Die heimliche Spur - Charlotte Lindermayr - E-Book

Die heimliche Spur E-Book

Charlotte Lindermayr

4,8

Beschreibung

Paris 2014 Christian Clément ist Deutscher. Er lebt und arbeitet zusammen mit Fabienne Mercier, die erfolgreich das Unternehmen Ihres Vaters Robert leitet. Doch eines Abends kommt es zum Streit und Christian muss gehen. In derselben Nacht stirbt Fabienne bei einem Brand. Die Polizei beginnt zu ermitteln und es stellt sich heraus, dass es Mord war. Alles spricht gegen Christian. Kann er seine Unschuld beweisen?

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Paris 2014

»Geschafft«, sagte Fabienne laut, als sie am Abend ihr Laptop zuklappte und sich in ihrem Schreibtischstuhl zurücklehnte.

Sie drehte sich um und sah durch die große Panoramascheibe ihres Büros. Dicht gedrängt reihten sich auf der Straße Autos mit ihren Scheinwerfern wie eine Perlenkette aneinander.

»Stör ich Dich«? fragte plötzlich eine dunkle Stimme leise hinter ihr.

Fabienne schloss die Augen. »Christian, natürlich störst Du mich nicht«, flüsterte sie ohne hinzusehen. »Ich habe nur gerade darüber nachgedacht, dass ich diesen Ausblick in der nächsten Zeit nicht mehr haben werde«.

Er drehte sie zu sich um. »Du wirst es hoffentlich nicht bereuen. Und jetzt komm bitte mit«.

Sie verließen gemeinsam das Büro und gingen langsam den Flur entlang.

»Wo wollen wir denn eigentlich hin«? fragte sie verblüfft. »Der Ausgang ist auf der anderen Seite des Gebäudes«.

Lächelnd zog er sie weiter und stieß die Tür zum Konferenzraum auf. Das Licht ging an.

»Überraschung«, riefen die Mitarbeiter und hielten Fabienne und Christian ein Sektglas entgegen.

Ein älterer Herr in einem dunklen Anzug sah sie freundlich an. »Entschuldigen Sie bitte diese überfallartige Abschiedsparty Madame Mercier«.

Er deutete auf Christian. »Monsieur Clément hat alles arrangiert und wollte, dass wir heute noch einmal hier zusammenkommen«.

Fabienne schluckte. »Oh bitte. Es ist schon so schwer genug für mich, denn ich werde Sie alle sehr vermissen«. Schnell wischte sie sich die aufsteigenden Tränen aus den Augen und sah sich um.

In der Mitte des Raumes war ein opulentes Büfett aufgebaut. Ein kleiner Champagnerbrunnen sprudelte leise vor sich hin.

»Christian, hast Du das wirklich alles organisiert«? fragte sie sichtlich beeindruckt.

Er nahm zwei Gläser und hielt ihr eins hin. »Ja, aber nicht allein. Ohne unseren geschätzten Monsieur Dupont und Deine Sekretärin Catherine würden wir jetzt hier nicht stehen«.

»Ich bin sowieso immer noch ratlos, wie es ab jetzt hier im Verlag ohne Sie weitergehen soll«, seufzte Adrien Dupont und tupfte sich einige Schweißperlen von der Stirn. »Vor diesem Tag habe ich mich regelrecht gefürchtet. Aber nun scheint es ja wirklich so zu sein«.

Fabienne nippte an ihrem Glas und sah betreten in die Runde. »Jetzt tun Sie doch nicht so, als ob die Welt unterginge«, sagte sie gespielt vorwurfsvoll.

»Und bis ich mein Kind bekomme, werde ich einmal im Monat bei meinen Eltern in Paris sein. Ganz bestimmt besuche ich Sie dann auch hin und wieder. So schnell werden Sie mich also nicht los«.

»Ich kann mir Sie nicht in Deutschland vorstellen Madame Mercier«, sagte nun Catherine leise. »Und schon gar nicht in einer relativ kleinen Stadt wie Freiburg. Sie haben schließlich immer hier gelebt«.

Christian ging lächelnd auf sie zu. »Jetzt machen Sie bitte meine Heimat nicht madig, Catherine. Gut Freiburg ist nicht Paris, aber dort leben immerhin auch über zweihunderttausend Menschen«.

Adrien Dupont drehte sich zu den Mitarbeitern um. »Jetzt lassen Sie uns ein bisschen feiern«.

»Gute Idee«, rief Christian. »Das Buffet ist hiermit eröffnet«.

Als sie später im Auto auf dem Heimweg waren, beobachtete er sie aus den Augenwinkeln.

»Wie fühlst Du Dich, wo Du gewissermaßen jetzt alles hinter Dir lässt«?

Fabienne schluckte und sah gedankenversunken aus dem Fenster. »Es ist nun mal so wie es ist«.

Sie drehte sich zu ihm hin und bemerkte seinen zweifelnden Blick. »Sei unbesorgt, ich wollte es doch genauso wie Du und wir haben es gemeinsam entschieden«.

Er nickte lächelnd, als sie an einer Ampel anhalten mussten. Während er weiter geradeaus sah, murmelte er: »Wenn erst einmal das Kind da ist, wird alles anders, glaube mir. Ich kann es sowieso kaum noch erwarten«.

»Morgen früh habe ich übrigens einen Termin in der ›Rue de Gogol‹«, seufzte Fabienne.

»Dr. Schadt will noch ein Testergebnis mit mir besprechen. Richtig spannend hat er es gemacht und wollte am Telefon nichts dazu sagen«.

Christian sah sie erschrocken an. »Warum denn das? Bisher war doch immer alles ok. Und Dir geht es doch auch gut, oder«?

»Ja, ich fühle mich mal abgesehen von den ewigen Rückenschmerzen relativ wohl«, murmelte sie leise. »Aber er hatte wieder das Wartezimmer voller Patientinnen und deshalb keine Zeit«.

