Die Tote am Watt - Gisa Pauly - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Tote am Watt E-Book

Gisa Pauly

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Erster Auftritt für Mamma Carlotta: Nordsee, Mord und italienisches Temperament  
Seit über 15 Jahren ermittelt Mamma Carlotta auf der Nordseeinsel Sylt. »Die Tote am Watt« ist ihr erster Fall und legte den Grundstein für die erfolgreichen Krimis voller Humor. 

Im Grunde ist jeder Kriminalfall gleich: Es gibt einen Mord, es gibt einen Kommissar, es gibt eine Ermittlung und hoffentlich eine Auflösung. Doch wenn Mamma Carlotta ins Spiel kommt, wird dieses Rezept kräftig durcheinandergewirbelt.  

Als auf der Insel Sylt eine vermögende Witwe getötet wird, glaubt Hauptkommissar Erik Wolf an eine schnelle Lösung. Seine italienische Schwiegermutter Mamma Carlotta sieht jedoch sofort, dass es so einfach nicht ist, und nimmt die Ermittlungen selbst in die Hand.    

Seit »Die Tote am Watt«, dem ersten Band der Bestseller-Krimireihe von Gisa Pauly, hat sich Mamma Carlotta unter Fans der augenzwinkernden Mörderjagd zu einer heiß geliebten Protagonistin gemausert. Schon in ihrem ersten Fall geht es drunter und drüber, temperamentvoller italienischer Charme trifft auf norddeutsche Gelassenheit, vorlaute Intuition auf regelkonforme Beamte.  

»Die italienische Miss Marple von Sylt.« – Brigitte  

Der andauernde Erfolg der Cosy Crimes mit Mamma Carlotta beruht nicht zuletzt auf der charmanten und liebevollen Art, mit der Autorin Gisa Pauly ihrer Hauptfigur immer wieder neue Facetten entlockt. Mamma Carlotta ist eine Schwiegermutter aus dem Bilderbuch – und dennoch ganz anders.  

Reihenweise Lesefutter aus den Bestsellerlisten  

Spannung und jede Menge Witz garantiert: Entdecken Sie nach dem Auftakt »Die Tote am Watt« auch alle anderen Mamma-Carlotta-Bücher der Krimireihe und kehren Sie immer wieder nach Sylt zurück. Es lohnt sich.  

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Ich danke meinem Sohn, Jan, Polizei-Oberkommissar in Münster, der mir mit seiner Fachkompetenz unermüdlich zur Seite gestanden hat.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

13. Auflage 2012

ISBN 978-3-492-96079-3

© 2007 Piper Verlag GmbH, München Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München Umschlagabbildung: Tobias Helbig / Photodisc / Getty Images (Leuchtturm) und mauritius images / Flirt (Schaf) Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

1

Für Carlotta Capella führte nur ein Weg nach Rom. Den Berg hinab und dann lange geradeaus.

Als die ersten Verkehrsschilder zur A1 wiesen, fragte sie ihren Sohn zum ersten Mal, ob sie auch wirklich pünktlich am Flughafen ankommen würden. Guido versicherte es ein ums andere Mal, aber seiner Mutter entging nicht, dass auch er immer unruhiger wurde und das Lenkrad immer fester umklammerte.

Als sie bei Orvieto auf die Autobahn fuhren, begann Mamma Carlotta, ihr Blümchenkleid glatt zu streichen, das sie sich extra für diese Reise genäht hatte, und als der Verkehr vor Rom immer dichter wurde, zupfte sie an ihrer neuen Lockenfrisur herum, bis die ganze Pracht, an der ihre Schwiegertochter stundenlang gearbeitet hatte, zum Teufel war. Als der Petersdom in Sicht kam, bereute sie, dass sie den Rosenkranz in den Koffer und nicht in ihre Handtasche gesteckt hatte.

Sie griff nach Guidos Hand, der sie nur ungern vom Lenkrad löste, ließ sie aber schnell wieder los, als sie sah, dass die Augen ihres Ältesten sich mit Tränen füllten.

»Erik hat mich eingeladen«, rechtfertigte sie sich ein weiteres Mal. »Und ich muss doch einmal an Lucias Grab beten.«

Guido nickte und wechselte auf die rechte Spur, wo gerade ein schnittiger Alfa Romeo seinen klapprigen Lieferwagen überholen wollte. Das gefährliche Bremsmanöver, die quietschenden Reifen und das schrille Hupen bekam Guido nicht mit, der mit den Tränen zu kämpfen hatte.

»Lucia ist nach Deutschland gegangen, um zu sterben«, brachte er schließlich hervor.

Seine Mutter machte ihn darauf aufmerksam, dass seine Schwester nicht explizit zu diesem Zweck nach Deutschland gezogen war, sondern dass nur bedauerlicherweise ihr Leben dort geendet hatte. Und sie versuchte, Guido davon zu überzeugen, dass nicht jede Reise nach Deutschland notgedrungen mit dem Tod enden müsse.

 »Ob Papa das gewollt hätte?«, fragte Guido.

Mamma Carlotta wusste, was er meinte. Nein, Dino wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, dass seine Frau allein nach Deutschland reiste. Aber Dino Capella war tot, und seine Witwe hatte kurz darauf beschlossen, dass nun die Zeit gekommen sei, eigene Entscheidungen zu treffen.

Carlotta Capella hatte mit sechzehn geheiratet, sieben Kinder bekommen und mit der Pflege ihres schwerkranken Mannes begonnen, noch ehe das jüngste Kind aus den Windeln heraus war. Sie hatte alles getan, was von ihr erwartet wurde. Tag für Tag und bald auch Nacht für Nacht hatte sie an Dinos Bett gesessen, hatte darauf verzichten müssen, Lucia in ihrer neuen Heimat zu besuchen, und war sogar, als ihre Tochter beerdigt wurde, an der Seite ihres Mannes geblieben, weil Dino keinen einzigen Tag ohne sie auskam.

Sie hatte sich in tiefschwarze Kleidung gehüllt, als er starb, und ihr Bestes getan, die Erleichterung über das Ende der ehelichen Pflichten nicht über die angemessene Trauer siegen zu lassen. Aber dann hatte sie sich ganz langsam wieder an das Glück gewöhnt. An das Glück, eine Nacht durchschlafen zu können, ohne von einem stöhnenden Kranken geweckt zu werden, an das Glück, mit ihren Enkeln zu spielen, ohne von einem stöhnenden Mann ins Haus zurückgeholt zu werden, und der Sonne beim Untergehen zuzusehen, ohne die Angst, zu lange auf das Stöhnen gewartet zu haben.

Mamma Carlotta griff nach ihrer Handtasche und kontrollierte zum hundertsten Mal, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Den Lippenstift, den sie sich kurz vor ihrer Abreise gekauft hatte, steckte sie schnell wieder weg. Guido würde nicht verstehen, dass seine Mamma jedes Mal einen Moment des Glücks genoss, wenn sie ihn auftrug, Ober- und Unterlippe gegeneinanderrieb und lange, sehr lange, das erstaunliche Ergebnis im Spiegel betrachtete. Ob es im Flughafen einen Spiegel geben würde?

Als Mamma Carlotta die Abflughalle betrat, dachte sie nicht mehr an den ersten Lippenstift ihres Lebens. Lucia hatte ihr oft vom römischen Flughafen erzählt, aber so groß, so hell, so imposant hatte sie ihn sich nicht vorgestellt.

Ihr Gesicht war bleich, aber ihr Mund lächelte tapfer, als sie sich von ihrem Ältesten verabschieden musste, um sich von den Wartehallen verschlingen zu lassen. Sie warf keinen Blick zurück, um Guidos Tränen nicht sehen zu müssen, sondern folgte mit festen Schritten den Reisenden, die den Eindruck erweckten, sich auszukennen. Manchmal warf Mamma Carlotta einen Blick in eine der unzähligen Glasscheiben, an denen sie vorbeiging. War sie das wirklich? Diese dralle Person, die sich so flink bewegte wie ein junges Mädchen? Deren Augen blitzten, als hätte sie Spaß an diesem Abenteuer?

Auf wundersame Weise kam Mamma Carlotta genau in dem Warteraum an, den die reizende Bodenstewardess ihr genannt hatte. Plötzlich war sie wieder voller Zuversicht, dass sie ins richtige Flugzeug steigen und tatsächlich in Hamburg ankommen würde. Sie fand sogar ohne langes Suchen ihren Sitzplatz. Als die Stewardess ihr erklärte, wie die Sicherheitsgurte anzulegen waren, hielt sie es ohne Weiteres für möglich, auch auf dem Rückflug das richtige Flugzeug zu erwischen und wieder in Rom anzukommen, statt in Peking oder in Timbuktu. Nun mussten nur noch Erik und die Kinder pünktlich in Hamburg am Flugplatz erscheinen, um sie abzuholen …

»Müssen Sie auch nach Sylt?«, fragte sie ihren Sitznachbarn erst auf Italienisch, dann auf Deutsch. Zu ihrer Freude stellte sich schnell heraus, dass sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte.

