Die Toten von Norderney - Christian Hardinghaus - E-Book
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Die Toten von Norderney E-Book

Christian Hardinghaus

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Beschreibung

Ein Serienmörder kopiert die blutigsten Verbrechen der Geschichte – wer entkommt dem tödlichen Spiel?
Der zweite Band des fesselnden Kriminalthrillers am Wattenmeer von Norderney

Die Urlaubsstimmung während einer Hitzewelle auf der Insel Norderney wird jäh unterbrochen: Die Frau eines berühmten Fußballspielers und ihr Liebhaber werden brutal ermordet aufgefunden. Als der Spieler selbst spurlos verschwindet und kurz darauf ein Stadtrat tot in einer Hotelbadewanne liegt, sieht sich Kriminalhauptkommissar Carsten Kummer mit einer düsteren Herausforderung konfrontiert. Kummer, der seit seinem ersten Fall auf der Insel unter posttraumatischer Belastungsstörung leidet, entdeckt erschreckende Parallelen zu historischen Mordfällen. Ein Serienmörder scheint sein Unwesen zu treiben, der bekannte Verbrechen kopiert. Die Ermittlungen spitzen sich zu, als der mysteriöse Psychiater Dr. Karlsson in Kummers Arbeit eingreift. Was verbirgt Karlsson in seinem geheimen Labor auf dem Klinikdach? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem Kummer mehr als nur seine geistige Gesundheit riskieren muss. Wird er den Mörder stoppen, bevor er erneut zuschlägt?

Weitere Titel in der Reihe
Das Grab auf Norderney (ISBN: 9783989982796)

Erste Leser:innenstimmen
„Ein Krimi, der die idyllische Nordseeinsel Norderney in einen Ort des Schreckens verwandelt. Die Verbindungen zu historischen Verbrechen machen die Geschichte besonders fesselnd.“
„Dieser Roman bietet alles, was das Herz eines Krimi-Fans begehrt. Eine geheimnisvolle Insel, brutale Morde und ein gebrochener Ermittler – Spannung pur!“
„Die Geschichte hält den Leser mit seinen unerwarteten Wendungen und tiefgründigen Charakteren in Atem. Ein Muss für alle, die komplexe und atmosphärische Krimis lieben.“
„Die sommerliche Hitzewelle auf Norderney und die bedrohlichen Morde schaffen einen einzigartigen Spannungsbogen. Ein Buch, das unter die Haut geht.“

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Seitenzahl: 351

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Über dieses E-Book

Die Urlaubsstimmung während einer Hitzewelle auf der Insel Norderney wird jäh unterbrochen: Die Frau eines berühmten Fußballspielers und ihr Liebhaber werden brutal ermordet aufgefunden. Als der Spieler selbst spurlos verschwindet und kurz darauf ein Stadtrat tot in einer Hotelbadewanne liegt, sieht sich Kriminalhauptkommissar Carsten Kummer mit einer düsteren Herausforderung konfrontiert. Kummer, der seit seinem ersten Fall auf der Insel unter posttraumatischer Belastungsstörung leidet, entdeckt erschreckende Parallelen zu historischen Mordfällen. Ein Serienmörder scheint sein Unwesen zu treiben, der bekannte Verbrechen kopiert. Die Ermittlungen spitzen sich zu, als der mysteriöse Psychiater Dr. Karlsson in Kummers Arbeit eingreift. Was verbirgt Karlsson in seinem geheimen Labor auf dem Klinikdach? Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem Kummer mehr als nur seine geistige Gesundheit riskieren muss. Wird er den Mörder stoppen, bevor er erneut zuschlägt?

Impressum

Überarbeitete Neuausgabe September 2024

Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-98998-283-3 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-320-5

Copyright © 2019, KBV Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2019 bei KBV erschienenen Titels Die Schatten von Norderney (ISBN: 978-3-95441-458-1).

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Resul Muslu stock.adobe.com: © Tommaso Lizzul, © bluraz, © Olga, © XtravaganT, © Mikiehl Design, © Met elements.envato.com: © ghostlypixels Korrektorat: Daniela Pusch

E-Book-Version 09.10.2024, 13:06:13.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Die Toten von Norderney

Prolog

Norderney, 12. Juni 1815

Der Regen prasselte unablässig gegen die Fenster der kleinen Polizeiwache, als der Gendarm Hilko Martens die zitternde Pflegeschwester Gesine musterte. Sie kauerte seit einer Ewigkeit auf dem kalten Steinboden und vergrub ihren Kopf in der Armbeuge. Die Zwanzigjährige in ihrem langen, weißen Kleid hob den Kopf, ihre Augen waren verquollen vor Tränen und Verzweiflung.

»Dir ist sicher gewahr, dass ein Niemand auf Norderney von dieser Totenkammer in unserer Krankenanstalt weiß, von der du redest«, raunte Martens.

Gesines Brust bebte, sodass sie nur stotternd sprechen konnte. »Ich … Ich … wei… weiß. Dok… Doktor Eisenfels sagt mir das jed… jeden Tag.«

Martens unterbrach ihr Schluchzen schroff: »Dann unterlasse jetzt das Getöse und Geflenne, setz dich an den Tisch und nimm einen Schluck!«

Gesine hob den Kopf und Martens bemerkte, dass die Schwester sich in die Lippe gebissen hatte, ein schmales Rinnsal aus Blut und Tränen lief ihr den Hals hinab. Sie rührte sich nicht.

»Hinsetzen, auf der Stelle, sagte ich«, brüllte der Gendarm und schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass der Kerzenständer umfiel und das Wachs über die Platte spritzte. »Verdammt noch eins!« Martens richtete Ständer und Kerze wieder auf und entzündete die Kerze erneut. »Hätte meine beste Uniformjacke etwas abbekommen, wärest du die Schuldige gewesen. Du weißt, was das heißt?«

»Ja, Herr Wachtmeister, es tut mir leid, Herr Wachtmeister«, stammelte Gesine, kroch auf den Knien über den Boden und zog sich an der Seite der hölzernen Bank hoch.

»So, nun trinke endlich!« Obwohl der bronzene Becher schon zu drei Vierteln gefüllt war, goss Martens erneut aus dem Krug mit Rum nach. Bevor der Rand überlaufen konnte, griff Gesine eilig nach dem Becher, denn sie fürchtete, durch ein weiteres Malheur würde sie in noch größere Schwierigkeiten geraten. Sie fühlte, wie die Angst sie überwältigte. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie den Becher kaum halten konnte. Sie dachte an die schrecklichen Dinge, die sie gesehen hatte, die Schreie und das Blut. Sie wusste, dass sie hier nicht sicher war, dass Martens ihr jeden Moment etwas antun könnte, wenn er ihr nicht glaubte. Sie führte sich das Gefäß an den Mund und kippte es nach hinten. Augenblicklich begann ihre Kehle zu brennen. Sie hustete.

