Die toten Mädchen vom Monte Argento - Emanuela Valentini - E-Book
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Die toten Mädchen vom Monte Argento E-Book

Emanuela Valentini

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Beschreibung

Mächtige Gebirgszüge, dunkel bewaldete Täler und eine verschworene Dorfgemeinschaft

Ein grausamer Fund führt die Chirurgin Sara nach vielen Jahren zurück in ihren Heimatort, ein abgelegenes Bergdorf im nördlichen Apennin: die Leiche ihrer Kindheitsfreundin Claudia, die vor mehr als zwanzig Jahren spurlos verschwand. Sie ist seit langem tot. Wurde sie Opfer eines Gewaltverbrechens? Aus dem Dorf scheint außer Saras Freundin, Polizistin Emilia, niemand an einer Aufklärung interessiert. Auch nicht daran, dass nach Claudia noch weitere Mädchen vermisst wurden. Als dann die 11-jährige Rebecca verschwindet, glaubt Sara nicht mehr an einen Zufall. Gemeinsam mit Emilia entdeckt sie eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den Mädchen, die weit in die dunkle Vergangenheit des Bergdorfs reicht. Während Sara alles daran setzt, Rebecca zu finden, wird sie von ihren eigenen Dämonen eingeholt.

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Seitenzahl: 515

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Das Buch

»Das letzte Tageslicht mühte sich die Serpentinen hinauf und wies mir den Weg. Bis ich zuletzt an jenem Grüppchen Häuser anlangte, auf das sich bereits die Dunkelheit gesenkt hatte. Das Licht entschwand, als ich den Kofferraum öffnete und meinen Rollkoffer herausholte, ehe ich mich zu Fuß auf den Weg nach Hause machte. Ich schaute mich um. Alles schien wie immer zu sein, doch das täuschte: Die grauenvolle Wahrheit lautete, dass ein Mädchen verschwunden war, und wenn ich genau hinspürte, empfand ich seine Abwesenheit als klaffendes Loch in der Luft, die ich atmete.

Wo bist du, Rebecca? Ich bin deinetwegen zurückgekommen. Als Antwort nur das leise Rauschen der Bäume und entfernte Stimmen, die der Wind verschluckte. Als Kind hatte ich dieses konstante Geräusch der in der Brise raschelnden Blätter geliebt. Nun hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten, so unerträglich war mir dieser Klang.«

Die Autorin

Emanuela Valentini lebt in Rom und arbeitet als freie Lektorin. Für ihre Kurzgeschichten hat sie bereits zahlreiche Preise gewonnen. In ihrer Freizeit fotografiert sie gern natürliche und urbane Lebensräume. »Die toten Mädchen vom Monte Argento« ist ihr Debüt im Thriller-Genre und wurde in mehrere Sprachen übersetzt.

EMANUELA VALENTINI

DIE TOTEN MÄDCHEN VOM

MONTE

ARGENTO

THRILLER

Aus dem Italienischenvon Janine Malz

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe Le Segnatrici erschien erstmals 2020 bei Mondadori Libri S. p. A., Mailand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Deutsche Erstausgabe 12/2022 

Copyright © 2020 by Emanuela Valentini

Die deutschen Rechte wurden vermittelt durch: Piergiorgio Nicolazzini Literary Agency (PNLA)

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Sonja Häußler

Umschlaggestaltung: Designomicon, München, unter Verwendung von Motiven von © Shutterstock.com (JGA, Pilguj)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-29008-5V001 

www.heyne.de

Meine Mutter Sandra:

Blumen, buntes Garn, unbändige Energie,

Musik und Marmeladen.

Du hast mir beigebracht, dass alles möglich ist.

Mein Bruder Marco:

Ein Lichtblick im Dunkeln,

Jahrzehnte voller Lachen wie Sternschnuppen.

Für mich bist du eine absolute Gewissheit.

Scilla:

Im Sternenlicht glänzendes Gras, ein langer Flug Auge in Auge,

Unendlichkeit auf vier Pfoten.

Wir sind eins, du und ich. Für immer.

Dieses Buch ist euch gewidmet.

»Öl aus Jesu Christi Hand, halt dies böse Blut gebannt.

Öl aus meiner Lampe fein, dieses böse Blut halt ein.«

Mario Ferraguti

»Liebe brachte uns beiden gemeinsamen Tod,

KAINSORT erwartet aber den, der uns aus dem Leben gelöscht hat.«

Göttliche Komödie, Hölle, Fünfter GesangDante Alighieri

3. Juli 2019 

»Wer sind die Personen auf dieser Zeichnung?«

»Das sind die, die ich getötet habe.«

»Aber du bist erst acht Jahre alt …«

»Ich habe sie getötet, als ich groß war.«

Juli 1997 

Der Regen ist ein konstantes Geräusch, das den Wald erfüllt. Er fällt senkrecht zwischen den Ästen der Eichen und lässt jedes einzelne Blatt erklingen, jeden Stamm, jede Wurzel. Der Weg verschwindet beinahe unter dem Sturzbach aus Schlamm, der sich gen Tal ergießt, hin nach Hause, hin zu den Gassen und Torbögen aus Stein, hin zum brennenden Kamin, der Funken sprüht.

Das Mädchen denkt an die Nonna, die gerade dabei ist, einen Mürbeteigkuchen zu backen aus den Heidelbeeren, die sie gemeinsam unter den am Himmel kreisenden Falken inmitten der sonnigen Heide zwischen lauter Primeln gesammelt haben.

Aber sie kann jetzt nicht zurück nach Hause.

Mit einem Herz, das neben ihr hergaloppiert, geht sie bergauf und folgt dem einzigen Geräusch, das sich von dem uralten, immer gleichen Geprassel des Regens abhebt: ein Hilfeschrei, ein leiser verzweifelter Lockruf, den der Regen verwässert, aber nicht zu übertönen vermag.

In einem großen, hohlen Baumstumpf sieht sie eine Füchsin, die sich um ihr Junges eingerollt hat. Die großen bernsteinfarbenen Augen mustern sie. Sie sind rätselhaft, erfüllt von Wildheit, aber sie weiß, dass keines der Waldtiere ihr an diesem Nachmittag etwas anhaben wird.

Die Wölfe schlafen zurückgezogen auf den fernen Geröllhängen und warten auf die Nacht, um auf der Hochebene zwischen den Gipfeln zu jagen. Die scheuen Hirsche kauern unter dem Rhododendron in den Kastanienwäldern, und die Adler können das Mädchen unter dem Blätterdach nicht sehen.

Sie hält sich an einem niedrigen Ast fest, um über ein paar große Wurzeln zu steigen, ihre Halbstiefel rutschen weg, und sie landet auf allen vieren im Matsch. Der Regen durchweicht ihren gelben Regenmantel und strömt ihr über Gesicht und Hände.

Die Hände. Die darf sie nicht verletzen, nicht aufschürfen, nicht zerkratzen – jetzt sind sie kostbar.

Leonilda, die alte Frau mit Augen blau wie Himmelsfetzen, die hinter den Heuschobern am Dorfrand lebt, hat ihr erklärt, wie man eine Blutung stillt, und sie hat sich alles gut eingeprägt.

Die Worte und Zeichen, die sie ihr gezeigt hat, geduldig und mit einem Lächeln in den Augenwinkeln, wie jemand, der einen Baum pflanzt, damit er einem noch ungeborenen Menschen einmal Schatten spendet.

Ihr Herz ist ein Schrein, der das Wertvollste der Welt enthält, das es gibt: das Wissen, wie man jemanden rettet, um den es schlecht steht.

Sie lacht, den Mund voll Regen, und beschleunigt den Gang. Die Laute sind nun nicht mehr gedämpft, sondern durchdringend und deutlich, ganz in der Nähe.

Das Kätzchen kauert mitten auf einer Lichtung, unter einem Enzianbüschel, nass und verzweifelt miaut es laut und zittert vor Furcht und Kälte.

Das Mädchen nimmt es hoch und verbirgt es unter dem Wachsmantel, wohlig warm am Herzen, dann steigt es eilig den Waldweg wieder hinunter und bleibt nicht eher stehen, bis es die ersten Steinhäuser sieht, die mit dem Berg verschmelzen, außen kalt und innen warm und behaglich wie eine Umarmung.

Sie verzieht sich in den Stall. Die Eselin schläft auf dem noch von der Morgensonne warmen Stroh. Dorthin legt sie auch das blutende Kätzchen.

»Die Füchsin hat dich gebissen, aber du hast dich gewehrt«, flüstert sie und trocknet mit dem Ärmel des Kapuzenpullovers sein Fell. Endlich im Warmen, fängt es an zu schnurren.

Das Mädchen weiß, dass dies der wichtigste Moment ihres Lebens ist. Sie steht kurz davor, zum ersten Mal jemanden zu heilen, und es spielt keine Rolle, ob es sich dabei um einen Menschen oder ein Tier handelt. Dann kann sie ihrer Nonna und ihren Freunden erzählen, dass sie eine Heilerin ist wie Leonilda und die anderen. Die das Böse erkennt und vertreiben kann.

Sie setzt sich, wobei sie darauf achtet, die Beine nicht zu überkreuzen, und nimmt die Kapuze ab. Und in der Stille, die nach getrocknetem Mist und gemähtem Gras riecht, nach Holzfeuer und Erde, beschreibt sie mit den Fingern drei Kreise um die Wunde.

»Ich heile und beschwöre dich. Blut, weiche zurück.«

Erneut drei Kreise.