Der römische Geschäftsreisende bedauerte. »Ich habe in Hamburg zu tun.« Dann erkundigte er sich mitfühlend, ob etwa niemand in Hamburg bereitstehen würde, um sie abzuholen.

Mamma Carlotta beeilte sich zu versichern, dass ihr Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder schon darauf brannten, sie in die Arme zu schließen. »Aber man kann ja nie wissen. Sie könnten einen Autounfall haben …« Prompt fiel ihr Lucia ein, die ihr Leben auf einer deutschen Landstraße gelassen hatte. »Eine unübersichtliche Kurve«, seufzte sie und suchte nach ihren Taschentüchern. »Sie war sofort tot. Madonna! Aber wenigstens hat sie nicht leiden müssen, la mia piccola.«

Der Sitznachbar legte seine Zeitung zur Seite und fragte nach den Einzelheiten. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte, wusste er bereits von Mamma Carlottas Kummer über Lucias Entschluss, mit einem deutschen Touristen in den Norden zu ziehen. Außerdem hatte er Einzelheiten der Hochzeit, der Besuche der Enkelkinder in Umbrien und viel über den Beruf des Schwiegersohns erfahren. »Un Commissario!«

Gerade wollte sie schildern, wie wenig ihr die deutsche Polizeiuniform gefiel und um wie viel schnittiger sie italienische Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen fand, da leitete der Pilot die Startphase ein. Erschrocken drückte sich Mamma Carlotta in den Sitz und entschloss sich zu einem leisen »Gebenedeit seist du, Maria«, das sie abrupt beendete, als sie sich traute, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. »Madonna! Wir sind über den Wolken!«

Dann knüpfte sie an das Gespräch an. Dem Sitznachbar blieb nichts anderes übrig, als die Zeitung erneut zur Seite zu legen und sich Mamma Carlottas Lebensgeschichte anzuhören. Keine der sieben Geburten blieb unerwähnt, und Dinos Krankheit konnte Mamma Carlotta sogar mit medizinischen Fachausdrücken schmücken. Zwischendurch lobte sie das Essen, das die Stewardessen servierten, und konnte sich nicht genug darüber wundern, wie die ganze Kocherei in einem fliegenden Flugzeug zu bewerkstelligen war. Dann fuhr sie fort, einen Überblick über die Familie Capella zu geben. Als sie bei den Lebensläufen ihrer Schwiegertöchter angekommen war und sich gerade anschicken wollte, die schwere Erkrankung der ältesten Tante von Guidos Frau zu schildern, setzte das Flugzeug zum Landeanflug auf Hamburg an. »Wir sind schon da?«

Der Sitznachbar, der jede Gegenwehr längst aufgegeben hatte, bot Mamma Carlotta an, den Platz zu tauschen, damit sie am Fenster sitzen und sich Hamburg von oben ansehen konnte.

»Sprechen Sie überhaupt deutsch?«, fragte er besorgt.

»Ma sì!« Mamma Carlotta machte Anstalten, die gesamte Unterhaltung, die sie bisher auf Italienisch geführt hatten, in Deutsch zu wiederholen. Aber zum Glück wurde sie durch die Aussicht auf den Hamburger Hafen davon abgehalten.

Den römischen Geschäftsreisenden streifte die Ahnung, dass diese italienische Mamma aus Umbrien eine erfolgreiche Frau geworden wäre, wenn das Schicksal sie an einen anderen Platz gestellt hätte. Dabei wusste er nicht einmal, dass Carlotta Capella niemals Unterricht erhalten, sondern die deutsche Sprache neben dem Bett ihres schwer kranken Mannes erlernt hatte. Dort hatte sich Lucia zu ihr gesetzt, wenn sie zu Besuch in Umbrien war, und ihrer Mutter Deutschunterricht erteilt, damit sie ihre Enkel verstehen konnte. Dort hatte auch die Nachbarin mit ihr deutsch gesprochen, eine junge Frau, die als Touristin von Berlin nach Umbrien gekommen war, sich dort verliebt und einen italienischen Weinbauern geheiratet hatte. Sie war glücklich, wenn sie Deutsch reden konnte, und Mamma Carlotta war glücklich, wenn sie Deutsch lernen durfte. Je weiter sie mit ihren Fähigkeiten fortschritt, umso häufiger kam die Nachbarin zu Besuch, um mit Mamma Carlotta in ihrer Muttersprache zu plaudern.

Dann war Carolin herangewachsen, die schon früh beschloss, Lehrerin zu werden, und ihre Großmutter als erste Schülerin entdeckte. Während der Ferien paukte sie unermüdlich Vokabeln mit der Nonna, fragte sie ab, ließ sie kleine Tests schreiben, versorgte sie mit Büchern und vergewisserte sich zu Beginn der nächsten Ferien, dass die Nonna alle Aufgaben, die man ihr zurückgelassen hatte, sorgfältig gelöst hatte. Und Mamma Carlotta hatte ihre Sprachkenntnisse vertieft, indem sie während der vielen eintönigen Stunden am Bett ihres Mannes mit dem geöffneten Fenster, den Blumentöpfen davor und den vorüberziehenden Wolken deutsch geredet hatte. Auf diese Weise hatte sie es zu erstaunlicher sprachlicher Gewandtheit gebracht.

Mamma Carlotta sah so aus, als suchte sie nach einem Griff, um das Flugzeugfenster zu öffnen. Ihre Begeisterung über alles, was sie von oben erspähen konnte, war nun so groß, dass sie sämtliche Passagiere und Flugbegleiter an ihrer Freude teilhaben ließ. Auch die, die der Landebahn nicht gern entgegensahen, wurden über jede Phase der Annäherung informiert.

»Madonna! Wir werden mitten im Hafenbecken landen! Oder auf einem der Hochhäuser? Per l’amor di Dio, mitten im Wald! No, no … auf dem Flugplatz! Ich sehe ihn! Da! Da ist er! Tatsächlich, dieser Pilot ist genial! Er landet genau … veramente genau auf dieser langen, langen Straße.«

Mamma Carlottas Begeisterung bekam allerdings einen gewaltigen Schock, als ihr beim Verlassen des Flugzeugs der kalte Wind ins Gesicht blies. »Madonna! Und ich dachte, der Winter wäre vorbei!«

Erik Wolf fuhr nicht gern nach Hamburg. Wie allen Inselbewohnern waren ihm Grenzen vertrauter als anderen Menschen. Und Sylt war ihm derart vertraut, dass alles andere ihm fremd war. Erst recht eine große Stadt wie Hamburg. Und Erik Wolf liebte das Vertraute zu sehr, um sich woanders wohlzufühlen als auf Sylt.

Er war ein kantiger Mann, groß, mit breiten Schultern. Alles an ihm war breit, der Körper, der Kopf, die Stirn, der Mund. Sein Schnauzer betonte das Breite noch, ebenso wie die Breitcordhosen, die er mit Vorliebe trug. Seine Frau hatte ihn sogar den Mann mit dem breiten Herzen genannt. Und obwohl es ihm nicht gefiel, hatte er gelächelt, wenn sie ihn so nannte. Aber da er wusste, dass sie nie einen anderen Mann wollte als den mit dem breiten Herzen, hatte es ihm schließlich auch gefallen.

Vom Rücksitz drang das Pochen der Musik aus Felix’ Kopfhörer. Manchmal stimmte der Rhythmus mit dem des Scheibenwischers überein, dann erschienen Erik die Geräusche erträglicher. Er liebte nun einmal die Stille, das leise Atmen des Windes bei Flaute und auch sein heftiges Schnaufen. Sogar ein Sturm war für ihn Teil dieser Stille, die das Leben auf einer Insel von dem auf dem Festland unterschied.

»Ich bin jetzt schon froh, wenn wir wieder zu Hause sind«, sagte er.

Die sechzehnjährige Carolin, die schweigend neben ihm hockte, lächelte zustimmend. Carolin war genau wie ihr Vater. Sie dachte wie er, empfand wie er, war genauso schweigsam wie er.

Ihr blasses Gesicht war ihrer Mutter stets ein Anlass zur Sorge gewesen. Fast jeden Morgen hatte sie die Wangen ihrer Tochter gerieben, damit sie sich endlich rosig färbten. Zum Glück hatte Carolin auf den Beistand ihres Vaters bauen können, als es kurz nach ihrem zwölften Geburtstag darum ging, dort mit ein wenig Rouge nachzuhelfen, wo die Natur versagt hatte. Und mit einer Dauerwelle dort, wo sich absolut kein Löckchen kringeln wollte. Ungezählte Male an jedem Tag hatte Lucia ihrer Tochter die Haare aus dem Gummiband gezupft, das sie im Nacken zusammenhielt, und genauso oft hatte Carolin sie wieder zusammengerafft und geduldig alles verweigert, was aus ihr eine verlockende Ragazza machen sollte.

