Die Tränen des Kolibris - Charlotte Lindermayr - E-Book

Die Tränen des Kolibris E-Book

Charlotte Lindermayr

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Beschreibung

Dr. Robert de Wit und Lotte van Hoebeeck leben mit ihrer Tochter Leonie in Amsterdam. Eines Tages kommt sie von einer Reise zurück und findet ihre Eltern ermordet im Haus. Die Polizei beginnt zu ermitteln, doch bald geschieht ein weiterer Mord. Und dann erfährt Leonie, dass ihr Vater auch eine Tochter in Syrien hat. Ihre Welt gerät ins Wanken. Brigadier Tess Kujpers und ihre Mitarbeiter stehen vor einem Sumpf aus Verstrickungen, Lügen und dem Verdacht, dass Gold-, Waffen- und Medikamentenhandel der Grund für die Todesfälle sind.

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Inhaltsverzeichnis

Flughafen München 12. Oktober 2016

Zwei Wochen später

Ein halbes Jahr später

Flughafen München 12. Oktober 2016

»Entschuldigen Sie bitte«, murmelte Leonie, als sie sich an einem Ehepaar am Check-in-Schalter vorbei drängte.

Mit geröteten Augen legte sie ihren Ausweis auf den Tresen. »Ich hoffe, dass ich nicht zu spät gekommen bin.«

Ein freundlicher älterer Herr sah sie lächelnd an. »Wo wollen Sie denn hin?«

»Nach Amsterdam.«

»Dann müssen Sie sich aber wirklich beeilen, der Gate schließt in wenigen Minuten.«

Sie nahm erleichtert die Bordkarte und ging mit ihrem Trolley in den Sicherheitsbereich, wo jetzt am Abend der Andrang nicht sehr groß war.

Gerade nahm sie ihren kleinen Koffer wieder vom Band, da hörte sie eine Durchsage. »Letzter Aufruf für Frau Leonie de Wit, gebucht auf die Maschine KL 3375 nach Amsterdam. Kommen Sie zum Gate Nummer acht.«

Leonie rannte los.

»Gut, dass Sie da sind«, sagte eine Stewardess, die gerade dabei war, die Tür zu schließen. Als sich Leonie kurz darauf im Flugzeug auf ihren Sitz fallen ließ, atmete sie durch. Das Flugzeug startete.

Sie holte das Mobiltelefon aus dem Rucksack, nahm die Kopfhörer und schloss die Augen.

Als sie die Stimme von Ed Sheeran hörte, kamen ihr sofort wieder die Tränen. Sie hatte das Gesicht von Johannes vor sich, mit dem sie nun schon fast drei Jahre eine Fernbeziehung geführt hatte. Doch dann erklärte er ihr an der Haustür, dass es ›Aus‹ sei und bat sie, ab sofort nicht mehr zu ihm nach München zu kommen. Leonie hatte zu wanken begonnen und wenn er sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie ganz bestimmt in Ohnmacht gefallen.

Der Taxifahrer, der neben ihr gestanden war, hatte sie mitleidig angesehen. Kopfschüttelnd war er in sein Auto gestiegen und mit einer völlig am Boden zerstörten jungen Frau zum Flughafen gefahren.

Leonie de Wit war jetzt neunundzwanzig, hatte gerade ihr Biologiestudium beendet und wollte sich an einem Institut in München bewerben, um endlich mit Johannes zusammen sein zu können.

Der war Erbe eines über mehrere Generationen geführten Familienbetriebes. Er musste sich allerdings nie über Aufträge Gedanken machen und wenn es mal schwierig wurde, regelte dies sein Vater.

Er konnte kommen und gehen, wann er wollte und für seine Hobbys hatte er immer Zeit. Im Sommer segelte er auf dem Starnberger See und im Winter ging er zum Skifahren.

Wenn Leonie zu Hause in ihrem Zimmer saß und für die Prüfungen paukte, hatte sie manchmal Zweifel, ob dieser gutaussehende, vermögende Mann ihr treu war.

Sie wohnte noch immer bei Ihren Eltern in einem Haus in der ›Van Mourik Broetmannsstraat‹, im Stadtteil Slotervaart. Die waren nicht begeistert, als sie von der Beziehung ihrer Tochter mit einem fünfzehn Jahre älteren Mann aus München erfuhren. Erst recht nicht, als sie hörten, dass er aus zwei gescheiterten Beziehungen bereits vier Kinder hatte.

»Überlege Dir das gut«, beschwor ihre Mutter sie hin und wieder. »Seine Kinder werden für ihn immer das Wichtigste bleiben. Außerdem könntest Du doch auch hier einen netten ledigen Mann finden.«

Leonie wollte von alldem nichts hören und verließ dann genervt das Zimmer. Sie hatte aufgegeben zu erklären, dass Johannes die Liebe ihres Lebens war und es für sie keinen anderen geben würde.

Kennengelernt hatten sie sich auf einer Vernissage. Leonie jobbte dort für eine Catering-Firma und als sie mit einem Tablett, beladen mit Prosecco und Crackern, zu den Gästen lief, stand sie ihm plötzlich gegenüber. Johannes trug einen eleganten Smoking und lächelte sie mit seinen blauen Augen verschmitzt an. Er hatte sehr kurz geschnittenes dunkles Haar, aber einzelne graue Strähnchen waren an den Schläfen zu sehen.

Geschickt nahm er zwei Sektgläser und hielt ihr eins entgegen. »Trinken Sie ein Glas mit mir?«, hatte er leise gefragt.

»Nein. Tut mir leid, das ist nicht erlaubt.«

»Na gut. Vielleicht haben Sie Zeit, wenn das hier vorbei ist. Darf ich auf Sie warten?«

Wortlos hatte Leonie genickt und war schnell weitergegangen. Als sie schließlich die Ausstellung verlassen wollte, war er nirgends zu sehen. Doch dann am Ausgang sah sie, dass er lächelnd an einem schwarzen Cabrio lehnte. »Wollen wir in eine kleine nette Kneipe fahren?«

»Ja warum nicht.«

Johannes öffnete die Wagentür. »Na dann mal los.«

Die Wagentür klappte.

**

Leonie öffnete erschrocken die Augen, als sie ein Steward sanft rüttelte. »Wir sind gelandet, Sie sollten jetzt aussteigen.«

Leonie sah sich verschlafen um. »Entschuldigen Sie bitte.« Sie löste den Sicherheitsgurt, zog ihren kleinen Koffer aus dem Gepäckfach, warf sich den Rucksack über die Schulter und verließ das Flugzeug.