»Blut, weiche zurück.«

Drei Kreise um die Wunde.

»Ich heile und beschwöre dich und gebiete dir Einhalt.«

Die Eselin ist wach und sieht sie milde an. Die Hände streicheln nun über das graue Fell. Das Kätzchen ist eingeschlafen.

Vom Fenster zum Hof her hört man die Stimme der Nonna. Es locken die Wärme, der Kuchen, der Holztisch, das Marmeladenbrot.

Sie wird mit ihr schimpfen, weil sie völlig durchnässt ist. Doch das ist unwichtig.

»Schlaf nur. Nachher bringe ich dir Milch, und dann bleiben wir für immer zusammen.«

Später kehrt sie zurück, in der Hand ein Schälchen mit lauwarmer Milch, das sie vor dem Regen schützt. Sie geht leise, um das Kätzchen nicht zu erschrecken. Wie sehr freut sie sich darauf, das weiche Fell zu streicheln und das Schnurren zu hören.

Ein Donnerschlag lässt die Holzwände erzittern. Sie kauert sich zusammen. Die Eselin schaut sie an und schnaubt. Ein paar Fliegen stieben von dem Fellbündel auf, als sie es berührt.

Die Tränen fließen vor lauter Angst, noch ehe die Erkenntnis zu ihr durchdringt, während sie den Kopf des Kätzchens streichelt, der zur Seite fällt; der Körper ist seltsam starr, gar nicht mehr weich und geschmeidig. Und das erste Mal spürt sie die Leere, wenn etwas fort ist. Die kalte, feindselige Finsternis des Todes.

Es an die Brust zu drücken, ist zwecklos. Keine Wärme kann es wieder zum Leben erwecken.

ERSTER TEIL

28. Juni 2019 

Ich parkte außerhalb des Ortskerns, an der steilen Serpentinenstraße, die zu dem kleinen Platz mit der Kirche führte. Nach all der Zeit hatte ich ganz vergessen, wie eng die Wege und wie schmal die Straßen waren, über die man hier herauf gelangte, zu jener Handvoll Steinhäuser, die von einer grünen Mauer aus Wäldern umschlossen wurden.

Das Panorama war atemberaubend, doch aus irgendeinem Grund verursachte es mir Unbehagen: Freiwillig hätte ich keinen Fuß in das undurchdringliche, von verschlungenen Wegen durchfurchte Dickicht gesetzt, für kein Geld der Welt. Als Kind hingegen hatte ich meine Tage in der blaugrünen Einsamkeit des Waldes verbracht.

Mir war nicht bewusst gewesen, welche Gefahr davon ausging.

Niemandem war es bewusst gewesen.

Mit dem Smartphone in der Hand blieb ich im Auto sitzen, bei geschlossenen Fenstern, trotz der Hitze im Wagen, weil ich nicht wollte, dass diese Luft erneut in mein Leben eindrang. Und doch wusste ich, dass es sich nicht vermeiden ließ, nicht diesmal.

Zwischen den Social-Media-Benachrichtigungen fischte ich eine E-Mail vom Chefarzt heraus, der mich bat, die Leitung der Spendensammelaktion zum Erwerb neuer Diagnosegeräte zu übernehmen, sowie ein paar Nachrichten von Emilia.

Ich ließ alle unbeantwortet. Stattdessen atmete ich so langsam wie möglich weiter und betrachtete die vertrauten Konturen der Schornsteine, die auch im Sommer qualmten, und das Meer von Dächern, die so dicht aneinandergrenzten, als ob sie sich gegenseitig stützen, sich gegenseitig schützen müssten. Aber wovor?

Vor wem?

Ich blickte auf die Uhr. Die Beerdigung würde in rund zehn Minuten beginnen. Ich musste mich also in aller Eile akklimatisieren, ein Lächeln aufsetzen, das möglichst wenig von meiner Anspannung verriet, und mich der Sache stellen. Ich steckte mir eine Gaviscon-Kautablette gegen Sodbrennen zwischen die Zähne und machte mir selbst Mut: Was hatte die Yogalehrerin immer gesagt?

»Die Welt ist letztlich nur ein Spiegel dessen, was wir sind. Ihre Haltung spiegelt nur unsere Haltung wider.«

Das ist nicht der beste Moment, um darüber nachzudenken, welche Haltung ich der Welt gegenüber habe. Wenn ich schon hier bin, sollte ich auch so da sein, wie es sich gehört. Die Dinge sind nun einmal, wie sie sind, daran lässt sich nichts mehr ändern.

Diese Überlegung bedrückte mich mehr als all die hundert anderen Gedanken, die sich mir auf der Fahrt von Bologna aufgedrängt hatten. Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und kämpfte nicht dagegen an.

Vielleicht hätte ich nicht kommen dürfen.

Schwierigen Situationen auszuweichen ist der Ausweg der Feigen. Mir meine Niederlagen schönzureden und abzuhauen war schon immer meine Stärke gewesen.

Erneut vernahm ich die Stimme meiner Yogalehrerin: »Seid nicht zu streng zu euch, wenn ihr nicht wollt, dass der Rest der Welt es ebenfalls ist.«

Okay, das war’s. Ich habe es immerhin versucht.

Ich steckte den Schlüssel ins Zündschloss und startete den Motor. In diesem Moment klopfte jemand ans Beifahrerfenster. Als ich mich umwandte, begrüßte mich das freudloseste Lächeln, das ich je gesehen hatte.

Emilia wartete meine Reaktion gar nicht erst ab, stieg ein und umarmte mich fest. Sie stank nach Kippen und Alkohol wie ein alter Holzfäller, trug zerrissene Jeans, ein T-Shirt mit einem Karohemd darüber, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, sowie rote Converse.

Sie war gealtert, genau wie ich. Aber zusätzlich sah sie ungepflegt aus. Ich fragte mich, wieso sie sich so hatte gehen lassen, doch da ließ sie mich los und sah mich an, weiterhin um ein Lächeln bemüht.

Ihre schwarzen, fast schon orientalisch mandelförmigen Augen waren noch dieselben. Sie leuchteten, wie ich sie bereits Tausende Male hatte leuchten sehen, ganz im Gegensatz zu meinen, die aussahen wie seit Jahrhunderten verglühte Sterne. Die Haare hatte sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, ein paar einzelne Strähnen nahe am Ohr waren ergraut. Ob sie zugenommen hatte, konnte ich angesichts ihrer schlabbrigen, viel zu großen Kleidung nicht erkennen.

»Ich habe mich schon gefragt, wo du bleibst. Du hast auf keine meiner Nachrichten geantwortet, also bin ich hier hochgelaufen … Sara … Wie schön, dich wiederzusehen.«

Als sie meinen Namen aussprach, senkten wir beide den Blick.

Wir stiegen aus dem Auto aus und umarmten uns erneut. Nun, da sie in meinen Armen lag, spürte ich, dass sie knochig und nervös war wie eh und je.

»Wie geht’s dir? Tut mir leid, dass ich mich die letzten Jahre nicht gemeldet habe, aber …«

»Ich hab mich doch genauso wenig gemeldet, Emilia. Da nehmen wir uns beide nichts.«

Wir liefen in der Sonne und der frischen Bergluft nebeneinander her, und schon die ersten Gerüche waren wie ein Faustschlag in die Magengrube: der Geruch von brennendem Unterholz und würzigen Pflanzen, der aus dem Wald drang, der frische Mist eines Esels am Straßenrand.

»Du wolltest eigentlich gerade abhauen, stimmt’s?«

Emilia hatte noch nie um den heißen Brei herumgeredet.

»Ja, ich … ich dachte, ich dürfte gar nicht hier sein. Weder heute noch an irgendeinem anderen Tag.«

»Wer sollte das schon?« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich wollte etwas entgegnen, doch da legten sich die Arme von Nonna Dada um mich.

Im Gegensatz zu meiner besten Freundin roch sie so frisch, als sei ihre Wäsche mit Marseiller Seife gewaschen, diesen weißen Seifenstücken, die ich als Kind zum Spaß mit dem Kartoffelschäler rieb. Sie roch auch nach Lavendel und Thymian und allerlei anderem; ein Duft, der ihr nicht anhaftete, wenn sie mich in Bologna besuchte, oder zumindest nicht so stark.

»Ja, ist es denn möglich? Dass du hierhergefunden hast«, begrüßte mich Nonna Dada, aber auch ihr Lächeln war ermattet. »Ich hoffe, du bleibst bis Sonntag.«

»Das hoffe ich auch«, schloss sich Emilia an. »Schließlich müssen wir ungefähr zweiundzwanzig Jahre nachholen.«

Da musste ich sie leider enttäuschen.

»Ich fahre direkt heute Abend zurück, weil ich morgen Dienst habe. Aber wohnst du nicht in Parma? Wie lang bleibst du denn?«, entgegnete ich.

»Ähm«, sagte sie und wich meinem Blick aus. »Das erzähle ich dir später.«

Auf dem kleinen Platz drängten sich die Leute, und die Aufteilung war genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte. Vor und in der Sportbar versammelten sich die Alten sowie jene, die zwar noch nicht alt waren, aber bei den Männern sitzen wollten: Holzfäller, Tischler, Hirten, Ehemänner.

Die drei Stufen, die zu der kleinen Kirche hinaufführten, waren hingegen von Frauen bevölkert, deren kleine Köpfe unter schwarzen Kopftüchern verschwanden. In der Mitte des Platzes tummelten sich ein paar junge Familien mit kleinen Kindern, bestimmt Auswärtige.