»Noch einen«, rief Martens grinsend. »Zur Beruhigung!«

Gesine trank erneut, röchelte, wischte sich dann den Mund ab und stellte den Becher zurück.

»Ich sage dir, wenn ich da raus reite und ich keinen verbrannten, jungen Mann mit einem Metallstab im Auge vorfinde, den ihm unser ehrwürdiger Doktor Eisenfels dort hineingerammt haben soll, dann sperre ich dich hier ein Jahr lang wegen unverschämter Lügen in den Kerker. Leuchtet dir das ein, Gesine Kaufmann?«

»Bitte, Herr Wachtmeister Martens, Sie müssen mir Glauben schenken. Ungeheuerliches geht im Krankenlager des Doktors vor sich. Sie können die anderen Frauen fragen oder den Hannes, der hat´s ja gesehen.«

»Müssen tue ich gar nichts, zum Henker«, sagte Martens, zog eine silberne Dose aus seiner grünen Jacke, stopfte sich den Kautabak in beide Backentaschen und rieb auch etwas davon auf sein blasses, kaum vorhandenes Zahnfleisch. Die unebenen, gelben und verfaulten Zähne des Gendarmen lösten einen Würgereiz bei der Pflegeschwester aus. »Aber ich frage dich wohl«, sagte Martens. »Sodann und erneut: Warum wohl sollte unser neuer Insel-Medizinalrat das getan haben?«

»Ich weiß es doch nicht.« Gesine seufzte und hielt sich beide Hände vor die Augen. »Bitte, so reiten Sie hinaus und schauen nach. Die Totenkammer befindet sich im Keller. Es gibt unten nur diesen Raum und dort nur jenen Kranken.«

»Was ist mit den anderen Leidenden? Haben die keinen Stab im Auge?« Martens lachte, während er seine Tabakdose wieder in die Brusttasche schob.

»Nein, wer oben ist, braucht nichts zu befürchten. Nur wer sich über Wochen weigert, gesund zu werden, und dabei verblödet, der kommt herunter in die Totenkammer.«

»Verblödet?«

»Ja, Herr Wachtmeister!«

»Das soll sie mir erklären, bevor ich aufbreche.«

Gesine nahm den Becher und trank einen weiteren Schluck. Sie musste sich Gehör verschaffen, das würde nur klappen, wenn sie sich zusammenriss. »Alsdann. Ich will es Ihnen erzählen!«

»Das möchte ich hoffen und keine Lügen oder Märchen darüber hören«, brummte Martens und wies mit dem dreckigen Zeigefinger auf die Tür, neben der zwei brennende Öllampen an der Wand hingen. Auf dem Holzschild darüber war das Wort Kerker eingeritzt.

»Der Joris, ältester Sohn vom Gutsherren Peterschmidt aus Aurich, den sie rübergebracht haben vor ein paar Wochen.«

»Ja?«

»Er leidet schwer an einer seltenen Erkrankung, und der Doktor hat sich angeboten, ihn für eine neuartige Behandlung hierzubehalten. Er hat eine Woche nicht gesprochen und sich kaum gerührt. Auch das Essen und Trinken wollt er nicht, nur mit Gewalt ging das. So kam er hier schon an, deswegen war er ja hergebracht worden.«

»Ich bin im Bilde«, sagte Martens. »Eine Nervenkrankheit, an der er leidet, seit seine Frau das dritte tote Kind gebar. Auf dem Festland konnten ihm weder Arzt noch Heiler helfen. Eine ausgezeichnete Entscheidung des Gutsherrn, seinen Balg hier behandeln zu lassen.«

»Ja«, sagte Gesine. »Denn der Doktor Eisenfels ersucht sich doch um einen Ruf als Nervenarzt. Und Norderney gilt doch schon überall als Wunderinsel, so viele wie hier gesund werden, aber nicht der Joris, der arme Kerl.«

»Ja?« Martens klang höhnisch. »Und warum wird er nicht gesund? Was hat der Doktor denn wohl unternommen gegen diese geistige Umnachtung des Patienten?«

Gesine schaute Martens direkt in die Augen. Ihre Stimme wirkte entschlossener. »In der zweiten Woche hat er ihm ein verseuchtes Laken eines an Krätze leidenden Kranken ins Bett gelegt. Sofort wurde der Joris angesteckt. Am ganzen Körper hat er sich blutig gekratzt. Doch noch immer nichts gesprochen.«

»Das ist doch ein Märchen und törichter Humbug. Warum sollte er eine zweite Krankheit verpasst bekommen, wenn schon die erste nicht kuriert wird?«

»Weil der Doktor sagt, der Schwachsinn sei eine Blockade, die durch ein anderes Gebrechen gelöst werden kann.«

»Soso«, sagte der Gendarm und zupfte sich an seinem Zwirbelbart. »Ist sie aber nicht?«

»Nein, und das hat Doktor Eisenfels noch wütender gemacht. In der dritten Woche setzte er ihn jeden Tag für quälende Minuten in ein Eisbad. Er hat so geschrien, dass ich Angst bekam. Aber ein Wort gesprochen hat er dennoch nicht.«

»Ich hörte von derart merkwürdigen Methoden«, antwortete Martens, der weiter mit der Pflege seines Bartes beschäftigt war. »Sie sollen doch Wirkung entfalten, was man so liest.«

»Aber doch nicht eine Woche, immerzu und ewig länger. Bald bekam Joris dann das Fieber, das sich der Doktor wünschte, aber noch immer …«

»… sprach er kein Wort«, entgegnete Martens und gähnte. »Ich ahne es schon. Was geschah dann in der vierten Woche, die ja nach meinen Berechnungen die jetzige sein müsste?«

»Der Doktor schlug – und ich schwöre es bei den geliebten Eltern – vor meinen Augen gestern Abend dem Joris mit voller Wucht einen Metallstab in sein linkes Auge. Das Blut spritzte bis an die Wand. Ich habe keinen Menschen, nicht mal ein Tier, zuvor so kreischen gehört.« Gesine schluckte. »Dann klopfte er auf das Ende des Stabes mit dem Hammer ein, und der Joris hat die Augen verdreht, zumindest eins, das rechte, und ganz hektisch geatmet und gekrampft. Heute Morgen wollte ich nach dem Armen sehen und seine Wunden versorgen, aber die Kammer war zugeschlossen. Ich habe überall gesucht, der Joris war verschwunden, und auch den Doktor hat man nicht gesehen. Aber der Hannes, unser Wächter, verriet mir, dass Eisenfels ihm den Auftrag erteilt hatte, den bedauernswürdigen Joris noch in der Nacht zu verbrennen. Er hat mir die Stelle genau gezeigt.« Gesine schluchzte. »Und der Stab steckt nun immer noch da, inmitten der Überreste und der Asche, da wo dem Joris sein Kopf sein müsste.«