Kurz darauf lief sie durch die Abfertigungshalle zum Ausgang, setzte sich auf eine Bank und atmete die kalte Nachtluft ein. Dann sah sie auf die Uhr, es war kurz nach zwölf. ›Was soll`s‹, dachte sie. ›Heute fahre ich mit dem Taxi nach Hause, wer weiß, wann um diese Zeit der nächste Bus kommt.‹

Als sie schließlich vor der Haustür stand, bezahlte sie mit ihrem letzten Bargeld und sah zum Eingang. ›Wieso brennt denn überall Licht? Mama und Papa sind doch sonst um diese Zeit nicht mehr auf.‹

Eilig nestelte sie den Schlüssel hervor und öffnete die Haustür. Auch im Flur war nichts zu hören.

»Mama, Papa? Wo seid Ihr? Ist alles in Ordnung?«

Plötzlich kam ihr aus der Küche maunzend die Katze entgegen und schmiegte sich an Ihre Füße. Leonie beugte sich herunter. »Hannah, was ist denn los? Und wieso bist Du um diese Zeit, nicht wie sonst, oben in Deinem Körbchen?«

Sie nahm die Katze auf den Arm und stieß mit einem Fuß die Küchentür auf. Was sie jetzt sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.

Ihre Eltern saßen sich, an den Füßen gefesselt und mit nach vorne gebeugten Oberkörpern, gegenüber. Ihre blutüberströmten Köpfe lagen auf der Tischplatte und die Augen waren weit aufgerissen.

Sie waren beide tot.

Leonie stand einen Moment wie zur Salzsäule erstarrt da und konnte sich nicht bewegen. Schließlich ging sie langsam rückwärts und sah sich im Flur nach dem Telefon um. Als sie den Hörer in der Hand hatte, bemerkte sie, dass der Stecker herausgerissen worden war.

Wie im Trance holte sie ihr Mobiltelefon aus dem Rucksack und wählte den Notruf. Zwei Sanitäter eilten kurz darauf, zusammen mit einem Arzt, ins Haus.

Bald war das Grundstück hell erleuchtet und eilig von mehreren Polizisten abgeriegelt.

Leonie saß mit versteinerter Miene im Esszimmer am Boden und starrte vor sich hin.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte plötzlich eine leise Frauenstimme. Langsam hob Leonie den Kopf.

»Ich bin Brigadier Tess Kuijpers von der Amsterdamer Polizei. Der Arzt sagte mir, dass Sie die Tochter der beiden Opfer sind und vor etwa einer Stunde Ihre Eltern so aufgefunden haben.«

Leonie nickte wortlos.

»Wo waren sie denn, bevor Sie nach Hause gekommen sind?«

»Ich war ein paar Tage in München, bin direkt vom Flughafen Schiphol mit dem Taxi nach Hause gefahren und habe mich darüber gewundert, dass alle Zimmer hell erleuchtet waren«, antwortete Leonie heiser. »Als ich dann das Haus betrat und in die Küche kam … .«

Ihr Kinn begann zu zittern.

»Schon gut«, sagte die Polizistin und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Sie brauchen nicht weiter zu sprechen.«

Sie drehte sich zu ihrem Kollegen Thomas Boer um, der mit verschränkten Armen hinter ihr stand. »Sehen Sie zu, dass sich ein Arzt um sie kümmert und dann besorgen sie ihr ein Zimmer in einer Pension, denn hier kann sie auf keinen Fall allein die Nacht verbringen.«

»Ja natürlich.«

»Wir müssen dann morgen noch einmal mit Ihnen etwas ausführlicher sprechen«, wandte sich die Polizistin erneut an Leonie. »Aber heute Abend möchte ich Ihnen das erst einmal ersparen. Allerdings würde ich Ihnen gerne eine wichtige Frage stellen.«

»Und die wäre?«, antwortete Leonie monoton.

»Soweit wir das bis jetzt ermitteln konnten, wurde hier im Haus nicht eingebrochen. Ihre Eltern scheinen also den oder die Täter selbst hereingelassen zu haben. Könnten Sie sich jemanden vorstellen, der irgendwelche Rachegelüste auf Ihren Vater, oder Ihre Mutter, oder beide hatte?«

Leonie schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß niemanden.«

»Na gut. Vielleicht packen Sie schnell ein paar Sachen zusammen und gehen gleich mit meinem Kollegen mit.«

Leonie rappelte sich auf. »Nein danke. Ich rufe meine Tante, die Schwester meines Vaters an. Sie wohnt nicht weit von hier im Zentrum von Osdorp. Außerdem habe ich ja noch meinen Koffer im Flur stehen, da ist alles Notwendige drin.«

»Ich fahre Sie«, entgegnete Thomas Boer. »Alleine lassen wir Sie jetzt ganz bestimmt nicht gehen. Und schließlich müssen wir auch wissen, wo Sie sich in den nächsten Tagen aufhalten.«

Er nahm sie am Arm. »Soll Ihnen unser Arzt noch ein Beruhigungsmittel geben?«

»Nein danke«, murmelte Leonie. »Aber ich nehme auf jeden Fall meine Katze mit.« Sie ging in den Flur und blieb wie angewurzelt stehen, als Beamte zwei verpackte Bahren an ihr vorbei trugen. Brigadier Tess Kuijpers umfasste ihre Schulter.

»Wo bringen Sie meine Eltern jetzt hin?«

»In die Gerichtsmedizin, die Todesursache muss eindeutig geklärt werden und vielleicht finden wir auch Hinweise auf den oder die Täter.«

Leonie brach in Tränen aus. »Warum denn gerade meine Eltern?«, schluchzte sie. »Sie waren zu jedem immer freundlich und haben keiner Fliege etwas zuleide getan.«

Hoofdagent Thomas Boer flüsterte: »Quälen Sie sich nicht unnötig. Wir suchen jetzt die Katze und dann bringe ich Sie mit meinem Wagen zu Ihrer Tante.«

Hannah saß am Gartentor und maunzte ängstlich. Leonie nahm sie auf den Arm, während er ihren Koffer im Wagen verstaute. Dann drehte er sich zu seiner Kollegin um. »Wir treffen uns nachher auf der Dienststelle.«

Sie fuhren los.

»Wo wohnt denn Ihre Tante?«, fragte Thomas, während er das Navigationssystem einschaltete.

