Das Labyrinth der Hoffnung - Charlotte Lindermayr - E-Book

Das Labyrinth der Hoffnung E-Book

Charlotte Lindermayr

4,7

Beschreibung

Dunbar in Schottland Percy Johnson lebt allein und ist seit vielen Jahren Lokführer einer Bahngesellschaft. Sein Halt ist die Familie seines besten Freundes Piet. Aber ein Geheimnis trägt er allein mit sich herum. Eines Tages legt eine Signalstörung den gesamten Zugverkehr lahm und dabei trifft er einen kleinen Jungen, dessen Schicksal ihn berührt und nicht mehr los lässt. Kurz darauf hat Percy einen schweren Unfall an einem Bahnübergang und wird verhaftet. Alles spricht gegen ihn. Doch ein junger Rechtsanwalt und sein Private-Detective lassen nicht locker. Gibt es doch noch Hoffnung?

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Percy Johnson saß an der offenen Tür seiner Dampflok und wartete geduldig auf ein Zeichen von der Leitstelle. Alle Signale waren seit gut einer Stunde rot, aber niemand schien zu wissen warum.

Er transportierte gerade Bauholz, das pünktlich in einem Sägewerk in seiner Heimatstadt Dunbar ankommen sollte.

Er blinzelte in die Sonne, die jetzt im Hochsommer fast senkrecht über ihm stand. Gelangweilt holte er sein Zigarettenpäckchen und Streichhölzer aus der Jackentasche und blies kleine Wölkchen in den azurblauen Himmel.

Neben ihm stand ein Reisezug, aus dem er lärmende Passagiere hören konnte, die immer ungeduldiger zu werden schienen.

Plötzlich hörte er einen dumpfen Knall und Stimmengewirr. Jemand schrie: »Rudi, komm sofort zurück«.

Percy stand auf und blickte in die Richtung, aus dem er die Rufe gehört hatte und sah einen kleinen Jungen, der zwischen den Gleisen umherlief.

Jederzeit konnte ein anderer Zug kommen und ihn erfassen. Schnell kletterte er die Leiter hinunter.

Mit Schrecken sah er, dass inzwischen mehrere Signale auf Grün umgeschaltet wurden.

Auf einmal hörte er die Hupe einer Diesellok, die mit hoher Geschwindigkeit auf den kleinen Jungen zufuhr. Gerade konnte er noch sehen, wie dieser stolperte, ins Gleisbett fiel und liegen blieb.

Jetzt rannte er los. Er sprang über mehrere Weichen, während die Lok immer näher kam und sich wie ein riesiger Eisenberg vor ihm auftürmte.

Er packte das Kind und riss es hoch. Bremsen quietschten.

Percy lag im Schotter, hatte den Jungen im Arm und fest die Augen geschlossen. Als er langsam blinzelte, bemerkte er einen Schatten über sich.

Es war der Lokführer, der vor ihm gehalten hatte. »Hallo! Ist alles ok mit Dir«?

Percy flüsterte: »Nimm mir bitte mal das Kind ab«.

Der Junge stand jetzt mit zittrigen Knien vor ihm, hatte blutige Knie und eine Schramme an der Wange.

Ihm selbst dröhnte der Kopf, denn er war selbst hart auf den Steinen aufgeschlagen. Er tastete sich vorsichtig ab, konnte aber keine Verletzung an sich feststellen.

Langsam rappelte er sich wieder hoch. »Na sag mal«, schnaufte er. »Was machst Du denn für Sachen? Und warum bist Du überhaupt aus dem Zug geklettert«?

Der Junge sagte nichts und sah schuldbewusst auf den Boden. Percy hockte sich ihm gegenüber. »Du brauchst keine Angst vor uns zu haben. Wie heißt Du denn, hm«?

»Ich bin Rudi. Rudi Brown«, flüsterte er kaum hörbar. Percy lächelte ihn freundlich an. »Na siehst Du, das ist doch schon mal ein Anfang. Ich heiße Percy und bin wie mein Kollege Lokführer«.

Er deutete jetzt mit dem Kopf in Richtung des Reisezuges, der immer noch bewegungslos auf dem Gleis stand. »Wo sind denn Deine Eltern? Sind sie da drüben«?

Rudi schüttelte den Kopf und sah verängstigt hinüber. »Nein. Meine Eltern leben nicht mehr. Ich bin mit meinem Onkel und meiner Tante unterwegs in ein Waisenhaus. Sie sagen, dass ich dort bleiben muss, weil sie mich nicht behalten können«.

Die Lokführer sahen sich betreten an, denn Rudi war sicher nicht älter als sieben Jahre und machte ohnehin einen ziemlich verwahrlosten Eindruck.

Er hatte ein geflicktes kariertes Hemd an, die abgenutzte viel zu große Hose wurde mehr schlecht als recht durch Hosenträger gehalten und seine Schuhe waren ausgetreten.