»Pah, die Geschichte glaub ich nicht«, sagte Martens. »Nie im Leben!«

»Ich ahnte das«, sagte Gesine, ließ den Kopf hängen und wimmerte. Aber dann stützte sie sich entschlossen mit den Händen auf dem Tisch auf und rief laut: »Aber das ist doch Mord, das geht doch nicht. Das hätte der Doktor nicht tun müssen. Es ist doch seine Schuld?«

»Was erlaubst du dir eigentlich, du kleines Bauerngesindel? Weißt wohl nicht, dass der Doktor ein Studierter ist. Er wird schon eher wissen, was er anstellt, wie das funktioniert in der Medizin, als du kleines Dorftrampelchen. Kranke, Gebrechliche, Versuchte und Irre zu pflegen, das ist doch keine Kunst. Das ist nur eine Bürde, die einer macht, der sonst kein Geld auftreiben kann.« Martens schüttelte den Kopf. »Anstatt dankbar zu sein, dass man dir hier auf der Insel eine Gelegenheit gegeben hat, um dir ein paar Taler zu verdienen, kommst du mit so einem Seemannsgarn daher, redest unseren Doktor schlecht, stiehlst mir die Zeit und bist obendrein noch frech.« Martens schielte auf die Tür, die zum Kerker führte.

Gesines Augen füllten sich mit noch mehr Tränen. »Ich will nicht ins Gefängnis, bitte, und ich lüge nicht.«

»Nun ja, ich habe auch keine Lust, dass ich so ein Büttel wie dich da unten versorgen muss.«

»Dann reiten Sie raus?« Gesine wischte sich die Tränen von der Wange.

»Es ist wohl oder übel meine Pflicht, dies zu tun«, brummte Martens. »Auch wenn nichts dran sein wird an der kruden Geschichte. Der Hannes wird‘s mir dann verraten oder der Doktor, wenn er wieder da ist.«

»Danke, Herr Wachtmeister«, winselte Gesine. »Habt großen Dank dafür.«

Martens stand auf und setzte sich seine Spitzhaube auf, die er an ein Nagelbrett an der Wand gehängt hatte. »Du wartest hier, bis ich zurück bin, und rührst dich nicht von der Stelle«, sagte er und zog Gesine heftig von hinten an den blonden Haaren. »Und du fasst auch kein Stück an und klaust nichts.«

»Aua. Nein, ich meine, ja, ich bleibe hier, ganz sicher tu ich das. Keine zehn Pferde bringen mich freiwillig zurück an diesen schaurigen Ort. Und ich bin doch keineswegs so blöd und stehle etwas bei der Polizei.«

Es dauerte fast eineinhalb Stunden, bis Martens zurückkehrte. Er trat ein und stieß mit seinen Lederstiefeln gegen die Bank, auf der Gesine eingeschlafen war. »Aufwachen, Weib! Schlafmütze!«

Gesine wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Herr Wachtmeister, Sie sind zurück. Haben Sie die Stelle gefunden?«

»Das kann schon sein«, sagte der Gendarm.

»Dann wissen Sie Bescheid? Ist es Mord? Ja? Wird der Doktor eingekerkert?«

»Nun mal langsam«, antwortete Martens ruppig und setzte sich zurück an den Tisch. Unter seinem Mantel zog er den herausgerissenen Teil einer Zeitung hervor. »Wir besprechen das gleich, doch erst will ich, dass du das hier liest. Du kannst doch lesen, wenn ich mich recht erinnere?«

Gesine nickte, und Martens entfaltete das Blatt, legte es dann vor sie hin und schob den Kerzenständer dicht davor. »Das ist ein Bericht aus dem Politischen Journal für die Provinz Ostfriesland vom 28. Mai 1815, recht aktuell, will ich meinen.« Er räusperte sich. »Lies jetzt!«

»Jawohl, Herr Wachtmeister.« Gesine beugte sich vor und legte den Zeigefinger auf die Stelle, an der der Artikel begann. Sie las fast flüssig vor: »Norderney im Aufwinde, von Doktor von Halem: Das erste deutsche Seebad auf unserer Insel Norderney verdient alle Aufmerksamkeit, im ganzen Lande und darüber hinaus. Nun sind zwei Jahre vergangen, seit wir die Franzosen von der Insel geworfen haben. Seither nähert sich Norderney immer mehr dem Grade der Vollkommenheit. Auf der Wiese vor dem Conversationshause feiern und tanzen die Gäste zusammen mit den Inselbewohnern, in deren Häusern sie wohnen. Das neue Glück und der plötzliche Reichtum jedes einzelnen Heimischen sind für diesen wohl kaum schon in Gänze zu erfassen. Gemeinsam spielt man Billard, fährt mit den Badekutschen zum Meer. Die Warmbäder, die funktionierende Post, die reine Luft, der temperierte Sandboden, die fröhliche sorgenfreie Unterhaltung – das passt einfach für jeden. Das gesellschaftliche Hin und Her, das Fahren über das Meer, das Plaudern mit Bekannten und Unbekannten, das behagliche kühle Baden – all das macht die Insel zu einem Paradies und in allen Landen bekannt. In nichts steht dieses zweite deutsche Seebad, und das erste in der Nordsee, denen der Engländer mehr nach. Und das Beste ist, bei all dem Vergnügen wird ein jeder hier gesund. Die Heilung vieler chronischer Krankheiten ist gewiss. Und stolz will ich verkünden, durch unseren neuen Inselarzt Doktor Eisenfels können sogar die nervlichen Leiden, für die es bisher keine Möglichkeit gab, gebessert und geheilt werden, bald ausgemerzt. Nur auf Norderney. Norderney im Aufwinde! Unsere Insel, ein deutscher Traum!«

Gesine legte die Zeitung zurück auf den Tisch und dachte nach. Ein spannender Bericht, aber sie verstand nicht, was das mit ihrer Situation zu tun haben sollte.

»Und?«, fragte Martens.

»Ich verstehe nicht.«

»Norderney im Aufwind, und so soll es bleiben«, sagte Martens. »Du glaubst doch nicht, dass, wenn sich deine Geschichte mit der Totenkammer und dem Mord an dem Herrn Joris herumspricht, dann alles weiterhin so glücklich und friedlich ist auf unserer Insel? Oder glaubst du das etwa?«

»Nein, aber …«

»Nichts aber!« Martens brüllte. »Auf Norderney wird man gesund, hier gibt es weder Mord noch Totschlag, keine ominösen Totenkammern und schon gar keine grausamen Doktoren. Das will unser Inselvogt nicht haben, das wollen die ostfriesischen Stände nicht. Und daran habe ich mich zu halten. Ich bin der verlängerte Arm des preußischen Gesetzes.« Martens stand auf und lief zur Tür. »Ich will meine Ruhe. Ich kontrolliere, ob der Bäcker sauber arbeitet, der Wirt korrekt einschenkt, abends Ruhe herrscht. Wenn sich mal ein Gast bei Tische blamiert oder zwei betrunken aufeinander losgehen, dann ist das gerade zu ertragen. Mehr geht hier nicht, darf hier nicht. Und deswegen werde ich sichergehen müssen, dass du, Gesine Kaufmann, deinen vorlauten Schnabel hältst.« Martens riss die Tür auf.