»In einer kleinen Seitenstraße am Overleg. Volharding Nr. 6.« Sie holte ihr Telefon hervor und wählte eine Nummer. Lange ließ sie es läuten, als nun doch jemand abhob und mit verschlafener Stimmer fragte: »Ja bitte?«

»Tante Roos, ich bin es.«

»Leonie?«

»Ja«, antwortete sie mit weinerlicher Stimme. »Kann ich zu Dir kommen?«

»Ja natürlich, aber was ist denn passiert?«

»Ein Polizist bringt mich gerade zu Dir, dann erkläre ich Dir alles. Wir sind in einigen Minuten da, bis gleich.« Schnell hatte sie wieder aufgelegt.

»Haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Tante?«, fragte Thomas Boer.

»Ja und ich bin ihre einzige Nichte. Als ich klein war, hat sie sich oft um mich gekümmert, wenn meine Eltern arbeiten mussten.«

»Was haben Ihre Eltern denn gemacht?«

»Papa hatte eine eigene Arztpraxis und Mama war seine Sprechstundenhilfe.«

»Aha«, antwortete Thomas Boer, während er am Overleg einbog. »Nur so, wie Sie das schildern, praktizieren Sie dort nicht mehr.«

»Nein, die Praxis wurde vor fünf Jahren verkauft.«

Thomas hielt den Wagen und zog die Handbremse an. »Wir sind da. Versuchen Sie, sich ein wenig auszuruhen und verlassen Sie bitte morgen nicht das Haus. Wir melden uns bei Ihnen.«

Leonie sah ihn resigniert an. »Danke, dass Sie mich hierher gefahren haben.«

Thomas Boer stieg aus, holte ihr Gepäck aus dem Kofferraum und sah ihr nach, als sie zur Haustür ging. Das Licht ging an und Leonie wurde von ihrer Tante in die Arme genommen.

Schnell startete er den Wagen, fuhr zum Polizeibüro und eilte zu Tess Kuijpers, die auch gerade angekommen war und vor dem Laptop saß.

»Haben die Kollegen noch etwas Interessantes gefunden?«, fragte er, während er sein Sakko über den Stuhl hing.

»Dieser Fall ist mysteriös«, antwortete sie, ohne vom Display aufzusehen. »Alle Zimmer wurden durchwühlt und trotzdem sind einige ziemlich teure Schmuckstücke und auch Bargeld zurückgelassen worden. Um einen reinen Raubüberfall kann es hier also nicht gehen. Haben Sie die Tochter zu Ihrer Tante gebracht?«

»Selbstverständlich. Ich habe ihr auch gesagt, dass wir morgen zu ihr kommen und sie deshalb vorerst das Haus nicht verlassen soll.«

Sie sah erneut auf den Bildschirm. »Dr. Robert de Wit hat bis vor fünf Jahren eine Orthopädiepraxis in Amsterdam geführt. Übernommen hat die ein gewisser Dr. Luuk de Groot.«

Sie betrachtete einen Moment lang sein Foto auf der Homepage. Dann klappte sie den Laptop zu. »Morgen früh um acht treffen wir uns hier mit der Spurensicherung, die wahrscheinlich noch einige Zeit am Tatort zu tun haben, fragen bei der Gerichtsmedizin nach, ob es erste Ergebnisse gibt und dann besuchen wir diesen Arzt. Mal sehen, ob er uns etwas Näheres über die Opfer erzählen kann.«

**

Währenddessen saßen Leonie und ihre Tante weinend im Wohnzimmer auf der Couch.

»Ich verstehe das nicht«, schluchzte Roos. »Heute Morgen hatten wir uns noch auf dem Markt getroffen und zusammen Kaffee getrunken. Robert und Lotte waren bestens gelaunt und haben mir von ihrem letzten Kenia-Urlaub erzählt. Ich sollte am Wochenende vorbeikommen, um mir die Fotos anzusehen. Und jetzt sind sie tot.«

»Wenigstens haben sie sich das noch zusammen gegönnt«, entgegnete Leonie. »Seit Papa die Praxis nicht mehr führt, war er doch laufend allein in irgendwelchen Kriegsgebieten unterwegs und hat Verletzte behandelt. Ständig haben Mama und ich uns Sorgen gemacht.«

»Meinst Du, ich nicht?«, fragte Roos entrüstet. »Was glaubst Du, wie froh ich jedes Mal war, wenn er wieder gesund zu Hause ankam.«

Leonie sah zu ihr herüber. »Tante Roos, was mache ich denn jetzt ganz allein?«

Roos nahm sie in den Arm. »Du bist nicht allein Leonie und kannst natürlich, so lange Du willst, bei mir wohnen.«

Die brach endgültig in Tränen aus. Während sie ihren Kopf an ihre Schulter lehnte, flüsterte sie: »Und Johannes hat mir heute kurz vor dem Abflug erklärt, dass er mich nicht mehr sehen will. Es ist aus.«

Roos räusperte sich. »Auch das noch. Ich mache Dir jetzt erst einmal einen Tee, der wird Dir guttun und dann beziehe ich das Bett oben im Gästezimmer. Du musst Dich unbedingt ausruhen und morgen sehen wir weiter.«

Leonie sah sie mit verheulten Augen an. »Morgen kommen zwei Beamte von der Polizei hierher und wollen mir Fragen über Mama und Papa stellen. Stehst Du mir bei?«

»Natürlich stehe ich Dir bei.« Sie ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.

Leonie holte ihr Mobiltelefon hervor. Keine Nachricht von Johannes. Wahrscheinlich lag der jetzt mit einer Anderen im Bett und dachte gar nicht mehr an sie.

Roos kam mit dem Tee zurück ins Wohnzimmer. »Trink das und morgen früh gehe ich auf den Markt und hole uns ein Frühstück.«

Sie sah zu der kleinen Katze herüber, die sich auf einem Kissen zusammengerollt hatte. »Und für Hannah besorgen wir auch etwas Futter.«

Leonie ließ jetzt ihren Tränen freien Lauf und schluchzte: »Tante Roos, Du bist im Moment meine einzige Hoffnung.«

**

Tess Kuijpers saß schon früh am Morgen in ihrer Küche. Nebenbei lief der Fernseher. Sie horchte auf, als der Moderator in den Nachrichten den Mord an einem Arzt und seiner Frau schilderte und Fotos der Opfer eingeblendet wurden.

Sie stutzte, als der weiter berichtete, dass Dr. de Wit erst vor kurzem wieder aus einem Camp an der türkischen Grenze von einem humanitären Einsatz zurückgekommen war. ›Interessant‹, dachte sie.

Schnell räumte sie den Küchentisch ab und zog mit einem Ruck das Rollo nach oben. Dann öffnete sie das Fenster. Frische kalte Morgenluft erfüllte den Raum.

