Die Toten von Fischerhude - Mimi Zöhl - E-Book

Die Toten von Fischerhude E-Book

Mimi Zöhl

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Beschreibung

Tod im Künstlerdorf. Nach einem feuchtfröhlichen Abend in einer Künstlerkommune am Tütort wird ein Mann leblos im Straßengraben entdeckt. Die ortsansässige Ärztin wird verdächtigt, Fahrerflucht begangen zu haben. Kommissar Joost Tietjen hat Mühe, der verschworenen Hofgemeinschaft ihre Geheimnisse zu entlocken, aber eines ist klar: Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Es muss jedoch erst ein weiteres Opfer geben, bis die Wahrheit ans Licht kommt – und das Rätsel um das Bild »Mädchen im roten Kleid« gelüftet wird …

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In Hamburg geboren, in Bremen aufgewachsen, zum Medizinstudium in Brüssel, Leiden und Hamburg, lebt die niedergelassene Ärztin seit über zwanzig Jahren im Künstlerdorf Fischerhude. Ihr erster Kriminalroman »Letzte Nacht am Hexenberg« wurde 2014 beim Verlag Atelier im Bauernhaus veröffentlicht.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2022 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Christie Goodwin/Arcangel.com

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept

von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

E-Book-Produktion: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-961-7

Originalausgabe

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Für Jojo

Den Ersten de Dot,den Tweden de Not,den Dreden dat Brot.

Weisheit der Moorbauern im Teufelsmoor

Run silent, run deep.

Motto der U-Boot-Fahrer

Prolog

Rabea kannte den Mann. Er saß oft auf einem Stuhl in den Wiesen, vor sich die Staffelei. Meist sah er sie nicht, wenn sie suchend durch das hohe Gras stapfte. Das war ihr recht. Sie wollte nicht, dass die Dorfbewohner sie bei der Suche nach Kräutern und anderen Zutaten beobachteten. Sie würden ihr weniger vertrauen, wenn sie ihre Geheimnisse kennen würden: die Stellen, wo sie in den Niederungen der Wümme Blutwurz, Schlangenknöterich, Bilsenkraut und Beinbrech sammelte. Die Orte, an denen die magischen Steine lagen und die heilenden Pilze wuchsen. Die Tiere, die sie fangen und töten musste, damit sie ihr das Geheimnis des Lebens verrieten.

Es schien, der Mann versuche, den Grund des Flusses zu erkennen. So reglos, wie er nun auf dem Wasser lag. Die Sonne schien auf das gelbgrüne Gras, das braune Wümmewasser reflektierte die Umrisse der Bäume und den Himmel. Ein Eichelhäher flog vorüber, sonst schien das Leben stillzustehen.

Sie stellte den Korb mit der toten Kröte, den Fischen und Insektenleichen einige Meter entfernt in das Schilf. So hatte sie die Hände frei, um eins der Neunaugen mit dem Messer auszunehmen. In den Innereien der Fische konnte sie viel genauer die Zeichen erkennen als aus dem Flug ihrer Eule. Die halbe Nacht hatte Aletheia sie mit ihren Rufen wach gehalten. Ihr war klar gewesen, dass heute ein Unglück passieren würde.

Als sie den Mann zuletzt schlafend am Fuß des Deichs sah, hatte sie wieder dieses bestimmte Gefühl erfasst. Wie zuletzt bei Pastor Sähmann, kurz bevor er letzten Monat an Magenkrebs gestorben war. Er war bereit für sein Ende gewesen. Seit Jahren hatte er seine Krankheit als Weg zu einem wahrhaftigeren Leben gelebt. Doch der Mann, der jetzt einige Meter entfernt tot in der Wümme schwamm, war nicht bereit gewesen. Voller Wut und Energie hatte er noch mit jemandem gestritten. Keine Spur von Gelassenheit, dem Gespür für die wichtigen Dinge, die Wurzeln des Seins. Sie fühlte eine gewisse Genugtuung, dass sie sein baldiges Ende dennoch erahnt hatte.

Kniend im hohen Ufergras öffnete sie den Fischbauch mit einem kurzen Schnitt. Im Wasser spiegelte sich ihr schmales Gesicht. Sie ähnelte ihrer Mutter: scharfe Nase, grüne, tief liegende Augen, glattes, etwas dünnes Haar, das sie zu einem Zopf geflochten hatte. Schon vor Jahren ergraut. Es war ihr gleich. Die Schönheit eines Menschen war nicht von äußeren Dingen abhängig. Sie liebte ihr Leben im Einklang mit der Natur. Die Menschen im Dorf vertrauten ihrem Urteil. Obwohl Rabea wusste, dass sie einigen von ihnen unheimlich war.

Der Tote hatte Schuld auf sich geladen. Er hatte das Leben von Menschen zerstört, ungeborenen und auch älteren. Nun hatte das Schicksal ihn bestraft. Doch das Böse wirkte weiter. Sie stand auf und warf die Eingeweide in den Fluss. Den Fisch legte sie zu den anderen zurück in den Korb: Sie würden ihr eine gute Mahlzeit sein.

Sie ging zu ihrem Fahrrad, das an einer Eiche lehnte. Den Korb hängte sie an den Lenker. Auf dem Deich war ein schmaler Trampelpfad, den sie mit flatterndem Rock entlangradelte, bis sie ein kleines Wäldchen erreichte. Sie wollte welke Blätter finden. Ein paar Meter weiter, im Garten der Tütort-Bewohner, standen duftende Rosen. Marianne würde von ihr erwarten, dass sie ihr und ihren Freunden ein Zeichen gäbe: die Kerze auf der Schwelle der Haustür als Symbol für ihr Mitgefühl, die Blätter als Zeichen für den Tod. Und die Rose als Zeichen ihrer Verschwiegenheit.

September 1905

Otto hatte natürlich wieder das letzte Wort gehabt. Sie kam einfach nicht gegen ihn an. Sie solle sich mehr um den Haushalt kümmern! Die Wäsche sei nicht richtig sauber, die Fenster fleckig. Als ob das ihre Aufgabe wäre. Das neue Mädchen war aber auch eine echte Transuse. Nichts konnte es, ohne dass man hinter ihm herging. Dafür war ihr die Zeit zu kostbar. Wie sollte sie malen, wenn sie sich um diese lästigen Haushaltsdinge kümmern musste? Sie hatte Größeres im Sinn. Sie durfte nicht ihr Ziel aus den Augen verlieren!

Paula Modersohn ging mit großen Schritten über den Moordamm. Ihre Schuhe waren durchnässt. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, aber die Wolken hingen tief und grau über der Landschaft. Diese düsteren Tage waren die ersten Vorboten eines langen, öden Winters.

Sie dachte an das Bild von Beke, die sie im Armenhaus getroffen hatte. Den ernsten Blick und ihre vom Leben erschöpfte Haltung hatte sie innig und fein in dem Gemälde festgehalten. Die Formen einfach, die Farben kraftvoll. Zufrieden hatte sie die letzten Pinselstriche auf das Bild gesetzt, als Otto ihr Atelier betreten hatte.

Im Graben neben dem Weg sprang ein Frosch in die Höhe und brachte den violetten Blutweiderich am Ufer zum Zittern. Hinter dem Graben lagen Dunkelheit und das schimmernde Grün des Waldes. Sie atmete die feuchte Waldluft ein. Sie liebte diesen würzigen Geruch, den es nur jetzt gab, da die frische Herbstluft sich mit dem sommersatten Boden vermischte.

Sie hatte gleich gewusst, dass er ihr die Stimmung verderben würde. Zunächst stand er nur da. Sein Blick hatte diesen bestimmten Ausdruck, der sie in Rage brachte. Und sie ahnen ließ, dass er sie mit seiner Oberlehrer-Art wieder zurechtweisen würde.

Die Erinnerung ließ ihren Puls ansteigen. Sie ging an einer Weide vorbei. Hinter weißen Birkenstämmen blitzte regennasses Gras mit Sprenkeln von Löwenzahn. Drei Kühe unterbrachen ihr monotones Wiederkäuen und blickten neugierig auf die Spaziergängerin.

Otto hatte zunächst Lob für die Elevin: »Sehr schöne leuchtende Farben, sehr harmonisch.« Mit der rechten Hand hatte er sich über den Bart gestrichen und war näher an die Staffelei getreten. »Aber diese klobigen Hände. Und die viel zu große Nase. So kannst du es nicht machen. Diese Figur ist vollkommen unmalerisch, viel zu hart.« Er drehte sich zu ihr um und blickte streng durch die runden Brillengläser. »Paula, besinne dich doch auf die Technik. Alles, was du gelernt hast, scheinst du zu vergessen.«

Technik, Technik, Technik. Otto wusste genau, dass dies ein Reizwort für sie war. »Ich sehe die Seele dieser Frau. Sie ist rein und eins mit dem Leben in der Natur. Das«, sie spuckte das Wort beinahe vor ihm aus, »ist es, was wichtig ist: die Seele!«

Otto sah wieder auf das Bild der Alten. »Dieses Maskenhafte! Dem Ganzen fehlt jegliche Feinheit.«

Für ihn war Feinheit doch nur die detaillierte Wiedergabe der Natur. Er verstand nicht, worauf es ankam. Seine Bilder waren gefällig und hatten den Ballast von Schadow und Konsorten nicht abgelegt. Dabei war das doch das Aufregende: die Natur und das Wesen zu spüren, sich von der Wirklichkeit zu lösen, zu vereinfachen und damit etwas Großes zu schaffen.