»Guten Abend.«

Gesines Herz blieb beinahe stehen, als sie die Stimme des Mannes erkannte, der nun von dem Gendarmen eingelassen wurde. Sie versuchte sich unter den Tisch zu stehlen, aber jemand hatte sie schon am Arm gepackt und zog sie hervor.

»Hannes, nein. Nicht du!«, rief Gesine entsetzt und nun gänzlich verstört.

»Es tut mir leid, Gesine, aber ich kann auf das viele Geld nicht verzichten, das mir der Doktor zahlt, wenn ich besondere Aufträge zu erfüllen habe. Wie mit dem Joris und wie mit dem, was ich jetzt mit dir tun muss. Aber hab keine Sorge, es ist schnell vorbei, spürst nichts.«

»Was meinst du denn bloß?«, fragte Gesine und versuchte sich loszureißen. Aber Hannes sprang schon zur Seite und hielt sie jetzt von hinten fest umklammert. Wie gelähmt starrte die Krankenpflegerin auf Doktor Eisenfels. Mit kalten Augen fixierte er Gesine und bewegte sich langsam auf sie zu. In der linken Hand hielt er den Metallstab, in der rechten einen Hammer.

1. Schatten der Vergangenheit

Norderney, 2. August 2018

»On the first part of the journey, I was looking at all the life …«

Carsten Kummer saß erschöpft und gedankenversunken in seinem mintgrünen Porsche 911 und starrte aus dem Fenster auf das Parkdeck der Fähre. Seit er seinen Dienstwagen auf die Fähre nach Norderney gesteuert hatte, spielte Americas Song A Horse with No Name in Endlosschleife über die Musikanlage seines Autos. Die Lautsprecherboxen waren aufgedreht, ebenso wie die Klimaanlage, denn draußen herrschten unerträgliche vierunddreißig Grad. Selbst das Parkdeck der Fähre glühte in der Sonne, und beim Versuch auszusteigen, hatte Carsten das Gefühl gehabt, seine Schuhsohlen würden am Lack des Bodens festschmelzen. Also hatte er die Tür seines Autos wieder zugeschlagen und war sitzen geblieben. In letzter Zeit verkroch er sich gerne in seinem Porsche. Die Dächer der Autos, die vor ihm standen, glänzten rot, silber und blau in der prallen Sonne. Dahinter erkannte Carsten das glitzernde Blau der Nordsee, das sich bis zum Horizont erstreckte. Möwen kreisten kreischend über dem Schiff und tauchten gelegentlich hinab, auf der Suche nach achtlos weggeworfenem Proviant der neu ankommenden Gäste. Die Fähre bewegte sich gemächlich durch die Wellen, und das beruhigende Auf und Ab des Schiffes stand im krassen Kontrast zur stickigen, stehenden Hitze des Parkdecks.

Während die Musik in seine Ohren drang und die klimatisierte Luft seinen Hinterkopf kühlte, ließ Carsten den Vormittag Revue passieren. Nach einer zähen und anstrengenden Verhandlung, die sich über fast sechs Monate hingezogen hatte, war heute am Landgericht Oldenburg das Urteil im Prozess gegen Gesa Onken, die Mutter seiner kleinen Tochter Leefke, gesprochen worden. Sieben Verhandlungstage lang hatte Carsten als einer der wichtigsten Zeugen ausgesagt und jedes Mal von Norderney nach Oldenburg fahren müssen. Das Einzige, was ihn dabei nicht gestört hatte, war die Gelegenheit, seinen Sportwagen auszufahren – ein Luxus, den er seit seinem Wechsel nach Norderney kaum noch genießen konnte. Carsten war stolz auf seinen Porsche und fand es authentischer, einen flotten Sportwagen zu fahren, als wie einige Kriminalermittler im Fernsehen in einem alten, abgeranzten VW Käfer oder einer Ente zu sitzen. Er hasste Klischees. Und er hasste Gesa für das, was sie ihm angetan hatte.

Nun war es so weit, und er hatte das Urteil vernommen, aber weder Genugtuung noch Gerechtigkeit verspürt. Einzig, dass er diese Hexe nun nie wieder sehen müsste, verschaffte ihm ein wenig Erleichterung. Lebenslänglich wegen mehrfachen Mordes unter der besonderen Feststellung der Schwere der Schuld. Gesa hatte den Urteilsspruch gelassen entgegengenommen, sich danach zu Carsten umgedreht und ihn höhnisch angegrinst, um ein letztes Mal ihren Spott mit ihm zu treiben. Die Frau ist und bleibt wahnsinnig!

Zum eigenen Lächeln war Carsten schon lange nicht mehr zumute gewesen, und heute besonders nicht, selbst nicht aufgrund der Tatsache, dass Gesa durch die gegen sie verhängte Sicherheitsverwahrung nie wieder einen Fuß in die Freiheit setzen und nie mehr jemandem Schaden zufügen könnte. Alles schmerzte zu sehr. Immer noch. Er fühlte sich nicht befreit, sondern wie ein Mitgefangener, wie ein namenloser Schatten an der Wand in Gesas Zelle.

»In the desert you can’t remember your name, ’cause there ain’t no one for to give you no pain …« Carsten sang den Refrain leise mit und trommelte dabei mit den Fingern auf das Lenkrad. Erst als er ein lautes Klopfen an der Fensterscheibe vernahm, ließ er davon ab und schaute auf. »Was ist denn?«, rief er, hob in Erwartung, dass sich jemand über die laute Musik beschweren wollte, den Kopf und schaute über seine linke Schulter. Ein Mann mit auffällig schwarzen Haaren, silbern verspiegelter Sonnenbrille und lässig sitzendem, weißen Shirt schaute zu ihm herein und machte mit der rechten Hand eine schnelle Kurbelbewegung in der Luft. Carsten verstand und drückte den Knopf des elektrischen Fensteröffners. Der Mann, dem breite hellblaue On-Ear-Kopfhörer um den Hals hingen, rief ihm etwas durch die geöffnete Scheibe zu, das Carsten nicht verstand. Jetzt vollzog der Fremde mit Zeigefinger und Daumen eine pantomimische Drehbewegung, lächelte und wies auf Carstens am Armaturenbrett eingestöpseltes Smartphone. Der Hauptkommissar ärgerte sich über sich selbst und drückte die Pausentaste auf seinem Display.