Die Haustür klappte.

»Guten Morgen«, rief Hendrik gutgelaunt. »Und es riecht so gut nach Kaffee.« Er kam jetzt in die Küche, gab Tess einen Kuss und setzte sich ihr gegenüber.

»Das war eine Nacht«, seufzte er. »Wir hatten vier Gleisstörungen im U-Bahn-Netz und mussten einen Schienenersatzverkehr einrichten, sonst wäre die Hölle los gewesen.« Er sah sie mit müden Augen an. »Und bei Dir? Wann bist Du denn heimgekommen?«

Tess winkte ab. »Reden wir nicht darüber. Kurz nach Mitternacht musste ich zu einem Mordfall im Stadtteil Slotervaart. Ein Arzt und seine Frau wurden umgebracht.«

Eine Sorgenfalte bildete sich auf seiner Stirn. »Warum musst gerade Du immer zu diesen Fällen?«

»Weil das mein Job ist.«

»Tess«, begann Hendrik vorsichtig, denn er wusste, dass sie nur sehr ungern darüber sprach. »Meinst Du, dass das auf Dauer gut geht? Du weißt, dass ich ständig besorgt bin und Du hattest mir eigentlich versprochen, Dich um eine Stelle im Innendienst zu bemühen.«

Sie stand auf und stellte ihre Kaffeetasse in den Geschirrspüler. »Im Moment ist keine frei«, antwortete sie steif. »Und Du weißt, dass ich diesen Beruf nur ganz oder gar nicht ausüben kann und gar nicht kommt für mich nicht infrage.«

Schnell nahm sie ihre Handtasche, zog sich im Flur die Jacke über und rief: »Bis heute Abend.«

Auf dem Weg ins Polizeibüro dachte sie nach. Immer öfter erinnerte er sie daran, dass sie ihm an ihrem fünfzigsten Geburtstag versprochen hatte, die nächste freie Stelle im Innendienst anzunehmen. Sie hatte sich nur deshalb dazu hinreißen lassen, weil sie an diesem Tag ein, zwei Gläser Rotwein zu viel getrunken hatte. Doch im Grunde war das eine Lüge, denn Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, trockene Akten zu wälzen, mittags in der Kantine mit Kolleginnen über Familienthemen zu plaudern und am Nachmittag pünktlich an der Stempeluhr zu stehen.

Zufrieden sah sie in den Rückspiegel. Mit ihren lockigen, den noch immer dunklen Haaren und der sportlichen Lederjacke fühlte sie sich mindestens zehn Jahre jünger, als sie war und hatte im Moment keinerlei Ambitionen, an die verbleibenden fünfzehn Jahre Dienstzeit zu denken, geschweige denn, die an einem öden Schreibtisch zu verbringen.

Das Telefon schreckte sie aus ihren Gedanken. Thomas Boer war dran. »Guten Morgen Brigadier Kuijpers. Sind Sie auf dem Weg ins Büro?«

»Oh, heute ganz förmlich Hoofdagent Boer«, antwortete sie lächelnd. »Aber ich denke, dass ich in zwanzig Minuten da bin.«

»Frau Dr. van Beek vom gerichtsmedizinischen Institut hat angerufen und möchte mit uns sprechen. Sie sagte zwar, dass einige Labortests erst im Laufe dieses Tages ausgewertet werden können, aber dennoch … .«

»Schon in Ordnung, wir treffen uns dort«, fiel sie ihm ins Wort. »Sagen Sie aber den Kollegen noch Bescheid, dass wir das geplante Meeting um eine Stunde verschieben müssen.«

»Alles klar, bis gleich.«

Dr. Lieke van Beek saß, ihnen den Rücken zugewandt am Fenster und beugte sich gerade über ein Mikroskop, als die Polizisten den Raum betraten.

»Moment bitte«, sagte sie beiläufig und stellte dabei die Linse scharf. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber das hier muss ich mir schnell noch ansehen.«

»Schon in Ordnung«, entgegnete Tess und sah sich um. Hinter einem Paravent standen zwei zugedeckte Bahren.

Mit einem gehörigen Schwung drehte sich die Ärztin zu ihnen um. »Guten Morgen«, sagte sie und steckte einen Kugelschreiber in die Brusttasche ihres grünen Mantels.

Thomas Boer sah sie erstaunt an.

»Haben Sie hier einen alten zerknitterten Arzt vermutet?«, fragte sie lächelnd.

Er schluckte. »Wie kommen Sie denn darauf?«

Sie hob die Schultern. »Ich habe Ihren Blick gesehen.«

Sie stand auf und ging nach nebenan. »Kommen Sie bitte mit.« Dann schlug sie ein Tuch beiseite.

»Lotte van Hoebeeck, geboren am zweiten November 1957, verstorben gestern Nacht an einem Kopfschuss in die linke Schläfe. Todeszeitpunkt zirka gegen 20.00 Uhr. Der Schuss war aufgesetzt und präzise ausgeführt worden, das Opfer war auf der Stelle tot. Es handelte sich dabei um eine Pistole, Kaliber neun Millimeter mit Schalldämpfer. Außerdem hatte sie einige kleine Hämatome an den Hand- und Fußgelenken, die aber auf das Fesseln am Stuhl zurückzuführen sind. Ansonsten sind keine weiteren Verletzungen an ihrem Körper festgestellt worden. Und sie war entsprechend ihrem Alter, in guter körperlicher Verfassung gewesen.« Sie sah die Polizisten an. »Haben Sie irgendwelche Fragen?«

»Wollen Sie damit sagen, dass diese Frau einfach so erschossen wurde?«, fragte Thomas Boer.

»Ja«, antworte die Ärztin. »Es gab vermutlich keinen Kampf.«

»Und ihr Mann?«

»Da sieht das Ergebnis schon anders aus«, antwortete sie und ging zum nächsten Tisch. »Robert de Wit, geboren am dreiundzwanzigsten Juni 1952, gestorben ebenfalls letzte Nacht. Todeszeitpunkt etwa gegen 22.00 Uhr, also zwei Stunden später. Auch er hat einen Kopfschuss in die linke Schläfe erhalten, höchstwahrscheinlich mit derselben Waffe, aber das war letztendlich nicht die Todesursache.«

Sie ging um den Tisch herum und deutete auf kreisrunde Verletzungen an seinen Fußsohlen. »Da sehen Sie, er ist gefoltert worden. Er hat in diesen Bereichen Verbrennungen dritten und vierten Grades erlitten.«

Sie sah die Polizisten an. »Aber auch daran stirbt man nicht sofort. Robert de Wit' s Martyrium hat den Verletzungen nach längere Zeit gedauert und dabei hat er einen schweren Herzinfarkt erlitten, was die eigentliche Todesursache war. Den Kopfschuss haben ihm der oder die Täter wahrscheinlich nur anschließend gegeben, um sicher zu sein, dass er wirklich tot ist.«

»Durch was können denn solche Brandverletzungen entstehen?«, fragte Tess.