Ich fragte mich, wo die Jugend war, aber ich kannte die Antwort bereits: Es gab keine jungen Leute in Borgo Cardo, und zwar schon eine ganze Weile nicht mehr.

Vielleicht waren wir die Letzten gewesen.

Das kribbelnde Unbehagen ergriff sofort von mir Besitz. Starrten die in Schwarz gehüllten Frauen nicht in meine Richtung und tuschelten über die wie durch ein Wunder wiederauferstandene Enkelin von Benedetta, der Schneiderin?

Ich warf einen raschen Blick zur Bar, und auch von dort trafen mich Blicke, die mir wie Nadeln unter die Haut fuhren. Als jemand, der von Berufs wegen Menschen aufschnitt und zusammennähte, kannte ich mich damit aus.

Da löste sich aus dem Kleinfamiliengrüppchen ein hochgewachsener, gut gekleideter Mann und kam uns mit einem Lächeln entgegen, das das einzig begeisterte an jenem Tag bleiben sollte. Noch ehe ich staunen konnte, stand er auch schon vor uns.

»Sara, wow, was für eine Überraschung … Willkommen zurück!« Er trat einen Schritt nach hinten, um mich besser mustern zu können, was ich zum Anlass nahm, es ihm gleichzutun. Markenjacke, Luxushemd, äußerst gepflegtes Erscheinungsbild: Es ging ihm sichtlich gut.

»Hallo, Marco, groß bist du geworden. Aber dein Gesicht ist dasselbe wie früher. Komm mal her, lass dich umarmen.«

Marcos Gesicht war kantig, ein Eindruck, der durch seinen kurzen, gut gepflegten Bart noch verstärkt wurde. Dunkle Schatten umrandeten seine Augen, doch sie strahlten mit voller Kraft, und er roch gut.

»Das ist Giacomo.«

Als ich den Blick senkte, begegnete ich den hellbraunen Augen eines Jungen, dessen ernster, beherrschter Ausdruck mir sofort auffiel.

»Giacomo, sag Hallo zu Tante Sara«, forderte Marco ihn auf, doch der Junge weigerte sich mit der Kindern eigenen Direktheit.

»Das ist nicht meine Tante, ich hab sie noch nie gesehen.«

Unter seinem Arm klemmte ein Zeichenblock, die Finger waren vom Filzstift geschwärzt.

»Ja, weil sie inzwischen in Bologna lebt, aber sie ist eine alte Freundin von mir. Wir haben zusammen gespielt, als wir so alt waren wie du, deshalb ist sie so was wie deine Tante.«

»Wenn sie meine Tante ist, wieso war sie dann zu Weihnachten nie da?«

Mit den Augen suchte ich Emilia und entdeckte sie mit einem Schnapsglas in der Hand vor der Bar, inmitten der Holzfäller. Als unsere Blicke sich trafen, streckte sie das Glas in die Höhe und deutete ein Lächeln an.

»Darf ich mir mal deine Bilder ansehen?«, versuchte ich, Marco aus der Peinlichkeit zu retten.

»Nein. Aber vielleicht schenke ich dir später ein ganz besonderes Bild. Aber nur, wenn du an Monster glaubst.«

»Oh, da würde ich mich freuen.« Ich strich ihm übers Haar. »Und ja, ich glaube, dass es Monster gibt.«

Du ahnst ja gar nicht, wie sehr.

»Die bösen, meine ich.« Mit einem Mal flitzte Giacomo davon, und Marco und ich waren allein.

»Tut mir leid, er hat eine blühende Fantasie.«

»Lebt ihr das ganze Jahr hier?« Das war die erste Frage, die mir einfiel, weiß Gott, warum. Vielleicht weil es für mich schon ein Albtraum war, seit einer knappen Stunde hier zu sein.

»Ja«, entgegnete er und kratzte sich am Ohr; vielleicht hatte er meine Gedanken erraten. »Ich habe vor ein paar Jahren direkt hinterm Dorfrand eine Gemeinschaftsklinik eröffnet, die ich leite.«

»Oh! Vor mir steht ein Klinikdirektor!«

Vermutlich hatte mir Nonna Dada davon erzählt, und jetzt bereute ich, dass ich wie bei allen Geschichten aus dem Dorf auf Durchzug geschaltet und nicht zugehört hatte.

»Wenn du Lust hast, kann ich sie dir nach der Messe zeigen. Ich weiß, dass du ebenfalls als Ärztin arbeitest.«

Die Messe.

Aber klar, wir sind nicht wegen einer Landpartie hier, sondern wegen einer Beerdigung. DER Beerdigung.

»Gerne, danke.«

Ich beobachtete, wie die Frauen gleich einer schwarzen Gezeitenwelle in die Kirche strömten, gefolgt von einer kleinen Schar Männer, einige noch immer das Glas in der Hand.

Marco eilte davon, um seinen Sohn zu schnappen, der sich zum Zeichnen auf den Boden gesetzt hatte, während ich mich zwischen Emilia und meiner Nonna am Eingang wiederfand.

Wir betraten die Kirche und blieben in den hintersten Reihen stehen.

In der Luft lag der Geruch von Weihrauch – womöglich zu viel davon – und Schweiß.

Alles war noch wie in meiner Erinnerung: die beiden steinernen Gewölbe, die das Querschiff bis zur Apsis bildeten, die sechs seitlichen Säulen, die Fresken mit Darstellungen von kleinen pausbäckigen Engeln, das vergoldete Kruzifix, das mahnend hinter dem Altar aufragte.

Das Leid, das Böse begleiten uns ein Leben lang, stets bereit, bei der kleinsten Unachtsamkeit unsererseits über uns herzufallen wie wilde Bestien.

Oder böse Menschen.

Jemand drehte sich nach mir um, um mich im flackernden Licht der Kerzen besser betrachten zu können. Ja, ich bin’s, hätte ich gern geschrien. Ich bin’s wirklich, na und? Ihr müsst mich nur ein paar Stunden ertragen, danach verschwinde ich wieder, und ihr könnt euch die nächsten zwanzig Jahre und länger das Maul darüber zerreißen, denn ich werde keinen Fuß mehr in dieses Dorf setzen.

Der Priester sah aus, als sei er extra für die Messe exhumiert worden. Don Luigi war bestimmt an die hundert Jahre alt, und doch stand er da, gebückt unter dem Gewicht der Soutane, öffnete den Mund und begann zu sprechen.

Eigentlich seltsam, dass seit meiner Ankunft niemand den Namen der Person ausgesprochen hatte, wegen der wir alle hergekommen waren, mich selbst eingeschlossen. Das tat nun Don Luigi für uns.

»Claudia.«

Diesen Namen im allgemeinen Gemurmel in der Kapelle widerhallen zu hören, war wie ein Schlag. Emilia neben mir wurde so zappelig, als hätte sie Flöhe.

Ein paar Reihen vor mir half Marco seinem Sohn auf die Bank, der den Zeichenblock noch immer in der Hand hielt.

»Ihretwegen sind wir heute hier. Um das Wörtchen Ende unter eine lange, schmerzliche Geschichte zu setzen, von der wir nie gedacht hätten, dass wir ihrer in dieser Form gedenken würden, versammelt vor ihrem Sarg.«

Da stand er, umsäumt von Blumen, vor dem Altar. Es war eigentlich kein richtiger Sarg. Er war kleiner als ein Kindersarg, aber größer als eine Urne. Eine Art kleiner, aber überaus eleganter weißer, goldgeränderter Kasten, der, wie mir Emilia später verriet, leer war.

Nicht ganz leer, versteht sich. Aber zumindest waren die darin befindlichen sterblichen Überreste unvollständig. Die Spurensicherung behielt sich vor, den Fall weiter zu untersuchen, um Antworten zu finden – zumindest zur Ursache und zum Zeitpunkt des Todes.

Des Todes.

Während wir anderen unser Leben weitergelebt hatten, war für Claudia die Zeit stehen geblieben, auch wenn sich das erst mit dem Fund ihrer Gebeine herausgestellt hatte.

Menschen verschwinden, und die, die zurückbleiben, stellen allerlei Hypothesen an, aber solange es keine Spur von dem Vermissten gibt – keine Leiche, keinen Knochenhaufen, wie im Fall von Claudia –, lässt man den letzten Gedanken nicht zu, sodass er einen selbst nach Jahren, nach all den vielen Jahren, so unerwartet trifft wie ein Schuss aus dem Hinterhalt.

»Liebe Brüder und Schwestern aus Borgo Cardo und den benachbarten Gemeinden, wir haben uns heute hier eingefunden, um unter dem gütigen Blick unseres Herrn Claudia Terrisi das letzte Geleit zu geben …«

Das Schluchzen der Mutter, Silvana, begleitete diese herzzerreißende Einführung. Sie war allein, was hieß, dass Giovanni, Claudias Vater, verstorben war, wer weiß, wie lange schon.

»Unsere kleine Schwester, die seit Langem verschwunden war und nun zurückgekehrt ist in das Haus des Herrn, erhält heute den Segen der Beisetzung und den Trost eines Gebets …«

Ich ging raus, um frische Luft zu schnappen, und lehnte mich an das alte Holzportal der Kirche, wie früher, wenn die Nonna sonntags mit mir zum Gottesdienst ging und ich mich unter einem Vorwand nach draußen zum Spielen schlich. Wie klein mir der Platz nun vorkam. Die Berge hingegen waren noch immer dieselben riesenhaften grünen Giganten mit wankenden Baumkronen, die stets zu warten schienen.