»Ganz recht. Ich male nicht wie deine Düsseldorfer. Ihr habt doch nie den großen Schritt gewagt, euch von den Großvätern zu lösen. Ihr traut euch nichts!«

»Meine Freunde, die nebenbei gesagt auch deine Freunde sind, haben eine vollkommen neue deutsche Malkunst entwickelt. Ich glaube nicht, dass du das Recht hast, dich über Mackensen, Overbeck oder auch Vogeler zu stellen.«

»Bei euch muss alles schön, harmonisch und bedeutend sein. Meint ihr, dass so eine ›neue Kunst‹ aussieht? Ihr habt alle keinen Mut. Niemand, der den Esprit eines Cézanne, Derain oder Matisse hat!«

»Die Expressionisten sind auch uns große Vorbilder.«

»Es gibt nicht nur die Expressionisten. Was ist mit den Japanern, den Spaniern, den alten Kulturen? Oder Paul Gauguin? Davon bekommt ihr doch nichts mit auf eurer Insel der Glückseligkeit!«

»Du musst nicht denken, dass du die Einzige bist, die sich mit den neuen Strömungen in der Kunst auskennt. Die du für weltgewandt und modern hältst. Nur weil du dir in Paris immer wieder eine Auszeit von deinem anscheinend recht eintönigen Worpsweder Familienleben nimmst.«

»Das bist wieder ganz du! Diese Eifersucht auf die Freiheit, die ich mir ab und zu nehme.«

»Ich bin, wie auch deine Mutter und deine Schwester Milly mir immer wieder bestätigt haben, sehr verständnisvoll, was deine Eskapaden angeht. Andere Männer wären nicht so geduldig mit einer so egoistischen Ehefrau.«

Dass sie egoistisch sei, nur an sich selbst denke, hatte ihr schon der Vater vorgehalten. Das würde sie wohl ihr Leben lang hören. Denn es schickte sich nicht, dass ein Weibsbild eigene Wünsche und Ideen für sein Leben hatte. Zwar sollte es Kenntnisse in den schönen Künsten haben, gebildet sein, Klavier spielen können. Aber von allem nur ein bisschen. Nur keine Passion. Keine großen Pläne. Zumindest nicht für sich selbst. Wenn es dann heiratete, sollte es sich für das Fortkommen und die berufliche Verwirklichung des Ehemannes begeistern. Und für die eigenen Kinder.

Nun, Letzteres war zumindest für Paula kein Thema. Und sie hatte nicht vor, diesen mächtigen Drang nach Farben und Formen, den Rausch des Malens für ihren Ehemann aufzugeben und sich seinen Anweisungen zu beugen. Das Leben als Ehefrau wurde ihr mehr und mehr zu eng. Otto dagegen schien die Ruhe und das geregelte Leben zu genießen. Er malte stetig. Und zwischen der Kunst ruhte er sich aus. Mehr brauchte er wohl nicht.

»Es würde auch deinen Bildern guttun, wenn du dich einmal aus der Gemütlichkeit unseres Heims lösen würdest.« Ihre Stimme hatte einen scharfen Ton, sie wollte ihn ebenfalls verletzen. »Das Leben in den großen Städten ist voller Inspirationen!«

»Ich habe hier genug Inspirationen. Und ich habe meine Pflichten, denen ich nachzukommen habe. Etwas, das dir offenbar sehr schwerfällt.«

Und dann zählte er ihre Versäumnisse im Haushalt auf. Das war zu viel. Er führte sich auf, als sei er ihr Vater. Und sie war nur das kleine dumme Mädchen. Paula war aufgesprungen, hatte ihren Hut aufgesetzt, hastig nach ihrem Mantel gegriffen und war aus der Tür gestürmt. Den lauten Knall beim Zufallen, den Matsch unter ihren Füßen, der ihre schönen kalbsledernen Schuhe durchdrang, und den Nieselregen hatte sie nicht wahrgenommen. Sie wollte nur weg.

1

»Mein Handicap? Das ist gar nicht mal so schlecht.« Lennard Cordes lachte in sein Handy. »Ich freue mich auf unser Treffen. Bis dann!«

In dem Moment, in dem er das Gespräch mit Kevin Brauer beendete, entspannten sich seine Gesichtszüge, und die Mundwinkel sanken nach unten. Kevin arbeitete bei der Bank. Und er handelte mit Aktien, wie Lennard. Ein interessanter Typ, der von seiner Studentenzeit im Marxistischen Bund erzählte und in einer WG bei Fischerhude lebte. Außerdem war er Mitglied im Rotary Club und fuhr einen Land Rover.

Sie hatten sich vor zwei Wochen beim Fitness kennengelernt und zum Golfen verabredet. Von ihm erhoffte sich Lennard nützliche Tipps und weitere Kontakte. Dass der Banker in einer Wohngemeinschaft auf dem Land wohnte, hätte er nicht von ihm gedacht. Mit lauter Freaks, die sich selbst verwirklichten. Eine der Frauen machte riesige Skulpturen. Eine war Punk oder Rockerin, das hatte er nicht behalten. Ein Maler war auch dabei. Wahrscheinlich alle Hartz IV.

Er hätte sich auf das Golfspiel mit Kevin gefreut. Wenn nicht dieser Brief gekommen wäre. Er schaute durch das große Fenster auf die Weser, deren Fluten hinter der Uferpromenade in der Sonne funkelten. Fröhliche Bremer mit Kind und Hund zogen spazierend vorbei. Gegenüber leuchtete der rote Backstein der Weserburg. Es war ein schöner Spätsommertag, der Lust auf ein Sonnenbad am Deich oder eine Landpartie machte. Und er passte überhaupt nicht zu seiner Stimmung.

Vor einer Stunde hatte er mit Susi noch am Frühstückstisch auf der Terrasse seiner Penthousewohnung Pläne für die baldige Thailandreise gemacht. Er hatte ihr den Flug mit Übernachtung im Fünf-Sterne-Hotel zu ihrem Einjährigen geschenkt. Jetzt musste er alles stornieren.

Er riss ungeduldig an einem vertrockneten Blatt der Yuccapalme, die, zwei Meter hoch, der perfekt designten Wohnung einen exotischen Touch verleihen sollte. Schwarzes Ledersofa, ein großer Fernsehbildschirm auf einer sonst leeren Anrichte, eine ausladende bogenförmige Stehlampe und zwei abstrakte Bilder in Blautönen an den Wänden.

Wieso schickten die Behörden unangenehme Briefe immer am Sonnabend? Sie versauten einem das ganze Wochenende. Konnte er noch etwas drehen an seiner Misere? Dass er seinen Porsche verkaufen musste, hatte ihm Schlöber schon gesagt. Aber die paar Euros wären nur Peanuts. Der Schuldenberater war mit ihm jeden Posten durchgegangen. Ein trockener Typ ohne Empathie. Den Fernseher könne er behalten. Dieser Pfennigfuchser. Sah aus wie ein Buchhalter, mit dünnem Haar und blassen Augen hinter fleckigen Brillengläsern. Sein billiges Deodorant kombiniert mit Kohlgeruch lag ihm jetzt noch in der Nase. In Gedanken an die Ratschläge von Herrn Schlöber stieß er ein verächtliches Lachen aus.

Wahrscheinlich würde seine wunderbare Wohnung dran glauben müssen. Sein Zwerchfell verkrampfte sich. Er hatte Mühe zu atmen.

Oma war begeistert gewesen, als er ihr vor einem Jahr das große Apartment mit der phantastischen Aussicht in der Bremer Innenstadt gezeigt hatte. »Ich wusste gar nicht, dass man als Medizintechniker heutzutage so gut verdient. Die Wohnung ist ein Traum!«

Natürlich hätte er sich so eine Bleibe nie von seinem kümmerlichen Gehalt kaufen können. Aber er hatte Glück gehabt. Ein geschickter Deal an der Börse hatte ihn mit einem Schlag um eine halbe Million Euro reicher gemacht. Endlich hatte er beweisen können, dass er es auch ohne Unterstützung der Familie zu etwas brachte.

Dabei war Oma nicht besonders ehrgeizig. Sie hatte immer Verständnis für ihn gehabt, besonders nach dem Tod seiner Eltern vor fünfzehn Jahren. »Solange du nur glücklich bist, mein Junge, machst du alles richtig.« Er war aber nur glücklich, wenn er sich auch einen gewissen Lebensstandard leisten konnte. Er hätte es gehasst, ein Leben mit Kleinwagen und Zwei-Zimmer-Wohnung führen zu müssen. Seine Eltern hatten so gelebt. Der Geruch des Spießbürgertums von damals war immer noch in seinem Hippocampus abgespeichert.

Auch Oma kam aus »kleinen Verhältnissen«, hatte aber wenigstens reich geheiratet. Doch diese nervende Bescheidenheit! Nie eine aufregende Reise oder ein teurer Restaurantbesuch. Gediegene Kleidung ohne Schick, Schuhe, die ein Leben lang hielten. Bloß nicht zeigen, dass man Geld hatte.

Als er sie einmal kritisierte, dass sie sich nicht mal zur Feier ihres runden Geburtstags Champagner gönnte (statt Rotkäppchen-Sekt), sagte sie: »Meine Großeltern haben hart für ihr Leben kämpfen müssen. Hunger und Entbehrungen bestimmten ihren Alltag, sieben Tage die Woche. Und keine Aussicht, diesem Schicksal zu entkommen.« Dann sah sie ihn mit ernstem Blick an. »Alles, was wir haben, unser Wohlstand, unsere Bequemlichkeiten und die Freiheit, unser Leben zu gestalten, ist ein Geschenk Gottes. Und wir sollten dies jeden Tag schätzen und genießen, solange wir noch können.«

Er konnte verstehen, dass sie so dachte. Sie war alt und blickte auf ein erfülltes Leben zurück. Grund genug, dankbar zu sein. Wem auch immer. Aber er hatte eine Zukunft. Und die würde ihm das bringen, was ihm zustand. Schließlich würde er alles einmal erben. Sie könnte ihm doch schon jetzt … Er schrie laut auf, voller Wut auf die ausweglose Situation.