Lieke van Beek überlegte. »Vielleicht durch eine Heißluftpistole, mit dem man eigentlich alte Farbe von Hölzern entfernt, oder einem ähnlichen Gerät«

Tess schüttelte den Kopf. »Das ist ja furchtbar.«

»Da ist noch etwas«, entgegnete die Ärztin. »Er hat nur eine Niere, die aber den Narben nach, schon vor mindestens zwei Jahren entfernt worden sein muss. Ich habe im Zentralregister eine Anfrage gestellt und gerade eben die Antwort erhalten. Er war nirgends als Spender gelistet.«

»Sie meinen doch nicht etwa, dass er eine Niere illegal verkauft hat?«, fragte Thomas Boer entsetzt.

»Das habe ich nicht behauptet, aber seltsam ist das Ganze schon. Abgesehen davon hatte er Hepatitis B, nur kann ich nicht sagen, ob er diese Krankheit schon vor der Operation hatte. Am besten, Sie reden mit Hinterbliebenen, vielleicht wissen die etwas darüber.«

»Wie bekommt man denn diese Krankheit?«

Dr. Lieke van Beek sah ihn ernst an. »Diese Form der Leberentzündung wird in erster Linie durch sexuellen Kontakt übertragen.«

»Seine Frau hatte aber nichts, sagten Sie?«, hakte Tess nach.

»Nein, Lotte van Hoebeeck war kerngesund.« Die Polizisten verabschiedeten sich.

Als sie im Büro ankamen, warteten bereits die Kollegen der Spurensicherung. Tess Kuijpers trat mit ernster Miene vor sie hin. »Wir kommen gerade aus dem gerichtsmedizinischen Institut.« Dann schilderte sie das Obduktionsergebnis der Opfer.

Einen Moment lang herrschte betretenes Schweigen. Sie wandte sich an Jan Smits, den Leiter der Spurensicherung »Haben Sie neue Ergebnisse vom Tatort?«

»Fast nichts, was wir nicht gestern schon festgestellt hatten«, erwiderte er. »Keine Zugangstür wurde gewaltsam geöffnet. Entweder hatten die Täter einen Schlüssel, oder sie wurden von den Opfern selbst hereingelassen.«

»Was meinst Du mit ›fast?‹«, hakte Thomas Boer nach.

»Wir sind überzeugt, dass ein PC mitgenommen wurde, der im Arbeitszimmer von Robert de Wit gestanden ist. Wir konnten das an einen Staubrand unter dem Schreibtisch erkennen und alle Kabel hingen in der Gegend herum. Das Display stand allerdings noch da. Außerdem waren alle Schubladen leer.«

»Konnten Sie Fingerabdrücke sichern?«, fragte Tess weiter.

»Ja natürlich, aber diese und anderes Genmaterial müssen noch mit den Bewohnern des Hauses abgeglichen werden. Viel Hoffnung haben wir nicht.«

»Sind die unmittelbaren Nachbarn schon befragt worden, ob sie etwas mitbekommen haben?«

»Wir haben noch nicht alle erreicht, fahren aber gleich noch einmal dorthin. Und noch etwas.«

»Nun sagen Sie schon«, fiel Tess im ins Wort.

»Auf Robert de Wit waren zwei Autos zugelassen. In der Garage stand aber nur eins. Vielleicht wurden die gestohlenen Sachen, über die wir im Moment noch keinen Überblick haben, damit abtransportiert. Es handelt sich um einen Volvo V60, Baujahr 2012, Farbe dunkelblau. Das Kennzeichen haben wir sofort an alle Dienststellen in den Niederlanden und die umliegenden Grenzübergänge weitergeleitet.«

»Und das sagst Du erst jetzt?«, rief Thomas Boer. »Da können wir nur hoffen, dass sich das Fahrzeug nicht schon in Litauen, oder noch weiter östlich befindet.«

»Wir haben getan, was wir konnten«, entgegnete Jan Smits. »Und machen uns ja auch gleich wieder an die Arbeit.«

»Und wir fahren jetzt zu Leonie, der Tochter der beiden Opfer. Sie wohnt im Moment bei ihrer Tante, der Schwester von Robert de Wit.«

Grübelnd sah Tess Kuijpers ihre Kollegen an. »Am besten, ein Streifenwagen fährt mit und bringt dann beide hierher. Bereiten Sie auf der Dienststelle alles vor, damit sie erkennungsdienstlich behandelt werden können. Thomas Boer und ich fahren anschließend zu Dr. Luuk de Groot. Er hat die Praxis von Robert de Wit vor fünf Jahren übernommen. Vielleicht bringt er uns auf eine Spur.«

Sie nahm ihre Jacke vom Stuhl. »Lassen Sie uns keine Zeit verlieren.«

**

Roos de Wit war schon früh am Morgen auf den Markt gegangen. Sie hatte nachts kaum ein Auge zu bekommen und immer wieder Leonie gehört, die oben im Gästezimmer auf- und abgegangen war.

Bevor sie das Haus verlassen hatte, sah sie vorsichtig bei ihr hinein. Sie schien fest zu schlafen und ihre Katze lag zusammengerollt am Fußende.

»Hannah, komm mit«, flüsterte Roos. Die sprang herunter und lief maunzend in den Flur. Schnell öffnete Roos unten im Wohnzimmer die Terrassentür und ließ sie in den Garten.

»Ich bin bald wieder zurück.«

Angekommen auf dem Marktplatz, ging sie zu ihrer Freundin Alida, die hier seit vielen Jahren einen großen Obststand führte, aber auch Blumen, Wurst, Käse und frische Eier anbot.

»Hallo Roos«, rief sie ihr gutgelaunt zu und strahlte dabei über ihr rundes Gesicht. »Seit wann bist Du denn schon so früh am Morgen unterwegs? Konntest Du nicht schlafen?«

»Ja«, seufzte die. »Leonie wohnt im Moment bei mir. Mitten in der Nacht stand sie plötzlich vor der Haustür.«

»Was ist denn passiert?«, fragte Alida erstaunt, während sie eine Papiertüte nahm und ein paar Äpfel hineinsteckte.