Ich schloss die Augen und verfluchte mich dafür, dass ich nachgegeben hatte und hierhergekommen war.

Juli 1997 

Wir haben seit ein paar Wochen Schulferien. Meine Schuhe versinken im frischen, stets feuchten Gras der Bergwiesen. Neben mir versucht Emilia in Jeans-Latzhose, die Haare zu zwei seitlichen Zöpfen gebunden, auf die unteren Äste einer vom Sturm halb umgeworfenen Eiche zu klettern.

»Wenn ich groß bin, werde ich Mathelehrerin!«, ruft sie und reißt den Arm in der klaren Bergluft hoch.

Um den Stamm herum ist der Waldboden weggerutscht, und der Baum hat ebenfalls nachgegeben und sich so weit geneigt, dass die langen Zweige das Gras berühren.

Marco steht bereits mit aufgescheuerten, schmutzigen Knien auf einem dicken Ast und fuchtelt mit einem Stock herum wie mit einem Schwert: Seine Lockenmähne wippt in den Sonnenstrahlen, die, je nachdem, wie der Wind die Baumwipfel wiegt, bis zu uns herunter dringen und uns sowie die Wurzeln, die Alpenveilchen und die gerade aufblühenden Levkojen zum Leuchten bringen.

»Wenn ich groß bin, werde ich Anwalt, wie Papa«, antworte ich. »Und du, Marco? Was wirst du später?«

»Polizist!«, ruft er von oben, dann wedelt er mit der freien Hand zum Weg hinüber. »Hey, Cla! Wir sind hier!«

Ich drehe mich um und sehe, wie Claudia aufgrund ihres verkürzten Beins langsam auf uns zukommt. Sie strahlt.

»Ich muss euch was erzählen!«, ruft sie von Weitem. Sie sieht aus wie das Glück höchstpersönlich.

»Möchtest du was trinken? Sara? Geht’s dir gut?« Emilias kratzige Raucherstimme holte mich in die Gegenwart zurück. Mit dem Rücken lehnte ich am Holzportal, das von den Bergen eingerahmt war, die wie Riesen alles zu überwachen schienen.

Ihr wisst alles, verflucht, dachte ich. Ihr wisst alles, zieht es aber vor zu schweigen, weil es euch Spaß macht zuzusehen, wie wir durchdrehen. Aber wenn es euch gerade passt, zeigt ihr uns plötzlich, dass man sich besser nicht mit euch anlegt und ihr keineswegs schlaft. Bringt einfach Gebeine ans Tageslicht, um ein wenig Abwechslung in eure immer gleichen Tage zu bringen und uns zuzusehen, wie wir uns ängstigen, weinen, davonlaufen.

»Nein, nein, alles in Ordnung. Da drin war einfach keine Luft, da wollte ich lieber rausgehen.«

Da bemerkte ich, dass auch Giacomo die Kirche verlassen und sich zum Zeichnen auf die Stufen aus mattrotem Porphyr gesetzt hatte.

»Wer hat sie eigentlich am Fluss gefunden?«

»Die Firma, die die Brücke erneuert. Ein Bauarbeiter hat in der vom Baggern aufgewühlten Erde etwas entdeckt …«

»Und was?«

»Einen kleinen Totenschädel.« Emilia spannte den Kiefer an und starrte aufs Pflaster. Ich seufzte tief.

»Aber hat sie die ganze Zeit da gelegen? All die Jahre?«

Emilia schüttelte ratlos den Kopf. Ich sah sie an. Irgendetwas schien wie ein Schatten auf sie gefallen zu sein, nicht nur Traurigkeit. Frustration vielleicht, oder etwas, das ich nicht benennen konnte.

»Laut ersten Untersuchungen entsprechen die Gebeine einem Mädchen von circa zehn Jahren«, erklärte sie mir und zündete sich eine Zigarette an. »In all den Jahren sind viele Leute aus dem Dorf weggegangen, Sara. Auch andere Mädchen. Aber die Messungen haben jeden Zweifel beseitigt: Das linke Schienbein war kürzer …«

Mir gefror das Blut.

»Was meinst du damit, auch andere Mädchen sind weggegangen? Claudia ist nicht weggegangen, sie ist spurlos verschwunden, wurde vermutlich entführt. Insofern kann gar kein Irrtum vorliegen.« Was erzählte ich da eigentlich?

»Das nicht, aber sie müssen das nun mal untersuchen.«

»Und Giovanni? Ist er verstorben?«

»Giovanni wohnt schon seit mindestens zehn Jahren nicht mehr hier. Er ist weggezogen. Laut Silvana hat er die erdrückende Atmosphäre hier in den Bergen nicht mehr ausgehalten. Er hat es nicht mehr ausgehalten, immer insgeheim darauf zu warten, dass eines schönen Tages seine Tochter wiederkehrt, und offenbar lief es auch zwischen den beiden nicht mehr gut. Falls es je gut gelaufen ist.«

»Der Ärmste …«

»Und schließlich hat er sich vor fünf Jahren in seiner Wohnung in Parma erhängt. Die Nachbarn haben einen Gestank wahrgenommen und die Polizei gerufen.« Sie machte eine Pause. »Als wir die Tür aufgebrochen haben, kam uns ein dermaßen bestialischer Gestank entgegen, Sara …«

»Wir?«

»Ich habe ihn gefunden, ja. Die ersten Jahre habe ich in Parma verbracht: eine kleine, lebenswerte Stadt, außerdem musste ich keine Miete zahlen, weil ich bei meinen Eltern wohnen konnte. Ich war gerade in der Nähe auf Streife unterwegs, als der Anruf reinkam. Zuerst habe ich ihn gar nicht erkannt. Es ist mir erst klar geworden, als ich seine Ausweispapiere gesehen habe und Silvana anrufen musste. Den Rest kannst du dir ja denken.«

»Was für eine Tragödie, Emi.«

Eine Familie für immer zerstört.

»Und du? Wie lange bleibst du? Und wie geht es deiner Nonna? Ich habe sie in der Kirche gar nicht gesehen, aber ich bin heute auch ein wenig neben der Spur, sorry«, wechselte ich schnell das Thema.

Jedes andere Gesprächsthema war mir lieber als das eben. Die Vorstellung von Claudias Totenschädel würde mich für immer verfolgen.

»Meine Nonna ist vor einem halben Jahr gestorben. Eines Morgens ist sie einfach nicht mehr aufgewacht. Sie sagen, sie habe nicht gelitten. ›Sanft entschlafen‹, nennen sie das. Als ich nach Parma eine neue Dienststelle wählen durfte, habe ich mich hier rauf versetzen lassen, in die Dienststelle von Querceto. Inzwischen lebe und arbeite ich schon vier Jahre hier. Ich habe bis zum Schluss bei der Nonna gewohnt. An dem betreffenden Morgen hatte ich frei. Ich habe sie noch gerufen, aber …«

Vom Regen in die Traufe. Mit jeder Faser meines Körpers fragte ich mich, wieso ich die Einladung von Silvana zu Claudias Beisetzung angenommen hatte. Im Grunde war so viel Zeit vergangen, dass niemand meine Abwesenheit bemerkt hätte.

»Na ja, jedenfalls bin ich in ihrem Haus geblieben und wohne auch erst einmal die nächsten acht Monate dort, und dann schauen wir mal, vielleicht suche ich mir eine Wohnung im Tal.«

»Wieso acht Monate? Bist du schwanger?«

»Klar, schwanger, ich.«

»Bist du nun schwanger oder nicht?« Ich wusste nicht, ob es ironisch oder ernst gemeint war.

»Man hat mich vom Dienst suspendiert.«

»Ach, Mist, Emi.«

»Und du so? Dada schwärmt immer von dir, wenn sie aus Bologna zurückkommt. Du bist inzwischen ein hohes Tier im Sant’Orsola, was?«

»Ich habe eine ganz schöne Karriere hingelegt und bin zufrieden mit meinen Ergebnissen, ja. Meine Arbeit bedeutet mir alles. Und … was deine Nonna betrifft, das tut mir leid. Wenn man längere Zeit nicht mehr an einem Ort gelebt hat, tritt man ständig in Fettnäpfchen … Aber Marco hat sich gemacht. Was für ein gut aussehender Mann er geworden ist!«

Ich wollte meiner Freundin nicht noch mehr zusetzen und sie fragen, was der Grund für ihre Suspendierung war.

»Marco lächelt immerzu, der Glückliche«, erwiderte sie, diesmal war ihr sarkastischer Unterton unverkennbar. »Und, wie ist Bologna so? Eigentlich könnte ich mich auch ein paar Jahre lang dorthin versetzen lassen.«

»Laut. Als Studentin hat es mir besser gefallen. Inzwischen meide ich Orte wie die Via Zamboni, ich hab genug von betrunkenen jungen Leuten, die Krawall machen. Aber es ist eine Stadt, die für jeden was bietet. Abends gehe ich oft spazieren, da ist so ein schönes Licht. Ich wohne in der Nähe der Piazza Santo Stefano, dort ist die Altstadt zu jeder Jahreszeit einfach märchenhaft. Es wird zu jeder Tages- und Nachtzeit gegessen, getrunken, es gibt jede Menge Kultur … mit anderen Worten, ich fühle mich wohl.«

»Der Platz der sieben Kirchen, der ist echt schön.«

»Allerdings.«

»In der Mittelschule haben wir mal einen Ausflug dahin gemacht. Aber du bist nicht verheiratet, stimmt’s, sonst hätte mir die Nonna was gesagt.«

Ich lächelte. »Nein, bin ich nicht, und du?«

»Ich habe lange mit jemandem zusammengelebt. Die letzten beiden Jahre in Parma, genauer gesagt. Jetzt bin ich wieder Single, und mir geht’s gut damit.«

In diesem Moment erhob sich aus den Kehlen der Frauen ein langsames Klagelied, das das Ende der Beerdigung verkündete, und die Leute trotteten aus der Kirche.