Erik wusste, dass Carolin ihre Mutter nicht nur geliebt, sondern auch gefürchtet hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich versteckt, wenn das Temperament wieder einmal mit Lucia durchging, und war erst wieder hervorgekommen, wenn ihre Mutter nicht mehr tobte, schrie und ihre Muttersprache benutzte wie ein Maschinengewehr.

Felix dagegen, der das Ebenbild seiner Mutter war, konnte die Stille nicht ertragen. Notfalls erschlug er sie mit seiner lauten Hiphop-Musik, die selbst seine Mutter nervös gemacht hatte, oder er füllte das Schweigen, das sich um seinen Vater und seine Schwester ausbreitete, mit seiner Stimme. Felix war es gewöhnt, in schweigende Gesichter zu reden, in erstaunte Augen, verständnislose Blicke und heimliches Seufzen.

»Bleibt die Nonna bis zu den Sommerferien?«, erkundigte er sich.

Carolin hob die Schultern, und Erik seufzte, als wollte er es nicht hoffen.

»Dann fahre ich mit ihr zusammen zurück«, verkündete Felix und zupfte an seinen schwarzen Locken, die von seinem Käppi auf die Stirn gedrückt wurden. Felix verzichtete selten auf seine Kopfbedeckung. Lucia hatte ihm das Käppi manchmal nach dem Einschlafen abgenommen. Nur dann hatte er es nicht gleich wieder auf den Kopf zurückgeschoben, so wie vor, während und nach den Mahlzeiten. Erik hatte lange fasziniert zugesehen und die Hartnäckigkeit seiner Frau bewundert. Lucia nahm Felix das Käppi ab, er setzte es wieder auf. Nach einigen Wochen hatte er gewonnen.

»Willst du auch die Ferien in Italien verbringen?«, fragte er seine Schwester.

Als Carolin den Kopf schüttelte, lachte er triumphierend. »Ach nee, in Umbrien sind dir ja alle zu laut, ich vergaß. Und du … du warst dem Nonno sogar dann noch zu leise, als er keinen Lärm mehr vertragen konnte.«

Der vierzehnjährige Felix rutschte auf dem Rücksitz hin und her und freute sich auf seine Nonna mit dem ganzen Körper, der ganzen Seele und allen Gefühlen, die aus ihm herausdrängten.

»Da, der Flughafen!«, schrie er und kümmerte sich nicht darum, dass Carolin zusammenzuckte und Erik vor Schreck das Steuer verriss.

Als im selben Augenblick auch noch Eriks Handy ging, war die Sicherheit des dunkelblauen Ford Escort in akuter Gefahr. Aufgeregt fingerte Erik über die Tastatur seines Handys, bis er den grünen Knopf gefunden hatte.

Die Stimme seines Assistenten erklang über die Freisprecheinrichtung: »Moin, moin. Müssen Sie denn ausgerechnet heute nach Hamburg fahren?«

»Sie wissen doch, Sören, meine Schwiegermutter …«

»Ja, ja, aber wir brauchen Sie hier.«

»Was ist denn passiert?«

»Eine Leiche. In Kampen.« Sören Kretschmer war auf Sylt geboren worden und genauso wortkarg wie sein Chef.

»Ermordet?«, fragte Erik.

»Sieht so aus. Anscheinend erdrosselt.«

Erik warf einen Blick zu Carolin, die erschrocken den Kopf einzog, während Felix seinen MP3-Player in die Ecke warf. »Geil! Endlich passiert mal was auf Sylt! Wer hat das getan?«

 »Wann können Sie zurück sein?«, wollte Sören wissen.

Erik Wolf warf einen Blick auf die Uhr. »Schwer zu sagen, Sören. Wenn der Flieger pünktlich ist, landet er in einer Viertelstunde. Aber er kann ja auch Verspätung haben. Und dann noch das Warten auf die Koffer, anschließend die Rückfahrt … Nein, es ist wohl am besten, Sie fahren ohne mich zum Tatort. Ich kann meine Schwiegermutter ja auch nicht gleich allein lassen, wenn wir wieder in Wenningstedt angekommen sind.«

»Das werden Sie wohl müssen.«

2

Erik sagte sich später, dass er seine Schwiegermutter wohl deshalb nicht gleich erkannt hatte, weil er nicht nach einer Frau in männlicher Begleitung Ausschau gehalten hatte, sondern nach einer hilflos wirkenden Person, die, wenn nicht allein, so höchstens in Begleitung einer fürsorglichen Stewardess war. Aber natürlich hatte er Mamma Carlotta auch deswegen nicht auf den ersten Blick erkannt, weil sie sich stark verändert hatte. Männer mögen es nicht, wenn eine Witwe nach der ersten Trauer aufblüht, vielleicht wollte er deswegen von der positiven Veränderung seiner Schwiegermutter nichts wahrhaben. Eine italienische Mamma von sechsundfünfzig Jahren war eine alte Frau, zumindest in Umbrien, und seine Schwiegermutter war ihm nie anders als alt erschienen. Nun jedoch beobachtete er durch die Glasscheibe staunend die forsche, lebhafte Person, die in Begleitung eines eleganten Herrn zum Gepäckband schritt, während sie sich höchst angeregt mit ihm unterhielt. Die Witwe Capella sah mindestens zehn Jahre jünger aus als die Ehefrau Capella. Die war gut zehn Kilo schwerer gewesen, hatte niemals ein Blümchenkleid getragen, sondern sich nur in schwarze Stoffe gehüllt, hatte die Haare im Nacken zu einem Knoten gedreht und sich niemals um Lockenwickler und Lippenstift gekümmert. Beides schien nun jedoch zu ihrer Ausstattung zu gehören.

Der römische Geschäftsreisende holte für Carlotta die Koffer vom Laufband, besorgte einen Gepäckwagen und dirigierte sie in die Ankunftshalle, wo Felix seiner Großmutter mit einem hellen Schrei entgegensprang. »Nonna!«

Der römische Geschäftsreisende blieb stehen, weil er erwartete, der Familie seiner Reisebekanntschaft vorgestellt zu werden. Aber während Felix an Carlottas Hals zappelte, wurde ihm schnell klar, dass sie ihn längst vergessen hatte. Behutsam stellte er den Gepäckwagen neben Carlotta Capella ab, nahm sein eigenes Gepäck herunter, murmelte einen Abschiedsgruß und ging zum Ausgang. Dort sah er sich noch einmal um, aber seine Hoffnung, dass Carlotta ihm doch noch einen Abschiedsgruß nachwinken würde, erfüllte sich nicht. Oma und Enkel hielten sich an den Händen, lachten sich an und redeten aufeinander ein. Da war kein Platz mehr für eine flüchtige Reisebekanntschaft. Der römische Geschäftsreisende wandte sich ab und ging davon. Leicht enttäuscht, aber gleichzeitig auch irgendwie erleichtert.

»Felice!«, rief Mamma Carlotta ein ums andere Mal. »Was bist du groß geworden!«

»Sag doch nicht immer Felice zu mir«, lachte Felix.

Nun endlich war es Carolin gelungen, die Großmutter auf sich aufmerksam zu machen. »Moin, Nonna!«

»Carolina!«

»Carolin.«

»Wie hübsch du geworden bist, Carolina.«

»Carolin.«

»Aber ein bisschen blass.« Mamma Carlotta kniff ihrer Enkelin in die Wangen, wo sich prompt zwei rote Punkte zeigten. »Ecco! Schon besser.«

Und dann fand sich Carolin dort wieder, wo alle landeten, die in Mamma Carlotta Emotionen auslösten: an ihrer Brust. Sie wartete geduldig ab, bis sie ihre Nase wieder aus dem Ausschnitt der Nonna lösen durfte, dann kam Erik an die Reihe, der kerzengerade dastand, als habe er sein Rückgrat verstärkt, um sich gegen Mamma Carlottas Überschwang zu wappnen.

Doch es half nichts. Auch er wurde an das weich verpackte Herz seiner Schwiegermutter gedrückt. »Enrico! Wie glücklich bin ich, dich zu sehen!«

Dann umschlangen sich Carlotta und Felix wie ein Liebespaar und strebten, eng aneinandergeschmiegt, dem Ausgang entgegen, während Carolin und Erik mit dem Gepäckwagen folgten.

»Madonna!«, erklang es von vorn. »Wie groß! Wie vornehm!« Carlottas ausladende Geste hätte beinahe einem konsternierten Hanseaten den Hut vom Kopf gefegt. »Wie grau! Wie kalt! Genau wie Lucia es immer beschrieben hat!«

Vor dem Ausgang blieb sie abrupt stehen. »Ich hoffe, auf eurer Insel ist das Wetter etwas … wie sagt man? … etwas angenehmer.«

Erik bekannte, dass es dort eher noch kälter sein würde. »Der Westwind weht vom Meer herüber. Aber du wirst noch merken, wie gut so ein kühler Seewind tut. Außerdem gibt es auf Sylt mehr Sonne als hier auf dem Festland. Auf unserer Insel scheint sie im Jahr zweihundert Stunden länger als in Hamburg.«

Mamma Carlotta war zufrieden. »Il sole! Wenn sie auch auf Sylt scheint, ist alles in Ordnung.«

Erik verzichtete auf den Hinweis, dass die Sonne auf Sylt eine andere Wirkung hatte als in Umbrien. Seine Schwiegermutter würde es ja selber merken.