Der andere Lokführer räusperte sich unbehaglich: »Naja, wie auch immer«, sagte er mit dunkler Stimme. »Wir bringen Dich jetzt zurück und dann müssen wir weiter, sonst kommt der ganze Fahrplan restlos durcheinander«.

Rudi begann merklich zu zittern. »Bitte nimm mich mit«, flehte er. »Ich will nicht in dieses Heim«.

Percy sah ihn mitleidig an und schluckte. »Das geht leider nicht, ich kann Dich beim besten Willen nicht mitnehmen«.

Plötzlich hörten Sie, wie ein Mann und eine Frau laut schimpfend auf sie zuliefen. Rudi versteckte sich ängstlich hinter dem Hosenbein von Percy.

Eine dicke korpulente Frau stand jetzt mit grimmiger Miene vor ihm und hatte ihre feisten Hände in die Hüften gestemmt. »Was machen Sie da mit meinem Neffen«?

An Rudi gewandt, keifte sie: »Und Du kommst jetzt sofort wieder mit, sonst setzt es was«.

Percy baute sich direkt vor ihr auf. »Jetzt wundert mich nicht mehr, dass der Junge weg läuft. Vor Ihnen bekommt man ja sogar als Erwachsener Angst«.

Der andere Lokführer zog ihn am Ärmel: »Lass das lieber«, raunte er. »Misch Dich bloß nicht ein, sonst bekommst Du Ärger«.

Percy trat einen Schritt zurück, denn ihm war klar, dass sein Kollege Recht hatte. »Ich kann leider nichts weiter für Dich tun«, flüsterte er Rudi zu.

Der nickte tapfer und ging langsam auf seine Tante zu. Plötzlich spürte er, dass etwas in seiner Hosentasche steckte, aber er ließ sich nichts anmerken. Percy hatte ihm noch eine angefangene Tüte mit Schokoladen-Bonbons hinein geschoben.

Die Lokführer sahen nun zu, wie er zurück in den Reisezug gezerrt wurde.

Percy tat der kleine Blondschopf mit den vielen Sommersprossen im Gesicht leid.

»Warum sind manche Menschen bloß so grausam zu Kindern«? flüsterte er.

»Wenn ich Dir diese Fragen beantworten könnte, wäre ich Millionär und müsste nicht mehr arbeiten«, sagte der andere Lokführer. »Mach`s gut Kumpel«.

Er drehte sich um, stieg schnell auf seine Lok und löste die Bremse. Percy sah ihm nach.

In diesem Moment ruckte der Reisezug an. Er versuchte Rudi irgendwo zu entdecken, als der Zug jetzt an ihm vorbeifuhr, aber keine Chance. Sie fuhren bereits zu schnell.

Am Abend kam die Stadt Dunbar in Sicht. Percy steuerte zum Güterbahnhof und schaute schließlich zu, wie ein Waggon nach dem anderen entladen wurde. Dann quittierte er dem Wagenmeister das Protokoll und stellte die Lok im Eisenbahndepot ab.

Für heute hatte er Feierabend und freute sich auf einen entspannten Abend.

Gern verbrachte er seine Freizeit mit seinem Freund Piet Barnes. Gemeinsam mit seiner Familie schauten sie bei ihm zu Hause Fußball und schlossen gelegentlich eine Wette über den Ausgang des Spiels ab. Seine Frau Zoe sah das nicht so gern, denn die zehnjährigen Zwillinge Danny und Edgar benutzten schon die gleichen Schlagwörter wie ihr Vater.

Sie waren Percys Familienersatz, denn er selbst hatte Keine, obwohl das niemand verstand.

Es sei denn, Zoe begann wieder einmal mit diesem, für ihn überflüssigen Thema.

Schon mehrmals hatte sie versucht, ihn mit einer ihrer Freundinnen zu verkuppeln. Sie lud sie zu Partys ein und Percy saß dann, natürlich nur rein zufällig, neben einer dieser Damen. Oft hatte er sich in einem unbeobachteten Moment aus der Wohnung geschlichen und den restlichen Abend allein in einem nahegelegenen Pub verbracht.

Nur wie sollte er ihnen denn klar machen, dass er schwul war. Denn das sah man ihm nicht an.

Percy war jetzt achtunddreißig, kräftig gebaut und überragte mit seinen 1,90 m viele seiner Bekannten.

Schon seit seiner Teenager-Zeit ließ er sich einen Vollbart stehen und seine etwas längeren schwarzen Haare hatte er zu einem kleinen Zopf gebunden.

In seiner Freizeit trug er Lederstiefel, Blue-Jeans und eine Taschenuhr an einer silbernen Kette, die er von seinem Großvater geerbt hatte.

Viele Jahre hatte er selbst mit sich gerungen, versuchte diese Tatsache zu ignorieren und überlegte sogar, sich trotzdem eine Frau zu suchen.