Eine halbe Stunde später saß ich in Marcos SUV, da er darauf bestanden hatte, mir die Klinik zu zeigen. Im Auto versuchte ich, mit Giacomo ins Gespräch zu kommen, doch der war schweigsam und misstrauisch geworden.

Die Klinik war zehn Minuten mit dem Auto von Borgo Cardo entfernt und ein paar Minuten mehr von den ringsum verstreuten Dörfern. Es handelte sich um ein stattliches, altes Bauernhaus, wie es typisch war für diese Bergregion, das saniert und umgebaut worden war, mit weitläufigem Garten und einem edlen gusseisernen Zaun.

Auf dem Grundstück, fast direkt am Zaun, befand sich außerdem eine kleine, von englischem Rasen umgebene Villa, gleich daneben ein Häuschen aus dunklem Holz.

»NOVI SALUS«, las ich auf dem Messingschild, das das Tor schmückte und Marcos Nachnamen eine besonders gravitätische Bedeutung verlieh. »Arbeiten und leben in einem, was? Wunderschön!«

Ich war froh, dass Marco mich vom Dorfplatz und vor den Blicken der Leute gerettet hatte. Vor den Pfeilen, die sich unter die Haut bohrten. Vor der krankhaften Neugier der Bergbewohner, die von den über Jahrhunderte hinweg entstandenen Legenden und Horrorgeschichten zehrten, mit denen sie sich in den langen Wintermonaten vor dem Feuer die Zeit vertrieben. Selbst im Jahr 2019 zogen sie dies moderneren Unterhaltungsformen wie etwa dem Fernsehen vor.

Das, was Claudia geschehen war, war jedoch eine reale Horrorgeschichte.

Und sie hatte sich im Sommer ereignet.

»Voilà, mein kleines Reich.« Marco breitete die Arme aus. »Es hat mich zwar ein Vermögen gekostet und jahrelange Plackerei, aber da ist es. Komm, ich zeig dir, wie es drinnen aussieht.«

Marco war von uns dreien immer der Unbegabteste gewesen. Die Intelligenteste war zu Kinderzeiten Emilia, dann kam ich und zuletzt Marco.

Einen Augenblick lang tanzten vor meinem inneren Auge die Bilder jenes längst vergangenen Sommertags, unsere glücklichen Gesichter, die unendliche Leichtigkeit der Kindheit.

Ich schüttelte mich gedanklich, damit ich nicht wieder wie vor der Kirche in Tagträume abglitt, und folgte meinem Freund über den Schotterweg zum Eingang von Novi Salus.

Im Foyer trafen wir auf zwei Männer, die Leitern und Werkzeug trugen. Einer der beiden, groß und stämmig und um die fünfzig, blieb stehen und grüßte Marco. Der andere, ziemlich dick und griesgrämig dreinblickend, ging durch die sauberen, gepflegten Flure weiter.

»Guerrino bringt das Stromsystem auf Vordermann«, erklärte er im starken Dialekt der Bergregion; sein Gesicht kam mir bekannt vor. »Ich kümmere mich um alles, Dottore.«

»Danke, Carlo. Das ist Sara. Erinnerst du dich?«

Daher kannte ich ihn. Der einsame Holzfäller Carlo. Der verrückte Carlo, wie wir ihn als Kinder nannten. Der verschrobene Carlo. Der bekloppte Carlo, weil er immer allein unterwegs war, mit sich selbst sprach, manchmal sogar gestikulierte.

Mir war lieber, er erinnerte sich nicht an mich. Was auch so war.

»Angenehm, Signorina.« Seine Hand war hart und rau und warm wie sein Lächeln. »Es tut mir leid, aber ich erinnere mich überhaupt nicht an Sie!«

Ich wollte gerade etwas entgegnen, als Giacomo ihm buchstäblich um den Hals fiel und lachte, als der Mann ihn sich wie einen Sack über die Schulter warf und mit ihm in den Hof stapfte.

»Giacomo liebt ihn abgöttisch, und auch ich fühle mich wie neugeboren, seit Carlo hier arbeitet. Er denkt an alles und kümmert sich um meinen Sohn, wenn ich mal den ganzen Tag lang außer Haus bin. Er wohnt in dem kleinen Häuschen nebenan. Dieser Mann ist Gold wert.«

Und wo war seine Frau? Offenbar gehörten sie zu den jungen Paaren, die sich schon bald nach der Geburt ihres Kindes getrennt hatten. Und wie es schien, war ihm das Sorgerecht übertragen worden.

Soll ich fragen oder nicht? Lieber nicht.

Ich fragte mich auch, ob er sich noch an Carlo, den Verrückten, erinnerte und daran, wie er sich, als er jünger war, über ihn lustig gemacht hatte, sagte aber nichts.

Wer an einem Ort jahrein, jahraus lebt, vergisst vielleicht bestimmte Details, die derjenige im Kopf behält, der weggeht und all diese erstarrten Erinnerungen mit sich herumschleppt wie in Bernstein eingeschlossene Insekten.

»Also, Sara, falls du dich irgendwann entschließen solltest zurückzukehren, hast du einen Platz hier im Novi Salus sicher. Immerhin bist du Chirurgin, oder?«

Marco lächelte zwar viel, doch es war ihm völlig ernst damit, wie ich an seinen Augen ablesen konnte.

Ich erklärte ihm, was ich beruflich machte. Seine Antwort jagte mir einen Schauer über den Rücken.

»Du treibst also das Böse aus.«

Ein Satz, dem ich nicht allzu viel Gewicht beimessen wollte, weil er ihn lachend sagte, der mich jedoch am Rande die ganze Zeit über verfolgte wie ein Schatten. Wie jemand, der in einigem Abstand hinter einem läuft, dabei nie schneller wird, aber auch nie zurückfällt.

»Eher unwahrscheinlich, dass ich nach dem heutigen Tag zurückkehre«, erwiderte ich auf sein Angebot. »Im Gegenteil, ich habe Nonna Dada schon vor einiger Zeit gebeten, zu mir nach Bologna zu ziehen. Sie wird allmählich älter, und ich würde sie gern in meiner Nähe wissen.«

»Sie wird das Dorf niemals verlassen, das weißt du.«

»Wir werden sehen. Sie mag Bologna, und ich wohne im Erdgeschoss. Das heißt, keine Treppen, und einen kleinen Garten gibt es auch …«

»Keine Berge.«

»Ach, die Berge, die hat sie ein ganzes Leben lang vor der Nase gehabt, irgendwann reicht es auch mal.«

»Ich versteh dich ja, Sara, aber du kannst nicht andere in etwas hineinziehen, was deine Entscheidung gewesen ist. Ich habe es dir nie verübelt, dass du weggegangen bist und den Kontakt zu uns abgebrochen hast und …«

Was sagte er da?

»Und was? Habe ich euch etwa dafür verurteilt, dass ihr geblieben seid? Was soll das denn bitte heißen?«

»Nein, aber … Egal, lassen wir das. Ich glaube, das ist heute nicht der richtige Tag, um alte Geschichten aufzuwärmen.«

Wieso nicht? Komm, lass uns alte Geschichten aufwärmen und uns gegenseitig wehtun.

»Als Silvana mich angerufen hat, ist mir das Blut in den Adern gefroren, Marco.«

»Ja, das war schrecklich, aber wenigstens ist es jetzt vorbei, und Claudia kann in Frieden ruhen.«

»Wie bitte? Bist du plötzlich katholisch? In Frieden ruhen? Soweit ich von Emilia weiß, wurde Claudia an jenem Tag ermordet oder zumindest kurz nachdem man sie entführt hat. Ermordet und hübsch am Fluss verscharrt, und du erzählst mir was von letzter Ruhestätte? Wer weiß, was sie alles erleiden musste, während wir, ich …«

Die Nervosität und die Wut, die sich am Vormittag und bei der Beerdigung angestaut hatten, brachen sich unaufhaltsam Bahn.

»Das bringt doch nichts, Sara.«

»Was werden sie jetzt tun? Den Fall neu aufrollen? Das will ich doch zumindest hoffen. Wird man Ermittlungen anstellen? Werden sie einen Schuldigen suchen?«

Er schüttelte den Kopf und breitete die Arme für Giacomo aus, der ins Gebäude zurückgekehrt war, in der Hand einen fast zerdrückten Schokoriegel.

»Ich weiß es nicht, und es interessiert mich ehrlich gesagt nicht. Ich habe meine eigenen Probleme, eigenen Kram zu erledigen. Genau wie du bekämpfe auch ich das Böse, indem ich Menschen behandle. Mehr können wir im Augenblick nicht tun, meinst du nicht auch?«

Ich folgte ihm über einen der gefliesten Flure der Klinik. Hatte er nicht recht? Wieso regte ich mich dann so auf?

Abgesehen davon, war es wirklich eine angenehme Überraschung, Marco wiederzusehen. Aus dem kleinen, etwas beschränkten Bengel aus den Bergen hatte er sich in einen strahlenden, tatkräftigen Mann verwandelt.

Automatisch verglich ich ihn mit Emilia, die die umgekehrte Entwicklung durchgemacht hatte und als einst vielversprechendes Mädchen mit nunmehr dreiunddreißig fast bei ihrer Arbeit rausgeflogen war und mit den Alten in der Sportbar Schnäpse trank.