»Mensch, was ist denn mit Ihnen los?«

»Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken«, sagte Carsten.

»In offensichtlich ziemlich trüben«, antwortete der Fremde. »Kein Wunder bei der depressiven Musik. Haben Sie nicht gemerkt, dass wir angelegt haben?«

Carsten zuckte zusammen, schaute durch die Windschutzscheibe auf die vor Hitze flirrende Luft über dem grünen Lack des leeren Parkdecks. Weiter vorne erkannte er den roten Van, der vorhin in der Reihe vor ihm geparkt hatte. Er fuhr gerade auf die Rampe.

»Oh«, sagte Carsten. »Bin wohl eingeschlafen oder so.« Eilig startete er den Motor.

»Das sah aber nicht so aus«, sagte der Mann. »Wir landen auf Norderney. Zeit zu relaxen, mein Freund! Cooler Schlitten übrigens.«

»Ja, und danke«, entgegnete Carsten und wollte das Fenster wieder schließen, als er sah, dass der Mann ihm eine CD durch die Scheibe hereinreichte. Er nahm sie verwundert entgegen und warf einen Blick auf das Cover, auf dem er den Titel Pleasure Mix Ney las und eine Dünenlandschaft erkannte, die ihm bekannt vorkam. Er drehte die Hülle um. Auf der Rückseite waren unter dem Bandnamen Blank & Jones die Titel aufgelistet sowie ein Foto abgebildet, das zwei lächelnde Männer vor stürmischem Meer zeigte. Der eine von beiden war doch der, der neben seinem Auto stand? Die Kopfhörer, die Brille, die pechschwarzen Haare?

»Sind Sie Herr Blank oder Herr Jones?«, fragte Carsten und drehte den Kopf zurück zum Fenster. Aber der Musiker, wenn er dieser denn war, stand dort nicht mehr. Auch in den Seitenspiegeln und dem Rückspiegel keine Spur mehr von ihm.

Der Hauptkommissar wandte seinen Kopf nach hinten und sah, dass die Frau, die im Wagen hinter seinem saß, fluchte. Als sie seinen Blick bemerkte, schien sie das noch mehr zu verärgern. Sie zeigte ihm einen Vogel und drückte dann verärgert auf die Hupe. Nachdem kurz darauf ein zweites Auto anfing zu hupen, hob Carsten beschwichtigend die Hand und fuhr von der Fähre.

Was für eine merkwürdige Begegnung, dachte Carsten, als er die Hafenstraße in Richtung Stadt entlangfuhr. Mit der linken Hand am Steuer griff er mit der anderen nach der CD im Cover. Das gleißende Sonnenlicht spiegelte sich so intensiv auf der Unterseite der CD, dass er für einige Sekunden dunkle Flecken vor seinem linken Auge sah. Es dauerte eine Weile, bis er den Schlitz des Players traf, der die Disc daraufhin hastig einsog, als würde sich die veraltete Technik freuen, nach Jahren mal wieder gefüttert zu werden. Aus nostalgischen Gründen hatte Carsten den Player nie ausgebaut, obwohl er Musik normalerweise über sein Handy abspielte. Die sanften Beats und warmen, fast hypnotischen Klänge, die jetzt aus den Boxen schallten, beruhigten Carsten auf der Stelle. Es schien ihm, als würde der Sound direkt von seinem Herzen absorbiert und von dort in jede Faser seines Körpers transportiert. So etwas wie eine vorsichtige Lebenslust, von der er gar nicht mehr gedacht hatte, sie überhaupt je wieder spüren zu können, begann in ihm zu erwachen.

Er ließ den Blick aus dem Fenster schweifen und beobachtete einen Schwarm Möwen, der auf gleicher Höhe mit ihm über die grünen Wiesen und blauen Seen gen Stadt flog. Auf dem Radweg in entgegengesetzter Richtung erkannte er den als arrogant verschrienen Stadtrat Benjamin Eller, der eigentlich Lothar mit Vornamen hieß. Er radelte ihm mit seinen zwei Kindern im Schlepptau entgegen. Carsten drückte kurz auf die Hupe und hob die Hand zum Gruß. Eller lachte und winkte zurück. Carsten wusste, dass der Politiker sich jetzt zeigen musste, sich ständig unters Volk mischen. Im kommenden Herbst standen Bürgermeisterwahlen an, und da gab er sich freundlich und familiär. Aber Carsten war auch bekannt, dass Eller bei den Norderneyern durch verschiedene kostspielige Bauprojekte in der Kritik stand und vermutlich nicht den Hauch einer Chance gegen den amtierenden Bürgermeister Max Schwätjen haben würde. Aber das war Carsten heute völlig egal, er nickte mit dem Kopf zum Beat und sah im Rückspiegel, wie der Politiker auf sein Auto wies und den aufgeregt wirkenden Kindern etwas erklärte. Der Hauptkommissar: zurück im Revier, wieder auf der Insel.

Für einen Moment vergaß Carsten Gesa. Das Gefühl guter Laune hielt an. Schließlich fühlte er sich so euphorisiert, dass er dachte, er könnte vor der Pressekonferenz, die heute Abend anlässlich der offiziellen Einweihung der neu gegründeten Kripo Norderney im Forum des Hotel Kaiser stattfinden sollte, zu den Freesemanns fahren. Dort könnte er seine Tochter Leefke spontan sehen. Aber als Carsten den Porsche vor dem eigens für ihn angelegten, mit Kies aufgeschütteten Parkplatz vor dem Haus im Argonner Wäldchen abstellte, in dem er jetzt seit einem knappen halben Jahr lebte, verwarf er den Gedanken wieder. Schließlich hatte ihm sein Psychologe doch erst in der letzten Sitzung dringend geraten, sich durch das Einhalten fester Termine mehr Ruhe in seinem gedanklichen Chaos zu verschaffen. Und morgen ist ja auch schon wieder Wochenende, dachte Carsten. Sonntags nach seiner Therapiestunde hatte er immer eine Stunde Zeit für Leefke.

Zunächst war er nur einmal in der Woche zur Therapie gegangen. Nun war Freesemann der Meinung, er müsse auch samstags kommen. Also würde das Wochenende anstrengend werden. Aber er würde seine Tochter in den Arm nehmen und ihr die Sternenlicht-Stoffschildkröte übergeben können, die er vor seiner Abfahrt in Oldenburg gekauft hatte. Es hatte lange gebraucht, bis er das passende Tier gefunden hatte. Überall braune Teddys und bunte Einhörner. Bloß kein Klischee für sein eigen Fleisch und Blut!