»Du sprichst sehr gut Deutsch«, sagte er, als sie auf dem Parkplatz angekommen waren und er das Auto aufschloss.

Mamma Carlotta nickte stolz. Und dann folgte wieder eine ihrer großen Gesten, vor denen Erik sich gern in Sicherheit brachte. »Ich habe mit Signora Mandini geübt. Du weißt doch – meine Nachbarin, die Giovanni Mandini geheiratet hat.«

Erik hatte keine Ahnung, von wem die Rede war, aber er nickte, weil er gelernt hatte, dass nonverbale Zustimmung das Leben mit einer Italienerin leichter machte.

»Außerdem hatte ich ja Carolinas Briefe«, fuhr Mamma Carlotta fort, »und die Bücher in deutscher Sprache. Und all die vielen Aufgaben, die meine Enkelin mir gestellt hat.« Sie warf ihr einen zärtlichen Blick zu. »Und Lucia hat mich ja oft angerufen, als sie noch lebte. Dann habe ich meistens deutsch mit ihr gesprochen, um zu üben. So wie mit den deutschen Touristen, die in unser Dorf kommen. Und außerdem hatte ich ja Zeit zu lernen, während ich Dino pflegte. Er verstand mich schon lange nicht mehr, also konnte ich genauso gut deutsch mit ihm reden. Hauptsache, er hörte meine Stimme und wusste, dass ich bei ihm war.«

Aber kaum saßen sie im Auto und versuchten, über abbiegende, kreuzende und übereinanderherführende Straßen dem Flughafengewirr zu entkommen, da brach in Mamma Carlotta die Erregung auf, für die es keine deutschen Vokabeln gab. Es mussten italienische her, um mitzuteilen, wie groß ihr Erschrecken über den Verkehr war, der so klaren Gesetzen folgte, dass er ihr viel mehr Angst machte als das Fahrzeuggewimmel in Rom. Dort regierten die Gesetze des Zufalls, die in einem Italiener weit mehr Sicherheit erzeugten als genaue Vorschriften, die nur funktionieren konnten, wenn man sich mustergültig daran hielt.

Zum Glück beruhigte sie sich, als der Verkehr auf der Autobahn übersichtlicher wurde. Und auf der Höhe von Kaltenkirchen fand sie wieder zu ihrem deutschen Wortschatz zurück.

Die A7 war nur schwach befahren, und Erik fuhr langsam, um seine Schwiegermutter zu schonen. Er gehörte ohnehin nicht zu denen, die sich am Tempo berauschten, aber wenn er jetzt allein gewesen wäre, hätte er das Gaspedal sicherlich tiefer heruntergedrückt. Der Anruf seines Assistenten ging ihm im Kopf herum. Ein Mord auf der Insel! Nicht auszudenken, welche Fehler Sören in seiner Unerfahrenheit machen konnte!

Bei Flensburg bog er gen Westen ab auf die Bundesstraße, die nach Niebüll führte, wo der Autozug auf sie wartete. Die Fahrt wurde immer angenehmer, denn Mamma Carlotta war nun gelegentlich sogar sprachlos vor Staunen. Die karge Landschaft, die weiten Flächen, die bis zum Horizont reichten, die stoischen Schafherden und über allem der Wind, der die wenigen Bäume geneigt hatte und die vielen Windräder drehte. So etwas hatte Mamma Carlotta noch nie gesehen. Sie schien zu spüren, dass die Stille der Landschaft etwas mit dem Schweigen der Menschen zu tun hatte, die hier lebten. Mamma Carlotta wurde ruhiger, sprach langsamer, ihre Gesten wurden sparsamer.

Ob sie bemerkte, dass Eriks Schweigen kurz vor Niebüll eisig wurde? Dass Carolin die Augen schloss und sich noch tiefer in ihren Sitz drückte? Dass Felix in seinem Rucksack herumsuchte, ohne den Blick zu heben? Ja, Mamma Carlotta schien die Kälte zu spüren, die durch das Auto rieselte, aber sie fragte nicht. Und zum Glück sah sie auch das kleine Holzkreuz nicht, das in einer Kurve stand.

Erik hatte sich oft gewünscht, seine Kollegen hätten eine andere Form gefunden, das Andenken an Lucia zu bewahren. Dieses Kreuz zwang ihn immer wieder, an dieser Stelle in die Baumkronen zu blicken und sich zu fragen, ob sie das Letzte gewesen waren, was Lucia gesehen hatte. Aber er wusste, dass die Kollegen des Polizeireviers Westerland es gut gemeint hatten, als sie auf diese Weise dafür sorgten, dass der Name seiner Frau nicht in Vergessenheit geraten konnte. Und deswegen ertrug Erik das Kreuz, den zersplitterten Baumstumpf dahinter und die frischen, jungen Zweige, die aus den Wunden des Baums wuchsen.

Die Niebüller Abfertigungsanlage mit der Verladerampe für die Autozüge nach Sylt musste für eine Italienerin ein Schock sein. Wer sich auf Sylt freute, genoss den Wind, der ins Auto fuhr, kaum dass sich die Türen geöffnet hatten, und fror aus Prinzip nicht. Aber wer nicht wusste, was ihn erwartete, öffnete nur einmal kurz das Fenster und mochte sich mit dem Gedanken tragen, auf der Stelle umzukehren und nach einem behaglicheren, windstillen Ort Ausschau zu halten. Mamma Carlottas Gesicht war abzulesen, zu welcher Sorte sie gehörte. Sie schickte einen sorgenvollen Blick gen Himmel.

Erik öffnete noch einmal die Fahrertür, steckte den Kopf ins Wageninnere und zählte ein paar beruhigende Details des Sylt-Shuttles auf, der Tag für Tag Niebüll verließ und Tag für Tag sicher in Westerland ankam. »Ob bei Hoch- oder Niedrigwasser, er fährt immer. Selbst bei Frost oder Sturm.« Erik fand, dass nun auch einer Italienerin jede Angst genommen sein musste. »Du wirst es gleich sehen, Mamma Carlotta! In einer Viertelstunde geht es los.«

Er drückte die Tür wieder ins Schloss und entfernte sich ein paar Schritte vom Auto. Dann zog er sein Handy aus der Tasche und wählte Sörens Nummer. »Seid ihr schon am Tatort?«

»Ja, schon seit einer Stunde. Eine böse Sache, Chef.«

»Männliche oder weibliche Leiche?«

»Weiblich.«

»Eine Einheimische oder eine Touristin?«

»Von beidem ein bisschen. Sie heißt Christa Kern, kaufte sich vor Jahren zusammen mit ihrem Mann in Kampen ein Ferienhaus. Kurz darauf starb ihr Mann, und sie zog ganz hierher.«

»Christa Kern? Nie gehört.«

»Ihre Putzfrau sagt, sie kannte nicht viele Leute auf Sylt. Sie lebte sehr zurückgezogen.«

Erik warf einen Blick zu seinem Auto, wo Felix auf seine Großmutter einredete, Mamma Carlotta mit großen Gesten antwortete und Carolin sich in die Polster drückte und die Lippen zusammenpresste. Wie blass sie war! Nicht nur, dass sie helle Haut und aschblonde Haare hatte, auch ihre Kleidung war blass. Die bunten Pullis, die Lucia ihr gekauft hatte, die gemusterten T-Shirts, die grünen, roten und pinkfarbenen Baumwollhosen – sie alle lagen unberührt in Carolins Schrank.

Erik wandte sich wieder um und ging langsam auf den Imbiss zu, in dem sich viele Wartende die Zeit mit Kaffee und Snacks vertrieben. Doch er blieb vor der Tür stehen und hielt das Gesicht in den Wind. »Wie ist diese Frau ermordet worden?«

»Erdrosselt, Chef. Mit einem Stück Wäscheleine. Anscheinend aus dem eigenen Badezimmer.«

»Wann?«

»Schwer zu sagen. Aber Dr. Hillmot meint, sie ist schon seit mindestens zwei Tagen tot. Genaueres wird er uns später erzählen.«

»Und wer hat sie gefunden?«

»Ihre Putzfrau. Die kommt jeden Montag. Sie hat einen eigenen Schlüssel.«

»Irgendwelche Verdächtigen?«

»Bis jetzt nicht. Aber wir fangen ja auch gerade erst an.«

In der Imbissstube wurden die Zeitungen zusammengefaltet, die Tassen zur Seite geschoben, die Jacken vom Haken genommen. Einige Autofahrer liefen zu ihren Wagen, die ersten Motoren wurden gestartet. »Es geht los, Sören. Ich liefere meine Schwiegermutter zu Hause ab, dann komme ich nach Kampen.«

Als der Wagen auf den Autozug rollte, war das Meer schon ein Stück näher gekommen. Erik liebte diesen Augenblick. Er öffnete das Fenster einen Spalt und sog die Luft ein, die in kleinen übermütigen Böen hereinfuhr.