Das gewonnene Geld, das ihm wie ein Vermögen vorgekommen war, war innerhalb von Wochen aufgebraucht gewesen. Die Wohnung, der Porsche, schicke Anzüge, teures Essen und zwei Luxusreisen. Und leider dieser Flop beim Kauf einer Ladung Weizen bei einem Warentermingeschäft. Es kamen Mahnungen. Als er vor sechs Monaten die letzte Zahlungsaufforderung bekam, hatte er seine Großmutter gefragt, ob sie ihm helfen könne. Sie war voller Mitgefühl gewesen, hatte ihr Portemonnaie geholt und ihm einen Fünfziger und eine Tafel Schokolade zugesteckt, was er nicht hatte annehmen wollen. Weil er an eine viel höhere Summe gedacht hatte. Aber Oma hatte ihre Tricks. Wenn sie etwas nicht wollte, spielte sie die Verwirrte. »Ganz reizend weggetreten«, so hatte seine Mutter es früher genannt.

Oma wollte ihm nicht helfen. Dabei war sie reich. Aber sie hütete ihr Vermögen wie eine Henne ihre Eier. Ihm wurde schwindelig, wenn er daran dachte, wie einfach sich alle seine Probleme lösen könnten.

Der Termin beim Amtsgericht für das Insolvenzverfahren war für Donnerstag in drei Wochen anberaumt. Dann würde sein Leben auseinandergenommen werden. Und ob er eine Restschuldbefreiung bekäme, war noch ungewiss. Schließlich habe er recht verschwenderisch gelebt, meinte Herr Schlöber. Eine Gefängnisstrafe sei jedenfalls nicht ausgeschlossen.

Er stöhnte, als er an die Golfverabredung dachte. Vor Kevin würde er noch den schönen Schein wahren müssen, doch bald wären zumindest die Partys mit Freunden Vergangenheit und natürlich auch die Mitgliedschaft im Golfclub.

September 1905

Allmählich hatte sie sich wieder beruhigt. Das hohle Hämmern eines Spechts klang aus der Tiefe des Waldes. Es roch nach Pilzen und feuchter Erde. Nasses Laub raschelte unter ihren Füßen. Paula fühlte, wie ihre Muskeln die Beine bewegten, die Kraft ihres jungen Körpers. Ihre Haut war ganz weich und frisch vom Regen. Mit allen Sinnen wollte sie die Wiesen, den Wald und das Moor in sich aufnehmen. So liebte sie ihr Worpswede, ihr Teufelsmoor.

Sie hatte den Waldrand erreicht und blieb stehen. Ein schmaler Damm trennte die Bäume von einer Wiese, die zentimetertief unter Wasser stand. Wie ein großer See, in dem sich der blasse Abendhimmel und die dünnen weißen Birkenstämme auf dem Damm spiegelten. Am Wiesenende erhob sich wie ein Riff die leuchtend braune Torfkante. Die Schwarztorfschicht zog nur wenige Zentimeter unter der hellen Brauntorfschicht horizontal durch den mannshohen Wall. Unten vor dem Wall in der Torfkuhle waren zwei Frauen und drei Männer dabei, gestochene Torfballen auf einen Wagen zu stapeln. Es waren Tagelöhner aus dem Dorf, Anna und ihre Familie, die den getrockneten Torf vor dem Herbstregen in Sicherheit bringen wollten. Eilig gingen sie zwischen den meterhohen Haufen aus getrockneten Torfsoden hin und her.

Paula kannte sie. Im Frühjahr, als die Männer den nassen schwarzen Torf aus dem Graben vor der Torfkante geerntet hatten, war sie auf einem ihrer Spaziergänge schon einmal ins Wrockmoor gekommen. Anna und ihre Töchter hatten auf dem Lagerplatz oberhalb der Torfkante einen merkwürdigen Tanz veranstaltet. Neugierig lächelnd war Paula auf die Tanzgruppe zugegangen.

»Wat wult Se hier?«

Paula erkannte ihren Irrtum, als sie den Lagerplatz erreicht hatte. Vor Scham wäre sie am liebsten weggelaufen. Die schwitzenden, stampfenden und erschöpften Frauen sahen sie nur misstrauisch an. Mit Holzschuhen und Spaten waren sie dabei, eine ausgestrichene Fläche Torfbrei zu bearbeiten. Die armen Leute schufteten wie die Sklaven, und sie wollte tanzen. »Was machen Sie da?«, hatte sie gefragt.

»Wi pletten de Torf.«

Das Wasser wurde so aus dem Torf gepresst. Wenn der Torf dann einige Tage getrocknet war, wurde er zu Soden gestochen und zum Trocknen gestapelt. Die Frau, die ihr dies erklärte, hatte tief liegende müde Augen und eingefallene Wangen. Hunger und häufige Krankheiten hatten in ihrem Gesicht Spuren hinterlassen. Wie für die Moorbewohner typisch, war sie ein ernster Mensch. Schon ihre Vorfahren hatten ums Überleben kämpfen müssen. Die Tagelöhner, die für ein paar Mark für die Moorbauern arbeiteten, hatten keine Hoffnung, der Armut zu entkommen.

Jetzt entdeckte sie unter einer Birke zwei kleine blonde Mädchen, nicht älter als sieben, in eine Decke gehüllt auf einem Baumstamm. Sie schmiegten sich ganz eng aneinander. Die Jüngere hatte den Kopf auf die Schulter der anderen gelegt und schlief.

Paula näherte sich den beiden mit langsamen Schritten, bis sie erkennen konnte, dass das größere Mädchen ein dunkelrotes Kleid anhatte. In dem Moment riss die Wolkendecke auf, und ein Sonnenstrahl tauchte die Kinder in goldenes Licht. Und Paula wusste, dass sie die Mädchen malen musste.

Sie tastete die Taschen ihres Mantels ab. Irgendwo hatte sie noch ein Stück Kreide und ein zusammengefaltetes Stück Papier verstaut. Das musste fürs Erste reichen. Mit einigen wenigen Strichen skizzierte sie die beiden Kinder. Dann ging sie weiter, bis sie direkt vor ihnen stand.

»Guten Tag, ihr beiden.«

Das kleine Mädchen, es war ungefähr vier, wachte auf und rieb sich verschlafen die Augen.

»Wie heißt du?« Die Frage richtete sich an die Ältere. Paula sah in ihre Augen, blau und ernst, von blonden Brauen gerahmt. Sie hatte eine zierliche Nase und ein schmales Kinn. Sie wirkte klug und misstrauisch gegenüber Paulas freundlicher Ansprache.

»Meta.« Ihre Stimme war hell.

»Ihr seid wohl ganz schön müde. Musstet ihr auch mithelfen?«

Meta nickte. »Ich, ja.«

»Deine Schwester ist sicher noch zu klein. Wie heißt sie denn?«

»Hanna.«

»Hallo, Hanna.«

Die Kleine lehnte sich zurück und versteckte sich hinter dem Arm der größeren Schwester.

»Ich habe ein kleines Bild von euch gemacht. Möchtet ihr es sehen?« Paula beugte sich vor und hielt ihnen das bemalte Papier hin.

Meta stützte sich mit beiden Armen auf dem Baumstamm ab. Sie linste, ohne den Kopf zu bewegen, auf die Skizze, so als ob sie nicht erkennen könne, dass es sich bei den Gestalten um sie und Hanna handeln würde.

Ein Räuspern hinter ihrem Rücken ließ Paula sich umdrehen.

»’n Abend, leve Fru.«

»Guten Abend. Ist die Arbeit getan?«

»För hüüd schon. Morgen geiht dat wieder.«

»Ich habe gerade Ihre hübschen Deerns kennengelernt. Ob ich die mal malen kann?«

»Tja, dat weet ik nich. De mööt hier helpen. Wi mööt dat morgen torechtkriegen, anners geeft de Buur keen Geld.«

»Es soll Euer Schaden nicht sein. Ich zahle Euch Malgeld.« Vor Paulas innerem Auge sah sie das Bild, das sie von Meta malen würde. Es würde perfekt werden. Morgen sollte das Wetter trocken sein, hatte Bauer Brünjes gesagt. Sonst hätte er wieder das Reißen in seinen Knien gespürt.

»Ich komme morgen um acht bei eurer Hütte vorbei.«

2

Max grunzte. Er wischte sich mit seiner rechten Hand über das Gesicht. Gleich würde er den perfekten Farbton für den Winterhimmel finden. Vor seinem inneren Auge nahm er noch eine Spur Violett auf den Pinsel. Wieder kitzelte es auf seiner Stirn. Jemand kicherte. Ärgerlich schlug er die Augen auf und blickte in ein lächelndes Gesicht. Es hatte blaue Augen und milchweiße Haut mit kleinen Sommersprossen. Die rotblonden Haarspitzen berührten seine Wange.

»Hi.«

Langsam wurde er wacher. Er lag in seinem Bett. Die Sonne warf ein Gittermuster durch das Fenster auf die Wand am Fußende. Es war viel zu hell.

»Hast du gut geschlafen?«

Nach und nach verließ er seine Traumwelt. Die Frau neben ihm war sehr jung. Anfang zwanzig vielleicht. In den Tiefen seines verkaterten Gehirns suchte er nach ihrem Namen.