Doch als er eines Abends allein ins Kino ging, traf er John. Der Film, den er sich eigentlich anschauen wollte, war sofort zur Nebensache geworden.

Sie verbrachten zusammen die Nacht und am nächsten Morgen schlich er heimlich aus dem Hotel.

John war Australier und sechs Wochen für ein Projekt nach Schottland gekommen. Er arbeitete für einen IT-Konzern und war mindestens zehn Jahre jünger als Percy. Fast jeden Abend trafen sie sich, doch der Tag des Abschieds kam. Und als sie sich in der Abflughalle gegenüber gestanden waren, hatte John ihm gesagt, dass zu Hause seine Frau und eine einjährige Tochter auf ihn warteten.

Beide wussten, dass sie sich nie mehr wieder sehen würden.

Enttäuscht hatte Percy ihm nachgesehen, als der zum Check-in ging, aber ab jetzt war er sich sicher, dass er keine Frau wollte. Lieber würde er allein bleiben.

In den darauffolgenden Wochen flüchtete er sich in die Arbeit, denn er ertrug die Stille in seiner Wohnung nicht. Er hatte sich vom Fahrdienstleiter zu Sonderschichten einteilen lassen und vertrat kranke Kollegen. Und wenn gerade keine Tour anstand, ging er in der Kantine des Eisenbahndepots.

Dort standen Spielautomaten, es gab Zeitungen und er redete stundenlang mit Mary, die er schon seit seiner Lehrzeit kannte. Sie war eine seiner wenigen Vertrauten. Bei ihr hatte er das Gefühl, dass sie ihn verstand.

Jetzt war er auf dem Weg zu seinem Freund Piet. Er läutete, da hörte er auch schon Zou rufen: »Die Tür ist offen«.

Er lief durch den Flur. »Ich bin es, Percy«.

Als er die Küche betrat, lächelte er, denn Edgar und Danny knieten auf den Stühlen und sahen ihrer Mutter zu, die einen Teig ausgerollt hatte und mit kleinen Förmchen Figuren ausstach.

»Hallo zusammen. Was macht Ihr denn da«? fragte Percy. »So was tut man doch eigentlich nur um die Weihnachtszeit«.

Edgar rief: »Hallo Onkel Percy. Wir haben morgen ein Schulfest und alle sollen etwas mitbringen. Mum macht uns gerade Butterplätzchen, damit kommen wir bestimmt gut an«.

»Ihr seid doch auch so die Besten, würde ich sagen«, antwortete er. »Hm und es riecht so gut«.

Zou lachte: »Schmier den beiden nicht so viel Honig um den Mund, sonst kriegen sie noch Höhenflüge«.

Percy grinste: »Ach was, sei froh, dass Du die beiden Racker hast«.

Zou sah ihn von der Seite an. »Ich würde mich freuen, wenn Du mir auch mal einen von Dir vorbei bringst. Aber was nicht ist, kann ja noch werden«.

Sie nahm das voll beladene Backblech und schob es in den vorgeheizten Backofen. »So«, sagte sie an die Jungen gewandt. »Und Ihr zwei macht jetzt Eure Hausaufgaben. Dad kommt bald von der Arbeit und dann wollen wir essen«.

Edgar maulte: »Warum gerade jetzt, wo Onkel Percy gekommen ist? Wir haben sowieso nicht viel auf«. Zou sah ihn mit ernster Miene an, die keinen Widerspruch zuließ. Die Jungs trollten sich in ihre Zimmer.

»Warum fängst Du immer wieder davon an«? fragte Percy, ohne sie dabei anzusehen.

Zou räumte gleichgültig den Tisch ab und beobachtete ihn dabei aus den Augenwinkeln.

»Ich denke einfach, dass Du ein guter Vater wärst. Das ist alles«.

Percy stopfte sich ein paar Streusel, die auf einem Holzbrett lagen, in den Mund. »Ach Zou, hör doch auf«, sagte er kauend. »Ich arbeite im Schichtdienst und außerdem habe ich Danny und Edgar«.

Plötzlich klappte die Haustür. »Hallo, ich bin`s«, rief Piet. »Was gibt`s zu essen? Ich habe einen Bärenhunger«.

Er warf im Flur seine Arbeitstasche in die Ecke, schlüpfte in seine Hausschuhe und öffnete die angelehnte Küchentür.

Als er Percy sah, grinste er. »Hey Boyo, wie geht’s Dir«? Piet rief ihn, seit er denken konnte bei diesem Spitznamen.

»Ich hoffe Du isst mit uns und dann zischen wir noch ein Bier«, sagte er gutgelaunt. »Heute Abend spielt Glasgow gegen Aberdeen. Da sollten wir eine kleine Wette abschließen«.

Zou entgegnete: »Macht was Ihr wollt, aber vor den Jungs wird nicht gewettet«.