Mit einem Mal wurde Carolin redselig. »Mit dem Bau des Hindenburgdamms wurde 1923 begonnen«, teilte sie ihrer staunenden Großmutter mit. »Aber schon im Spätsommer kam eine Sturmflut und machte alles wieder kaputt.«

»Dio mio!« Mamma Carlotta griff sich ans Herz.

»Keine Sorge«, warf Erik ein, »heute ist keine Sturmflut zu erwarten.«

Mamma Carlotta nickte beruhigt und lauschte weiter den Erklärungen ihrer Enkelin: »Am 1. Juni 1927 war alles fertig. Und da der Damm vom damaligen Reichspräsidenten Hindenburg eingeweiht wurde, nannte man ihn Hindenburgdamm.«

»Madonna, was bist du doch für ein kluges Mädchen, Carolina. Genau wie deine Mamma!«

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, rumpelte dann immer lauter und schneller, strebte dem Meer entgegen, das schon wie eine Verheißung hinter den Weiden zu erahnen war. Der Wind, der das Auto voller frischer Nordseeluft pumpte, wurde immer kühler, immer dreister. Mamma Carlottas Augen wurden größer, ihre Gesten immer pathetischer, bis sie schließlich die Hände vor der Brust faltete, als das Wattenmeer sich öffnete. Es sah so aus, als wollte sie ein Dankgebet zum Himmel schicken. Erik empfand in diesem Augenblick eine ganz neue Sympathie für seine Schwiegermuter angesichts dieser gefalteten Hände. Vielleicht würde Mamma Carlotta, die zu Hause bei fünfundzwanzig Grad im Schatten schon zu frösteln begann, ja doch das raue Klima der Nordseeinsel ertragen, ohne täglich mehrmals die Madonna anzurufen und um eine andere Strafe zu bitten.

Lucia hatte sich selbst im Hochsommer demonstrativ eine Strickjacke übergeworfen, wenn sie an den Strand ging. Aber dann hatte Erik einmal beobachten können, wie sie lächelnd, mit sanften, verträumten Augen, den Möwen nachblickte, die kreischend den Sylt-Shuttle verfolgten – und in diesem Augenblick wurde ihm klar, dass sie nach einem Urlaub in Umbrien genauso heimkehrte wie er selbst. Sylt war Lucias Heimat geworden. Diese Erkenntnis war einer der glücklichsten Momente in Eriks Leben gewesen.

Eigentlich hatte er vorgehabt, einen Umweg zu fahren, Mamma Carlotta die schönsten Seiten von Westerland zu zeigen, ihr einen Blick auf die Dünen und den Strand zu gönnen, dann ganz gemächlich nach Wenningstedt hinein, am Kurzentrum vorbei, bei Gosch an der Kliffkante frischen Fisch fürs Abendessen kaufen, vielleicht sogar einen Prosecco trinken, damit Mamma Carlotta sich heimisch fühlte … Aber nun wollte er so schnell wie möglich nach Kampen. Der Mordfall ließ ihm keine Ruhe.

Sie hatten kaum das Ortseingangsschild passiert, da lachte Mamma Carlotta so befreit auf, als habe sie plötzlich entdeckt, dass Sylt eine Region Italiens sei. Aufgeregt wies sie auf ein Schild: »Da! Vino rosso! Vino aus Montepulciano!«

Erik warf nur einen kurzen Blick zur Seite. »Das ist der Imbiss am Hochkamp. Der Inhaber brüstet sich damit, viel herumgekommen zu sein. Deswegen bietet er Wein aus Italien, Genever aus Holland und Rum aus Martinique an. In Käptens Kajüte soll es weltmännisch zugehen. Aber die Kajüte ist genauso wenig weltmännisch, wie Tove ein Kapitän ist.«

Damit waren sie an der Einmündung zum Süder Wung angekommen und Erik bog rechts ab. »Ein kühles Jever passt sowieso viel besser zu unserem Klima als Rotwein«, sagte er noch. Dann hielt er vor einem spitzgiebeligen gelben Haus. Als er sah, wie Mamma Carlottas Augen sich mit Tränen füllten, nickte er schweigend und blickte so angestrengt zur Eingangstür, als könnte er erzwingen, dass sie sich öffnete und Lucia in der Tür erschien. »Sie hat sehr gern hier gelebt«, murmelte er, ehe er ausstieg.

Mamma Carlotta wischte sich über die Augen, dann kletterte sie aus dem Wagen und sah sich um. Ihre Wehmut war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. »Che bello!«, rief sie, streckte die Arme aus, umfasste den ganzen Süder Wung und drückte ihn an ihr Herz. »Und in diesem großen Haus wohnt ihr ganz allein? Wie ist das möglich? Wo sind deine Eltern, Enrico? Deine Tanten, Onkel, Neffen, Nichten …?«

Erik antwortete nicht, hob das Gepäck aus dem Auto und trug es zur Haustür, während Felix aufzählte, in welche Winde die Verwandten der Wolfs verstreut waren.

»Das weiß die Nonna doch«, warf Carolin ein, die nicht verstehen konnte, dass längst bekannte Tatsachen immer wieder erörtert werden mussten. »Jeder muss doch selbst wissen, wo er leben will.«

»In einem wunderschönen Haus wie diesem natürlich!«, rief Mamma Carlotta. »Wo sonst?«

Und dann ließ sie sich von Felix durch die Tür ziehen, während sie weiter den Entschluss jedes einzelnen Mitglieds der Familie Wolf beklagte, woanders zu wohnen als am Süder Wung in Wenningstedt. »Meine arme Lucia! Zu wem ist sie gegangen, wenn sie nicht wusste, was sie kochen sollte, oder kein Basilikum im Hause hatte?«

Erik stellte die Koffer in die Diele und sah seine Kinder so lange eindringlich an, bis sie zu wissen schienen, was er von ihnen erwartete. Dann wandte er sich an seine Schwiegermutter. »Ich habe dir doch auf der Fahrt von dem Mord erzählt. Ich muss nach Kampen, verstehst du? Die Kinder bleiben bei dir, sie werden dir alles zeigen.«

»Erzählst du uns dann später alles von diesem Mord?«, schrie Felix. »Das ist die Bedingung! Jede grausige Einzelheit!«

»Ein Mord auf dieser Insel!«, seufzte Mamma Carlotta, schien aber nicht mehr bei der Sache zu sein. Mit großen Augen blickte sie sich um und nahm in wenigen Augenblicken alles auf, was sie umgab – die Gemütlichkeit, die ihre Tochter geschaffen hatte, die Landschaftsfotografien, die Lucia gerahmt hatte, die Familienbilder, die sie aufgehängt, die Vorhänge, die sie genäht, die Wände, die sie angestrichen, den Teppichläufer, den sie ausgesucht, die Behaglichkeit, die Lucia zum Leben erweckt hatte und die nicht mit ihr gestorben war.

Bevor Mamma Carlotta ins Wohnzimmer ging, um dort mit großer Geste und vielen schönen Worten die Einrichtung zu loben, sagte sie: »Felix hat Recht, Enrico. Du musst uns unbedingt alles erzählen, wenn du zurückkommst.«

Dann öffnete sie den kleinsten ihrer drei Koffer und holte ein Buch hervor, das sie den Kindern mit Tränen in den Augen reichte. »Ich habe es zufällig vor ein paar Tagen gefunden. Es war unter den Küchenschrank gerutscht. Als ich nach Nonnos Tod das Haus gründlich gelüftet und aufgeräumt habe, ist es mir wieder in die Hände gefallen. Eure Mamma hat es als Kind geliebt.«

Felix warf einen kurzen Blick darauf und lachte spöttisch. Wie man eben lacht, wenn man vierzehn ist und ein Märchenbuch präsentiert bekommt. Die sechzehnjährige Carolin konnte es sich in ihrem Alter schon leisten, einem Märchen größere Aufmerksamkeit zu schenken, ohne Gefahr zu laufen, ihr Gesicht zu verlieren.

»Cappuccetto Rosso«, las sie und lächelte. »Das Rotkäppchen auf Italienisch. Echt witzig.«

3

Das Haus lag ganz in der Nähe des Wattenmeeres, nicht weit vom Lokal Kupferkanne entfernt. Es stand am Ende eines Weges, an dem es nur wenige Häuser gab und dahinter nichts als die endlose Weite des gerade trocken gefallenen Meeresbodens. Das Haus war reetgedeckt, wie es das Kampener Ortsstatut seit 1920 für alle Neubauten vorgab. Es stand auf einem großen Grundstück, das mit Heckenrosenwällen eingefasst war. Mehrere Autos hatten sich am Zaun aufgereiht, direkt vor der großen weißen Holzpforte stand ein dunkler Kombi mit undurchsichtigen Scheiben, die ein Palmenzweig zierte. Der Wagen des Bestatters, den die Kripo gerufen hatte.