»Ich werde Dr. Schadt noch heute Abend anrufen«, zischte Christian wütend. »Schließlich bist Du Privatpatientin und es geht um Deine Gesundheit und die unseres Kindes«.

»Bitte nicht«, antwortete sie schnell. »Ich kann im Moment keine Aufregung gebrauchen. Heute werde ich nur noch ein Bad nehmen und mich ausruhen«.

Sie waren in Montmartre angekommen. Christian parkte den Wagen in einer Seitenstraße und zog die Handbremse an. »Ich möchte mit zu dieser Untersuchung kommen, Fabienne. Lass mich daran teilhaben, denn es ist mir sehr wichtig. Zu gerne möchte ich unser Kind mal auf dem Monitor strampeln sehen«.

Fabienne antwortete nicht, sondern stieg schnell aus dem Auto.

Kurz darauf betraten sie die geräumige Penthouse-Wohnung. Christian lockerte seine Krawatte, warf den Wohnungsschlüssel auf ein Sideboard und ging ins Wohnzimmer, um den rot blinkenden Anrufbeantworter abzuhören.

An der Hausbar stellte er ein Cognacglas auf den Tresen, warf einige Eiswürfel hinein und goss einen gehörigen Schluck Alkohol darüber.

Leise hörte er im Badezimmer das Wasser rauschen und ein Duft von Lavendelöl durchzog jetzt das Appartement.

Und wieder hatte seine Schwiegermutter mindestens dreimal hintereinander angerufen, um sich mit überbesorgter Stimme nach dem Befinden ihrer Tochter zu erkundigen.

Er atmete durch. »Freiburg ist über fünfhundert Kilometer von Paris entfernt«, murmelte er leise vor sich hin. »Es wird höchste Zeit, dass sie sich endlich von ihren dominanten Eltern löst«.

Fabienne hatte gleich nach ihrem Abitur eine Eliteschule besucht.

Christian war sehr beeindruckt, dass sie an der ›Ecole Polytechnique‹ in Palaiseau erfolgreich angewandte Mathematik studiert hatte und nach ihrer Rückkehr nach Paris engagiert und selbstbewusst die Buchhaltung des Verlages ihres Vaters führte.

Die Firma von Robert Mercier war seitdem ihre Welt und Paris schon immer ihre Stadt.

Kurz nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag heiratete sie auf Drängen ihres Vaters den fast dreißig Jahre älteren Lucas Bellier, der schon viele Jahre seine rechte Hand in der Firma war.

Trotzdem traf sie sich abends oft allein mit Freunden in Clubs und Bars. Und immer wieder hatte sie Affären, von denen Lucas zwar oft wusste, oder es zumindest ahnte, sie aber nie zur Rede stellte.

Und dann lernte sie einen zehn Jahre jüngeren deutschen Journalistik-Studenten kennen.

Christian Clément. Groß, schlank, sportlich und gutaussehend. Sie verliebten sich ineinander und Fabienne ließ sich bald von Lucas Bellier scheiden.

Ihre Eltern waren außer sich, aber Fabienne war das egal. Schnell verschaffte sie ihm einen Job im Verlag, dennoch lebte Christian in erster Linie von ihrem Einkommen.

Anfangs gab Fabienne ihm zwar das Gefühl, dass sie das nicht störte und betonte immer wieder, Hauptsache er sei da.

Doch mittlerweile war sie sechsunddreißig und seit sie ein Kind von ihm erwartete, ließ sie ihm gegenüber öfter Bemerkungen fallen, die wie Nadelstiche wirkten. Dabei waren Sätze, dass sie beide ohne ihren Job im Verlag bald am Hungertuch nagen würden, noch die Harmlosesten.

Immer wieder waren sie deshalb in Streit geraten und Christian fühlte sich erniedrigt.

Wütend hatte er dann die Wohnung verlassen, betrank sich in einem kleinen Bistro und verbrachte die Nacht auf der Couch im Wohnzimmer.

Am nächsten Morgen tat Fabienne dann meist so, als ob nichts gewesen wäre, aber er hatte schon einige Male mit dem Gedanken gespielt, seine Sachen zu packen und zu gehen.

Umso mehr wunderte er sich, als sie ihm eines Tages den Vorschlag machte, gemeinsam Paris zu verlassen und in seine Heimatstadt Freiburg im Breisgau zu ziehen.

Sie war plötzlich bereit, ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich zu lassen.

War ihr Hormonhaushalt etwa durch die Schwangerschaft so aus den Fugen geraten, dass sie vielleicht Dinge tat, die sie sonst nie tun würde? Oder lief sie vor etwas Anderem davon?

Nur wovor?

Christian glaubte eigentlich nicht, dass sie Geheimnisse hatte, aber seit geraumer Zeit gingen sie einfach anders miteinander um.

Liebevolle kleine Gesten wurden immer seltener, es gab keine intensiven Gespräche mehr und Fabienne wich ihm aus, wenn er sie anfassen wollte. Je näher der Tag der Abreise nach Deutschland kam, desto unsicherer wurde er. Grübelnd schwenkte er sein Cognacglas hin und her, nippte daran und stellte es schließlich resigniert weg.

»Christian? Hast Du was, oder geht es Dir nicht gut«? fragte sie plötzlich und setzte sich dicht neben ihn. Er sah sie mit unsicherem Lächeln an.

»Ich muss mit Dir reden Fabienne«, begann er zögernd und lehnte sich zurück.

»Was ist denn los«? fragte sie beunruhigt und sah ihm offen ins Gesicht.

Mit ihrem pastellfarbenen flauschigen Bademantel und dem Handtuch, dass sie sich um den Kopf gewickelt hatte, um ihre nassen schwarzen Locken darunter zu verstecken, sah sie jetzt aus wie Kleopatra, die gerade einem duftenden Rosen-Bad entstiegen war.

Er schluckte. »Bist Du Dir wirklich sicher, dass Du mit mir nach Deutschland ziehen willst«?