Percy nahm sie freundschaftlich um die Schulter. »Liebe Zou, als Patenonkel werde ich darauf achten, dass die beiden weder spielsüchtig werden, noch irgendwelche obszönen Worte fallen«.

Sie lächelte. »Das will ich auch hoffen«.

**

Rudi saß traurig auf seinem Bett im Schlafsaal des Waisenhauses. Immer wieder kullerten ihm die Tränen die Wangen herunter.

Onkel Lukas und Tante Hedi hatten im Büro des Heimleiters die Papiere unterschrieben und sich verabschiedet: »Leb wohl«, murmelte Onkel Lukas ungerührt. »Und mach uns keine Schande«.

Rudi hatte ihm traurig nachgesehen, als er mit seiner Tante zum Ausgang lief und es nicht mehr gewagt, dagegen zu protestieren. Er wusste, dass es keinen Zweck hatte. Sie wollten ihn nicht mehr.

Vier Jahre hatte er bei ihnen gelebt. Seine Mutter war gestorben, was sein Vater nie verkraftete. Der begann zu trinken und überlies ihn seinem Schicksal.

Manchmal bekam er tagelang kaum etwas zu essen und im Winter war das Haus nicht beheizt.

Eines Tages hielt ein Auto am Haus und er musste mit einem kleinen Koffer, in den seine Tante ein paar Habseligkeiten von ihm verstaut hatte, mitfahren.

Von ihnen erfuhr er, dass sein Dad auf einer Bank in einem Park gefunden worden war.

»Steven hat sich totgesoffen«, seufzte Onkel Lukas gleichgültig. »Und deshalb haben wir Dich jetzt am Hals«.

Sie selbst lebten in einem Arbeiterviertel in Darnley und hatten keine Kinder. Lukas besaß einen kleinen Kohlehandel, wo Rudi tagsüber mithelfen musste.

Tante Hedi kontrollierte im Büro die Bestellungen, telefonierte mit ihren Freundinnen und stopfte, wann immer sie konnte, Kuchen und andere Süßigkeiten in sich hinein. Deshalb wurde sie immer dicker und Ihr fiel das Laufen schwer.

Wenn er abends hungrig vor dem Suppentopf am Holzofen stand, fauchte sie: »Du wartest gefälligst, bis Lukas gegessen hat. Sollte etwas übrig bleiben, kannst Du es haben«.

Eine schrille Glocke riss ihn aus seinen Gedanken. Die Tür wurde aufgestoßen und lärmende Kinder kamen herein. Als sie Rudi sahen, liefen sie zu ihm hin und blieben vor dem `Neuen` stehen.

Ein Junge, Rudi schätzte ihn mindestens sechzehn, lehnte sich grinsend mit beiden Armen auf das Bettgestell am Fußende. »Hey, seit wann bist Du hier und wie heißt Du«?

»Ich heiße Rudi«, flüsterte er schüchtern. »Rudi Brown. Seit einer Stunde bin ich hier«.

Der Junge verschränkte die Arme. »Und warum? Wollten Dich Deine Eltern nicht mehr, so wie bei den Meisten«?

Rudi schüttelte verlegen den Kopf. »Meine Eltern sind tot«. Der Junge ging nun um das Bett herum und setzte sich neben ihn. »Ich heiße Simon Baker und bin der Zimmersprecher. Hier in diesem Raum wird getan, was ich sage. Und beim Heimleiter wird niemand verpfiffen. Klar«?

Rudi nickte wortlos. Simon stand wieder auf. »Ich denke, dass Du jetzt hier der Jüngste bist. Und das bedeutet, dass Du für alle die Schuhe putzen musst. Bisher hat das Mitch, ähm Dick gemacht. Er wird Dir nachher zeigen, worauf es ankommt. Und vermassel es nicht, sonst bekommen wir alle keinen Ausgang«.

Er drehte sich zu den anderen um. »Los kommt Jungs, Essen fassen«. Mit leisem Gebrabbel liefen sie hinter ihm her.

Ein kleiner, etwas dicklicher Junge blieb bei ihm stehen. »Ich bin Dick. Wollen wir Freunde sein«?

Rudis Gesicht erhellte sich. »Ja gerne. Ich hatte eigentlich noch nie einen richtigen Freund. Wie ist Dein Nachname«?

Dick setzte sich neben ihn. »Mitchell. Und deshalb nennen mich hier alle Mitch«.

Rudi lächelte. »Na gut, dann werde ich Dich auch so rufen«. Er nickte. »Ist ok«. Er ging zur Tür. »Los, komm mit. Ich zeige Dir alles und dann gehen wir auch etwas essen«.

Während sie durch lange düstere Flure liefen, fragte Rudi: »Wie ist es denn hier so«?

Dick hob die Schultern. »Naja, es geht. Mit Mitleid brauchst Du hier aber nicht zu rechnen. Die Großen nutzen die Kleinen aus, aber den meisten Lehrern ist das egal«.