»Du bist so süß, wenn du schläfst.«

Lena oder Lisa. Er bereute jedenfalls, dass er sie nicht nach dem Sex nach Hause geschickt hatte. Sie drückte ihren weichen Körper gegen seine Brust und küsste ihn. Eine Kokosduftwolke raubte ihm den Atem. »Lena …«

»Lea!«

»Äh, Lea, ich … muss mal.« Er schwang sich, schneller, als er sollte, aus dem Bett und taumelte zur Tür.

Der Geschmack von zu vielen Zigaretten und sein alkoholisierter Atem brachten ihm die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Bis in die Morgenstunden hatte er im »Bergwerk« getanzt. Erst nach Mitternacht wurden die guten Sachen aufgelegt: Metallica, AC/DC, Bloodhound Gang. Er war ziemlich stoned gewesen. Hatte alle Frauen auf der Tanzfläche umarmt. Und zum Schluss mit der Kleinen wild rumgeknutscht. Wie war er bloß nach Hause gelangt?

Er öffnete die Tür zum Flur. Kaffeeduft holte ihn in die Gegenwart. Auf kalten Fliesen huschte er über den Flur ins Bad.

»Max?« Marianne hatte ihn durch die geöffnete Küchentür entdeckt.

Er drückte die Spülung und griff sich das Handtuch neben dem Waschbecken, um es um die Hüften zu schlingen. Grinsend betrat er die Küche, nahm sich einen Becher vom gedeckten Tisch und schenkte sich aus der Kanne ein.

»Ich fasse es nicht!« Marianne hatte die Hände in die runden Hüften gestemmt und sah ihn mit geröteten Wangen an. »Du bist wirklich unmöglich!«

Sie sah aus wie Mutter Courage, nur hübscher. Sie trug eine schwarze Schürze über dem langen türkisfarbenen Kleid, das wie immer tief dekolletiert war. Ein paar blonde Strähnen hatten sich aus der aufgesteckten Frisur gelöst, und lange bunte Ohrringe zitterten wütend an ihrem Kopf.

»Du warst heute mit dem Frühstück dran!« Sie riss ihm die Kaffeekanne aus der Hand. »Wenn du dich schon wieder nicht an die Regeln hältst, kannst du wenigstens warten, bis wir am Tisch sitzen.«

»Tut mir leid.« Er versuchte zerknirscht zu klingen.

»Tut es dir nicht. Ausgerechnet heute. Es ist bereits zehn Uhr. In drei Stunden kommen die Gäste.«

Er wich ihrem Blick aus und überlegte hektisch, was heute geplant war.

»Die Portweinprobe!« Marianne knallte die Kanne auf den Tisch. Ein Messer fiel klirrend zu Boden. »Die Kisten stehen alle noch in der Scheune. Zieh dich an und hol wenigstens ein paar ins Haus.«

»Das kann John doch –«

»Der ist seit dem frühen Morgen unterwegs. Er musste ausgerechnet heute auf den Kajenmarkt.«

»Und Kevin?«

»Ha!« Marianne schnaubte. »Ich will von dir keine Vorschläge hören, wer deine Arbeit machen kann. Deine Hilfe ist gefragt. Also komm in die Hufe.« Sie drehte sich zur Anrichte, nahm einige Weingläser heraus und stellte sie auf ein Tablett.

Durch das Küchenfenster schimmerten Rosen mit teefarbenen Rändern und dunkle Malvenblüten. Büsche und Bäume im Garten leuchteten im blassen Grün des Spätsommers, einzelne Blätter hatten sich schon gelb verfärbt. Auf dem Deich hinter dem Gartenzaun trabte ein Pferd mit Reiter: Kevin.

»Na endlich. Er wollte seinen blöden Gaul noch bewegen. Jetzt kann er dich gleich unterstützen.«

Max stöhnte und trat leise den Rückzug an. Mariannes Wutschrei hörte er nur noch gedämpft durch die geschlossene Tür. Statt zur Zimmertür wandte er sich nach rechts und öffnete die Tür ins »MAMU«.

Die ehemalige Diele des alten Bauernhauses war Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem Wohnzimmer umgebaut worden. Von den Unterständen für das Vieh und den Kammern der Knechte und Mägde war nichts mehr zu sehen. Stattdessen war ein großer lichter Raum mit deckenhohen Fenstern an der Giebelseite entstanden. An den niedrigen Seitenwänden befanden sich unter kleinen Butzenfenstern Bücherregale, vollgestellt mit Romanen, Gedichtbänden, politischen Aufsätzen und philosophischen Texten. Dazwischen kleine Figuren, Schalen, Muscheln und andere Mitbringsel vom Flohmarkt oder von Reisen der Bewohner. Verteilt im Raum neben dicken Balken hatte Marianne fünf ihrer bis zu drei Meter hohen Skulpturen aufgebaut, die »großen Mütter«. Den Namen »Mariannes Museum«, kurz MAMU, hatte der Saal von Mariannes holländischem Mäzen bekommen, der bei jedem Kauf einer Figur versicherte, dass sie seiner Frau wie aus dem Gesicht geschnitten sei.

Unter den monströsen Brüsten einer schlafenden Urmutter standen drei afrikanische Sessel, ein orientalischer Messingtisch und ein Java-Diwan mit zwanzig Kissen. Vorsichtig balancierte Max den Kaffeebecher, während er sich darauf niederließ. Im Sinken griff er noch nach einer Zigarettenpackung und einem Feuerzeug, die auf dem Tisch neben einem überquellenden Aschenbecher und mehreren Gläsern mit Rotweinrändern lagen.

Er seufzte. Zu viel Stress für einen Sonntagmorgen. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Auf einem der klobigen Sessel, die John gezimmert hatte, lag Mim, die schwarz-weiße Katze, und beobachtete ihn aus gelben Schlitzen. Zwischen vorsichtigen Schlucken aus dem heißen Becher stieß Max Rauchkringel in die Luft.

»Herr, es hilft mein spätes Sorgen auch mein frühes Wachen nicht.« Dies war die erste Zeile der Giebelschrift des mehr als zweihundert Jahre alten Fachwerkhauses. Ganz in seinem Sinn. John hatte den alten Balken wiederaufgearbeitet, die Spalten gefüllt, gebeizt und die Buchstaben mit Goldbronze nachgemalt. Es war ein Haus, wie es typisch war für die Wümmeniederung. Alle Zimmer hatten Sprossenfenster. Sie waren etwas zugig, und im Winter bildeten sich Eisblumen auf dem Glas. Die Holzböden knarzten bei jedem Schritt und waren an einigen Stellen durchgetreten. Aber in der Küche gab es einen schönen Ziegelboden, und an der Wand stand der große grüne Kachelofen mit Jugendstilverzierungen. Max liebte das Haus.

John hatte es vor fünf Jahren günstig erstanden. Damals hatte er Max und Marianne gefragt, ob sie mit ihm hier eine WG gründen und ihm dabei helfen würden, das Haus wiederherzurichten. Sie hatten sich auf einer Party in der Ottersberger Kunststudienstätte kennengelernt. Marianne war dort Dozentin, und Max machte gerade seinen Abschluss. John, der ursprünglich Philologie in Essen studiert hatte, musste bei seiner Ottersberger Freundin ausziehen. »Die hat nicht alle Tassen im Schrank«, war sein abschließender Kommentar zu der Beziehung gewesen.

Johns Ex gehörte zu den Walpurgisweibern, die mit ihren mystischen Happenings in den Wäldern und Wümmewiesen in seinen Augen zu den Spinnern des Dorfes gehörten. Marianne war ebenfalls Mitglied der Gruppe.

Max fand Mariannes Glauben an Geister und alte Mythen inspirierend. Seine Bilder enthielten oft geheime Botschaften und versteckte Traumfiguren, die in den Landschaften wie Moorgeister wirkten. »Eine Mischung aus Surrealismus und Worpsweder Schule«, hatte ein Laudator sein Werk einmal auf einer Vernissage beschrieben. Wie sein großes Vorbild Richard Oelze, der es immerhin bis ins MoMA in New York geschafft hatte. Max wollte eine malerische Verbindung zwischen ihm und der »Worpsweder Künstlerkolonie« schaffen. Eines Tages würden auch seine Bilder wie die von Paula Becker-Modersohn oder Vogeler in den großen Museen gezeigt werden. Davon war er überzeugt.

Das Haus war damals in einem schlechten Zustand gewesen. Zwei Jahre hatten sie gerissen, gehämmert, gesägt und gemalt. Die Handwerker des Dorfes hatten ihnen dabei geholfen. Dafür mussten sie einen Kredit aufnehmen. Zu dritt waren sie in der Volksbank erschienen. Der Bankangestellte, ein smarter Typ in Max’ Alter, hatte darauf bestanden, sich das Haus anzuschauen. Bei der Besichtigung war er begeistert. Es begann eine feuchtfröhliche Verhandlung in der Küche. Am Ende duzten sie sich (»Nennt mich Kevin«). Es war ein sehr günstiger Kreditvertrag herausgekommen. Und ein Mietvertrag für Kevin.

Durch die geschlossene Tür hörte er, wie Marianne und Kevin die Portweinkisten ins Haus trugen. Es polterte, klirrte. Begleitet von einem dumpfen Beat, der aus Zoes Zimmer drang. Sie saß schon wieder an den Drums und übte für den Bandauftritt mit den True Heart Suzies.

»Zoe?« Marianne fluchte. Eine Tür klappte. »Komm mal raus. Wir brauchen dich hier.«

Ein Glück, dass er sich rechtzeitig verzogen hatte. Die Schlepperei wäre viel zu anstrengend. Besonders für den Rücken. Da war Kevin, der Sportler, viel besser geeignet. Zoe war durch ihr tägliches Üben am Schlagzeug auch gut durchtrainiert, obwohl man ihrer schmalen Figur keine große Kraft zugetraut hätte.