Schlagartig setzte sie sich aufrecht hin. »Christian, was soll denn diese Frage? Suchst Du etwa schon wieder Streit? Natürlich gehe ich mit Dir mit. Wie kommst Du denn jetzt, kurz vor dem Umzug auf solche Gedanken«?

Er wiegte den Kopf. »Na ja, ich kenne eben nur zu gut Dein bisheriges Leben. Ich bin dann tagsüber in der Uni und Du allein mit unserem Kind in einer kleinen Wohnung. Das wird bestimmt eine gewaltige Umstellung für Dich«.

Er sah sie von der Seite an. »Und viel Geld werden wir auch nicht haben. Ich schreibe zwar dort wöchentlich meine Kolumne für eine Tageszeitung, aber wir werden uns beide einschränken müssen«.

Fabienne lächelte. »Na und? Wie Du weißt, habe ich einiges gespart und im Notfall rufe ich eben meinen Vater an. Er lässt uns ganz sicher nicht verhungern«.

»Und genau das möchte ich nicht Fabienne«, antwortete er mit ernster Miene. »Ich will finanziell nicht abhängig sein und mir irgendwann von Deinen Eltern Vorhaltungen machen lassen, dass ich nicht in der Lage wäre, die Familie zu ernähren«.

»Bis jetzt hast Du doch ganz selbstverständlich alles was mir gehört, auch mit in Anspruch nehmen können«, zischte sie mit blitzenden Augen. »Oder etwa nicht«?

»Ja Fabienne das stimmt, aber Du hast Dich verändert. Bei jedem falschen Wort bist Du aufbrausend und wir streiten sehr oft. Abgesehen davon, dass wir schon seit Wochen nicht mehr miteinander geschlafen haben«.

»Christian«, rief sie vorwurfsvoll. »Wie Du weißt bin ich schwanger«.

Er lächelte müde. »Ja Fabienne, das weiß ich. Aber wir haben noch fünf Monate Zeit bis zur Geburt«.

Er räusperte sich. »Und Dein Vater lässt auch keine Gelegenheit aus mir klar zu machen, dass er es viel lieber gesehen hätte, wenn Du bei Lucas geblieben wärst. Und Deine Mutter ruft jeden Tag mehrmals hier an. Ihre besorgte weinerliche Stimme macht mich ganz krank und man meint, dass Du gerade auf die Guillotine abgeführt worden bist«.

»Jetzt reicht es mir aber«, rief Fabienne. »Lucas ist, seit wir uns beide kennen und zusammen sind, nur noch ein Kollege im Verlag. Nicht mehr und nicht weniger, oder habe ich Dir je einen Grund gegeben eifersüchtig zu sein«?

Beleidigt verschränkte sie jetzt die Arme vor sich. »Was meine Eltern angeht, erwarte ich schon ein bisschen mehr Respekt vor Dir. Natürlich war es für Papa nicht gleich zu verstehen, als ich mich statt für Lucas, für Dich entschieden hatte. Und Mama ist eben wie sie ist. Im Übrigen sind sie beide jetzt über achtzig und ich bin nun mal ihre einzige Tochter«.

Christian stand auf, steckte beide Hände in die Hosentaschen und stellte sich vor sie hin.

»Entschuldige bitte Fabienne. Ich wollte weder Dich, noch Deine Familie kränken. Aber Du solltest auch mich verstehen und vor allen Dingen möchte ich sicher sein, dass Du in Deutschland nicht unglücklich sein wirst«.

»Willst Du etwa, dass ich hier in Paris bleibe und Du allein nach Freiburg ziehst«? fragte sie aufgebracht. »Das käme einer Trennung gleich«.

Er setzte sich wieder und atmete tief durch. »Ich möchte nur wissen, warum Du mir überhaupt den Vorschlag gemacht hast, nach Freiburg zu gehen«.

»Kann es sein, dass Du daran zweifelst, dass ich Dich liebe«? fragte sie erschrocken.

»Ich möchte es sehr gern glauben, Fabienne«, antwortete er mit heiserer Stimme. »Aber in letzter Zeit hatte ich nicht das Gefühl«.

Abrupt stand sie auf. »Ich kann es nicht fassen Christian, aber ich werde sehr genau über Deine Worte nachdenken«.

Langsam ging sie zur Tür.

Plötzlich sagte er: »Siehst Du, da haben wir es wieder. Wir können nicht reden, ohne wieder einmal in Streit zu geraten. Und meine Frage hast Du mir trotzdem immer noch nicht beantwortet«.

Fabienne drehte sich zu ihm um und fauchte: »Ich habe endgültig genug von Dir, pack Deine Sachen. Und selbstverständlich bist Du auch aus dem Verlag entlassen. Die Papiere werden Dir nachgeschickt und Dein Gehalt für zwei Monate überwiesen«.

Schnell warf sie die Tür zu und rannte die Treppe nach oben.

Christian starrte ihr nach und ließ sich gegen die Couchlehne fallen. »Was habe ich denn getan«? murmelte er. »Wieso erklärt sie mir jetzt plötzlich, dass es ›Aus‹ ist? Das kann doch nur ein Vorwand sein. Niemand wird das verstehen, denn ich verstehe es ja selbst nicht«.

Er schenkte sich einen weiteren Cognac ein und kippte ihn mit einem Ruck herunter. Dann stand er auf und ging die Treppe zum Schlafzimmer nach oben. Vorsichtig klinkte er an der Tür. Wie erwartet war sie verschlossen und eigentlich wusste er, dass es keinen Sinn hatte sie zu bitten, trotzdem zu öffnen.

Dennoch klopfte er leise an. »Fabienne, mach auf. Bitte lass uns in Ruhe über alles reden«.

Absolute Stille, sie antwortete nicht.

Resigniert ging er zum begehbaren Kleiderschrank nebenan und holte seinen alten Leder-Reisekoffer hervor. Langsam schob er jetzt die Schwebetüren an die Seite und warf achtlos seine Hemden, Pullover und die T-Shirts hinein. Dann verstaute er seine Anzüge und die Krawatten in einen Bügelkleidersack und zog er den Reißverschluss zu.