Rudi fragte weiter: »Seit wann bist Du hier und warum«?

Dick lief weiter, ohne ihn anzusehen. »Die Fürsorge hat mich abgeholt, weil meine Mutter sich nicht um mich gekümmert hat. Ich habe noch zwei Schwestern, die mussten auch in ein Waisenhaus. In eins für Mädchen. Zu Weihnachten und Ostern schreibe ich ihnen und vom Rest der Verwandtschaft weiß ich nichts«.

Schweigend gingen sie weiter. Plötzlich blieb er stehen. »Nimm Dich in Acht vor unserem Heimleiter Mr. Walter. Wenn er böse wird, schlägt er manchmal zu. Und vor Joshua Swift, der verpetzt alle bei ihm«.

Rudi sah ihn ängstlich an. »Darf uns Mr. Walter denn schlagen«?

Dick lächelte verächtlich. »Natürlich nicht, aber niemand traut sich dagegen etwas zu sagen. Und im Keller gibt es einen Arrestraum. Wenn Du mal da drin gelandet bist, kommst Du so schnell nicht wieder raus«.

»Musstest Du schon mal rein«? fragte Rudi leise. Dick schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht. Aber Simon kann ein Lied davon singen«.

Rudi sah ihn von der Seite an. »Was hat er denn angestellt und wer ist dieser Joshua«?

»Simon hatte sich ein Poster über seinem Bett an die Wand geklebt, es aber vor einer Zimmerkontrolle abgenommen, denn er war sich sicher, dass Mr. Walter es ihm wegnehmen würde. Josh hat ihn natürlich verpfiffen. Und dann musste Simon für zwei Tage ohne Essen in dieses Loch. Seitdem sind die beiden wie Hund und Katze«.

Rudi nickte. »Gut, dass ich das weiß«.

Sie betraten den überfüllten Aufenthaltsraum, der auch zum Essen genutzt wurde. An der Ausgabe stand eine Köchin, die sie freundlich ansah.

»Hey Mitch«, rief sie gut gelaunt. »Wie geht es Dir heute«?

Er grinste. »Alles ok Lotta. Was gibt’s denn heute«?

Sie nahm zwei Teller. »Es gibt einen Nudelauflauf mit Schinken und Zwiebeln. Gut; dass Ihr jetzt hier seid, denn viel ist nicht mehr übrig«. Jetzt sah sie Rudi an. »Bist Du neu«? Er nickte verlegen. »Er ist heute angekommen«, antwortete stattdessen Dick. »Ich zeige ihm nachher alles«.

»Beeilt Euch lieber, denn gleich kommt Mr. Walter«, raunte sie. »Ich habe vorhin gehört, dass er Euch heute Nachmittag in den Schulgarten schicken will«. Schnell schaute sie aus dem Fenster. »Und das bei der Hitze«, sagte sie mitfühlend. »Da solltet Ihr eigentlich zum Baden gehen«.

Dick und Rudi nahmen ihre Teller und jonglierten zwischen den Bänken zu einem freien Tisch. Zwei Reihen weiter saß Simon und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.

Rudi schmeckte das Essen hervorragend. Bei seinem Onkel hatte er so etwas noch nie gegessen. Dick sah ihm zu, wie er es hastig hineinschlang.

»Donnerwetter, Du scheinst ja richtig Hunger zu haben«.

Plötzlich war Totenstille. An der Eingangstür stand ein großer schlanker Mann in einem schwarzen Anzug und dunkler Krawatte. Er hatte seine Hände auf dem Rücken verschränkt und sah sich mit ernster Miene um.

Neben ihm stand ein Junge. Rudi schätzte, dass er ungefähr so alt war wie Simon und dachte bei sich: `Das muss Joshua Swift sein`.

Er hatte sehr kurzes blondes Haar und das weiße Oberhemd war bis zum Hals zugeknöpft. Unter dem Arm trug er ein Notizbuch. »Mr. Walter hat heute Gartenarbeit angeordnet«, sagte er. »In einer halben Stunde haben alle Schüler in Arbeitskleidung auf dem Hof zu sein«.

Da bemerkte Rudi, dass dieser Mr. Walter auf ihn zulief und direkt vor ihm stehen blieb. Ängstlich sah Rudi auf den Boden. »Bist Du Rudi Brown«?

»Steh auf«, sagte Joshua harsch. »Und sieh Mr. Walter an, wenn er Dich etwas fragt«.

Rudi hob langsam den Kopf. »Ja der bin ich«, antwortete er leise.

»Also gut«, sagte der Heimleiter. »Du holst Dir nach dem Essen in der Kleiderkammer Wäsche, zwei Schuluniformen und Arbeitssachen«.

Dann drehte er sich um. »Alle anderen Schüler finden sich auf dem Hof…«. Er machte eine kurze Pause und sah dabei auf seine Armbanduhr. »In genau zwanzig Minuten ein. Es gibt Arbeit auf den Kartoffelfeldern. Es werden vier Gruppen gebildet, die Joshua Swift einteilt«.