»Stell Dir vor«, flüsterte Roos. »Robert und Lotte sind gestern Abend in Ihrem Haus ermordet worden. Und Leonie das arme Ding, hat die beiden gefunden.«

»Ermordet?«, rief Alida entsetzt. »Von wem denn?« »Pst«, flüsterte Roos. »Nicht so laut und erzähle es bitte erst einmal nicht weiter. Ich kann es ja selbst noch nicht fassen.«

Plötzlich hielt ein kleiner Lieferwagen neben ihr und ein ziemlich großer, korpulenter Mann stieg aus. Er trug ein kariertes Hemd und eine grüne Schürze überspannte seinen fülligen Bauch. Es war Finn, der Sohn von Alida. »Hallo Roos«, rief er und öffnete die Heckklappe. Dann schleppte eine Kiste mit frischen Birnen zur Auslage. »Was machst Du denn um diese Zeit schon hier?«

Sie sah unsicher zu Alida herüber. »Ich habe einfach schlecht geschlafen.«

Die gab ihr die Tüte mit den Äpfeln. »Brauchst Du sonst noch irgendetwas?«

»Ja, ich nehme noch ein Stück von dem Emmentaler und 200 g geräucherten Schinken.«

Alida schnitt hastig den Käse ab, wog die Wurst und legte das Päckchen vor sie hin. »Das geht aufs Haus und grüß Leonie bitte von uns.«

Finn horchte auf. »Leonie?«, fragte er. »Was ist denn mit ihr? Geht es Ihr etwa nicht gut?«

Alida und Roos sahen sich betreten an.

Finn war, seit er vierzehn war, in Leonie verliebt gewesen, aber die hatte immer nur freundschaftliche Gefühle für ihn gehabt. Und seitdem sie ihm ins Gesicht gesagt hatte, dass das nie anders sein würde, hatte er sich enttäuscht zurückgezogen, aber nie eine andere Freundin gehabt.

Doch hin und wieder, wenn Roos auf den Markt kam, erkundigte er sich bei ihr, was Leonie so machte und ob sie gerade einen Freund hatte. Insgeheim gab er nie die Hoffnung auf.

»Es geht ihr gut«, sagte Roos kurz angebunden und verstaute schnell ihre Sachen in einem Korb. Sie sah ihre Freundin müde lächelnd an. »Danke Alida, ich komme bestimmt bald wieder vorbei.«

»Was war denn mit der los?«, fragte Finn erstaunt. »Habe ich ihr irgendetwas Falsches gesagt?«

»Nein«, antwortete Alida ernst. »Und ich sage es Dir jetzt, denn Du wirst es sowieso bald erfahren. Leonies Eltern sind gestern ermordet worden und deshalb wohnt sie vorerst bei Roos.«

Finn band sich hastig die Schürze ab und ging zu seinem Lieferwagen. »Ich muss sofort zu ihr.«

Sie stützte die Hände auf die Ablage. »Finn, lass das bleiben. Leonie braucht Ruhe. Sie jetzt zu bedrängen ist sicher der falsche Weg.« Sie wusste, dass ihr Sohn nur jeden erdenklichen Vorwand nutzen würde, um ihr nahezukommen.

Der schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde ihr, so gut ich eben kann, beistehen. Und davon wird mich niemand abhalten, auch Du nicht.«

Bevor sie noch etwas sagen konnte, öffnete er die Autotür, startete den kleinen Lieferwagen und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

Währenddessen saßen Tess Kuijpers und Thomas Boer, zusammen mit Leonie im Wohnzimmer. »Wir wollen schnellstmöglich den oder die Täter finden, die Ihren Eltern das angetan haben«, begann Tess. »Und deshalb müssen wir Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.«

Leonie sah sie müde an. »Das bringt sie mir aber auch nicht zurück.«

Tess ging nicht darauf ein. »Sie sagten, dass Sie einige Tage in Deutschland waren. Wann genau sind Sie dorthin gefahren?«

»Am 04. Oktober abends gegen acht, hatte Papa mich zum Flughafen gebracht.«

»Ist Ihnen da vielleicht irgendetwas aufgefallen? Ich meine, ob er einen besorgten Eindruck gemacht hat über etwas, was Sie sich nicht erklären konnten?«

»Nein ganz im Gegenteil. Er und auch Mama waren bestens gelaunt, auch wenn es ihnen nicht passte, dass ich schon wieder nach München fuhr.«

»Was haben Sie denn dort gemacht?«

Leonie lehnte sich resigniert auf der Couch zurück. »Ich habe meinen ehemaligen Freund Johannes besucht.«

»Wieso ehemaligen Freund?«

»Weil er, gestern Abend, kurz vor meiner Abreise nach Amsterdam, Schluss gemacht hat«, seufzte sie.

»Tut mir leid«, antwortete Tess.

»Das braucht Ihnen nicht leid zu tun.«

»Mit welchem Auto hatte Ihr Vater Sie zum Flughafen gebracht?«, fragte jetzt Thomas Boer.

Leonie sah ihn erstaunt an. »Ist denn das so wichtig?«

»Auf Ihre Eltern waren nach unseren Recherchen zwei Autos zugelassen, ein Fiat 500 und ein Volvo V60. Letzterer war nicht auffindbar und scheint in der Tatnacht gestohlen worden zu sein.«

Leonie wiegte den Kopf. »Da wäre ich nicht so sicher. Papa hatte den Wagen am Tag meiner Abreise in eine Reparatur-Werkstatt gebracht und mich deshalb mit Mamas Auto zum Flughafen gebracht.«

»Wie heißt die Werkstatt?«, fragte Thomas Boer und holte einen Notizblock aus der Innentasche seiner Lederjacke.

»Ich habe keine Ahnung, denn dafür habe ich mich nie interessiert.«

Thomas Boer nahm sein Mobiltelefon und wählte eine Nummer. »Jan«, sagte er schließlich. »Seht mal nach, ob Ihr irgendwo im Haus Rechnungsunterlagen einer Kfz-Werkstatt findet. Der Volvo wurde wahrscheinlich von Robert de Wit letzte Woche zur Reparatur gebracht und es könnte durchaus sein, dass das Auto dort noch zu finden ist.«

Er legte wieder auf und sah zur Haustür, denn jetzt wurde ein Schlüssel im Schloss herumgedreht. »Das muss Tante Roos sein«, sagte Leonie schniefend. »Sie wollte auf dem Markt etwas einkaufen.«

»Wie war denn das Verhältnis Ihrer Tante zu Ihren Eltern?«, fragte Tess weiter.