Unschlüssig stand er eine Weile da und wartete, ob sie vielleicht doch noch die Tür öffnen würde. Schließlich ging er kopfschüttelnd nach unten.

In Fabiennes Büro schaltete er das Licht ein und sah sich noch einmal um.

Er schluckte, als er jetzt das Bild betrachtete, dass auf ihrem Schreibtisch stand. Es zeigte sie in ihrem ersten gemeinsamen Urlaub an der Côte d’Azur. Glücklich lächelten beide dem Fotografen entgegen. Er öffnete den Rahmen, nahm das Bild heraus und steckte es in seine Sakkotasche.

Dann holte er seinen Reisepass aus einer Schublade und wollte die Schreibtischlampe wieder ausschalten.

Jetzt stutzte er, als er ein kleines mit Stoff bezogenes Album fand. Grübelnd drehte er es hin und her. Auf der Rückseite stand: ›Herzliche Grüße aus dem Saarland von Maja, Roman und Luce‹.

»Wer ist denn das«? murmelte er, als er die Fotos betrachtete. Im Mittelpunkt stand ein kleiner Junge, mal auf einem Spielplatz, mal beim Eis-Essen und dann wieder an seinem Geburtstag mit Freunden und Spielkameraden.

Christian hatte noch nie etwas von ihnen gehört oder gesehen, aber vielleicht war einer der Eltern mit Fabienne zur Schule gegangen.

Doch auch darüber hatte sie nie mit ihm gesprochen. Auch seinen gelegentlichen Fragen, ob es noch Freunde aus ihrer Kindheit oder Jugend gibt, war sie immer ausgewichen.

»Seit wann hat denn Fabienne Bekannte oder Freunde in Deutschland«? überlegte er.

Ratlos legte er das Album wieder an seinen Platz, schob die Schublade leise zu und löschte das Licht. Er wusste, dass sie es nicht mochte, wenn er allein in ihren Sachen kramte.

»Was machst Du noch in meinem Büro«? zischte sie plötzlich hinter ihm.

Christian zuckte zusammen. »Entschuldige bitte«, stotterte er. »Ich wollte nur meinen Reisepass holen und konnte Dich ja nicht danach fragen«.

»Und«? fragte sie ungerührt. »Hast Du ihn gefunden«? Er nickte wortlos. Die plötzliche Kälte in ihrer Stimme ließ ihn erschaudern. »Fabienne, warum tust Du das? Und warum bist Du plötzlich so abweisend? Wollen wir nicht doch noch einmal über alles reden«?

»Geh«, rief sie wütend. »Ich will Dich nie mehr wiedersehen«.

Christian starrte sie an. ›Was ist bloß in sie gefahren‹? dachte er entsetzt.

Hastig lief er an ihr vorbei, nahm seinen Mantel von der Garderobe und warf ihn über die Schulter. Dann nahm er den Koffer und den Kleidersack.

An der Wohnungstür drehte er sich noch einmal um. »Ich kann nicht verstehen, warum Du mich jetzt rauswirfst und nicht mit mir reden willst. Selbstverständlich gehe ich, aber solltest Du Dich doch besinnen und reden wollen, hast Du ja meine Mobilfunknummer. Und falls nicht, gib mir wenigstens Bescheid, wenn unser Kind geboren ist«.

»Du hast etwas vergessen«, antwortete sie schroff.

Er stutzte. Dann griff er in seine Hosentasche und streifte den Wohnungsschlüssel von seinem Bund. Verächtlich warf er ihn auf das Sideboard neben der Tür. »Du denkst aber auch an alles, nicht wahr«?

Ohne sie noch einmal anzusehen, zog er leise die Tür hinter sich zu.

**

Frustriert lief Christian mit seinem Gepäck langsam durch die dunklen Straßen. Es hatte zu regnen begonnen und ein frischer Wind blies ihm unangenehm ins Gesicht.

Als er einen Taxistand erreichte, winkte er kurz und öffnete hastig die Autotür eines Kombi.

Gerade wollte er seinen Koffer auf dem Rücksitz verstauen, da rief der Fahrer: »Oh Monsieur, das geht leider nicht. Ich habe schon einen Fahrgast. Es sei denn, der Dame macht es nichts aus«.

Christian begann etwas unsicher zu lächeln, als er Catherine erkannte. »Was für ein Zufall«, sagte er erstaunt. »Wohin wollen sie denn noch so spät am Abend«?

»Und Sie«? fragte sie freundlich. »Sollten Sie um diese Zeit nicht bei Ihrer Frau sein«?

Er hob die Schultern. »Eigentlich liegt das Nahe, aber warten Sie einen Moment, dann erkläre ich es Ihnen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich mitfahre«?

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, kein Problem«.

Er sah zum Taxifahrer. »Da haben Sie es gehört und wie Sie sehen, kenne ich die Dame«.

Nachdem der Taxifahrer das Gepäck im Kofferraum verstaut hatte, ließ sich Christian neben ihr auf den Rücksitz fallen und strich sich seine nassen blonden Haare aus dem Gesicht.

»In welche Richtung müssen Sie denn«?

»Nach La Défense zu meiner Mutter. Ich habe einige Besorgungen für sie gemacht und muss es ihr bringen, sonst hätte ich die Metro genommen. Und Sie«?

»Ich möchte zum Flughafen«.

Sie hob erstaunt die Augenbrauen. »Ganz allein? Und so plötzlich«?

Christian nickte. »Ja. Fabienne hat mich gerade hinausgeworfen«.

Der Taxifahrer drehte sich um und fragte: »Wohin zuerst«?

»Nach La Defense«, antwortete Christian schnell. »Ich habe kein Ticket und weiß sowieso nicht, ob ich heute noch wegkomme«.

Catherine sah ihn entgeistert an. »Fabienne? Sie machen wohl einen Scherz«?