Dann ging er zurück zur Tür. Drohend sah er sich noch einmal um und verließ wortlos den Raum.

Joshua wich langsam zurück. Er wusste, dass ihn die meisten seiner Mitschüler nicht mochten und nur auf so eine günstige Gelegenheit warteten.

Allen voran Simon Baker. Der machte einen Satz über die Bank und stand jetzt direkt vor ihm.

»Hey Swift. Du bist ja ganz allein mit uns. Ich würde sagen, dass muss gefeiert werden. Oder etwa nicht«?

Joshua schluckte, als er sah, dass er bereits von allen Seiten umringt war. Er wollte anfangen zu schreien, da öffnete sich die Tür.

Jemand rief: »Was ist denn hier los«? Es war der Erzieher und Sportlehrer Ethan Gray. »Ihr verlasst jetzt alle diesen Raum«, sagte er schnell. Mit einem abschätzenden Blick sah er Joshua Swift an. »Das gilt selbstverständlich auch für Dich«.

Den Nachmittag verbrachten die Kinder mit mühsamer Feldarbeit. Unkraut wurde entfernt, Steine abgelesen und Kartoffelkäfer eingesammelt.

Am Abend schmerzte Rudi der Rücken und nach dem Essen saß er zusammen mit Mitch vor einem Regal und putzte für alle Jungen, die mit ihm im Schlafsaal übernachteten, die hingeworfenen verstaubten Lederschuhe.

Leise begann er: »Muss ich das jetzt jeden Tag machen«?

Mitch hob die Schultern. »Ich weiß nicht Rudi. Wir können nur hoffen, das bald ein `neuer` kommt, der Dich ablöst. Diese Woche helfe ich Dir dabei, aber dann musst Du alleine durch. Ging mir ja auch nicht anders, aber Du gewöhnst Dich schon daran«.

Rudi sah ihn resigniert an. »Das glaube ich nicht«. Als er später im Bett lag und verzweifelt an die bröckelnde fleckige Zimmerdecke starrte, dachte er an seine Mum, seinen Dad, aber auch an Onkel Lukas. Doch dann schlief er ein.

Die nächsten Tage und Wochen vergingen. Der Unterricht in der Schule machte ihm Spaß und er merkte, dass ihm besonders die Fächer Geschichte und Geografie gefielen.

Und wann immer er Zeit hatte, lief er in die Schulbibliothek. Dort blätterte er einen Atlas nach dem anderen durch, oder las über die Seeschlachten der spanischen Armada.

Simon Baker und Joshua Swift hatten inzwischen wieder eine Schlägerei gehabt, die darin endete, dass Simon ein weiteres Mal für eine Woche in der Arrestzelle des Kellers landete.

Und Joshua lag auf der Krankenstation. Er hatte eine angebrochene Nase, nachdem Simons Faust mitten in seinem Gesicht gelandet war.

Mittlerweile war es Herbst geworden und die vielen heruntergefallenen Blätter der großen Kastanien im Hof und im daran grenzenden Schulpark wurden täglich zusammengerecht und auf einen großen Haufen geschafft.

Mitch und Rudi waren inzwischen unzertrennlich. Sie halfen sich bei den Hausaufgaben und bastelten zusammen kleine Modellflugzeuge, die bald in einem Museum in Dunbar ausgestellt werden sollten.

Hin und wieder mussten sie sich gegen die Neckereien anderer Mitschüler wehren, aber sie ließen sich kaum etwas gefallen. Und seinen Spind, in dem Rudi die wenigen persönlichen Sachen aufbewahrte, verschloss er immer sorgfältig.

Doch seit kurzem beschützte ihn Simon Baker vor Joshua, nachdem er mitbekommen hatte, dass er ihn beim Rauchen gesehen, aber nichts verraten hatte.

Joshua hingegen, war eines Tages verschwunden. Niemand wusste, ob er zurück zu seinen Eltern gezogen oder adoptiert worden war. Und auch der Heimleiter sprach nicht darüber.

Heute hatte Rudi seinen achten Geburtstag. Mitch hatte es ein paar Tage zuvor Lotta in der Kantine erzählt und als er aufwachte, stand ein kleiner Schokoladenkuchen neben seinem Bett.

Aber auch Simon und seine Freunde waren plötzlich da. »Hey Kumpel«, sagte der grinsend. »Alles Gute zum Geburtstag«.

Rudi sprang auf und rief. »Vielen Dank«.

Der Tag verlief zwar genauso trist wie viele andere auch, aber er war glücklich. Noch nie war er so an seinem Geburtstag begrüßt worden und schon gar nicht mit einem Kuchen.