Weil es ihm so guttat, spielte er Relax, so hieß das erste Stück der CD, noch zweimal ab, bevor er ausstieg. Schon konnte er den prägnanten Text, der wie auf seinen Tag zugeschnitten war, mitsingen, die Lyrics versprachen ihm das, wonach er sich am meisten sehnte und was er schon lange nicht mehr verspürt hatte:

»Relax your mind. It’s been a long day. I wanna chillout for a while … bring me the cold rain. Something to help relax my mind … relax yourmind.«

»Meine Damen und Herren, verehrte Presse. Wir haben Sie heute Abend ins bezaubernde Hotel Kaiser eingeladen, damit auch Sie sich ein umfassendes Bild über unseren neuen Kriminaltechnischen Ermittlungsdienst hier auf Norderney machen können.«

Hauptkommissar Gert Rickmer begrüßte die rund zwanzig anwesenden Journalisten, die aus ganz Norddeutschland angereist waren und mit weiteren geladenen Gästen die rund vierzig aufgestellten Klappstühle im Forum des Hotels voll besetzten. Trotz ausgezeichnet funktionierender, voll aufgedrehter Klimaanlage schwitzte Rickmer. »Zunächst möchte ich Ihnen die Ansprechpartner vorstellen. Zu meiner Rechten sitzt Oberkommissarin Julia Meyer-Hülsmann, die seit Juni letzten Jahres, nach der schweren Krise der gesamten Norderneyer Polizei, diese als Chefin übernommen hat, und mit ihrem Team der Schutzpolizei dieser nicht nur wieder auf die Beine geholfen, sondern sie zur modernsten Dienststelle aller Inselzeiten gemacht hat.« Rickmer drehte sich zu seiner Kollegin und klatschte anerkennend. Sofort stiegen die Anwesenden in den Applaus ein. Die Reporter schossen Fotos von der blonden Kommissarin in dunkelblauer Uniform, die aufgestanden war und sich artig nach allen Seiten verbeugte.

Carsten hatte die erst zweiunddreißigjährige Julia als zuverlässige Kollegin und herzensguten Menschen kennengelernt. Außerdem war sie optisch ein echter Hingucker, aber sie wehrte Flirtversuche von Männern allen Alters ab. Auch der verheiratete Rickmer war schon damit gescheitert. Carsten gegenüber hatte er einmal erwähnt, dass Julia, die immer zwei lange geflochtene Zöpfe unter ihrer Schirmmütze trug, wohl eher Frauen zugeneigt sei. Doch das alles interessierte Carsten momentan überhaupt nicht.

Nachdem sich Julia wieder gesetzt hatte, fuhr Rickmer fort: »Und zu meiner Linken sitzen Hauptkommissar Carsten Kummer und Oberkommissar Balthasar Bärlein, unser versierter, wir sagen oft allwissender, Kriminaltechniker. Herrn Kummer werde ich nach meinem Rückzug nach Norden im September die Schlüssel übergeben und ihn zum neuen Leiter der Kripo ernennen. Sie alle kennen meinen Kollegen aus den Medien und wissen, dass es vor allem seiner herausragenden und peniblen Arbeit zu verdanken war, dass die abscheulichen Morde des letzten Sommers restlos aufgeklärt werden konnten.« Die Anwesenden stiegen prompt – jetzt ohne eine Animation Rickmers – in einen tosenden Applaus ein.

»Sie wissen, dass Stadt und Marketing der Insel berechtigte Sorgen hatten, dass die Vorfälle auf dieser sonst so und jetzt auch wieder friedlichen Insel immense Auswirkungen auf den Tourismus haben könnten.« Rickmer wies auf die hell erleuchtete Sonnenterrasse, die man vom Saal aus durch eine breite Glastür erreichen konnte. Einige Gäste lagen auf den dort aufgestellten Liegen, tranken Sekt und genossen die abendlichen Sonnenstrahlen. »Es ist halb neun und noch immer dreißig Grad. Die Insel ist proppenvoll. Das liegt nicht nur am Wetter. Die Menschen haben Vertrauen in die herausragende Arbeit der hiesigen Schupo und vor allem der neuen Kripo, die ja genau zu diesem Zweck hier geschaffen wurde.« Er schaute zu Carsten hinüber. »Und auch das haben wir Herrn Kummer zu verdanken, den Sie in Ihren Zeitungsbeiträgen ja auch richtigerweise als einen der besten Polizisten des Landes Niedersachsen beschreiben.«

Rickmer nickte seinem Kollegen zu, und Carsten spürte sofort ein heftiges Stechen in der Magengegend. Er hatte kaum Kraft und vor allem nicht die Lust aufzustehen, wusste aber, dass das von ihm erwartet wurde. Unter keinen Umständen durfte irgendjemand von seinen Depressionen erfahren, sie ihm anmerken. Er stand zögerlich auf und rang sich im Blitzlichtgewitter ein Lächeln ab. Doch was er sagen sollte, wusste er nicht so recht. In den letzten Wochen hatte er beinahe panische Angst davor, nicht die richtigen Worte zu finden. In jeder Situation, aber vor allem in beruflichen Angelegenheiten.

»Geht’s?«, flüsterte ihm Rickmer zu und schaute ihn dabei mitleidig an.

Meine Güte, dachte Carsten, hatte er etwas bemerkt? Er musste sich zusammenreißen, wollte sich kurzhalten und entschloss sich für: »Danke, danke. Ich werde mein Bestes geben, so wie die Kollegen auch.« Er hasste es, im Rampenlicht zu stehen – neuerdings. Früher hätte ihm das gefallen. Er wusste, was alle von ihm erwarteten. Er, der große Held, der eine unfassbare Mordserie aufgeklärt hatte. Der baldige neue Chef der ersten Insel-Kripo. Es ärgerte ihn, denn keiner schien mehr daran zu denken, dass er selbst Opfer in dieser Geschichte gewesen war. Schließlich lag seine ältere Tochter Merle auf dem Inselfriedhof begraben, und er musste ein zweites Kind großziehen, dessen Mutter die abscheuliche Mehrfachmörderin Gesa war. Wie sehr verteufelte er den Augenblick, als er mit ihr geschlafen hatte. Sie hatte ihn verhext, und herausgekommen war Leefke, die jetzt keine Mutter hatte, weil die im Knast saß, und keinen Vater, weil der krank war. Zu ihrem Glück gab es wenigstens die Freesemanns.

Die Kamerablitze blendeten Carsten, wieder sah er die dunklen Flecken vor seinen Augen vorbeiziehen und spürte die Stiche im Kopf, die ihn schon seit Wochen quälten.

»Sie dürfen sich sicher fühlen«, sagte er eilig und setzte sich sogleich wieder. Das nahm Kommissar Bärlein sofort zum Anlass aufzustehen. Er hielt sich mit Worten nicht zurück, blühte, seit er nach Norderney gezogen war, förmlich auf, werkelte ununterbrochen in seinem neuen, modernen Labor herum und mischte sich überall ein.