Erik blieb an der Pforte stehen und sah aufs Watt hinaus. Es lag stumpf und grau vor ihm. Drei Austernfischer mit ihren runden schwarzen Köpfchen flitzten über den feuchten Sand, nur wenige Wanderer, weitläufig über das friedliche Watt verteilt, waren zu sehen. In der Ferne konnte Erik eine Kindergruppe mit einem Wattführer erkennen, ein kleiner weißer Hund vertrieb einen Möwenschwarm.

Erst nachdem Erik die Ruhe des Wattenmeeres in sich eingesogen hatte, ging er auf die Eingangstür des Hauses zu. Sören öffnete sie, bevor Erik nach der Klinke greifen konnte. »Gut, dass Sie da sind.«

Er trat einen Schritt zur Seite und sah seinen Chef abwartend an. Sören war ein junger Mann von Mitte zwanzig, noch unerfahren, aber zu Eriks Freude eifrig und wissbegierig. Seine vollen roten Wangen sahen aus wie frisch polierte Winteräpfel.

Erik blieb in der Diele stehen und sah sich um. So hatte er sich das Haus einer alleinstehenden Frau in Kampen vorgestellt. Es war teuer eingerichtet, aber das Bemühen, nicht zu protzen, war durchaus zu erkennen. Für die Möbel hatte Christa Kern sich vielleicht nach Besuchen in den einschlägigen Restaurants, Teehäusern und Bars von Kampen entschieden. Kein Sessel, kein Schrank sollte den Verdacht erregen, dass die Bewohnerin nichts vom Geschmack der Sylter wüsste.

Erik betrat das Wohnzimmer, wo Dr. Hillmot sich über die Tote beugte. Der schwergewichtige Gerichtsmediziner richtete sich schnaufend auf, als er Erik bemerkte, und begrüßte ihn kurz. »Ich schätze, dass sie seit zwei Tagen tot ist«, meinte er. »Heute ist Montag, also ist sie Sonnabend ermordet worden. Genaueres erfahren Sie morgen oder übermorgen.« Er hielt Erik eine Plastiktüte hin, in der ein Stück Kunststoffleine steckte. »Das Tatwerkzeug.«

Erik betrachtete die Tote auf dem Sofa. Ihr Alter war schwer zu schätzen, denn ihr Gesicht war bläulich verfärbt und aufgedunsen, er konnte die Spur an ihrem Hals erkennen, die die Wäscheleine hinterlassen hatte. Christa Kern war auffallend schlank. Sie trug ein dunkelbraunes zweiteiliges Strickkleid, an ihren Fingern glitzerten mehrere Brillantringe, die Nägel waren äußerst gepflegt und rot lackiert. Die blondierten Haare waren in unnatürliche Wellen gelegt, die kaum in Unordnung geraten waren. Auf dem Tisch neben dem Sofa standen drei Nagellack-Fläschchen in verschiedenen Farben.

»Sie muss von dem Angriff total überrascht worden sein«, sagte Dr. Hillmot. »Anscheinend ist sie nicht mehr dazu gekommen, sich zu wehren.« Er wies mit dem Kugelschreiber auf den Hals der Toten. »Die Drosselmarke verläuft annähernd horizontal und ziemlich tief.«

Erik blickte zur Terrassentür. »Der Täter könnte dort eingedrungen sein und Frau Kern überrascht haben.«

»Die Tür war geschlossen«, mischte sich Sören ein. »Alle Türen waren geschlossen, als die Putzfrau kam. Wir haben keine Spuren eines gewaltsamen Eindringens feststellen können.«

Wieder nickte Erik. »Dann könnte es also jemand gewesen sein, den Frau Kern kannte. Dem sie selbst die Tür geöffnet hat.« Er sah sich um. »Wo ist die Putzfrau?«

»In der Küche.«

An der Wohnzimmertür blieb Erik stehen und drehte sich noch einmal um. Der Raum war in einem mustergültigen Zustand. Die Sessel standen exakt nebeneinander, der Tisch genau auf das Muster des Teppichs ausgerichtet, die Kerzenleuchter darauf in einem sauberen Quadrat aufgestellt, und die dreieckige Obstschale am anderen Ende des Tisches wies mit einer der drei Spitzen genau in den Abstand zwischen zwei Leuchtern. Von den wenigen Büchern standen alle so da, dass kein Buchrücken über das Regalbrett hinausragte, die Nippes in den Schrankfächern waren wie Zinnsoldaten aufgereiht. Die zweiteilige Gardine vor dem Fenster öffnete sich in der Mitte gerade so weit, dass eine prunkvolle Begonie zwischen den Gardinenhälften Platz hatte, hinter ihnen schimmerten Muscheln und Steine in ordentlichen Dreiergruppen auf der Fensterbank.

Erik konnte kaum den Blick von dieser vollkommenen Ordnung wenden. Wenn er da an sein eigenes Wohnzimmer dachte! Vor seiner Ehe hatten auch bei ihm die Bücher gerade und nach dem Alphabet geordnet in den Regalen gestanden und von seinen geliebten grünen Kissen immer zwei in jeder Sofaecke, jeweils ein hellgrünes und ein dunkelgrünes. Als Lucia in sein Haus am Süder Wung zog, hatte es damit ein Ende gehabt. Wenn sie von einem Besuch bei ihren Eltern in Italien zurückgekommen war, hatte sie, noch während sie erzählte, die Ordnung, die Erik während ihrer Abwesenheit hergestellt hatte, mit wenigen Handgriffen wieder zerstört. Gedankenverloren hatte sie das sorgfältig zusammengefaltete Spültuch zerdrückt und auf den Tisch geworfen, sich anschließend die Hände abgetrocknet und das Spültuch mit dem Handtuch zugedeckt. Sie konnte sich nur in einem gemütlichen Durcheinander wohlfühlen. Sobald Mamma Carlotta die Herrschaft in seiner Küche übernommen hatte, würde sie wohl wieder in Windeseile in den Zustand versetzt sein, den sie zu Lucias Zeiten gehabt hatte. Er wusste ja, wie der Haushalt in Umbrien aussah.

Erik betrat die Küche. Die Putzfrau Heide Pedersen saß am Tisch und starrte aufs Watt hinaus. Obwohl sie sich nicht rührte und den Blick nicht wandern ließ, bot sie ein Bild voller Unruhe. Ihre Nasenflügel bebten, ihr Mund zuckte, die Hände auf der Tischdecke vibrierten. Als Erik die Tür aufdrückte, fuhr sie zusammen, als wäre sie bei heimtückischen Gedanken ertappt worden.

Erik stellte sich vor und ließ sich dann umständlich und zeitraubend ihr gegenüber am Tisch nieder. Das machte er immer so, um den ersten Eindruck, den er von einer Person hatte, eine Weile auf sich wirken zu lassen. Heide Pedersen starrte ihn misstrauisch an, während er seinen Schnauzer und seinen Pullover glattstrich und den Stuhl hin und her rückte. Sie war eine Frau von gut fünfzig Jahren mit eingefallenen Wangen. Ihre Augen hatten die Farbe des Meeres an einem trüben Herbsttag, die beiden kohlschwarzen Striche darüber überraschten den Betrachter wie ein plötzlich aufziehendes Gewitter den Touristen.

»Wohnen Sie in Kampen, Frau Pedersen?«, fragte Erik.

Sie nickte. »Am Esling Wung. In der Nähe des Wasserwerkes.«

»Und wie sind Sie zu Frau Kern gekommen? Mit dem Auto?«

Heide Pedersen glotzte ihn an. »Mit dem Auto? Hören Sie mal, ich bin keine Touristin, ich bin Putzfrau! Von wegen mit dem Auto! Mit dem Fahrrad komme ich. Selbst als wir noch ein Auto besaßen, hat mein Mann mich nicht damit fahren lassen.«

»Was macht Ihr Mann beruflich?«

»Er ist arbeitslos. Früher hat er mal bei Gosch gekellnert. Aber er musste ja immer seine Klappe so weit aufreißen. Irgendwann hat er sie dann nicht mehr zugekriegt. Vor lauter Staunen! Als die ihn nämlich gefeuert haben wegen seiner ewigen Stänkerei.«

»Haben Sie Kinder?«

Aus der Bitterkeit in ihrem Gesicht wurde milde Enttäuschung. »Einen Sohn. Sechsundzwanzig, auch arbeitslos.«

»Hat er auch bei Gosch die Klappe zu weit aufgerissen?«

»Der hat’s gar nicht erst bei Gosch versucht. So eine Arbeit war ihm nicht gut genug. Er will sich mal selbstständig machen. Mit einem Computerladen! Oder einem Internetcafé!« Sie spuckte ein freudloses Lachen aus. »Und bis es so weit ist, liegt er auf der faulen Haut und mir auf der Tasche.«