Er legte die Reste der Zigarette in den Kippenhaufen und drehte sich auf die Seite. Seine Glieder waren schwer. Sein Kopf fühlte sich wie mit Watte gefüllt an. Jetzt noch eine kleine Ruhepause. Er musste nachher fit sein. Irgendein angesagter Galerist war auch eingeladen. Einer von Johns »Beziehungen«.

Mit einem lauten Klacken ging die Tür auf. Max setzte sich mit einem Ruck auf.

»Schau dir das an!« John betrat mit wehenden Haaren und einem großen Paket den Raum.

»Mann, kannst du nicht normal reinkommen? Da bleibt einem ja das Herz stehen!«

John beachtete seinen Protest nicht, sondern legte das Paket auf den Boden und riss mit großzügigen Bewegungen das Papier herunter. »Hier! Alles Ende 19. Jahrhundert oder Anfang 20. Rate mal, was ich dafür bezahlt habe.«

Irritiert sah Max auf die drei Ölschinken, die John vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Ein düsteres Porträt eines dicklichen Ehepaars, ein hässliches Stillleben mit Äpfeln und eine alte Bauernkate in blassen Farben. »Das ist doch Schrott.«

»Nur dreißig Euro! Habe ich aber lange für verhandelt.« John grinste selbstgefällig. »Angeblich alter Familienbesitz aus einer Oberneulander Villa. Bullshit.« Er kratzte seinen Dreitagebart, der den Ansatz des Doppelkinns verdeckte.

»Was um Himmels willen willst du damit?« Max hatte sich vom Diwan erhoben und starrte auf das künstlerische Elend. »Willst du die aufhängen? Davon wird einem ja schlecht.«

»Quatsch. Die Bilder sind uninteressant. Die Rahmen!« Er hockte sich breitbeinig hin, sodass seine Jeans den oberen Teil des breiten Hinterns freigab. Mit der Rechten fuhr er zärtlich über das Holz. »Sieh mal die Dreifachlackierung mit der gefrästen Goldlinie. Kaum Lackschäden. Und hier die Stuckatur. Noch eins-a erhalten. Mit denen werden wir noch viel Geld verdienen.«

Er stand wieder auf, musterte Max’ verkatertes Gesicht und sog schnüffelnd die Luft ein. »Mein Lieber! Wie siehst du denn aus? Geh mal duschen!« Er langte in seine Hosentasche, zog einen Plastikbeutel mit Pillen heraus und schüttete zwei auf seine Handfläche. »Hier, nimm die. Du musst dich heute von deiner besten Seite zeigen.«

3

Als Isabelle und Ferdinand Mathieu durch das Hoftor traten, setzten für den Bruchteil einer Sekunde Gespräche und Bewegungen der plaudernden Grüppchen im Garten aus: Portweingläser stoppten vor den Lippen, ein Lachen wurde verschluckt, Feuerzeuge verlöschten vor Zigaretten, Blicke erstarrten.

Mathieu, ganz in Schwarz mit Sonnenbrille, trat auf wie Agent K aus »Men in Black«. Seine Frau dagegen sah wie ein Paradiesvogel aus: Die roten Haare waren kunstvoll hochgesteckt und mit Strasshaarnadeln fixiert. Sie trug ein weißes kurzes Kleid, auf dem Spiralen aus lachsfarbenen Pailletten in der Sonne glitzerten. Sie ähnelte einem Flamingo, wie sie mit zehn Zentimeter hohen Sandalen, ohne zu wanken, über das Kopfsteinpflaster auf John zuging, der in der geöffneten Tür vom MAMU stand.

»Willkommen, Isabelle. Ferdinand.« John musste sich ein wenig strecken, um der schlanken Frau einen Kuss auf die Wange zu hauchen. Ihrem Mann klopfte er auf die anzugbewehrte Schulter. Ferdinand Mathieus dunkles Outfit, zu dem auch noch ein halb offenes nachtblaues Hemd, ein großer Siegelring und spitze schwarze Schuhe gehörten, wirkte düster und unpassend für den milden Spätsommertag.

Auch Ella Carbonne beobachtete den Auftritt des Paares. Sie verzog kaum sichtbar die Mundwinkel. Die Ärztin und Bandfreundin von Zoe hatte schon viele Partys in der Tütort-WG mitgefeiert. Anzugträger waren bisher noch nicht dabei gewesen.

Mittlerweile hatte das Stimmengewirr wieder eingesetzt. Die Septembersonne tauchte Menschen, Apfelbäume und Blumenbeete in ein goldenes Licht. Der feucht-modrige Geruch des Grases vermischte sich mit Parfums und Ausdünstungen der Gäste. Ella wandte sich wieder ihren Freundinnen Kallioupi und Irmtraut zu.

»Ihr müsst dann rechts abbiegen, am Osterfeuer-Platz vorbei und Richtung Otterstedt fahren.« Kallioupi erzählte von ihrer Entdeckung auf einer Radtour. »Dort, wo der Wald beginnt, auf der linken Seite ist es.«

»Was ist dort?« Marianne trat mit Zoe in den Kreis der Frauen.

»Der Kunstgarten vom ›Künstler‹!« Irmtraut beugte sich zu Marianne, um sie zu umarmen. »Hallo, meine Liebe.« Ketten und Armreife, die ihr erdfarbenes Rohseidenkleid schmückten, klirrten leise.

»Welcher Künstler?« Ella versuchte, interessiert zu klingen, obwohl sie die Gegend hinter dem Quelkhorner Reitstall seit der Sache mit Rainer mied.

»Grotti. Alle nennen ihn aber nur ›den Künstler‹. Er wohnt im Moor.« Kallioupi nippte an ihrem Portwein. »Nicht schlecht. Aber wenn ich weitertrinke, kippe ich bald aus den Latschen.«

»Leute, diese Portweinlieferung ist der Wahnsinn!« John stand hinter einem Tisch unter einer großen Kastanie. Seine Stimme war laut und etwas verwaschen. »Hier noch ein feiner Tropfen mit ausgereiften Frucht- und Gewürzaromen und …«, er roch an dem vollen Glas in seiner Hand, »einer wunderbaren Walnussnote.«

»Er hat ganz zauberhafte Objekte in diesem Garten.« Irmtraut berichtete weiter von dem »Künstler«. »Gleich am Eingang steht ein indianischer Marterpfahl.«

»Er wohnt im Moor?« Ella war irritiert. In Fischerhude gab es einige Lebenskünstler, die in Bauwagen oder Tipis wohnten. Im Moor aber hatte sie auf ihren Joggingtouren noch keine Behausung entdeckt. Seit der Trockenlegung und dem Ende des lokalen Torfabbaus hatten die Tiere das Moor übernommen. Häuser gab es wegen des feuchten Grunds nur am Rand. Auf den schmalen Pfaden traf man selten Spaziergänger oder Reiter.

»Er wohnt in mehreren Hütten, die er sich in den Wald gebaut hat. Er möchte die Natur mit seinem ganzen Sein erleben.« Irmtraut war ein Fan des »Künstlers«. »Dort versteckt er sich. Rabea ist die Einzige, die ihn ab und zu besucht. Er nimmt nur Kontakt zu anderen Menschen auf, wenn er es möchte.«

»Wie unheimlich.«

Zoes Stimme war so leise, dass Irmtraut sie ignorierte. »Wir könnten doch unser nächstes Vollmondtreffen bei ihm machen.«

»Wahrscheinlich beobachtet er uns heimlich, wenn wir spazieren gehen.« Zoe verzog angeekelt den Mund.

»Genau! Ein Spanner, der den anthroposophischen Gedanken benutzt, um seine geheimen Gelüste zu befriedigen.« Jetzt machte Ella die Unterhaltung wieder Spaß.

Zoe grinste. »Wie dieser Aura-Chirurg, der Irmtraut bei den Heilmineralien in der Amtshof-Buchhandlung seine Dienste angeboten hat.«

Alle feixten. Nur Irmtraut nicht. Sie hatte den Typen zu sich nach Hause bestellt. Dort bestand der Heiler darauf, dass die Therapie nur in sehr engem Körperkontakt ausgeführt werden könne. Sie hatte ihn schreiend weggejagt.

»Grotti ist ein sehr netter und interessanter Mann.« Mariannes Augen blitzten ärgerlich. »Max und ich haben ihn sogar schon öfter bei uns zu Besuch gehabt. Die Gespräche mit ihm sind inspirierend. Er versteht die Natur und ihre Botschaften.«

Der schöne Max verkehrte mit dem »Künstler«. Das hätte Ella nicht gedacht. »Was für Botschaften?«

»Dass wir vergänglich sind. Dass immer wieder Neues entsteht. Und wir Mutter Erde nicht weiter zerstören dürfen, weil sie sich sonst gegen uns richtet.«

Ella gähnte innerlich. Genau die Antwort, die sie erwartet hatte. »Was geht das Max an? Der ist doch zufrieden, wenn man ihn in Ruhe lässt, er genug Pot und Bier hat und ab und zu mal ’ne Party mit netten Mädels macht.«

»Das kannst du wohl kaum beurteilen. Seit einigen Monaten hat er seinen Malstil geändert. Er möchte dem Betrachter etwas mitteilen. Seine Bilder sind voller Geheimnisse, die jeder für sich selbst entdecken kann.«

»Stimmt. Er ist jetzt auf einem neuen Trip.« Zoe sah Ella mit großen Augen an, als müsse sie sie überzeugen. »Das musst du dir ansehen. Er malt Figuren in die Landschaften, die seine Gefühle und Gedanken symbolisieren.«

Das klang nach Siebziger-Jahre-Kitsch. Ella erinnerte sich an psychedelische Plattencover und mystische Comics im Wohnzimmerregal ihrer Eltern. Hoffentlich waren Max’ Gemälde anders. Das sollte sie sich mal angucken. Ella nickte den Freundinnen zu und ging in Richtung Scheune, wo sich das Atelier befand. Sie winkte John an der Bar zu.