»So gut es eben nur sein konnte«, antwortete Leonie. »Tante Roos ging Mama zwar manchmal auf die Nerven, denn sie rief fast jeden Tag bei uns an. Aber letztendlich waren sie ihr dankbar, dass sie meistens einsprang, wenn etwas anlag.«

Inzwischen stand Roos an der Türschwelle. »Oh, Sie sind schon da. So früh hatte ich nicht mit Ihnen gerechnet.«

Plötzlich läutete es erneut. Die Polizisten sahen sie erstaunt an. »Erwarten Sie noch jemanden?«, fragte Thomas Boer.

»Nein, eigentlich nicht.«

Sie ging durch den Flur und öffnete. »Finn, was tust Du denn jetzt hier?«, rief sie erschrocken.

»Wie geht es Leonie?«, fragte er aufgeregt. »Kann ich irgendetwas für sie tun?«

»Du kannst hier im Moment gar nichts tun«, sagte Roos. »Bitte geh` jetzt, die Polizei spricht gerade mit ihr. Da störst Du bloß.«

»Wer sind Sie denn?«, fragte Thomas Boer, der inzwischen hinter ihr stand.

Finn schluckte. »Ich bin ein guter Freund von Leonie.«

»Und Ihr Name?«

»Finn Mulder«, antwortete er stockend.

Thomas Boer trat an die Seite. »Dann kommen Sie bitte mit.«

Als Leonie ihn sah, sprang sie von der Couch auf. »Finn, ich ertrage nicht, dass Du gerade jetzt hierherkommst. Geh` bitte sofort und lass mich in Ruhe.«

Die Polizisten sahen sich erstaunt an. Tess ging zu ihm hin und hielt ihm ihre Dienstmarke entgegen. »Ich bin Brigadier Kuijpers und leite die Ermittlungen. Wer sind Sie und was wollen Sie von Leonie de Wit?«

»Das habe ich gerade Ihrem Kollegen gesagt. Ich bin ein guter Freund und möchte ihr beistehen.«

»Du bist ein Bekannter, sonst nichts Finn«, fauchte Leonie dazwischen. »Und Dein Mitleid brauche ich ganz bestimmt nicht.«

»Jetzt beruhigen Sie sich alle bitte«, sagte Tess beschwichtigend. Sie wandte sich an Thomas Boer. »Nehmen Sie seine Personalien auf und sollte es erforderlich sein, melden wir uns bei ihm.«

Der zog ihn am Arm in den Flur. »Kommen Sie bitte mit.« Schnell schloss er die Wohnzimmertür. Kurz darauf kehrte er zurück. »Kann es sein, dass dieser Finn mehr sein möchte, als nur Ihr Freund?«

»Kann schon sein, aber das ist mir völlig egal.«

»Na gut«, antwortete Tess. »Zurück zu unseren Fragen.« Sie räusperte sich. »Ihre Eltern wurden letzte Nacht im gerichtsmedizinischen Institut obduziert. Dabei stellte man fest, dass Ihrem Vater vor etwa zwei Jahren eine Niere entnommen wurde. Ist Ihnen darüber etwas bekannt?«

Leonie blieb der Mund offen. »Nein«, flüsterte sie und sah zu ihrer Tante herüber. »Hast Du davon gewusst?«

Die schüttelte den Kopf. »Das muss ein Irrtum sein.«

»Das ist aber definitiv der Fall«, erklärte Tess. »Im Übrigen müssen Sie beide mit ins Polizeibüro kommen. Wir brauchen ihre Fingerabdrücke und etwas Genmaterial, um die Spuren im Haus von den Tätern unterscheiden zu können. Und danach fahren wir mit Ihnen noch einmal dorthin. Nur Sie können uns sagen, was nach dem Überfall fehlt.«

»Jetzt gleich?«, fragte Roos. »Wir wollten gerade frühstücken.«

»Also gut«, antwortete Tess. »Essen Sie etwas und in zwanzig Minuten fahren wir hier weg. Bitte beeilen Sie sich.«

Draußen vor der Tür holte Thomas Boer sein Zigarettenpäckchen hervor. »Wir verlieren kostbare Zeit, wenn wir beide mit den Frauen erst zum Tatort und dann zur Dienststelle fahren.« Er zündete sich eine Zigarette an. »Ich schlage deshalb vor, dass ich mich auf den Weg zu Dr. de Groot in die Orthopädiepraxis mache und dann zum Wohnhaus der de Wit` s nachkomme.«

»Wo ist diese Praxis?«

»In der Newtonstraat.«

Sie sah abfällig auf seine Zigarette. »Bitte rauchen Sie nicht mehr in meiner Gegenwart. Ich habe sowieso schon mit Heuschnupfen zu kämpfen, da brauche ich dieses Gift nicht auch noch.«

Thomas ließ die Zigarette fallen. »Entschuldigen Sie, das habe ich nicht gewusst.«

Er ging zu seinem Sportwagen und fuhr davon. Während der Fahrt wurde er wütend. ›Ständig hatte sie an ihm etwas herumzunörgeln und auszusetzen. Aber das nächste Mal würde er sich das nicht gefallen lassen‹, nahm er sich vor.

Als er an der Praxis ankam, zog er die Handbremse an und atmete durch. »Bleib ganz ruhig Thomas«, flüsterte er, als er zu dem Backsteingebäude hinsah. »Lass Dich bloß nicht durcheinanderbringen.«

Er öffnete die Wagentür und lief auf ein messingfarbenen Schild zu. ›Praxis für Orthopädie Dr. Luuk de Groot‹ stand dort in geraden Buchstaben eingraviert. Er betrat das Gebäude.

Hinter ihm lief eine junge Frau mit hinein, die am rechten Fuß einen Verbandschuh trug und sich auf zwei Krücken stützte.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Thomas freundlich. »Oh ja, es wäre sehr nett, wenn Sie für mich da vorn die Tür öffnen würden«, antwortete sie lächelnd. »Ich habe gerade alle Hände voll zu tun.«

»Gerne doch.«

Er wartete, bis alle Patienten im Wartezimmer verschwunden waren, dann ging er zur Anmeldung und holte seine Dienstmarke hervor. »Ich bin Hoofdagent Thomas Boer von der Kriminalpolizei in Amsterdam und muss dringend Dr. Luuk de Groot sprechen.«

Die Sprechstundenhilfe sah ihn erstaunt an. »Dr. de Groot hat den ganzen Vormittag Termine. Das Wartezimmer ist bis auf den letzten Platz besetzt.«

»Wir ermitteln in einem Mordfall und seine Aussage kann erheblich zur Aufklärung beitragen. Ich muss deshalb darauf bestehen, dass Sie mich sofort zu ihm lassen.« Etwas verunsichert stand sie auf und klopfte an die Tür eines Behandlungszimmers.