»Mein Name ist Balthasar Bärlein«, sagte der kleine Spurensicherer mit der Halbglatze und dem Kugelbauch. »Als mich Hauptkommissar Rickmer im vergangenen Winter fragte, ob ich mir vorstellen könnte, von der Polizeiinspektion Aurich-Wittmund, von der ich wegen der Hexen-Morde abkommandiert worden war, ganz auf die Insel zu wechseln, war das zunächst keine leichte Entscheidung. Schließlich lasse ich eine große Familie zurück. Ich habe sechs Kinder und sechzehn Enkel – ach nein, seit ein paar Wochen siebzehn, der kleine Paul ist ja … Na ja, ich langweile Sie, aber meine ganze Familie vermisst nun mal ihren …«

Carsten bemerkte, wie Rickmer Bärlein unter dem Tisch auf den Fuß trat. Der wollte sich das nicht anmerken lassen, lockerte den Knoten seiner viel zu kurzen Krawatte und fuhr fort: »Ja, also, auf jeden Fall bin ich ja nun seit zwei Monaten fest hier, weil ich gebraucht werde. Meine Expertisen liegen vor allem in der Analyse von Kleinstpartikeln und Substanzen, die nicht mit dem bloßen Auge zu erkennen sind. Als studierter Chemiker bin ich es gewohnt, Laborergebnisse fachgerecht auszuwerten. Mein Labor ist mit neuester Technik bestückt, weil ich die brauche. Außerdem bin ich Experte für den IT-Bereich. Ich knacke jedes Passwort, verschaffe mir Zugang zu jedem System. Das liegt daran, dass ich schon als Jugendlicher mit einer der ersten Atari …«

»Danke vielmals, Herr Kollege«, unterbrach ihn Rickmer, und Bärlein setzte sich. Der Applaus, den auch er erwartet hatte, blieb aus. Verärgert griff der Oberkommissar, der in der letzten Woche seinen neunundfünfzigsten Geburtstag gefeiert hatte, in die Schale mit den Erdnüssen, die auf dem Tisch stand, klatschte sich die gefüllte Hand an den Mund, kaute und schmollte.

Seit Carsten sich in seinem Tief befand, nervte ihn Bärleins penetrantes, nach billigem Aftershave riechendes Deo noch mehr als sonst. Die Temperaturen verleiteten Bärlein wohl dazu, noch mehr aufzutragen. Carsten hätte es, bevor er den Spurensicherer kennengelernt hatte, nicht für möglich gehalten, dass es Menschen gab, die geradezu süchtig nach Deodorant waren. Ansonsten aber war Bärlein ein zwar etwas eigenartiger, aber feiner Kollege, der über formidables Fachwissen verfügte, dem es dafür hier und da an sozialer Kompetenz mangelte. Früher selbst ein Mobbingopfer bei der Osnabrücker Polizei – das hatte er den Kollegen direkt am Anfang seiner Beschäftigung auf der Insel erzählt, denn er war stets geschwätzig –, schien er sich nun selbst Opfer zu suchen. In Julia hatte er eines gefunden. Ständig musste sie sich unfaire Seitenhiebe gefallen lassen. Dass nun sie Applaus bekommen hatte und er nicht, das würde er wieder an der Kommissarin auslassen. Das wusste Carsten, und das würde auch Julia ahnen. Carsten hatte aber keine Kraft, sich dessen anzunehmen und zwischen den beiden zu schlichten. Früher hätte er das getan, nun musste er sich um sich selbst kümmern, und das schaffte er mehr schlecht als recht. Was Bärlein zu seinen Sticheleien bewegte, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Vermutlich die Entfernung zu seiner Familie und dass er nun weniger verdiente als zuvor bei der Polizeiinspektion Aurich, obwohl er eigentlich gleich viel Gehalt bekam, dies aber mit seinen gestiegenen Lebenshaltungskosten verrechnete, und sich so vorkam wie ein unterbezahlter Spezialist. Und das auch jeden, und zwar immer häufiger, wissen ließ.

»Leider konnten wir diese Präsentation nicht auf unserer neuen Wache veranstalten, denn dafür ist dort tatsächlich zu wenig Platz«, fuhr Rickmer fort und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Sicherlich nicht nur eine Reaktion auf die unglaubliche Hitze, sondern auch darauf, dass er kürzlich mit dem Rauchen aufgehört hatte.

Carstens Gedanken schweiften ab. Es war schon absurd, die Journalisten feierten eine Gruppe von Beamten, doch diese schienen alle noch nicht bereit zu sein, komplexere Aufgaben zu übernehmen, auch da sich bisher kein wirklicher Teamgeist ausgeprägt hatte. Carsten befürchtete, dass das alles schnell nach hinten losgehen könnte. Das lastete er zuvorderst sich selbst an, der die Truppe ja in Zukunft zusammenhalten sollte. Doch wenn schon er selbst innerlich zerfiel, wie könnte ihm das gelingen? Sie konnten nur alle froh darüber sein, dass es die Kripo auf dieser, wie Rickmer eben betont hatte, wieder friedlichen Insel ruhig würde angehen lassen können.

»Dass wir nun hier im Hotel sind, schmälert aber nicht das Ergebnis der umfangreichen strukturellen, baulichen und technischen Umbaumaßnahmen, mit denen erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Dienststelle einer Kriminalpolizei auf einer deutschen Insel eingerichtet wurde.« Rickmer schaute mit einem breiten Grinsen in die Menge. »Sie werden erstaunt sein. Nach der kleinen Foto-Präsentation, die meine Kollegin Julia, ähm, ich korrigiere mich, Frau Meyer-Hülsmann, vorbereitet hat. Na, wie auch immer, die Oberkommissarin wird Ihnen gleich die wichtigsten Fakten und Daten für Ihre Berichte erklären, im Anschluss sind Sie herzlich eingeladen, mit auf die Wache zu kommen und Fotos zu schießen. Sie wissen ja, wo. Gibt es schon Fragen bis hierher?« Rickmer schaute in die Menge. »Keine? Das ist doch ein gutes Zeichen. Sicher sind Sie nun alle sehr gespannt.« Er wandte sich zu Julia: »Bitte, fang doch an!«

2. Die Therapie

»Herr Kummer, bitte kommen Sie herein und nehmen Sie Platz«, sagte Michael Freesemann, nachdem er Carsten die Tür zu seiner Praxis geöffnet und diesem die Hand gereicht hatte. »Endlich mal an einem Samstag. Sie sehen müde aus. Haben Sie wieder nicht geschlafen?«