Er sah sie ernst an. »Darüber würde ich niemals scherzen«. An den Taxifahrer gewandt, sagte er: »Fahren Sie bitte endlich los«.

Schweigend fuhren sie durch die nasse Stadt, während das Autoradio leise vor sich hin dudelte.

Catherine beobachte Christian aus den Augenwinkeln. »Was ist denn plötzlich passiert Monsieur Clément«? fragte sie leise. »Als sie den Konferenzraum mit ihr verlassen hatten, schien doch alles in bester Ordnung«.

Christian lächelte bitter. »Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. Ja, es schien alles in Ordnung zu sein, aber im Grunde ist es das schon lange nicht mehr«.

»Aber Probleme hat doch jeder«, warf Catherine ein. »Man muss nur vernünftig darüber reden, dann gibt es meistens auch eine Lösung. Oder etwa nicht«?

»Warum leben Sie denn dann allein«? fragte Christian spitz. »Soweit ich weiß, haben Sie ja auch zwei Kinder«.

»Das ist nicht fair Monsieur Clément«, antwortete sie sichtlich getroffen. »Aber zu Ihrer Information. Ich war dreizehn Jahre glücklich verheiratet. Mein Mann Jules kam am fünfundzwanzigsten Juli 2000 ums Leben. Leider saß er in der Concorde-Unglücksmaschine nach New York, die kurz nach dem Start abgestürzt ist«.

Sie starrte aus dem Fenster, gegen die jetzt trommelnd die Regentropfen prasselten.

»Als mich die Nachricht erreichte, dachte ich, dass ich den Boden unter den Füßen verliere und mein Leben wertlos ist«. Sie sah zu Christian hin, der jetzt betreten ihren Blick erwiderte. »Aber da gab es ja noch unsere gemeinsamen, zu diesem Zeitpunkt zwölf und acht Jahre alten Kinder Philipe und Carole. Ich hätte sie niemals im Stich gelassen. Inzwischen bin ich sechsundfünfzig und es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an meinen Mann denke«.

»Entschuldigen Sie bitte Catherine«, sagte Christian leise. »Fabienne hat es mir nicht erzählt und Sie haben ja auch nie darüber gesprochen. Wenn ich das gewusst hätte, dann …«.

»Was dann«? unterbrach sie ihn. »Ihre Bemerkung war einfach nur taktlos«.

Christian lehnte sich resigniert zurück. »Es war dumm von mir, aber ich bin gerade selbst nicht in guter Verfassung. Können Sie mir noch einmal verzeihen? Es kommt bestimmt nicht wieder vor«.

»Ja Monsieur Clément. Aber nun sagen Sie mir bitte, warum Sie und Fabienne sich heute getrennt haben«.

»Wir haben schon seit einiger Zeit Probleme miteinander. Und heute Abend gab wieder einmal ein Wort das Andere«.

»Und weiter«? fragte Catherine besorgt. »Deswegen muss man sich doch nicht gleich trennen«.

Christian schüttelte den Kopf. »Sie hat mich plötzlich angeschrien, mich dann, na sagen wir mal eindringlich aufgefordert, sofort die Wohnung zu verlassen und mir natürlich auch postum meinen Job gekündigt«.

Er atmete tief durch. »Ich konnte einfach nicht mehr mit ihr reden. So habe ich Sie noch nie erlebt«.

Grübelnd sah er Catherine an. »Darf ich Sie etwas fragen«?

Sie nickte. »Ja natürlich«.

»Als ich vorhin meinen Reisepass aus ihrem Büro geholt habe, fiel mir ein kleines Fotoalbum in die Hände. Darin waren Bilder einer Familie aus dem Saarland. Wissen Sie, ob Fabienne dort Verwandte oder Bekannte hat? Mir gegenüber hat sie nichts dergleichen erwähnt«.

»Nein, darüber weiß ich nichts, aber warum haben Sie sie nicht selbst danach gefragt«?

»Weil Sie mir keine Gelegenheit mehr dazu gegeben und mich zum Schluss mit eiskalter Miene regelrecht der Wohnung verwiesen hat«.

Catherine nickte. »Das erinnert mich an ihre Teenagerzeit. Da hatte sie oft Streit mit Ihrem Vater, war aufbrausend und vor allen Dingen gemein zu ihrer Mutter. Ich glaube einfach, dass ihr die Zeit als Mädchen in dem Internat nicht gutgetan hat«.

»Sie meinen auf der ›Ecole Polytechnique‹ in Palaiseau«? fragte Christian erstaunt. »Das verstehe ich nicht. Viele junge Leute studieren doch an anderen Wohnorten und leben in Internaten«.

Catherine nickte verständnisvoll. »Monsieur Clément, ich glaube, dass Sie bei Weitem nicht alles über Fabienne wissen«.

Er schluckte. »Wie meinen Sie das«?

»Fabienne musste schon mit sechs Jahren nach Toulouse in ein Internat. Ihr Vater hatte darauf bestanden, worüber ihre Mutter nicht glücklich war. Sie kam damit überhaupt nicht zurecht«.

Christian fasste sich an den Kopf. »Das habe ich nicht gewusst, aber jetzt wird mir einiges klar. Ihr Vater versucht seinen Fehler gutzumachen, indem er sie ständig mit Geld vollstopft und ihre Mutter ist aus diesem Grunde so überbesorgt um ihre einzige Tochter«.

Catherine nickte. »Sie haben es richtig erkannt«. Jetzt bremste der Taxifahrer. »Madame, wir sind in der ›Rue Voltaire‹ angekommen. An welchem Haus soll ich halten«?

»Gleich da, vor dem weißen Mehrfamilienhaus bitte«, antwortete Catherine.

Plötzlich hörten sie über den Taxifunk eine Nachricht. »Ein Häuserbrand in Montmartre. Meidet weiträumig den Bereich am Pigalle, insbesondere die ›Rue Pierre Fontaine‹. Die Feuerwehr und die Polizei haben alles abgeriegelt und Notarztwagen sind im Einsatz. Es soll Verletzte und sogar einen Toten gegeben haben«.