»Ella, ich habe hier einen wunderbaren Late Bottled Vintage. Sechsjährige Reifung im Eichenfass.« John fuhr sich mit den Händen durch seine fettige Mähne und betrachtete das Etikett der Portweinflasche. »Ich lese mal vor: ›Ein Port mit großartiger Fülle und vollem, ausgereiftem Fruchtton in außergewöhnlicher Qualität.‹ Möchtest du probieren?«

Ella nickte und trat an den Tisch. »Wo hast du nur dieses Portweindepot her?«

»Im Internet ersteigert. Spottbillig. Ich habe jetzt schon drei Kisten verkauft.« Er reichte ihr ein gefülltes Glas.

»Von wie viel?«

»Von dreißig.« John zuckte mit den Schultern. »Zur Not müssen wir einen Teil selber trinken.«

»Gute Idee! Prost.« Ella nahm einen Schluck. Die erdige Süße gefiel ihr. Im nächsten Moment wurde ihr speiübel. Ein beißender Geruch stieg ihr in die Nase. Qualm zog durch den Garten. Das Knistern von frischem brennendem Holz. Blitzartig erschienen Bilder von lodernden Flammen in ihren Gedanken. Das Osterfeuer. Der letzte Tag mit Rainer damals.

»Alles okay?« John trat neben sie und nahm sie an die Hand. Neben der Bar stand eine Bank, auf die sie sich fallen ließ.

Sie versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. »Es geht schon wieder.« Im hinteren Teil des Gartens entdeckte sie einen Feuerkorb, an dem Kevin zusammen mit einem Paar stand und Holzscheite in Brand steckte. »Ist Max im Atelier?«

»Ja, er zeigt gerade ein paar Bilder.« John sah sie bedeutungsvoll an. »Max steigt jetzt ganz groß ein. Er wird ein paar gute Aufträge bekommen. Das hat mir Ferdinand Mathieu versprochen.« John wischte sich den Mundwinkel trocken, an dem noch ein Tropfen Port hing. »Mathieu ist Kunsthändler. Seine Frau Innenarchitektin. Da wird hoffentlich Geld fließen. Und das«, er grinste zufrieden, »ist ganz in meinem Sinn. Dann kann Max endlich seine Schulden bei mir bezahlen.« Er ging zurück an die Bar, wo er zwei Frauen umarmte und sie zu einem »ganz wunderbaren Ruby mit einer Note von Beeren und Vanille« überredete.

Nach einer Weile stand Ella auf. Sie ging am Haus entlang zu dem länglichen Backsteingebäude dahinter. Aus dem geöffneten oberen Teil der Stallpforte lugte ein brauner Pferdekopf und nickte ihr zu, als ob er sie begrüßen würde. Das rote Ziegeldach ragte rechts vom Stall noch vier Meter über das Haus hinaus und bildete einen Unterstand. Darunter stand auf einer Plastikplane ein mannshoher weißer Stein mit zwei Armen und einer Brust: eine Arbeit von Marianne.

In dem linken Teil war das Atelier von Max. Durch die großen Sprossenfenster sah Ella den Flamingo mit Mann. Ihre Stimmen drangen durch die nur angelehnten Fenster nach draußen. Auf der Staffelei stand ein halb fertiges Gemälde in Brauntönen, ein Herbstwald. Auf dem Holztisch lehnten weitere Bilder an der Wand, alles Landschaften.

»Diese Bilder habe ich nach meinem Examen an der Kunststudienstätte gemalt.« Max stand in einer Ecke, eine Zigarette im Mund, in der Hand ein Portweinglas. Er hatte eine Jeans und ein weißes T-Shirt an. Die halblangen Haare waren frisch gewaschen, der kleine Soul Patch am Kinn akkurat gestutzt. Der Flamingo ließ den Maler nicht aus den Augen und trug ein kirschrotes Dauerlächeln. Ihr Mann dagegen machte ein ernstes Gesicht, grummelte vor sich hin. Ella beschloss, die Gesellschaft nicht zu stören und die Bilder lieber von draußen zu betrachten.

Max räumte die ausgestellten Bilder vom Tisch und stellte eine weitere Serie an deren Platz.

»Dies sind Werke aus den letzten zwei Jahren.« Weitere Gemälde in gedeckten Farben. Blauviolette Nebel, kahle Flächen mit knorrigen Bäumen, schwarze Wälder, tiefblaue Wasserflächen. Max hatte die melancholische Stimmung in Moor und Flusswiesen gut festgehalten. Ella versuchte, Details auf den Gemälden zu erkennen. Sie entdeckte einzelne Figuren, die sich in einem Baum versteckten oder in hohem Gras gestikulierten. Sie waren, anders als das restliche Bild, besonders detailliert gezeichnet. Eine Frau im Halbprofil hinter verblühten bleichen Rosen ähnelte Marianne.

»Hm.« Mathieu hatte die Sonnenbrille gegen eine schwarzrandige Brille ausgetauscht und starrte in gebeugter Haltung aus kurzer Distanz auf die Leinwand.

»Darf ich euch ein Glas Portwein einschenken?« Ella hatte nicht bemerkt, dass John mit Flasche und Gläsern in der Hand wankend an ihr vorbei das Atelier betreten hatte. »Ein Vintage-Port aus dem Jahr 1981. Dreißig Jahre im Fass gelagert! Da trinkt man gleich Geschichte mit. So etwas bekommt man nicht alle Tage!«

Abwesend nahm Mathieu das angebotene Glas entgegen.

»Isabelle?« Ein Teil des Portweins schwappte aus dem Glas, als John es vor dem Flamingo auf den Tisch stellte.

Nach einigen Minuten schweigenden Betrachtens und Trinkens drehte sich Mathieu zu Max. »Haben Sie noch weitere Bilder? Ich würde gerne ein paar Porträts sehen.«

Max verschwand, und John versuchte, die Zeit für den Portweinhandel zu nutzen. »Dieser Tawny streichelt die Zunge. Er schmiert die Kehle. Prost!« Er stieß mit dem mürrischen Kunsthändler an, der ihm eher widerwillig sein Glas entgegenhielt. »Ich mache euch ein Superangebot: sechs Flaschen für zweihundert Euro.«

»Mein Gott, John. Du musst jetzt aber nicht bei jeder Gelegenheit deine Weine verkaufen.« Kevin hatte den Raum betreten, zusammen mit dem Paar vom Lagerfeuer. »Guten Tag, Herr Mathieu.«

Kevin hatte heute einen eher legeren Aufzug in Jeans und blassrosa Lacoste-Shirt gewählt. Ella fand, dass er in die WG wie ein Windhund in ein Rudel von Straßenhunden passte. Mit seinen pseudolinken Ansichten wollte er wohl lässig und unangepasst wirken. Er betonte immer, dass er zwar Banker, im Herzen aber immer noch Marxist sei, wie zu Studentenzeiten. Ihr kam er aalglatt und unehrlich vor. Auch wegen Zoe, die er bei einer Flüchtlingsinitiative in Ottersberg kennengelernt hatte.

Kevin hatte die WG überzeugt, dass Zoe in das kleine Zimmer neben Max ziehen durfte. Sie, die im Heim aufgewachsen war und von ihrer ständig alkoholisierten Mutter kaum Liebe bekommen hatte, war seitdem voller Bewunderung für ihn. Er fühlte sich wahrscheinlich wie der barmherzige Samariter. Seine gönnerhafte Anteilnahme, wenn er mit Zoe sprach, stieß Ella ab.

»Darf ich Ihnen Lennard Cordes vorstellen?« Kevin nickte seinem Nachbarn zu, der dem Kunsthändler brav die Hand reichte. Der Typ sah Kevin irgendwie ähnlich: schlank, Polohemd und Jeans, allerdings dunkle kurze Locken statt der Popperfrisur.

Die Freundin konnte Ella nur von hinten sehen. Eine schlanke Blondine in einem zu kurzen Kleid und pinkfarbenen Pumps. Sie stellte sich mit so leiser Stimme vor, dass Ella sie nicht verstand.

»Herr Cordes hat ein Problem, bei dem Sie ihm vielleicht helfen können.« Jetzt klang Kevin wie ein Anlageberater.

Ella würde Max’ neuen Malstil heute wohl nicht von Nahem besichtigen können. Die Besprechung im Atelier würde sich noch hinziehen. Sie beschloss, sich auf den Heimweg zu machen. Sie hörte den Stimmen der Männer schon nicht mehr zu.

Im Weggehen stolperte sie über einen Blecheimer, der scheppernd umkippte. Als sie sich wieder gefangen hatte, blickte sie geradewegs in die Gesichter der Atelierbesucher. Und in die Augen der Blondine. Es war Susanne Meier, die sie erst erstaunt, dann mit zusammengepressten Lippen hasserfüllt anstarrte. Ella zuckte zusammen. Rainers Ex. Die Einzige, die wusste, was damals passiert war.

September 1905

Rauch stieg durch die offene Tür im Giebel der Hütte. Metas Mutter saß auf dem Boden neben dem Feuer und rührte in einem Topf. Durch den Qualm konnte Paula kaum erkennen, wer sich in der Dunkelheit befand.