Von seinem Onkel und seiner Tante hatte er nichts mehr gehört. Nicht einmal eine Postkarte bekam er, aber das erwartete er im Grunde auch nicht. Sie hatten ihn ganz bestimmt vergessen.

In seinem Spind bewahrte Rudi aber noch das leere Schokoladenpapier der Bonbons auf, die ihm der Lokführer am Bahngleis geschenkt hatte.

Jeden Tag hatte er mit Mitch ein Stück gegessen, doch nun waren sie alle. `Er kann sich bestimmt nicht mehr an mich erinnern`, dachte er betrübt.

Dennoch faltete er das knittrige dünne Papier behutsam zusammen und legte es als Lesezeichen in sein Mathematikbuch.

**

Percy hatte zwei Tage Urlaub genommen, um sein Appartement zu renovieren.

Er hatte bis Mittag geschlafen, gemütlich Kaffee getrunken, Zeitung gelesen und stand nun mit zwei großen Pappkartons vor einem Regal und sortierte seine Sachen.

Ganz unten bewahrte er einige Kinderbücher auf, die er Edgar und Danny vorlas, wenn ihre Mum beim Frisör war und sie die beiden nicht allein lassen wollte. Er begann zu lächeln, als er das Buch des kleinen Lausbuben `Michel aus Lönneberga` in der Hand hielt.

Wieder fiel ihm der kleine Junge ein, den er am Bahngleis gerettet hatte. Er grübelte: `Rudi Brown hieß er. Ihm geht es bestimmt nicht so gut wie Edgar und Danny`.

Percy verstaute schnell das Buch ganz unten in der Schachtel, zog hastig alles aus dem Regal hervor und klappte den Deckel darauf.

Er musste auf andere Gedanken kommen, denn damit wollte er sich jetzt nicht beschäftigen. Womöglich würde er sonst nach Rudi suchen. »Aber was sollte es bringen«? murmelte er vor sich hin.

`Und wer hat mir denn früher geholfen`? dachte er jetzt. `Ich musste auch allein zurechtkommen`.

Wütend warf er einen kleinen Kerzenständer in die Ecke, denn ihm war klar, dass es doch nicht so einfach war.

Er ging in die Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm sich eine Dose Bier. Dann holte er sein Zigarettenpäckchen aus der Jeansjacke hervor und setzte sich auf seinen kleinen Balkon.

Warme Sonnenstrahlen fielen ihm ins Gesicht. Er knackte jetzt die Bierdose auf und trank einen gehörigen Schluck. Dann zündete er sich eine Zigarette an und blies kleine Wolken in den Himmel.

Wieder schüttelte er den Kopf und murmelte: »Lass es sein Percy und denk nicht mehr darüber nach«. Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken.

Er hob ab. »Hey Boyo«, rief Piet gut gelaunt. »Sag mal, kann ich kurz vorbeikommen und mir Dein Fahrrad leihen? Die Jungs wollen an den See, weil heute so schönes Wetter ist«.

»Von mir aus«, sagte er eintönig.

Piet stutzte: »Alles in Ordnung bei Dir? Du hörst Dich so seltsam an«. Percy atmete durch. »Ach das täuscht. Wann willst Du denn das Fahrrad holen«?

»Na jetzt, so in zehn Minuten. Bin gleich da«.

Bevor Piet noch etwas sagen konnte, legte er wieder auf.

Kurz darauf stand er auch schon vor seiner Wohnungstür und sah ihn skeptisch an. »Du hast doch was«? Dann zog er sich einen Stuhl heran.

»Los Boyo, spuck es aus«. Percy sprang auf. »Hör bitte sofort auf Piet. Ich habe nichts«.

Zähneknirschend setzte er sich wieder und starrte geradeaus.

»Entschuldige bitte«, stotterte Piet. »Ich wollte Dir nicht zu nahe treten«.

Er stand auf und nahm den Fahrradschlüssel vom Haken neben der Wohnungstür. »Ich bringe es morgen wieder zurück«, sagte er leise. »Bis dann«.

Percy ging zurück ins Wohnzimmer und schaltete die Stereoanlage ein. »Oh, ein Unplugged-Konzert von Status Quo«, sagte er laut vor sich hin. »Das kommt mir gerade recht«.

Er schob das Regal an die Seite und holte aus dem Abstellraum den Farbeimer und einen großen Pinsel. Während die Musik laut vor sich hin dröhnte, begann er die freigeräumte Wand zu streichen.

Hin und wieder trat er zurück und begutachtete sein Werk. »Jetzt weiß ich endlich, warum ich Lokführer geworden bin und kein Maler«, murmelte er, als er die Flecken betrachtete. »Ich habe einfach keine Geduld«.

Als er fertig war, sah er auf die Uhr. Dann warf er den Pinsel achtlos in den Müll, räumte den Eimer weg und schob das Regal wieder an seinen Platz.

»Es ist genug für heute«, sagte er zu sich. »Schließlich habe ich Urlaub«.