»Habe ich das gerade richtig gehört«? fragte Christian entsetzt. »In der ›Rue Pierre Fontaine‹ ist ein Häuserbrand«?

Der Taxifahrer nickte. »Kennen Sie dort etwa jemanden«?

Catherine antwortete schnell: »Ja, der Monsieur wohnt dort. Können Sie über Ihre Zentrale etwas genauere Informationen bekommen«?

Natürlich wusste auch sie, dass sich in dieser Straße die Wohnung von Fabienne befand.

Der Taxifahrer nahm ein Mikrofon in die Hand. »Hallo Michel, bitte melde Dich«.

Eine Weile war es ruhig, dann rief eine Stimme: »Was gibt es Serge«?

»Ich habe hier einen Fahrgast, der in der ›Rue Pierre Fontaine‹ wohnt. Weißt Du, in welchem Haus es brennt«?

»Nein, das kann ich im Moment leider nicht sagen. Ich weiß nur, dass es dort jetzt kein Durchkommen gibt. Drehe mal Dein Autoradio lauter. Vielleicht haben die etwas Neues«.

Christian kramte mit zittrigen Händen sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und wählte hastig Fabiennes Festnetz-Nummer. Er bekam keine Verbindung. Genervt legte er wieder auf. »So ein Mist«, murmelte er. »Alles tot«. Schnell wählte er ihre Mobilnummer. Sofort sprang die Mailbox an. »Das darf doch nicht wahr sein«, rief er. »Ich kann sie nicht erreichen«.

»Was in einem solchen Fall nicht ungewöhnlich ist«, sagte Catherine. »Machen sie sich nicht verrückt, bestimmt ist Fabienne längst in Sicherheit«.

»Das glaube ich erst, wenn ich Gewissheit habe«, sagte Christian unruhig. »Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihr wirklich etwas passiert ist«.

»Warten sie bitte fünf Minuten«, sagte Catherine zum Taxifahrer und gab ihm einen Geldschein. »Ich bringe schnell die Sachen zu meiner Mutter und fahre mit zurück in die Innenstadt«.

Der Fahrer nickte und stellte sein Taxameter wieder auf null.

Angespannt und sichtlich nervös wartete Christian auf die Rückkehr von Catherine. Als die endlich wieder die große verzierte Zugangstür öffnete und zum Taxi lief, atmete er auf.

»Beeilen Sie sich bitte«, rief er dem Fahrer zu.

»Wir nehmen jetzt einen Schleichweg«, murmelte der. »Nicht ganz legal, aber im Moment interessiert mich das nicht und falls die ›Flicks‹ uns aufhalten, dann müssen Sie für mich aussagen«.

Sie fuhren durch entgegengesetzt verlaufende Einbahnstraßen, die um diese Zeit fast menschenleer waren.

»Mein Schwager arbeitet im gehobenen Dienst bei der Polizei«, sagte Catherine und klopfte dem Fahrer beruhigend auf die Schulter. »Im Zweifel wird er Ihnen helfen, denn auch mir hat er schon einige Bußgelder erspart«.

Christian sah sie staunend an. »Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut«.

Der Taxifahrer kurvte geschickt um parkende Autos und schließlich kamen sie an eine Straßensperre am Pigalle.

Schon von weitem sahen sie blaue Signalleuchten. Ein Polizist beugte sich nach vorn.

»Bon soir, Madame und Monsieur«. Er nickte allen freundlich zu. »Ich darf Sie leider nicht weiterfahren lassen«.

»Meine Frau Fabienne Mercier wohnt in der ›Rue Pierre Fontaine‹«, rief Christian ungeduldig. »Wissen Sie, ob mit ihr alles in Ordnung ist«?

Der Polizist schluckte. »Wie war gerade der Name? Fabienne Mercier«?

Christian erschrak. »Wissen Sie etwas? Geht es ihr gut«?

Der Polizist drehte sich wortlos um und rannte zu einem an der anderen Straßenseite parkenden Einsatzwagen. Kurz darauf stiegen eine Frau und ein Mann aus diesem Auto und kamen direkt auf das Taxi zu.

Christian öffnete hastig die Autotür: »Was ist mit Fabienne? Nun sagen Sie schon, was los ist«.

Die beiden hielten ihm ihre Dienstausweise entgegen. »Ich bin Capitaine de Police Victor Levéfre«, antwortete der Mann ruhig. Er trug über einem dunklen Anzug einen hellen Regenmantel und hatte seinen Hut dicht ins Gesicht gezogen.

Man konnte sehen, dass er trotz der etwas altbackenen, aber dennoch sehr teuer wirkenden Kleidung, sicher nicht älter als vierzig war.

»Und das ist meine Kollegin Lieutenant de Police Isabelle Robin. Sind Sie Christian Clément«?

Der nickte und starrte ihn ungläubig an. »Woher kennen Sie meinen Namen«?

»Kommen Sie bitte mit«, sagte die Kommissarin. »Die Eltern von Fabienne Mercier sind auch bereits hier«.

Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Sie liefen zwischen Feuerwehr-Fahrzeugen, hell blinkenden Polizeiautos und umherstehenden Polizisten zu einem provisorisch aufgebauten Pavillon, wo Robert und Beatrice Mercier auf zwei Klappstühlen saßen und starr vor sich hinblickten.

Als sie Christian erkannten, sprang Beatrice Mercier auf und schrie: »Warum hast Du Fabienne allein gelassen? Warum«?

»Was ist denn passiert«? stotterte Christian.

»Was passiert ist«? rief Robert. »Unsere einzige Tochter ist tot, das ist los. Und wenn Du sie nicht allein gelassen hättest, dann würde sie bestimmt noch leben«.

Der Kommissar drängte ihn zurück. »Hören Sie bitte sofort auf damit Monsieur Mercier. Wir reden auf der Préfecture weiter«. Er gab seiner Kollegin ein Zeichen. »Lassen sie uns fahren«.