»Moin!« Paula rief den Gruß ungerichtet ins Innere, damit man ihr Kommen wahrnähme. Sie hielt sich mit einer Hand am Strohdach fest und beugte sich durch die Tür hinein.

»Moin, leve Fru!« Vor der niedrigen Wand aus Torfsoden saßen die beiden Mädchen auf Stroh, das den Boden aus gestampfter Erde bedeckte. Sie tranken aus irdenen Bechern.

»Ich habe euch Äpfel mitgebracht.« Paula betrat die kleine Hütte, die trotz des Feuers noch klamm und kalt von der Nacht war. Kleidungsstücke hingen an Haken von den Dachsparren, auf dem Boden standen Krüge, Schüsseln, Werkzeug und ein Haufen Binsen. Hinten in einer der Butzen lag eine Gestalt und schnarchte.

Meta sprach mit leiser, heller Stimme. »Dat is de Grootvader.« Sie stand vor ihr und freute sich über das Obst, das Paula ihr reichte. Eine schöne Abwechslung zu dem täglichen Buchweizenbrei.

Paula zog die Börse aus dem Mantel, zählte ein paar Geldstücke ab und wandte sich an die Mutter. »Ich danke Ihnen, dass Sie mir Meta für heute ausleihen. Ich werde ein schönes Bild von ihr malen.«

Anna sah sie nur stumm an, steckte das Geld ein und senkte die Lider. »Bilder malen« war bei den hart arbeitenden Leuten »Tünkram«. Und es würde ein anstrengender Arbeitstag werden ohne die Hilfe der Ältesten.

Paula wollte sich den Tag nicht durch trübe Gedanken verderben lassen. Schon vor dem Frühstück war sie singend durchs Haus getanzt, voller Vorfreude auf die Farben und das Licht, das sie auf die Leinwand bannen wollte. Es musste ein Leuchten im Hintergrund des Kindes geben, ein Leuchten ohne Sonne. Und Metas klugen, ernsten Blick sollte der Betrachter für alle Zeit auf sich gerichtet sehen. Dies würde ein gutes Bild werden.

Mit Otto hatte sie beim Frühstück kaum ein Wort gewechselt. Der Dorn seiner spitzen Kritik vom Vortag saß noch immer tief. Stumm saßen sie einander gegenüber, während Paula die meiste Zeit aus dem Fenster starrte. Der Wind bewegte die Zweige der Birken vor dem Haus. Einige Blätter hatten sich schon gelb gefärbt. Sie sah, wie hohe Wolken in einem weiten lichten Raum über die Wiesen zogen. Wie eine Verheißung. Sie musste raus. Raus aus der engen Heimeligkeit und den täglichen Ritualen. Das Leben hatte noch so viel zu bieten.

4

Eine Windböe erfasste Lennards Schirm, als er am Dom vorbeiging, und drehte ihn so, dass ihm der heftige Regen ins Gesicht peitschte. Im Zickzack bahnte er sich seinen Weg über den Bremer Marktplatz, vorbei an Pfützen und gurgelnden Bächen, die in der Kanalisation versanken. Neidisch sah er die Gäste des »Alex«, die in dem großen Glaskasten am Kopf des Platzes Kaffee tranken und ihm gelangweilt zusahen, wie er sich durch das Wetter kämpfte.

Der Herbst hatte seinen ersten Sturm in die Stadt geschickt. Der zerrte knatternd an den Planen der letzten Marktstände und seinem feuchten Mantel. Im Tunnel unter dem Wall blieb er kurz stehen und trocknete mit dem Taschentuch sein Gesicht. Die Lederslipper waren durchnässt, ihm war kalt. Lennard verfluchte seine Idee, zu Fuß zur Galerie von Ferdinand Mathieu zu gehen. Auf den matschigen Wegen der Wallanlagen rutschte er über bunte Blätter.

Er überquerte die Brücke über den Wallgraben und erreichte endlich den Fedelhören. Zweistöckige Reihenhäuser, einige mit Markisen und Glasdächern vor den Geschäften, säumten beidseits die Straße. Bei Regen sah es hier genauso trostlos aus wie in den anderen Straßen, deren Häuser in der Nachkriegszeit in die Brandlücken gebaut worden waren. Dennoch war es eine der besten Adressen in Bremen. Das lag an den schönen Geschäften mit Antiquitäten, Kunst und Teppichen und an dem Edel-Italiener, der bei der Oberneulander Schickeria gerade angesagt war.

Ein Auto fuhr neben ihm durch eine Wasserlache auf dem Kopfsteinpflaster. Lennard machte gerade rechtzeitig einen großen Satz in den Eingang der Galerie und betrat fluchend den Laden.

»Ach, Sie Armer. Sie sehen ja aus, als ob Sie hergeschwommen wären. Warten Sie, ich hole ein Handtuch.« Isabelle Mathieu trug heute einen langen Strickmantel über einem hautengen Kleid im Ethnostil. Es hatte ein verwirrendes Muster in Türkis und Schwarz. Auf Plateausandalen stöckelte sie in die hinteren Räume. »Ferdi, Herr Cordes ist da.«

An den Wänden hingen Ölgemälde. Zwei davon konnte Lennard identifizieren: eine Landschaft von Heini Linkshänder und ein Stillleben mit Muscheln von Werner Zöhl. Die Namen kannte er aus einem Kalender mit Kunstdrucken, der auf der Arbeit im Flur hing.

»Bitte schön.« Frau Mathieu stellte sich neben ihn und reichte ihm ein graues Frotteehandtuch. Eine Wolke aus Moschus und Patschuli raubte ihm kurz den Atem. »Wir stellen hauptsächlich zeitgenössische Kunst aus Bremen und Umgebung aus. Die Worpsweder sind unser Spezialgebiet. Wir haben auch schon Bilder der klassischen Moderne gezeigt.«

»Ich grüße Sie, Herr Cordes.« Ferdinand Mathieu betrat den Verkaufsraum und reichte ihm die Hand. »Das ist aber ein Mistwetter, was Sie da mitbringen.«

Er breitete theatralisch seine Arme aus. »Das ist sie, meine Galerie. In den oberen Räumen habe ich noch weitere Bilder. Die ganz wertvollen werden hier natürlich aus versicherungstechnischen Gründen nicht ausgestellt. Aber«, er blickte ihn lächelnd aus den Augenwinkeln an und zog die Brauen nach oben, »ich habe meine Spezialkunden, denen ich die exquisiten Werke persönlich zeige.«

Er ließ den linken Arm fallen und schob seinen Gast mit dem rechten zu einer Sitzgruppe am Fenster. »Isabelle, meine Liebe, kochst du unserem verkühlten Gast einen Tee? Oder ist Ihnen Kaffee lieber?«

Lennard nahm auf einem der harten Stühle Platz. Aus seiner Umhängetasche holte er einen Laptop und stellte ihn auf das runde Tischchen. Während Ferdinand Mathieu die Tassen holte, sah er nachdenklich in den unentwegten Regen. Wie sollte er sein Anliegen formulieren?

Es war der Typ aus der WG, John, der die Portweinprobe organisiert hatte. Er hatte ihm geraten, sich an Mathieu zu wenden. John hatte ihn, gleich nachdem Kevin ihn vorgestellt hatte, ausgefragt. Wahrscheinlich auf der Suche nach einem lukrativen Geschäft. Er sei ein Selfmademan, er könne alles besorgen, habe beste Kontakte und immer eine Lösung – egal, wie das Problem laute. Da war John aber schon nicht mehr nüchtern gewesen und hatte eher gelallt als gesprochen.

»Halt! Reden Sie nicht weiter.« Der Kunsthändler war, sobald Lennard an dem Abend sein Anliegen zu äußern begonnen hatte, sehr streng geworden. Erschrocken hatte Lennard mitten im Satz abgebrochen. Hatte er Mathieu verärgert? Hatte der ihn durchschaut und wollte mit der Sache nichts zu tun haben? Mathieu hatte ein silbernes Kartenetui aus seiner Jackettinnentasche gezückt und ihm eine Visitenkarte gereicht. »Rufen Sie mich an. Wir machen einen Termin aus. Dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«

Jetzt kam Ferdinand Mathieu mit einem Tablett und drei japanischen Teeschalen zurück. Er drapierte alles rund um Lennards Laptop. Isabelle stakste hinter ihm her und goss aus bedenklicher Höhe eine hellgrüne Flüssigkeit in die Schalen. »A Li Shan Chulu.« Ihre Stimme klang andächtig.

»Wie bitte?«

»Ein Oolong-Tee, hergestellt nach uralter chinesischer Tradition.«

Lennard nickte anerkennend. Normalerweise trank er Kaffee und bei seiner Oma Büntings Ostfriesenmischung. »Könnte ich vielleicht Zucker haben?«

Isabelle sah ihn an, als habe er eine obszöne Bemerkung gemacht, drehte sich und eilte zurück in die Küche.

»Nun, was haben Sie mitgebracht?« Mathieu schien neugierig zu sein.

Lennard war nervös. Er hatte gegenüber John zwar angedeutet, ein Geschäft im Sinn zu haben, »das eine gewisse Diskretion erfordere«. Das war aber untertrieben. Es war ein illegaler Deal, den er plante. Aber die einzige Möglichkeit, seine Existenz zu retten. Er öffnete die Datei mit den Fotos, die er gemacht hatte, und wartete mit klopfendem Herzen auf Mathieus Reaktion.

»Wow!« Mathieu zog sich den Computer dichter heran. »Ist es das, wonach es aussieht?«

»Absolut.«

»Das Original?«

Lennard nickte.