Carsten ließ sich auf das Polster der roten Couch fallen. Alles hier in diesem stillen, farbenfrohen Raum war ihm mittlerweile vertraut. In den ersten beiden Sitzungen hatte er sich über die Klischee-Atmosphäre aufgeregt. Freesemann hatte Bilder von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung an den Wänden hängen und legte Wert auf Feng-Shui, wenn Carsten das richtig deutete. In allen Ecken des Raumes standen massive Blumentöpfe mit grünen Pflanzen darin, die bis zur Decke reichten. Die Therapie-Couch, die wahrscheinlich original dem neunzehnten Jahrhundert entstammte, befand sich vor einem hellgelben, kreisrunden Teppich, in dessen Mitte Freesemann auf einem Sessel aus rubinrotem Kunstleder saß. Schräg vor ihm ein Tischchen, auf dem ein Wecker, ein Notizblock und eine Packung Taschentücher zum Herausziehen standen. Die nannte Freesemann doch wirklich Trauer-Verarbeitungs-Tücher. Carsten hoffte innigst, dass er sie ihm nicht mal anbieten würde. Auf einer Kommode neben der Eingangstür standen zwei Gläser und eine geschwungene Karaffe mit Wasser, auf dem Zitronenscheiben und Minzblätter schwammen. Zwischen Freesemann und seinem imposanten Bücherregal befanden sich ein Flipchart und eine Standkamera, und Carsten hoffte jedes Mal, dass sie nicht ohne sein Wissen lief.

Als Carsten so seinen Blick durchs Zimmer wandern ließ, fiel ihm eine Veränderung auf. Nicht mehr nur ein kreisrunder Ventilator stand neben dem Psychologensessel, sondern jetzt zwei, an beiden Seiten. Das erklärte also den, wenn Carsten überlegte, übertrieben starken Wind, der durch seine Haare blies.

Freesemann hatte sich gesetzt und die Beine übereinandergeschlagen. Mit den Ventilatoren neben sich, die Turbinen nicht nur glichen, sondern kaum weniger Wind zu erzeugen schienen, sah es aus, als säße der Therapeut in einem Düsenjet. In mancherlei Hinsicht verhielt er sich wirklich komisch, aber Carsten wusste, wie viel er ihm zu verdanken hatte, und das, obwohl der Psychologe ihm bislang nicht hatte helfen können. Dazu war niemand in der Lage. Freesemann gab sich einfühlsam, verständnisvoll und fachlich flexibel. Nur, es brachte Carsten nichts.

»Herr Kummer.« Freesemann hakte nach und riss ihn aus den Gedanken.

»Ja, Albträume habe ich«, murmelte Carsten und schaute an seinem Psychologen vorbei durch das ovale Fenster auf der linken Seite des Raumes, das den Blick freigab auf den Weg, der vom Damenpfad abging und durch die Dünen zum Weststrand führte. Wie zu groß geratene bunte Ameisen hetzten die Touristen in Scharen zum Meer. Taschen, Handtücher, Sonnenschirme oder plärrende Kinder vor sich hertragend oder -schiebend. Schon um halb zehn hielt es niemand mehr auf seinem Hotelzimmer aus. Der nächste Tag mit rekordverdächtigen Hitzewerten kündigte sich an. Freesemann folgte Carstens starrem Blick und drehte sich zum Fenster um. Sein in Gedanken versunkener Patient bemerkte das nicht.

»Wenn man bedenkt, dass da noch vor hundertfünfzig Jahren ausschließlich Frauen mit bespannten Badekarren den Lüttje Damenpfad hochgezogen wurden, freut man sich doch über diese glücklichen Familien, die jetzt zusammen hochlaufen können. So rein historisch-sozialpsychologisch betrachtet, nicht wahr?«

Carsten dachte darüber nach, ob ihm gestern einer der Kollegen oder Journalisten angesehen hatte, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Warum hatte Rickmer ihn so mitleidig angeschaut? Wieso hatte der sozial inkompetente und mitteilsame Bärlein mit allen, nur nicht mit ihm gesprochen? Hatte nicht auch Julia versucht, ihn aus dem Rampenlicht zu ziehen? Carsten hatte sich nach Rickmers Vortrag und Julias Präsentation, der er schon gar nicht mehr hatte folgen können, noch redlich Mühe gegeben, die Fragen der Journalisten zu beantworten. Natürlich war ihm klar gewesen, dass diese weniger seine zukünftigen Aufgaben auf der Insel betreffen würden als vielmehr seine Meinung zu dem Strafmaß für Gesa Onken. Das überhaupt war ja für die meisten Pressevertreter der Grund gewesen, nach Norderney zu reisen. Einige von ihnen hatte er am Vormittag bereits in Oldenburg bemerkt.

Noch immer berichtete die Presse im In- und Ausland über die tragischen Ereignisse des letzten Jahres, griff die Boulevard- und neuerdings auch die Regenbogenpresse den Mythos der Hexe von Norderney auf. Er konnte das nicht mehr ertragen, vor allem nicht, weil er stets als Super-Polizist beglückwünscht wurde, der eine der spektakulärsten Mordserien der deutschen Kriminalgeschichte aufgeklärt hatte. Warum fragte ihn nicht mal jemand, wie es ihm ging? Wie hatte sich die veröffentlichte Meinung dahin gehend entwickeln können, dass er nun von Menschen aus dem ganzen Land Autogrammanfragen erhielt? Völlig pervers und verletzend empfand er jene Post, die von Frauen geschrieben wurde und der Fotos von sich beigelegt waren. Mit roten Haaren und Sommersprossen – so wie Gesa, so wie Merle. Und bald sicher auch so wie Leefke. Carsten erhielt Heiratsanträge, Kochrezepte aus der Hexenküche und immer wieder Anfragen für Auftritte in Talkshows. Es ekelte ihn an, seit einigen Wochen warf er die meisten Briefe mit Absendern, die ihm nichts sagten, direkt in den Müll. Also eigentlich fast alle.

»Herr Kummer«, rief Freesemann und klatschte in die Hände. »Hören Sie? Ich rede mit Ihnen!«

»Wie? Ach ja, sorry«, sagte Carsten und schaute den Psychologen mit gläsernen Augen an. »Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll. Meine Gedanken rattern. Es ist, als schwebe ich über mir. Ich bin nicht ich selbst, erkenne mich nicht wieder, werde da nie rauskommen aus diesem Tief.«

»Ihr Tief nennt sich schwere Depression, Herr Kummer«, sagte Freesemann, der sich nach vorne beugte und mit dem Zeigefinger sein Brillengestell fester auf die Nase drückte. Wie immer, wenn er auf etwas Besonderes hinauswollte. »Und Sie werden da rauskommen«, fuhr er fort. »Jeder Depressive denkt, dass sein unerträglicher Zustand für immer anhält. Dem ist aber nicht so. Aber Sie müssen versuchen mitzuarbeiten!«

Carsten zuckte mit den Schultern. »Und was bringt das? Zuhören? Reden? Wie oft war ich denn schon hier? Es wird doch immer schlimmer statt besser.«