»Nein, ich höre nicht auf«, rief Robert aufgebracht. »Christian ist an allem schuld. Ständig hat er nur Unglück über meine Familie gebracht«.

»Und wer sind Sie«? fragte Victor Levéfre an Catherine gewandt, die Christian gefolgt war.

»Ich heiße Catherine Moreau, bin Mitarbeiterin des Verlages und war heute Abend mit Monsieur Clément zufällig in einem Taxi unterwegs«.

Der Kommissar holte einen Notizblock aus der Innentasche seines Mantels und fragte sie nach ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer.

»Gut Madame Moreau«, sagte er, während er die letzten Zahlen notierte. »Wir werden Sie anrufen, falls es nötig sein sollte. Au revoir«.

»Moment«, rief Christian aufgebracht. »Wo ist Fabienne jetzt? Ich gehe hier nicht eher weg, bevor ich nicht wirklich davon überzeugt bin, dass sie das Todesopfer ist«.

Victor Levéfre sah ihn durchdringend an. »Kommen Sie mit«. Dann drehte er sich um und lief wortlos über einen Grünstreifen hinüber zu einem dunklen Van. Gerade wollte der Fahrer Gas geben.

»Warten Sie bitte«, rief er und hob die Hand. »Ich muss die Tote einem Angehörigen zeigen«.

»Hat das nicht Zeit bis Morgen«? fragte der sichtlich genervt. »Erstens sieht sie nach dem Brand nicht besonders appetitlich aus und zweitens haben wir gleich Feierabend«.

Der Kommissar packte ihn durch die offene Fensterscheibe am Revers und hatte ihn jetzt dicht vor seinem Gesicht. »Tun Sie was ich gesagt habe«, zischte er. »Anderenfalls sorge ich dafür, dass Sie Morgen Ihren Job los sind. Haben Sie mich verstanden«?

Verdattert stiegen der Mann und sein Beifahrer aus dem Wagen. Die Heckklappe wurde geöffnet.

Sie zogen den Sarg vorsichtig heraus und öffneten den Deckel.

Christian atmete schwer, als er langsam um das Auto herumging.

Ein Reißverschluss wurde aufgezogen und jetzt starrte er in ein verbranntes, schrecklich entstelltes Gesicht. »Sie ist es«, krächzte er. »Da gibt es keinen Zweifel«.

»Und was macht sie so sicher«? fragte der Kommissar gespannt. »Von ihrem Gesicht ist fast nichts übrig«.

»Die Ohrringe«, flüsterte er. »Ich hatte sie ihr zu Weihnachten geschenkt«.

Der Fahrer fragte vorsichtig: »Dürfen wir jetzt wieder schließen«?

Levéfre nickte. »Ja, bringen Sie sie bitte gleich in die Pathologie«.

Dann wandte er sich wieder an Christian. »Warum waren Sie eigentlich nicht bei ihr, als der Brand ausbrach«?

»Wir hatten Streit«.

Der Kommissar horchte auf. »Darüber werden wir reden müssen Monsieur Clément«.

»Wieso«? Das ist doch Privatsache«.

Victor Levéfre nickte. »Ja grundsätzlich schon, aber wir kennen im Moment die Brandursache noch nicht und haben keine Ahnung, warum sie es als einzige nicht rechtzeitig nach draußen geschafft hat«.

Schnell ging er zu Fabiennes Eltern, Catherine Moreau und seiner Kollegin, die bereits ungeduldig warteten.

»Ich möchte Madame und Monsieur Mercier auf die Préfecture begleiten«, sagte Catherine. »Ich hoffe, dass das möglich ist«.

»Wenn Sie wollen, dann fahren Sie mit«, antwortete Isabelle Robin.

Als alle eingestiegen waren, schob sie die Tür zu und drehte sich zu dem diensthabenden Polizisten um: »Passen Sie ein bisschen auf. Die Herrschaften sind im Moment nicht besonders gut aufeinander zu sprechen«.

Der nickte. »Danke für den Tipp, aber wir werden sie schon heil auf die Préfecture bringen«. Schnell stiegen die Beamten ein und fuhren davon.

Isabelle Robin sah ihnen nach. »In der Nacht findet die Obduktion von Fabienne Mercier statt und die Spurensicherung hat auch noch einiges zu tun«.

»Dann nehmen wir nachher nur ihre Personalien auf und warten morgen das Ergebnis ab«, antwortete Victor Levéfre grübelnd. »Schließlich wissen wir ja noch nicht, ob es nur ein Unfall war. Erst wenn das geklärt ist, können wir gezielte Fragen stellen«.

Grübelnd rieb er sich das Kinn. »Aber interessant finde ich schon mal die Tatsache, dass Monsieur Clément und das Opfer kurz vorher Streit hatten. Fahren Sie jetzt erst einmal nach Hause, ich schaffe das allein«.

Dankbar sah Isabelle ihn an, denn ihr kleiner Sohn schlief allein zu Hause.

Sie nickte ihm zu und ging schnell zu ihrem Auto.

**

Christian Clément und Catherine Moreau standen kurz nach Mitternacht am Haupteingang der Préfecture und sahen sich ratlos an, nachdem Fabiennes Eltern wortlos an ihnen vorbeigegangen und schnell in ein Taxi gestiegen waren.

»Sie halten mich für den Grund allen Übels«, sagte Christian resigniert. »Und bestimmt denken Sie auch, dass ich mit dem Brand im Haus etwas zu tun habe«.

»Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, antwortete Catherine. »Und bedenken Sie, dass die beiden gerade ihr einziges Kind verloren haben. Etwas Schlimmeres kann einem Menschen nicht passieren«.

»Haben Sie daran gedacht, dass auch ich gerade meine Frau und mein Kind verloren habe«? schluchzte er. »Was soll ich denn jetzt machen«?