»Wo haben Sie es? Kann ich es sehen?«

Lennard schluckte. Kurz durchzuckten ihn Bedenken. Was er vorhatte, war Betrug. Gewissermaßen.

»Oder haben Sie es gar nicht?«

»Doch, doch.« Er würde es dem Kunsthändler zunächst einmal zeigen. Wie es weiterginge, würde er von Mathieus Interesse und dessen Beziehungen abhängig machen. Hoffentlich konnte er ihm schon einen Vorschuss geben. Ein schlechtes Gewissen konnte er sich jetzt nicht leisten. »Ich bringe es Ihnen nächste Woche vorbei.«

September 1905

Paula schnallte die Staffelei auf den Rücken, schulterte die Mappe mit dem Papier und reichte Meta die Hand. Sie mussten langsam gehen, denn die Kleine hatte Holzschuhe an den Füßen. Die Tagelöhner wohnten am Rand von Worpswede, und schon bald liefen sie über weichen, morastigen Moorboden. Der Wind hatte etwas nachgelassen, und wie angekündigt war es trocken. Sie gingen in Richtung Weyerberg. Dort, etwas erhöht über der weiten Ebene nach Norden, sollte Meta sich in ihrem roten Kleid an eine Birke lehnen. So wollte Paula sie malen.

Aus der Nähe betrachtet war das Kleid ein fadenscheiniger Fetzen mit einigen Löchern und einem Riss am seitlichen Saum. Es war viel zu dünn für das beginnende Herbstwetter, aber Paula nahm an, dass Meta kein anderes Kleidungsstück besaß. Es war schon ein Glück, dass sie Schuhe trug. Viele Kinder der armen Leute mussten bis in den Winter barfuß gehen.

»Gehst du auch zur Schule?«

Meta schüttelte den Kopf. »Nee, ik mutt den Öllern helpen.«

»Kannst du denn lesen?«

Wieder Kopfschütteln.

»Schade. Sonst hätte ich dir ein Buch geschenkt.«

Sie waren an einer Biegung des Wegs angekommen. Eine Birke warf Schatten auf ein abschüssiges Feld, hinter dem sich weite Moorwiesen erstreckten. Hier sollte Meta Modell stehen. Paula stellte die Staffelei auf und legte den Zeichenblock darauf. Dann zeigte sie Meta, wie sie stehen sollte. Schnell machte sie mit der Zeichenkohle eine Skizze, die eine erste Gliederung des Bildes darstellte. Sie wollte das Gemälde ganz einfach halten.

»Hast du noch den Apfel?« Einen Apfel der Erkenntnis, dachte sie. Vielleicht würde er helfen, Klarheit darüber zu gewinnen, wie ihr Leben weitergehen sollte.

Meta suchte in den Taschen ihres Kleides.

»Nimm ihn in die rechte Hand.« Paula ging zu dem Mädchen und führte den Arm mit dem Apfel. »So.«

Mit kräftigen Pinselstrichen gestaltete sie jetzt das Bild. Die Haltung des Kindes hatte sie gut eingefangen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, den Blick ernst und etwas traurig. Die Gesichtszüge malte sie flächig, fast grob. So wirkte es echter, ursprünglicher. Am Dienstag war die Farbenlieferung aus Düsseldorf eingetroffen: Lukas’ feinste Künstlerfarben. Damit malte man sogar in Paris. Siena, Magentarot, Grüne Erde, Umbra, Indigo, Kadmiumrot – der Anblick der prall gefüllten Aluminiumtuben hatte sie berauscht.

Voller Lust nahm sie mit dem Pinsel die Zinnoberfarbe auf. Leider teuer, aber es war ihre Lieblingsfarbe. Das Kleid sollte Lebensenergie und Freude symbolisieren. Vielleicht auch ein wenig Paulas Wut. Die spürte sie immer noch, nachdem sie am Morgen fluchtartig das Haus verlassen hatte. Es hatte keine Versöhnung gegeben. Otto schwieg, wie immer. Sie wollte nicht daran denken.

»Was möchtest du denn später einmal machen? Weißt du das schon?«

Meta sah sie schweigend an. Paula war sich nicht sicher, ob das Mädchen ihre Frage verstanden hatte. Dann, mit zaghafter Stimme: »Ik will later in een echten Huus wohn.«

»In einem Haus? Wie willst du das erreichen? Hast du schon mal darüber nachgedacht?«

»Ik …« Meta stockte. Sie drehte ihren Kopf zur Seite und blickte in die Ferne.

»Nicht bewegen!«

Der Kopf drehte sich wieder zurück. »Ik kunn villicht ’n Posten in een Huushollen annehm.«

»Dann musst du aber auch etwas lernen. Sonst wird man dich in keinem Haushalt einstellen.«

Meta sagte nichts.

»Aber sicher möchtest du später heiraten und Kinder kriegen.«

Das Mädchen zuckte die Schultern. Wahrscheinlich war das eher ein Fluch als ein Wunsch. Die armen Leute im Moor bekamen so viele Kinder, dass sie oft keinen Platz in den kleinen Hütten für sie hatten. Hunger und Kälte waren ständige Begleiter. Die Lebensumstände waren so schwer, dass viele von ihnen starben, bevor sie zehn Jahre alt waren.

»Wenn der Torf jetzt abtransportiert ist, hast du doch sicher etwas Zeit? Du könntest doch im Winter zur Schule gehen.«

Meta stand schweigend an die Birke gelehnt.

»Frag deine Mutter. Du musst ein bisschen dafür kämpfen, dass du mal etwas wirst.« Das sagte Paula sich selbst jeden Tag. Sie wollte doch auch »etwas werden«. Und nicht nur als »Frau vom Maler Modersohn« durchs Leben gehen. Sie saß genauso fest wie das kleine Mädchen. Kein Geld, keine Anerkennung, kein Erfolg. Nicht einmal ihr Ehemann glaubte an sie. Was war die Ehe wert, wenn die Loyalität fehlte? Wenn Otto ihre Kunst nicht mochte, konnte er sie auch nicht lieben. Denn sie war alles nur durch ihre Kunst.

Das Licht war nun ein wenig wärmer geworden. Es ging auf fünf Uhr zu, und wie erwartet fiel durch die schattigen Bäume am Wegesrand das Abendlicht. Die Wiesen bekamen einen duffen silbrigen Schimmer, und das Leuchten am Horizont verhieß einen Weg.

5

Sie hatte wieder von ihm geträumt. Genau konnte sie sich nicht an den Traum erinnern. Aber an das Gefühl panischer Angst. Und an den kalten Blick hinter gelben Gläsern von Kommissar Tietjen.

Jetzt stand Ella müde, mit brennenden Augen und einem pelzigen Gefühl im Mund vor der »Seniorenresidenz Hanseat«, einem renovierten Gebäude aus den Sechzigern. Sie betrat die Lobby durch einen Glasanbau mit automatischer Schiebetür. Hinter dem Buchenholztresen im gleißenden Licht der Deckenstrahler stand Frau Bärmann, die leitende Pflegekraft. »Hallo, Bärchen.«

Frau Bärmann war etwas älter als Ella. Eine patente Frau mit blondem Kurzhaarschnitt, Ende vierzig. Sie trug einen schmal geschnittenen weißen Kittel und war dezent geschminkt. Sie kannten sich, seitdem Ella vor ein paar Jahren den ersten Hausbesuch bei einer Heimbewohnerin gemacht hatte.

»Hallo, Doktorin. Geht es dir nicht gut? Du siehst etwas blass aus.«

»Schlecht geschlafen. Du hattest mich wegen Frau West angerufen.«

Ella machte nur selten Hausbesuche, aber einige ältere Patientinnen waren so eingeschränkt in ihrer Mobilität, dass sie die gynäkologische Versorgung vor Ort vornahm. Frau West war bisher nicht ihre Patientin gewesen.

»Frau West ist schon über neunzig, aber noch ganz fit. Gestern hat sie beim Waschen einen Knoten in ihrer linken Brust getastet. Sie ist sehr besorgt und nervös. Seitdem ist ihr Blutdruck viel zu hoch. Schau sie dir einmal an. Vielleicht kannst du sie ein bisschen beruhigen.«

Sie gingen durch den Aufenthaltsraum, in dem noch der Geruch des Frühstückskaffees hing. Drei Frauen saßen an einem Tisch und verfolgten eine Tiersendung im Fernsehen.

»Hallo, die Damen.« Ella betrachtete die grauen stumpfen Haare und die dunkle Kleidung. Warum sahen alte Menschen oft so traurig aus? Würde es ihr auch so gehen, wenn sie siebzig war? Ob ihre Tochter Clara sich um sie kümmern würde? Sie hatte Angst davor, allein und ohne jemanden, der sie liebte, im Heim zu sterben.

»Ist jetzt nicht gerade Gymnastik im Fitnessraum? Keine Lust?« Frau Bärmann ging zügigen Schrittes zur Terrassentür auf der anderen Seite des Raums. Eine der Frauen winkte genervt ab.

Ella und die Pflegerin verließen das Hauptgebäude und durchquerten den Garten. Ein breiter gepflasterter Weg führte vorbei an duftenden Rosenbeeten zu einem Pavillon mit ebenerdigen Wohnungen. Frau Bärmann klingelte an der ersten Tür. Eine elegant gekleidete Dame öffnete ihnen.

»Guten Tag, Frau West. Dies ist Frau Dr. Carbonne.«

»Oh, wie schön. Treten Sie ein.« Sie war klein, höchstens einen Meter fünfzig. Ihre Haare waren perfekt frisiert und hatten die gleiche Farbe wie ihre Perlenkette.