»Müssen Sie deswegen putzen gehen?«

Plötzlich kam Bewegung in Heide Pedersen. »Sagen Sie mal, bin ich hier die Leiche, um die es geht? Oder bin ich eine Tatverdächtige, die Sie verhören wollen?«

»Schon gut!« Erik blieb ernst und sachlich. »Erzählen Sie mir, was Sie von Christa Kern wissen. Und wie das war, als Sie heute Mittag hier ankamen.«

»Also …« Heide Pedersen berichtete mit müder Stimme, dass sie immer montags und freitags zu Christa Kern kam. »Immer erst mittags, damit Frau Kern ausschlafen konnte und nicht durch mich gestört wurde. Sie schlief gern lange. Tja, wenn man es sich leisten kann …«

»War heute etwas anders als sonst?«

»Na, das mögen Sie wohl sagen! Dass die Chefin tot auf dem Sofa lag, war bis heute nun wirklich noch nicht vorgekommen.«

»Ich meine, bevor Sie Frau Kern gefunden haben … Ist Ihnen etwas aufgefallen, als Sie aufs Haus zufuhren, als Sie die Tür öffneten, das Haus betraten …?«

»Nee, alles wie immer. Bis … ja, bis ich ins Wohnzimmer kam.«

»Sind Sie gleich nach dem Betreten des Hauses ins Wohnzimmer gegangen?«

»Nee, erst bin ich in die Küche. Da habe ich mich gewundert, dass die Reste des Frühstücks nicht herumstanden. Frau Kern hat noch nie das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine geräumt, wenn sie mich erwartete. Ich habe gerufen, aber niemand hat geantwortet. Und dann bin ich ins Wohnzimmer gegangen …«

»Also auch im Haus hat nichts darauf hingedeutet, dass ein Unglück geschehen war? Keine Spuren? Keine Veränderungen?«

Heide Pedersen schüttelte den Kopf. »Es war alles tipptopp in Ordnung. Wie immer.«

»Ja, die mustergültige Ordnung ist mir auch gleich aufgefallen«, nickte Erik.

Heide Pedersen schien diese Bemerkung als Lob für ihre Arbeit zu verstehen, jedenfalls blickte sie nun freundlicher drein und wurde zugänglicher. »Viel war hier eigentlich nicht zu tun«, teilte sie Erik in vertraulichem Ton mit. »Eine einzige Person in diesem großen Haus! Da wird ja kaum etwas schmutzig. Besuch hatte sie nie, die Frau Kern.«

Erik sah sie erstaunt an. »Keinen Besuch? Hatte Frau Kern keine Freunde auf der Insel?«

Heide Pedersen schüttelte energisch den Kopf. »Nee, die hatte keine Freunde. Hier kam nie jemand zu Besuch, und sie wurde auch nie irgendwo eingeladen. Ob das früher auch schon so war, als ihr Mann noch lebte, kann ich nicht sagen. Damals habe ich noch nicht hier geputzt. Aber seit ich für sie arbeite – und das tu ich nun schon seit zwei Jahren –, hat es hier nie einen Gast gegeben.«

»Können Sie sich das erklären?«, fragte Erik.

»Und ob! Wer will schon was mit einer so bösen, garstigen Frau wie Christa Kern zu tun haben? Die Einzige, die sich gelegentlich bei ihr blicken ließ, war ihre Schwester.«

Erik zückte sein Notizbuch. »Frau Kern hatte eine Schwester? Und die wohnt auch auf Sylt?«

»Oben in List. Bernadette Frenzel heißt sie. Die Adresse weiß ich aber nicht.«

»Die kriegen wir raus.« Erik klappte sein Notizbuch wieder zu und sah eine Weile schweigend aufs Watt hinaus. »Böse, garstige Frau, sagen Sie … Aber Sie haben trotzdem für sie gearbeitet?«

Heide Pedersen zuckte die Achseln. »Ich brauchte das Geld. Wenn man bereit war, sich dafür schlecht behandeln zu lassen, konnte man bei ihr mehr verdienen als woanders.«

»Und Sie waren bereit, sich schlecht behandeln zu lassen?«

»Ich bin seit dreißig Jahren verheiratet, Herr Hauptkommissar. Mein Mann behandelt mich schlecht, mein Sohn auch. Ich bin daran gewöhnt. Wenn Frau Kern sich über mich lustig gemacht hat, habe ich die Ohren auf Durchzug gestellt. Wenn sie mir immer wieder was versprochen hat, was ich dann doch nie bekam, habe ich auch die Ohren auf Durchzug gestellt. Und wenn sie Unmögliches von mir verlangte, habe ich’s getan.«

»Unmögliches?«, unterbrach Erik. »Was zum Beispiel?«

»Wenn sie schlecht gelaunt war, hat sie mir den Schrubber weggenommen. Ich musste dann den Boden auf Knien wischen. Ich triebe ja sonst keinen Sport, hat sie gesagt, diese Betätigung wäre gesund für mich.« Heide Pedersen blickte auf. »Es war natürlich reine Schikane. Aber ich hab’s gemacht. Ich wusste, dass sie mir später einen Zehn-Euro-Schein extra geben würde. Sonst hätte ich es nicht getan. Aber so … Sie hatte eben Spaß daran, andere zu demütigen.«

»Und ihre Schwester?«

»Der ging es nicht viel besser. Sie besuchte Frau Kern regelmäßig, weil sie darauf hoffte, gelegentlich von ihr unterstützt zu werden. Wenn es Bernadette Frenzel gut gegangen wäre, hätte sie ihre Schwester vermutlich keines Blickes gewürdigt. Aber Bernadette Frenzel ist auch Witwe, wie Frau Kern. Doch sie hat von ihrem Alten nur Schulden geerbt. Und ein baufälliges Häuschen in List. Da gibt es zwei Zimmer, die sie im Sommer vermietet. Damit und mit der kleinen Rente kommt sie knapp über die Runden. Und wenn nicht, dann musste sie eben ihre Schwester anbetteln. Manchmal bekam sie was, manchmal auch nicht. Aber wenn, dann immer erst nach vielen Erniedrigungen.«

Die Tür öffnete sich, Sören Kretschmer kam in die Küche. »Raubmord scheidet aus. Das Haus ist nicht durchsucht worden, es scheint auch nichts zu fehlen. Der Schmuck ist da, ein paar hundert Euro Bargeld, wertvolle Bilder, viele Antiquitäten – alles noch vorhanden.«

Erik erhob sich, bat Heide Pedersen um ihre Adresse und drückte ihr seine Visitenkarte in die Hand. »Wir werden sicherlich demnächst noch ein paar Fragen haben.«

Sören wartete ungeduldig darauf, dass Heide Pedersen sich ihre Jacke überzog und zur Haustür ging. Dann griff er nach Eriks Arm. »Kommen Sie mal, Herr Wolf! Ich habe gerade den Anrufbeantworter abgehört.«

Er zog Erik in ein kleines Zimmer, das neben dem Wohnzimmer lag und Christa Kern wohl als Arbeitszimmer gedient hatte. Das Telefon mit dem Anrufbeantworter stand auf einem Tischchen vor dem Fenster, ein kleiner Sessel daneben, dessen vier Beine sich akkurat in das Muster des Teppichbodens fügten.

Sören drückte auf eine Taste, kurz darauf erklang eine ärgerliche Männerstimme: »Hier Matthias Braun! Guten Tag, Frau Kern! Es ist Sonntag, zwanzig Uhr. Ich warte nun seit drei Stunden vergeblich auf Sie. Sie wollten spätestens um siebzehn Uhr in Hamburg sein, um das Bild abzuholen. Sie wissen, dass ich die vierzigtausend Euro dringend brauche. Sie haben mir zugesagt, heute das Geld in bar mitzubringen. Sie wussten, dass das wichtig für mich war. Aber Sie kommen einfach nicht, melden sich nicht bei mir, gehen nicht ans Telefon … Also, mir reicht das jetzt. Wenn ich morgen früh das Geld nicht habe, brauche ich es nicht mehr. Dann behalte ich das Bild eben, basta!« Eine kurze Pause trat ein, in der sich der Anrufer zu überlegen schien, ob eine unzuverlässige Geschäftspartnerin wie Christa Kern höfliche Abschiedsworte verdient hatte. Dann hatte er sich wohl entschieden und ergänzte in moderatem Tonfall: »Ich erwarte, dass Sie mich wenigstens anrufen und mir Ihr Verhalten erklären. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Sonntag. Auf Wiederhören.«

Sören sah seinen Chef mit großen Augen an. »Vierzigtausend! In bar! Die wollte sie ihm gestern bringen! Da war sie aber schon tot.«

»Also müssten die vierzigtausend Euro noch hier im Haus sein.«

Sören zog die Augenbrauen hoch. »Oder sie hatte das Geld noch gar nicht von der Bank abgehoben, weil sie nicht so lange so viel Bares im Haus aufbewahren wollte.«