Ich bewunderte Marco nicht nur dafür, dass er ein aufmerksamer Vater war, sondern auch dafür, dass es ihm gelungen war, diesen idyllischen Ort aufzuwerten, indem er bislang nicht vorhandene medizinische Dienstleistungen anbot – für Besuche bei Fachärzten fuhr man normalerweise nach Parma, nach Modena und noch weiter –, dafür, dass er dieser gottverlassenen Gegend im Apennin neues Leben eingehaucht hatte, wo in einigen Dörfern nach der Abwanderungswelle in den Achtzigern und Neunzigern nur mehr dreißig, vierzig Seelen lebten, wenn überhaupt.

Auf einmal klingelte sein Telefon, und er verzog sich ans Fenster, um ranzugehen, wobei er mir bedeutete, schon vorauszugehen, er würde nachkommen. In diesem Moment ergriff Giacomo meine Hand.

»Ich begleite dich«, sagte er, woraufhin wir scheinbar ziellos eine Tour durchs ganze Haus machten, treppauf, treppab und durch Wartezimmer, mit kurzer Rast auf sämtlichen Terrassen der Klinik.

Giacomo war völlig anders als sein Vater. Er lächelte nie und ähnelte ihm auch äußerlich nicht. Er war von schmächtiger Statur und wirkte melancholisch, bisweilen gar sprunghaft und instinktgetrieben wie ein wildes Tier.

»Du fühlst dich wohl hier, oder, Giacomo? Wie ich sehe, kennst du jeden Winkel dieses Hauses.«

»Ich spiele immer hier«, antwortete er. »Komm mit, ich stell dir Rebecca vor. Sie hatte eine Lungenentzündung, aber jetzt geht’s ihr wieder gut.«

Auf der kleinen Station lag ein Mädchen mit zwei langen blonden Zöpfen, das dabei war, ein Buch zu lesen. Mein Blick fiel auf das Cover. Darauf stand Fairy Oak, und es waren Mädchen mit langen Kleidern und Hüten abgebildet, die auf einer Blumenwiese Fangen spielten.

Giacomo ließ meine Hand los und setzte sich auf die Bettkante.

»Hallo, Rebbi.«

»Hallo, Giachi! Ich hab heut Morgen beim Frühstück auf dich gewartet …«

»Ich war bei der Beerdigung von dem toten Mädchen. Das hier ist Sara.«

Lächelnd kam ich näher und reichte ihr die Hand.

»Hallo, Rebecca. Freut mich, dich kennenzulernen.«

»Hallo, Sara. Bist du die Tante von Giachi?«

»Nein!«, rief er verärgert. »Sie ist Ärztin! Sie heilt Kranke, hat Papa gesagt.«

Sie lächelte entzückt. »Ich heile auch Kranke«, sagte sie so leise, dass ich mich verhört zu haben glaubte. Dem wollte ich lieber nicht näher auf den Grund gehen.

Giacomo flitzte aus dem Raum mit der Erklärung, er wolle seinen Zeichenblock holen, den er im Foyer gelassen habe, sodass wir allein zurückblieben, bis auf den Riesenkerl, der am anderen Ende des Raums über eine Reihe von Steckdosen gebeugt stand. Er fluchte leise, während er versuchte, zwei winzige, unterschiedlich farbige Drahtenden mit den dicken Daumen zu verbinden.

Da bemerkte ich, dass er eine Zange und ein Stück Draht auf dem Nachtschränkchen von Rebecca vergessen hatte, und nahm es schnell weg, damit sich niemand daran verletzte. Nur dass ich mich beim Ablegen auf dem Boden selbst daran verletzte. Das gesplittete Drahtende stach mir in die Fingerkuppe des Daumens, der zu bluten anfing.

»Und in welche Klasse gehst du, Rebecca?«, fragte ich und drehte mich zu ihr. »Wie ich sehe, liest du gerne, da haben wir wohl etwas gemeinsam.«

»Ich gehe in die Sechste. Und du liebst Lesen?«

»O ja.«

Der Schnitt im Finger brannte. Ich nahm einen Mullverband, um nicht den Boden vollzutropfen, und wollte gerade das Zimmer verlassen, um Desinfektionsmittel zu suchen, als die Stimme des Mädchens mich innehalten ließ.

»Hast du dich geschnitten?«

»Ach, das ist nichts, ich geh nur ein Pflaster holen und komme gleich wieder, dann können wir weiter …«

»Komm her, bitte.«

Es war keine Frage. Trotz des freundlichen Tons klang es wie ein Befehl.

Ich setzte mich auf den Sessel neben dem Bett und lächelte breit. Sie war wirklich hübsch; ihr Wesen spiegelte sich in ihren Augen, die ungewöhnlich grün waren, wie ein Fluss, der durch einen Wald fließt.

»Es ist wirklich nichts weiter. Ich wollte den Draht beiseitelegen, aber ungeschickt wie ich bin, habe ich mich damit gepikst.« Ich betrachtete die Mullbinde, die sich rot färbte.

»Darf ich mal sehen?«

Etwas in ihrer Stimme, etwas an ihrer zupackenden Art zwang mich dazu, ihr zu gehorchen. Ich tupfte die Wunde gut ab, damit ich sie nicht vollblutete, und nahm dann die Mullbinde ab. Der Schmerz war heftig und pulsierte.

Rebecca lächelte mir beruhigend zu.

Es war seltsam, ja absurd: Ich war die Ärztin, hatte aber das Gefühl, als kümmere sich dieses Mädchen um mich – ein deutliches Gefühl von Macht und von Verbundenheit und noch etwas anderem, das ich nicht erklären konnte und das mich einen Moment lang verstörte.

Ich sollte den Finger desinfizieren und das Mädchen in Ruhe lassen.

Doch ich rührte mich nicht vom Fleck. Sie nahm meine Hand in ihre und betrachtete aufmerksam das kleine Einstichloch, aus dem ein dunkler Blutstropfen quoll. Während sie mit der rechten Hand den Finger festhielt, hob sie die linke, als wollte sie darüberstreichen.

Panisch wollte ich sie zurückhalten.

»Nein, nicht … Rebecca. Tu das nicht.«

Mein Herzschlag pochte mir in den Schläfen.

Nicht auch das noch. Nicht heute.

»Doch, ich muss …«, erwiderte sie und drückte meine Hand etwas fester. Es ist schwer zu beschreiben, was ich in diesem Moment in ihrem Blick las, was so bemerkenswert an ihrem ernsten, erwachsenen Verhalten war, und das im Alter von gerade einmal wie viel – zehn, elf Jahren? Schwer zu beschreiben, aber erschreckend in seiner Einfachheit.

Und mit einem Mal wurde mir klar, dass sich in dieser Gegend nichts geändert hatte.

Es war mein Fehler gewesen: Ich hätte nicht kommen dürfen. Ich hätte mir eine Ausrede einfallen lassen und Silvana einen Strauß weißer Rosen schicken sollen.

Mehr nicht.

»Das Blut glaubt manchmal, es kann tun, was es will.« Rebecca sah mir einen Moment in die Augen, ehe sie sich wieder der Wunde zuwandte.

»Ja, aber wir sind in einem Krankenhaus, und es gibt einfachere Methoden, um eine kleine Wunde zu versorgen. Lass es einfach, tu es nicht.«

Tu es nicht, ich flehe dich an.

»Ach bitte.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Inzwischen lassen sich nur noch wenige Leute heilen, und die wenigen, die daran glauben, gehen bestimmt nicht zu einem kleinen Mädchen wie mir … dabei ist die Regel eindeutig: Wer die Gabe erhalten hat, muss sie auch nutzen – aber wie soll ich das, wenn niemand mich lässt? Wie soll ich eine gute Heilerin werden, wenn niemand mir vertraut?«

Man muss sie auch nutzen.

Seufzend ließ ich sie gewähren und hoffte, dass niemand in diesem Moment hereinplatzen würde und Guerrino, der Elektriker, uns nicht gehört hatte.

»In Ordnung.«

Zufrieden flüsterte sie etwas, ein, zwei, drei, vielleicht neun Mal. Immer in Dreierzyklen, wie mir schien. Und derweil gestikulierte sie mit den Fingern in der Luft: etwas wie Kreuze und dann ein markanteres Zeichen, als würde sie ein Insekt vertreiben, das in meinem Finger schwirrte. Dabei gab es in mir nur meinen verknoteten Magen und das Bedürfnis, aufzuspringen und ohne anzuhalten zu Fuß bis nach Bologna zu rennen.

Das Ganze wiederholte sie drei Mal, bekreuzigte sich und ließ schließlich meine Hand los.

»Geschafft. Jetzt kannst du …«

»Rebecca, hör zu. Ich habe nichts, das ich dir dafür geben kann. Du …«

In diesem Moment polterten Giacomo und Marco herein, und ich verstummte. Zusammen mit Marco trat ein freundlich lächelnder, tadellos gekleideter Herr ein, und Rebecca lachte erfreut. Ich stand auf, während Guerrino zwischen zusammengepressten Lippen Schimpfworte hervorstieß.

Alle ignorierten ihn, sodass ich es ihnen nachtat.

