roch Schweiß, spürte Gefahr in seinem Rücken und drehte sich blitzschnell um. Mit Leas Schwert wehrte er den Hieb ab. «NICHT MIT MIR!», rief er und sein zweiter Hieb streckte den Morka nieder. Das Wesen der Finsternis löste sich mit seinen Waffen auf.

Tim bahnte sich mit Leas Elbenschwert einen Weg durch die Schattenkrieger zu seiner Schwester. Er sah, dass sich Lea nur mit ihren magischen Erdkugeln verteidigte und immer mehr in Bedrängnis geriet. Auch Diona, Shaja, Tiros und Oron wurden zurückgedrängt. Leas Elbenschwert schien ihn direkt zu ihr zu ziehen.

«LEA!»

Tim stach noch einen Morka nieder, dann warf er seiner Schwester den Erdstab zu und Lea fing ihn dankbar auf.

«ERDE!»

«FEUER!»

Es war eindrücklich, wie die magisch braun-grünen und roten Strahlen aus den beiden Stäben des Lebens ihre Kraft entfalteten und sich vereinten. Die Überzahl der Morkas wurde drastisch reduziert und die Bedrängnis um Oron, Diona, Shaja und Tiros löste sich auf. Tim konnte Lea endlich ihr Schwert reichen. Lea umfasste es und spürte ein leichtes Vibrieren der Klinge. Sie hatte den Elbenstahl schon einige Zeit nicht mehr gespürt. Er gehörte zu ihr.

Tim und Lea standen Seite an Seite und mussten voller Schrecken feststellen, dass sich immer noch eine schwarze Masse aus dem dunklen Tor der Zeit in die Nacht auf der Erde ergoss. Die magischen Geschwister nahmen dahinter den kalten, unbeugsamen Willen des Herrn der Finsternis wahr, der die Erde unter seine Herrschaft stellen wollte.

Lea zitterte. «Das schaffen wir nicht. Wir brauchen Amatus und Zanello.»

Ein neuer Schattenkrieger attackierte Tim. «Zsha ygraz, granduluk kré dshánguraz. Urg tannánem.» Fremde, gedrungene Laute drangen aus seinem blassen, gefühllosen Mund.

Tim stutzte. Er verstand die Worte. «Ich Glücklicher. Der Herr des Feuers. Er gehört mir», murmelte er und schüttelte den Kopf. «ICH GEHÖRE NIEMANDEM!» Mit gezücktem Schwert stellte er sich seinem grausigen Gegner.

Der feindliche Krieger wich wie ein wendiger Panther mit einem leichten Sprung aus und Tim streifte ihn nur am Arm. Dafür erwischte ihn Lea mit ihrem Schwert und konnte ihn am Bein verletzen. Tim versetzte ihm den Todesstoß.

«Gemeinsam!» Lea nickte ihrem Bruder zu. «ERDE!», rief sie und ließ die magische Kraft ihres Stabes frei.

«FEUER!», rief Tim. Er schaffte es mit seiner Schwester erhebliche Lücken in die Reihen der Feinde zu schlagen. Dann sah er sich um.

Diona, Shaja, Tiros und Oron besiegten nach wie vor ihre Gegner mit ihren blitzenden Schwertern. Oron überragte dabei nicht nur seine Verbündeten, sondern auch seine Feinde um etwas mehr als eine Haupteslänge und ließ sein mächtiges, grünes Schwert tanzen. Das härteste Metall und der schärfste Kristall aus Erindala hatten bei dieser gesegneten Waffe Hochzeit gehalten. Lándil hieß es, mächtiges Licht.

«Lharunen!», rief Oron mit donnernder Stimme. «Männer von Kurunthan! Ihr seid unsere Freunde! Hört mit dem Kampf auf!»

«Zshak kaérum né Lharun. Zshak kaérum Morka!», rief ein dunkler Krieger mit metallischer Stimme.

«Ihr seid keine Morkas! Ihr seid Lharunen!»

«Zshak kaérum né Lharun. Zshak kaérum Morka!»

«DAS IST NICHT WAHR! SO HÖRT DOCH!» Oron hatte seine ganze Magie in seine Stimme gelegt. Er musste unbedingt versuchen, das Herz der Morkas zu erreichen.

Doch die Morkas stürmten unaufhaltsam auf ihn ein. Oron musste sich wehren und streckte einen nach dem anderen nieder. Schwarze Rüstungen, Schwerter und die Körper der Krieger lösten sich auf. Nichts blieb von ihnen übrig.

«Wir können sie nicht mehr bekehren!», rief Oron seinen Gefährten zu.

«Kommst du an das dunkle Tor heran und kannst es wandeln?», rief Tim zurück.

«Nein, es sind zu viele!»

Tim wollte die Kraft seines Feuerstabes entfachen, um Oron einen Weg zu bahnen, da erscholl ein lauter Schrei.

«HILFE!»

Tim schoss herum. Ein kräftiger Schattenkrieger hatte Shaja hinterrücks gepackt und hielt sie eisern umklammert. Schadenfroh erhob er sich mit ihr in die nachtschwarze Luft.

Der Schreck durchfuhr Tim wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Diese Todeskreatur flog mit Shaja auf das dunkle Tor der Zeit zu.

Ohne nachzudenken schoss Tim nach oben. Er konnte seinen Feuerstab nicht einsetzen, ohne Shaja zu verletzen. Also musste er schneller fliegen, um den Schattenkrieger und die Elbenprinzessin noch zu erreichen, bevor sie in den dunklen Tunnel, der von einer vollendeten schwarzen Blitzrose umrandet wurde, eintauchen würden. Die letzten Häuser der Rosenstraße ließ er hinter sich. Bäume, Hecken, Gärten und noch wenige heimliche Zuschauer hinter Gardinen. Das dunkle Tor der Zeit riss schon seinen hungrigen Schlund auf, da hatte Tim den Schattenkrieger erreicht und stach zu. Der Morka war tödlich getroffen und mit dem letzten Atemzug seines düster gewordenen Lebens ließ er Shaja los. Der Körper des Kriegers, seine schwarze Rüstung und sein dunkles Schwert lösten sich auf.

Doch die Gefahr war noch nicht gebannt. Auch wenn Tim mit seinem Feuerstab weitere heranfliegende Morkas töten konnte, hatten die Finger der schwarzen nebligen Masse des Tores nach der geschwächten Elbenprinzessin gegriffen und wollten sie zu sich ziehen.

«FEUER!», schrie Tim verzweifelt und die krallenartigen Energiefinger lösten sich auf. Tim flog heran und stieß Shaja fort, sodass sie außer Reichweite des dunklen Tores kam.

«ICH FLIEGE REIN! VIELLEICHT KANN ICH MIT DER MAGIE MEINES FEUERSTABS ETWAS AUSRICHTEN!»

«TIM! DU DARFST NICHT IN EIN DUNKLES TOR FLIEGEN!», rief Shaja. Die junge Elbin hatte sich mithilfe ihrer Magie wieder gefangen und schwebte in der Luft. Mit einigem Schrecken sah sie, dass Tim unbeirrt auf das dunkle Tor der Zeit zuflog und gleich in der undurchdringlichen schwarzen Gischt verschwinden würde. Im letzten Augenblick wich er den schwarzen Fingern aus und sauste in das Tor hinein.

«TIM! KOMM ZURÜCK!» Auch wenn sie ihn rief, wusste Shaja doch, dass er nicht hören würde. Sie hatte es versuchen müssen. Entschlossen flog sie Tim hinterher. Ihre Kräfte würden schwinden, aber zu zweit schafften sie es vielleicht wieder aus dem Tor heraus.