»Herein«, hörte sie ihren Chef rufen. »Dr. de Groot«, begann sie vorsichtig. »Bei mir in der Anmeldung steht ein Herr von der Kriminalpolizei und möchte Sie sprechen. Er sagt, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldet.«

»Dann bitte«, antwortete er mürrisch und klappte seinen Laptop zu, als Thomas Boer das Sprechzimmer betrat. Vor ihm stand ein fast zwei Meter großer, sehr schlanker Mann. Thomas schätzte, dass er noch keine vierzig Jahre alt war und offensichtlich sehr viel Wert auf sein Äußeres legte. Er trug eine weiße Jeans und ein enganliegendes blaues Hemd, was seine sportliche Figur zusätzlich betonte.

»Was kann ich für Sie tun?«, begann der mit einem scheinbar spöttischen Lächeln.

Gelassen holte Thomas seine Dienstmarke hervor und hielt sie direkt vor ihn hin. »Mein Name ist Hoofdagent Thomas Boer von der Amsterdamer Kriminalpolizei. Wir ermitteln in einem Mordfall.«

»Und was habe ich damit zu tun?« »Das wissen wir noch nicht.«

»Na da bin ich aber mal gespannt«, antwortete Luuk de Groot gedehnt und verschränkte die Arme vor sich.

»Dr. Robert de Wit und Lotte van Hoebeeck sind gestern Nacht tot in Ihrem Wohnhaus in der ›Van Mourik Broetmannsstraat‹ von ihrer Tochter aufgefunden worden.«

Luuk wich die Farbe aus dem Gesicht. »Was?«, fragte er. »Die de Wit` s sind tot?«

»Ja. Sie wurden ermordet.«

Der Arzt schluckte und deutete auf die Couch. »Bitte setzen Sie sich. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Sie kannten die Opfer und haben die Praxis übernommen.«

»Mit Dr. de Wit hatte ich immer nur beruflich zu tun«, sagte Luuk unbehaglich, nahm sich ein Glas und goss Wasser ein. »Sie auch?«

»Nein danke«, antwortete Thomas und lehnte sich nach vorn. »Wann haben Sie ihn kennengelernt?«

»Nachdem ich vor zehn Jahren mein Studium abgeschlossen hatte, habe ich anfangs im städtischen Krankenhaus als Assistenzarzt gearbeitet. Ein anstrengender Job, das können Sie mir glauben. Zwanzig-Stunden-Schichten waren keine Seltenheit und dann diese ewigen Bereitschaftsdienste an den Wochenenden. Das hält man nur eine gewisse Zeit durch. Robert de Wit hat oft seine Patienten zu uns überwiesen, wenn diese stationär behandelt werden mussten und so kamen wir eben ins Gespräch. Ich habe sein komplexes Wissen und seine Erfahrung sehr geschätzt, aber er hatte vor allem zum damaligen Chefarzt Professor Johan de Jong engen Kontakt. Soweit ich weiß, waren die beiden auch privat befreundet. Der war allerdings nicht sehr begeistert, als er erfuhr, dass Dr. de Wit mir anbot, seine Praxis zu kaufen. Ich habe diese Chance natürlich sofort genutzt.«

»Arbeitet Professor de Jong noch in diesem Krankenhaus?«

Luuk schüttelte den Kopf. »Nein, er wurde vor fünf Jahren pensioniert und lebt seitdem mit seiner Frau in einer Finka auf Mallorca. Hin und wieder kommt er aber nach Amsterdam, um sich behandeln zu lassen.«

»Wieso? Was hat er denn?«

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf.«

Thomas holte seinen kleinen Notizblock und einen Kugelschreiber hervor und sah ihn gelassen an. »Sie können es mir jetzt sagen, oder auch nicht. Herausfinden werden wir es ganz bestimmt trotzdem.«

»Professor de Jong muss regelmäßig zur Dialyse.«

»Na also«, antwortete Thomas Boer. »Es geht doch.«

Luuk stand auf und sah auf die Armbanduhr. »War das alles? Meine Patienten warten.«

»Noch nicht ganz. Haben Sie gewusst, dass Dr. Robert de Wit vor etwa zwei Jahren eine Niere entfernt wurde?«

Luuk` s Augen wurden groß. »Nein, das ist das Neueste, was ich höre.« Sein erstauntes Gesicht wirkte echt auf Thomas, der nicht weiter darauf einging.

»Wo wohnen Sie und wie können wir Sie dort, falls es notwendig ist, erreichen?«

Luuk ging zur Tür. »Ich lebe auf einem Hausboot im Stadtteil Jordaan. Im Übrigen allein, falls Sie das auch noch interessiert. Meine Sekretärin gibt Ihnen die Adresse und die Telefonnummer.«

Er öffnete die Tür. »Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss den nächsten Patienten hereinbitten.«

Thomas Boer ging kurz darauf über das Treppenhaus nach unten. Währenddessen stand Luuk de Groot am Fenster und beobachtete ihn mit schmalen Augen, bis er in seinen Wagen gestiegen und davongefahren war.

Dann drückte er den Knopf der Sprechanlage: »Bitte den nächsten Patienten in Sprechzimmer zwei.«

**

Währenddessen standen Tess Kuijpers, Leonie und ihre Tante im Haus und sahen sich um. Jan Smits und seine Kollegen von der Spurensicherung hatten ihre Arbeiten abgeschlossen und warteten draußen im Garten. Zuletzt hatte ein herbeigerufener Tatortreiniger die Blutspuren in der Küche beseitigt.

Jetzt konnte man meinen, die Bewohner des Hauses wären nur mal eben zum Einkaufen gegangen, oder vorübergehend verreist.

»Mir ist klar, dass das jetzt schwer für Sie beide sein wird, aber bitte sehen Sie sich alles genau an«, sagte Tess eindringlich. »Und wenn Ihnen irgendeine Veränderung auffällt, oder Sie feststellen, dass etwas fehlt, dann sagen Sie es bitte.«

Langsam ging Leonie durch den Flur und betrat das Esszimmer, drehte sich um und lief ins Wohnzimmer. Sofort kamen ihr wieder die Tränen, als sie am Erker die gemütlichen Ledersessel betrachtete, in denen ihre Eltern abends immer gerne gesessen waren, um Fernsehen zu schauen. »Es ist alles wie immer«, schluchzte sie. »Hier ist nichts verändert worden.«