»Sara, das ist Rodolfo Bramanti, Bürgermeister der hiesigen Dörfer, und das ist Rebecca, seine Tochter, die heute entlassen wird, weil sie vollständig genesen ist. Rodolfo, das ist Sara Romani, die Enkelin von Benedetta, der Schneiderin von Borgo Cardo.«

»Ah, natürlich. Sara.« Rodolfo schüttelte mir die Hand und lächelte, er war ein jovialer Typ. »Es freut mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Es tut mir nur um den unglücklichen Umstand leid, der Sie herführt. Ich weiß, dass Sie mit Claudia befreundet waren, als sie …«

Ich erinnerte mich an einen Bürgermeister Bramanti, aber der war deutlich älter gewesen. Vielleicht waren sie verwandt.

»Mich freut es auch«, erwiderte ich lächelnd, ohne auf seine letzten Worte einzugehen, und drehte mich dann um. »Und Glückwunsch, Rebecca, zu deiner Entlassung!«

Ich hätte mich gerne noch mit ihr unterhalten, wenngleich ich nicht wusste, worüber. Einerseits war ich dankbar, andererseits sträubte sich etwas in mir.

Was soll ich sagen? Sie hatte mich geheilt.

Nein. Sie hatte mich nicht geheilt, sondern einen abergläubischen Brauch ausgeübt.

»Ich warte unten auf dich, Marco; ich fahre bald nach Bologna zurück. Es wäre nett, wenn du mich ins Dorf mitnehmen könntest, wo mein Auto steht.«

Er nickte.

»Kommst du mich bald wieder besuchen?« Rebeccas Stimmchen ließ mich innehalten. Sie hatte mich geheilt, und einer Heilerin gibt man immer etwas zurück, das weiß jeder: Aber ich hatte nichts dabei, was ich ihr schenken konnte, und es wäre mir unpassend vorgekommen, Geld herauszuholen, umso mehr vor ihrem Vater und einem Arztkollegen.

Aber man gibt immer etwas im Gegenzug.

Und sie hatte mich soeben darum gebeten wiederzukommen. Das war ihr Lohn. Mich wiederzusehen.

Ein anderes ungeschriebenes Gesetz lautet, dass man Kinder nicht anlügt. Und erst recht nicht jemanden, der einen geheilt hat.

Erstens: Sie hat mich nicht geheilt. Zweitens: Ich darf nicht lügen, denn wenn ich dann nicht auftauche, behält sie mich in schlechter Erinnerung.

Na, und wenn schon? Seit wann mache ich mir einen Kopf, ob mich jemand in schlechter Erinnerung behält?

Und ob es wichtig ist. Ich muss ihr die Wahrheit sagen, nämlich dass ich nie, nie mehr wiederkehren werde.

»Klar komme ich dich besuchen, Süße, und danke für … alles.«

Dieses Danke. Am Ende konnte ich nicht widerstehen und habe mich bei ihr bedankt. Zwei Lügen in einem einzigen Satz, ich machte wirklich Fortschritte.

Kopfschüttelnd verließ ich die kleine Station, Giacomo im Schlepptau.

Unten stand Carlo, der hinter dem Tresen die Krankenhausakten in einem dunklen Holzschrank sortierte und mir, sobald er mich sah, einen Kaffee anbot. Ich folgte ihm in einen der verlassenen Büroräume – waren bereits alle in der Mittagspause? – und nahm einen koffeinfreien Espresso.

»Sie haben also als Kind hier gelebt?«

»Nein, ich … habe mit meinen Eltern in Reggio Emilia gelebt, aber sie haben sich früh getrennt und mich jeden Sommer und zu Weihnachten und Ostern von Bologna hierher zu meiner Nonna Benedetta geschickt, der Mutter meines Vaters, der vor drei Jahren gestorben ist. Meine Mutter wohnt in Mailand, aber wir hören uns selten. Nonna Benedetta war schon immer meine einzige Familie.«

Warum erzählte ich ihm meine halbe Lebensgeschichte?

»Ein schöner Ort«, pflichtete er mit einem Anflug von Bedauern bei, das aus seiner Stimme sprach oder womöglich aus seinem Blick, der nach draußen, zu den Bergen ging, »aber nicht für jeden geeignet.«

Ich wollte nachfragen, was er damit meinte. Wollte er damit sagen, dass ich nicht für das Leben im Dorf gemacht war? Dass die Berge mir Angst einjagten?

Ich schwieg und kaute auf meiner Lippe herum. Was sagte die Yogalehrerin immer?

»Nimm nie etwas persönlich. Wir können nicht wissen, was jemanden dazu bringt, etwas Bestimmtes zu sagen, aber egal, was derjenige sagt, es hat nichts mit uns zu tun.«

»Ja, kann ich mir gut vorstellen«, entgegnete ich. Mir fehlten die Stunden mit Benedetta, diese friedvollen Momente.

In diesem Augenblick kam Giacomo herein und reichte mir einen verschlossenen Umschlag, der mindestens dreimal mit Schlumpf-Klebestreifen umwickelt war.

»Ich hab was für dich gemalt«, sagte er ernst. »Aber erst heute Abend aufmachen.«

»Hm? Okay, aber möchtest du nicht, dass ich es mir jetzt gleich anschaue?«

»Nein.«

Marco begleitete mich zum Auto und wollte Telefonnummern austauschen.

»Wenn du mal in Bologna bist, sag Bescheid, dann gehen wir einen Kaffee trinken.« Eine dieser Floskeln, die man so dahinsagt und bereits weiß, dass es nie eintritt. Der erste Preis für Falschheit 2019 ging eindeutig an mich.

Herzlichen Glückwunsch, Sara.

»Komm uns bald mal wieder besuchen, Sara«, sagte er pragmatisch. »Dann haben wir hoffentlich mehr Gelegenheit zu plaudern, über deinen Beruf, dein Leben, was du all die Jahre gemacht hast …«

»Ja, das wäre schön.« Eine weitere Phrase. Aber was hätte ich auch sagen sollen? Er hatte den Fund von Claudias Skelett fortgewischt mit einem »Ah, zum Glück ist ja jetzt alles geklärt« und den verschrobenen Carlo eingestellt, der »Gold wert« war – was sollte einem dazu noch einfallen?

Ich war gerade mal einen halben Tag in Borgo Cardo und hatte jetzt schon die Nase voll.

In der Bar traf ich Emilia und drückte sie innig.

»Und, wie lief es mit Marco?«

»Gut. Ich habe eine kleine Heilerin kennengelernt, Rebecca«, sagte ich und sah ihr dabei in die Augen. »Es hat sich wirklich nichts geändert hier oben. Ich hatte mich am Finger geschnitten, und sie wollte ihn unbedingt heilen … ich weiß auch nicht. Sie hat mich irgendwie beeindruckt.«

»Die Tochter des Bürgermeisters. Ein nettes Mädchen, trotz ihres Vaters.«

»Und bildhübsch, aber was mich so beeindruckt hat, war ihr Verantwortungsbewusstsein. Du hättest sie mal sehen sollen, wie sehr sie sich angestrengt hat, als sie …«

»Meine Nonna hat ihr die Worte beigebracht, kurz bevor sie starb«, flüsterte sie, »vielleicht hat sie was geahnt. Bei mir war das schon immer vergebene Liebesmüh.«

Obwohl mir das Herz schwer war, musste ich lachen.

»Du hast nie daran geglaubt, vielleicht hat Carolina darunter gelitten«, sagte ich.

»Und das werde ich auch nie. Aber die Nonna hatte sich damit abgefunden, glaub mir. Ach, bleib doch noch ein paar Tage, dann quatschen wir, aber nicht über Heilerinnen.«

Ich lachte. »Nein, Emi, wirklich. Ich esse noch was mit der Nonna, und dann fahre ich. Ich fühle mich hier nicht wohl.«

»Ist mir gar nicht aufgefallen.« Dieses schiefe, ernüchterte Lächeln kannte ich gar nicht von ihr. Als Kind war sie ganz anders gewesen. Das Leben musste ihr übel mitgespielt haben.

Anschließend aß ich bei der Nonna zu Mittag, die mich mit allen Mitteln zu überzeugen suchte, übers Wochenende zu bleiben.

Das Haus sah noch so aus wie bei meinem letzten Besuch. Das kleine, immer offen stehende Fenster über dem Waschbecken, die Töpfe mit Basilikum, Rosmarin und Salbei, die zusammen mit Rosen und Geranien fein säuberlich auf dem Balkon mit der gusseisernen Brüstung aufgereiht waren, die baumwollenen Geschirrtücher an den Haken neben der alten Anrichte aus Nussbaumholz, in der Teller, Gläser, Tassen und allerlei Nippes aufbewahrt wurden und hinter deren Scheibe ein Foto von mir klemmte. Es war ein altes Bild. Darauf flog ich lachend auf einer Schaukel in die Höhe, ich musste etwa sieben Jahre alt gewesen sein.

Wie immer roch es nach Gekochtem: nach Soße, nach Kaffee, nach Leckereien.

Auf dem Tisch an der Wand stand wie üblich ein Korb mit immer frischem, makellosem Obst.

Unveränderlich.

Wie macht sie das nur?

Bei mir zu Hause fing das Obst drei Stunden nach dem Einkauf an zu faulen, und mein Kühlschrank war immer leer.

Ich betrachtete die Nonna von hinten, wie sie am Herd stand. Ihre vertraute Gestalt versetzte mich in eine Zeit zurück, in der ich es kaum abwarten konnte, die Ferien oder das Wochenende bei ihr in Borgo Cardo zu verbringen und frei wie der Wind durch die Wälder und über die Bergwiesen zu streifen, mit einem Panino als Proviant in der Tasche und dem Duft von Kaminfeuer in den Haaren.