Sie sah ihn mitleidig an. »Wo schlafen Sie heute«?

Er hob die Schultern. »Keine Ahnung, ich werde mir ein günstiges Hotel etwas Außerhalb suchen, denn ich darf ja im Moment die Stadt nicht verlassen«.

»Wenn Sie wollen, können Sie erst einmal mit zu mir kommen. Philipe und Carole sind für ein paar Tage zu meiner Schwester ins Elsass gefahren. Sie lebt allein und die beiden helfen ihr ein bisschen auf dem Hof«.

»Na gut«, antwortete Christian dankbar. »Aber dann zahle ich jetzt das Taxi«.

Catherine lächelte. »Abgemacht«.

Lange wälzte sich Christian in dieser Nacht schlaflos hin und her. Ein alter Regulator an der Wand, der immer zur vollen Stunde einen leisen Gong von sich gab, tickte monoton vor sich hin.

›Warum habe ich Fabienne gerade heute zur Rede gestellt‹? dachte er. ›Ich hätte damit einfach bis zum nächsten Tag warten sollen. Nur die Aussprache wäre so oder so unvermeidlich gewesen‹.

Wieder drehte er sich auf den Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Kleine Lichtkreise tanzten umher, sobald ein Auto an den Fenstern vorbeifuhr. »Ich bekomme kein Auge zu«, murmelte er und setzte sich aufrecht hin.

Aus seiner Sakkotasche, die neben ihm am Stuhl hing, kramte er ein Päckchen filterlose Zigaretten hervor, die er seit einigen Wochen zwar mit sich herumgetragen, aber nicht mehr angerührt hatte.

»Sogar das hatte ich mir für sie abgewöhnt«, flüsterte er, während ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen.

Als er ein Streichholz entzündete und den ersten Zug einatmete, wurde ihm übel.

Plötzlich ging das Licht an. Catherine stand in einen Morgenmantel gehüllt an der Tür und sah ihn vorwurfsvoll an. »Wenn ich nicht um die Umstände wüsste, hätten Sie jetzt ein Donnerwetter erlebt«, sagte sie streng. »In meiner Wohnung erlaube ich niemandem das Rauchen«.

Schnell ging sie zum Fenster und riss es sperrangelweit auf. »Ich konnte allerdings auch nicht schlafen. Kommen Sie mit in die Küche, ich habe gerade frischen Kaffee gemacht«.

Jetzt sah sie verächtlich auf die Zigarette, die er noch immer brennend in der Hand hielt.

»Und nehmen Sie diesen Glimmstängel mit, bevor auch noch mein schöner Teppich in Mitleidenschaft gezogen wird«.

»Entschuldigen Sie«, murmelte er niedergeschlagen. »Ich habe nicht nachgedacht«.

Er zog sich schnell sein Shirt über, schlüpfte in die Jeans und trottete hinter ihr her.

»Hier«, sagte sie beschwichtigend und stellte ihm einen kleinen Keramikaschenbecher auf den Tisch. »Er gehörte meinem Mann und wurde, seitdem er nicht mehr da ist, auch nicht mehr benutzt«.

Dann goss sie Kaffee und Milch in zwei große Bol-Tassen und stellte knuspriges Baguette daneben. »Wir müssen uns heute mit Marmelade begnügen«, sagte sie beiläufig. »Camembert kaufe ich nur am Wochenende auf dem Markt ein«.

»Danke«, sagte er betreten. »Aber ich bekomme im Moment sowieso keinen Bissen herunter«.

In kleinen Schlucken trank er jetzt den heißen Kaffee und fühlte sich langsam ein bisschen besser. »Vielen Dank Catherine«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was ich allein in einem tristen Hotelzimmer gemacht hätte«.

»Ist schon gut, aber jetzt reden wir mal Klartext. Was hat Fabienne dazu gebracht, Sie gestern Abend aus der Wohnung zu werfen«?

Christian hob die Schultern. »Wenn ich das nur selber wüsste«.

Er lehnte sich grübelnd zurück. »Wir haben gestern Abend gestritten und in der letzten Zeit sowieso leider zu häufig«.

Wieder sah er sie verzweifelt an. »Aber meiner Meinung nach hätte es nicht zu einer Trennung kommen müssen«.

Er schüttelte den Kopf. »Fabienne war dermaßen aggressiv und kalt. So habe ich Sie noch nie erlebt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hat sie nur nach einem Vorwand gesucht mich loszuwerden«.

»Sie meinen, dass sie nicht wirklich mit Ihnen nach Deutschland gehen wollte«?

Christian wiegte den Kopf. »Ja und nein. Als ich wissen wollte, warum sie mir überhaupt den Vorschlag gemacht hatte dorthin zu ziehen, habe ich keine Antwort bekommen, aber im Gegenzug hat sie die Frage gestellt, ob ich daran zweifle, dass ich sie liebe«.

Catherine beugte sich nach vorn. »Und? Was haben Sie geantwortet«?

Er schluckte. »Dass ich es gern glauben würde, aber so, wie es in letzter Zeit war, nicht sicher bin«. »Und dann«? fragte sie gespannt.

»Sie hat mich angeschrien und gesagt, endgültig genug von mir zu haben«.

Wieder brannte er sich eine Zigarette an und sog tief den Rauch ein. »Ich habe an der verschlossenen Schlafzimmertür geklopft, habe gebettelt, dass wir noch einmal in Ruhe über alles reden sollten. Nichts, keine Antwort«.

»Und dann haben Sie die Wohnung verlassen«? Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin in ihr Büro gegangen, weil ich meinen Reisepass gesucht habe. Und da stand sie plötzlich doch hinter mir«.

Er grübelte wieder. »So schroff und abweisend war sie bei vorhergehenden Streitigkeiten noch nie. Glauben Sie mir Catherine, ich hatte gestern Abend nicht den Hauch einer Chance«.

»In ihrem Büro haben Sie dann das kleine Album gefunden, von dem Sie mir im Taxi erzählt hatten, oder«?