Erik schüttelte den Kopf. »Wenn sie wirklich am Sonntag in bar zahlen wollte, muss sie das Geld spätestens am Freitag abgehoben haben. Sonnabends haben die Banken geschlossen, und der Bankautomat spuckt nicht so viel Geld aus.« Er sah sich um. »Habt ihr irgendwo die Handtasche der Toten gefunden? Ihr Portmonee? Ihre Brieftasche? Ich brauche die EC-Karte.«

Vetterich, der Chef der Spurenfahndung, meldete sich zu Wort. »Die EC-Karte steckt in ihrer Geldbörse.«

»Von welcher Bank?«

»Sparkasse!«

Erik wandte sich an Sören. »Rufen Sie in der Sparkasse von Kampen-Mitte an und fragen Sie nach, ob Christa Kern in den letzten Tagen einen größeren Geldbetrag abgehoben hat. Sicherlich ist sie dort bekannt.«

Sören nickte und verschwand. Nur wenige Minuten später erschien er wieder hinter Erik. »Die wollen sich am Telefon nicht äußern. Ohne Dienstausweis geht gar nichts.«

Erik nickte. »Verständlich. Wir fahren nachher dort vorbei.«

Sören atmete geräuschvoll ein und aus. »Wenn die Kern das Geld am Freitag abgeholt hat, müssen wir das Haus gründlich auf den Kopf stellen. Dann ermitteln wir in einem Raubmord.«

»Eher unwahrscheinlich bei der Ordnung, die hier herrscht«, entgegnete Erik. »Wenn Christa Kern wegen des Geldes gestorben ist, dann muss der Täter genau gewusst haben, wo es lag.«

»Aber wer?«, überlegte Sören. »Mir fallen da nur Heide Pedersen und die Schwester der Toten ein. Beide sind in Geldverlegenheit. Beide könnten gewusst haben, dass Christa Kern ein Gemälde für vierzigtausend Euro kaufen und bar bezahlen wollte. Und beide kennen sich in diesem Haus aus.«

»Bernadette Frenzel sollten wir so bald wie möglich aufsuchen«, nickte Erik. »Machen Sie die Adresse ausfindig, Sören. Und dann kümmern Sie sich um diesen Matthias Braun. Anscheinend wohnt er ja in Hamburg. Kann nicht schwierig sein, seine Adresse und Telefonnummer herauszufinden.« Er winkte Sören mit dem Kopf aus dem Haus. »Die Telefongespräche können Sie unterwegs erledigen, während wir nach List fahren.«

Sie verließen das Haus und gingen auf Eriks Auto zu. Plötzlich stutzte Sören. »Was war das?« Er wies auf das Ende des Weges, der im Gras verlief, und reckte den Hals.

Erik schüttelte den Kopf. »Ich habe nichts gesehen.«

Doch er hatte kaum ausgesprochen, da erhob sich jemand hinter einem Busch, zog sein Fahrrad heran, richtete es auf und klopfte sich umständlich die Hosenbeine ab. Als er merkte, dass Erik und Sören keine Anstalten machten, in den Wagen zu steigen und abzufahren, kam er mit einem Lächeln auf sie zu, das wohl harmlos aussehen sollte.

»Fietje!«, rief Erik ihm entgegen. »Was machen Sie hier?«

»Moin, Herr Hauptkommissar.« Fietje Tiensch zuckte die Schultern. »Was soll ich schon hier machen? Na ja, was man eben so macht.«

»Und das wäre?«

»Es gibt Sachen, die erledigt man lieber hinter einem Busch als in der Öffentlichkeit. Jawoll!«

»Soll ich mal nach dem Corpus delicti sehen oder kann ich mir die Mühe sparen?«

»Um Himmels willen, Herr Hauptkommissar! Das wäre mir aber unangenehm.«

»Nun geben Sie schon zu, warum Sie wirklich hier sind, Fietje.«

Fietje schob seine Mütze in die richtige Position. »Hier soll ja was passiert sein.«

»Und? Haben Sie was beobachtet?«

»Ich? Nö, ich doch nicht.«

»Dann darf ich Sie bitten«, sagte Erik sehr förmlich, »den Tatort umgehend zu verlassen. Neugierige können wir hier nicht gebrauchen.«

»In Ordnung, Herr Hauptkommissar.«

Erik stieg in den Wagen und startete, kaum dass Sören sich neben ihn gesetzt hatte. »Wo was passiert, ist Fietje nicht weit.«

»Fietje Tiensch?« Sören blickte noch einmal zurück. »Der ist doch Strandwärter in Wenningstedt, oder?«

Erik nickte. »Am Aufgang an der Seestraße. Und neugierig ist er wie kein Zweiter. Einmal habe ich ihn sogar im Garten eines Ferienhäuschens erwischt, wo er ein junges Pärchen beobachtete, das sich im Freien liebte.«

»Ein Spanner also«, grinste Sören. »Wahrscheinlich wird er deshalb am Textilstrand eingesetzt.«

In der Sparkasse empfing sie der Filialleiter persönlich, der anscheinend schon von der jungen Mitarbeiterin, mit der Sören telefoniert hatte, auf den Besuch der Kriminalpolizei vorbereitet worden war. »Entsetzlich, der Tod von Frau Kern! Sie war eine gute Kundin, uns allen sehr vertraut.«

Erik runzelte die Stirn und betrachtete den Filialleiter ausgiebig. Er war der Erste, der so etwas wie Bedauern zeigte angesichts der Tatsache, dass Christa Kern nicht mehr unter den Lebenden weilte. Sein Blick wanderte zu der jungen Sparkassenangestellten, die ihrem Chef anscheinend nicht zustimmen wollte. Alles sah ganz danach aus, als wäre dem Filialleiter nur Christa Kerns Kontostand vertraut, während die Erinnerungen der jungen Angestellten woanders waren. Erik fielen wieder Heide Pedersens Worte ein. Anscheinend hatte Christa Kern wirklich nicht viele Freunde.

»Sie haben also Frau Kern vierzigtausend Euro in bar ausgehändigt?«

Die junge Frau nickte. »Ja. Sie kam gegen sechzehn Uhr.«

»Haben Sie sich nicht gewundert, dass sie eine so große Summe in bar haben wollte?«

»Sie hat mir erzählt, dass sie beabsichtigte, ein Bild zu kaufen. Und dass der Verkäufer das Geld in bar brauchte.«

»Aha.« Erik sah sich in der Schalterhalle um und strich seinen Schnauzer glatt. »Kann es sein, dass jemand die Auszahlung des Geldes beobachtet hat?«

Nun mischte sich der Filialleiter ein. »Derart große Summen werden nicht am Schalter ausgezahlt. Frau Kern ist das Geld in einem unserer Büros übergeben worden. Niemand war Zeuge. Das wäre ja viel zu gefährlich.« Er sah seine Mitarbeiterin scharf an. »Oder war das etwa nicht so?«

»Doch, natürlich war das so«, bestätigte die junge Frau.

»Hat Frau Kern ihren Wunsch nach den vierzigtausend Euro laut und deutlich geäußert? Kann das jemand mitbekommen haben?«

Die Angestellte dachte nicht lange nach. »Frau Kern legte keinen großen Wert auf Diskretion. Sie hat nach den vierzigtausend gefragt wie andere nach vierzig Euro.«

»Bitte, denken Sie nach.« Erik sah sie eindringlich an. »War jemand in der Schalterhalle, als Frau Kern nach den vierzigtausend Euro fragte?«

Der Filialleiter betrachtete seine Mitarbeiterin nervös, aber die behielt die Nerven und dachte gründlich nach. Dann nickte sie.

»Ja, es stand jemand am anderen Ende der Schalterhalle.« Sie wies auf einen Ständer, wo Werbeschriften und Prospekte auslagen. »Da blätterte ein Mann in einem Prospekt. Ich glaube, er wartete auf jemanden. Aber er war zu weit weg. Der kann das nicht gehört haben.«

»Sind Sie sicher?«, fragte Sören.

Die Angestellte hob die Schultern. »Ich glaub’s jedenfalls.«

»Kannten Sie den Mann?«, wollte Erik wissen.

Sie nickte. »Ja, flüchtig. Wie er heißt, weiß ich nicht. Aber er hat eine Imbissbude in Wenningstedt, das weiß ich. In der Nähe des Aufgangs zur Seestraße.«

»Tove Griess ist kein unbeschriebenes Blatt«, überlegte Erik, als sie wieder vor der Tür standen. »Wenn er nun doch mitbekommen hat, dass Christa Kern sehr viel Geld abholte, und ihr dann gefolgt ist …«

»Dann hätte er sie unterwegs überfallen.«

»Das war vielleicht nicht möglich. Unterwegs gab es Zeugen.«

»Aber es ist nicht anzunehmen, dass Christa Kern einen Kerl wie Tove Griess ins Haus gelassen hat. Nein, nie im Leben!«

»Und wenn doch? Vielleicht kannten die beiden sich. Zugegeben, es ist nicht sehr wahrscheinlich …«

Ende der Leseprobe