Mehr als zehn glückliche Jahre hatte ich in diesem Haus verbracht: Hier hatte ich den Schmerz über die Trennung meiner Eltern überwunden und viele andere Dinge.

Mit dem Verschwinden von Claudia war dann alles auseinandergebrochen. Und von dieser heilen Welt war nur ein Trugbild geblieben: Nichts ist unveränderlich. Alles wandelt sich, ist in Bewegung, zerfällt. Manchmal ist es ein langsamer, innerer Prozess, wie bei einer Krankheit.

Und von außen sieht man nichts, bis es zu spät ist.

Der Lorbeerkranz von meiner Uniabschlussfeier hing über der Tür wie eine Trophäe. Mir war gar nicht bewusst, dass sie den damals in Bologna mitgenommen hatte.

»Du hast mir gar nicht erzählt, dass Emilias Nonna vor einem halben Jahr gestorben ist … dann hätte ich ihr zumindest mein Beileid aussprechen können.«

»Versuch es gar nicht erst, natürlich habe ich es dir erzählt, aber du hörst ja nie zu.«

Gut möglich. Ich stritt es nicht ab.

»Nonna, was ist eigentlich mit Emilia los? Sie sieht aus wie ein alter, abgehalfterter Holzfäller.«

»Abge … was? Ich dulde keine Schimpfwörter.«

»Du weißt, was ich sagen will. Stell dich nicht dumm.«

»Na ja … Es hieß, sie würde trinken.« Die Nonna trocknete die Hände an ihrer geblümten Schürze und schob die Brille auf ihrer kleinen Nase nach oben, auf deren heller Haut sich feine blaue Äderchen abzeichneten.

»Und irgendwelches Zeug nehmen … weiß nicht. Sie ist für ein Jahr suspendiert und muss beweisen, dass sie nichts mehr nimmt, und dann darf sie vielleicht wieder in den Dienst. Das arme Mädel, gibt sich nach außen hin eisern, aber in Wirklichkeit ist sie zerbrechlich wie Porzellan.«

»Zeug nehmen? Was für Zeug?«

»Dein Zimmer wartet oben auf dich, warum legst du dich nicht kurz hin, und ich knete derweil den Teig für den Apfelkuchen?«

»Nonna, nein. Ich muss morgen arbeiten, außerdem weißt du, dass mich nichts mehr hier hält.« Ich schüttelte den Kopf. »Bis auf dich und diese Küche, aber der Rest …«

»Na schön, Liebes, hab schon verstanden, es wäre eben schön gewesen, wenn du noch ein wenig bleibst, es tut mir gut, dich bei mir zu haben. Dann sehen wir uns eben in zwei Wochen in Bologna, falls ich es schaffe.«

»Denk daran, was ich dir angeboten habe. Ich würde mich riesig freuen, wenn du zu mir ziehen würdest.«

»Mal schauen … mal schauen. Ich bin immerhin schon sechsundachtzig, vergiss das nicht.«

Wie könnte ich das vergessen?

Ohne zurückzublicken fuhr ich auf die Bundesstraße. Es dämmerte bereits, und als ich an der schönsten Stelle vorüberfuhr, wo die beiden großen Berge auseinanderklafften und zwischen ihnen ein heller, mit Dörfern gepunkteter Teppich zum Vorschein kam, entdeckte ich an einer Hangseite eine weiße Wunde im grünen Flor, die selbst von Weitem riesig war, sowie von Bauzäunen umhegte Bagger, die wirkten wie Spielzeug.

Es tat mir weh, den Wald so zerrissen zu sehen, meinen Wald.

Es ist nicht mein Wald, war es auch nie. Jetzt bloß nicht sentimental werden.

Ich ließ den verletzten Berg hinter mir, und erst in diesem Moment fiel mir auf, dass meine eigene Wunde gar nicht mehr wehtat und ich sie völlig vergessen hatte.

Ich verlangsamte und betrachtete meinen Finger.

Der Schnitt war abgeschwollen und heilte bereits ab.

29. Juni 2019 

Eigentlich hätte ich um zwei Feierabend haben sollen, aber um sechs war ich immer noch auf der Station. Ich hatte es übernommen, die Angehörigen von Carla Poggiani in den Besprechungsraum zu holen, wo ich sie bat, Platz zu nehmen.

Der Ehemann schluchzte. Die beiden heranwachsenden Kinder standen regungslos da und sahen mich an.

»Sie hatten doch gesagt, die Operation sei gut verlaufen«, ergriff die circa sechzehnjährige Tochter als Erste das Wort.

»Ja. Bei dem Eingriff haben wir alles entfernt, was ging«, erklang meine Stimme unsicher, »aber der Organismus war durch die lange Krankheit und die Behandlungen geschwächt und hat dem Stress einer Operation nicht standgehalten.«

»Wieso habt ihr sie dann überhaupt operiert, wenn ihr wusstet, dass sie es nicht schafft? Ohne die OP hätte sie noch ein paar Tage länger leben können, wer weiß, vielleicht sogar einen Monat!«

Das Mädchen machte einen Schritt nach vorn, die Hände auf dem ovalen Tisch abgestützt, und war kurz davor, in Tränen auszubrechen.

»Luisa, beruhige dich. Die Ärztin trifft keine Schuld, du weißt doch, wie viel sie für Mama getan hat …« Der nur wenige Jahre jüngere Bruder berührte sie am Arm, aber Luisa lenkte nicht ein.

Es wäre ein Leichtes gewesen, ihr zu erklären, dass mir ihre Mutter, die schmerzgeplagt und ungeduldig auf eine Besserung oder den Tod wartete, vor der OP ihr Einverständnis gegeben hatte.

Es wäre ein Leichtes gewesen, ihr zu erklären, dass mein Team und ich tagtäglich, manchmal sogar nachts, solche Szenen erlebten und dass oft unsere geballte Kompetenz und der gesamte Lebensmut der Patienten nicht ausreichten, damit alles gut ging. Es wäre hilfreich gewesen, ihr zu sagen, dass wir an der Seite unserer Patienten kämpften und jedes Mal, wenn wir einen von ihnen verloren, auch ein Teil von uns starb.

»Du hast recht, Luisa«, sagte ich stattdessen und atmete tief ein. »Ohne die OP hätte eure Mutter noch ein wenig länger gelebt: einen Tag, zwei Tage, fünf. Sie hätte euch noch umarmen können und ihr sie. Und dann hätte die Krankheit zugeschlagen und sie dennoch geholt. Niemand hat uns beigebracht, wie man Wunder vollbringt. Wir sind einfach nur studierte Ärzte, wir haben nicht die Fähigkeit vorherzusehen, was passiert, wenn wir so oder so handeln: Alles, was ich dir versichern kann, ist, dass wir unser Menschenmögliches getan haben.«

»Danke, Frau Doktor«, flüsterte der Vater. »Carla hat große Stücke auf Sie gehalten, sie hat immer erzählt, wie hingebungsvoll Sie sich um sie gekümmert haben …«

»Sie hat Ihnen vertraut. Ihr hättet sie retten können und habt es nicht getan. Ich wünsche euch allen den Tod«, unterbrach ihn Luisa und stürmte aus dem Zimmer.

»Bitte entschuldigen Sie meine Tochter«, sagte der Vater und stand mit zittrigen Beinen auf, »sie ist durcheinander.«

Langsam schüttelte ich den Kopf und blieb stehen. Ich wusste genau, was Luisa durchmachte, und das Schlimmste war, dass ich nichts tun konnte.

»Falls … falls Sie psychologische Hilfe benötigen, kommen Sie auf uns zu«, sagte ich behutsam, »wir haben einen eigenen Dienst, der Ihnen gerne zur Seite steht.«

Vater und Sohn gaben mir die Hand, nickten und gingen, völlig unvorbereitet auf den Abgrund, der sich auftun würde, sobald sie wieder zu Hause wären.

Wieder einmal hasste ich dieses Trauerspiel, das immer das gleiche war, nur mit wechselnder Besetzung. Ich konnte mit Niederlagen nicht umgehen. Es war meine Schuld, dass Carla tot war. Sie hatte ihr Leben in meine Hände gelegt, sie hatte mir vertraut.

Giulia kam mit zwei Tassen heißer Schokolade zu mir, obwohl es fast Juli war. Ich sammelte die Unterlagen ein, trank meinen Kakao und bedankte mich bei meiner Freundin.

Sie hat Ihnen vertraut. Ich wünsche euch allen den Tod.

Ich verließ das Gebäude, als ein Gewitter über Bologna hereinbrach, bog in die Via Mazzini ab und dann hinter der Mauer in die Strada Maggiore. Den ganzen Weg zu meiner Wohnung legte ich zu Fuß zurück, ohne den Schirm aufzuspannen.

Die letzten Stunden hatte ich damit zugebracht, zu arbeiten und über meinen Besuch in Borgo Cardo nachzugrübeln. Der Fund von Claudias sterblichen Überresten nach über zwanzig Jahren ging mir nicht aus dem Kopf. Wieso regte ich mich eigentlich so auf? Was hatte ich mir vorgestellt? Dass Claudia mit elf in eine andere Stadt abgehauen war? Dass sie anderswo mit neuen Eltern und neuen Freunden zufrieden vor sich hin lebte und ab und zu an die Welt dachte, die sie zurückgelassen hatte?

Es war klar gewesen, dass sie tot war. All die Jahre war sie tot gewesen, und ich, wie die anderen vermutlich auch, hatte mir etwas vorgemacht, um mit ihrer Abwesenheit leben zu können.