Er schaltete das Radio wieder aus, zog sich seine Jeansjacke über und verließ das Haus.

Langsam lief er durch die Straßen und knöpfte sich die Jacke zu, denn ein kräftiger Wind ließ ihn trotz des Sonnenscheins langsam frieren.

Auf einem kleinen Marktplatz schlenderte er zwischen den Ständen umher, schaute sich Trödel an und blieb schließlich an einen Imbiss stehen. Hier roch es so gut. Mit einer Dose Cola und einem Hotdog stellte er sich an einen Stehtisch.

Jemand fragte plötzlich: »Entschuldigen Sie bitte, ist hier noch frei«? Percy drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau mit zwei Mädchen an der Hand. Er schätzte, dass sie etwa genauso alt wie er selbst war.

»Ja natürlich«, sagte er freundlich. »Warten Sie, ich helfe Ihnen«. Er nahm ihr die Teller ab und stellte sie auf den Tisch.

Hastig biss er nun in seinen Hotdog, während er sie aus den Augenwinkeln beobachtete.

Sie fragte: »Sind Sie aus Dunbar«? Er nickte. »Ja, bin ich«, antwortete er kauend. »Und Sie«?

Sie putzte einem ihrer Mädchen einen Ketchup-Fleck von der Jacke und sagte: »Wir sind gerade mit dem Zug aus Glasgow gekommen«.

Das Mädchen lächelte ihn an. »Genau und wir besuchen heute unseren Bruder im Waisenhaus. Seit einem halben Jahr haben wir Dick nicht mehr gesehen. Vielleicht darf er auch bald wieder bei uns wohnen«.

Percy horchte auf und sah er die Frau und die Kinder verwundert an. »Wieso waren Ihre Kinder im Waisenhaus, wenn ich fragen darf«?

Sie wurde schlagartig rot im Gesicht und Percy konnte sehen, dass ihr die Frage peinlich war.

»Ich denke, dass Sie das nichts angeht«, sagte sie schnippisch. An ihre Tochter gewandt, zischte sie: »Und Du hälst sofort den Mund«.

Percy warf seine Cola-Dose in einen Müllsack. »Deine Mum hat Recht, es geht mich nichts an«.

Dann zwinkerte er den Mädchen zu. »Und alles Gute für Euch«.

Ohne die Frau noch einmal anzusehen verließ er den Marktplatz.

Doch plötzlich blieb er stehen und überlegte. `Ob der kleine Rudi vielleicht auch dort wohnt`?

Schnell lief er zurück, doch der Imbissstand war leer. Die Frau und ihre Mädchen waren weit und breit nicht mehr zu sehen.

Gegenüber stand eine Telefonzelle. Er schlug das Buch auf und blätterte hastig die Seiten durch. Er stockte, denn da standen die Nummer des Waisenhauses und die Adresse.

Er grübelte: `Selbst wenn Rudi dort wirklich lebt, würde er nicht einmal eine Auskunft bekommen. Aber wenn er ihn doch traf, würde er ihm womöglich Hoffnungen machen, die er nicht erfüllen konnte`.

Resigniert klappte er das Telefonbuch wieder zu und ging nach Hause.

Den darauffolgenden Tag verbrachte er mit Chips und Bier auf der Couch. Piet hatte am Vormittag sein Fahrrad zurückgebracht und wollte ihn zum Essen einladen, nachdem er seiner Frau Zou von seinem merkwürdigen Verhalten erzählt hatte.

Aber Percy hatte mürrisch abgelehnt und ihm vorgelogen, sich einen Virus eingefangen zu haben. Er wollte im Moment einfach nur allein sein.

Spät am Abend hatte er auch noch mehrere Gläser Scotch getrunken, obwohl er wusste, dass er Frühschicht hatte und nüchtern auf der Lok stehen musste. Aber heute war ihm alles egal.

Am nächsten Morgen, es war noch dunkel, wachte er im Wohnzimmer auf. Der Wecker dröhnte penetrant und Regen peitschte gegen die Fensterscheiben.

Percy rieb sich die Augen. `Oh Gott`, dachte er. `Da habe ich mir ja was angetan`. Und er spürte, dass er noch gehörig Restalkohol im Blut haben musste.

Langsam stand er auf und trottete ins Bad. Auf den morgendlichen Kaffee, den er sonst immer gern trank, verzichtete er heute, denn das hätte er jetzt noch nicht vertragen.

Leise verließ er sein Appartement, denn eine ältere Dame, die direkt unter ihm wohnte, hatte sich schon mehrmals bei der Hausverwaltung über ihn beschwert.

Als er am Bahnhof ankam, sah er auf die große Uhr. Es war kurz nach vier. Nur wenige Reisende liefen durch die Schalterhalle. So schnell er konnte, ging er zu einem Regionalzug, um nach einer Station am Güterbahnhof wieder auszusteigen. Er war spät dran, denn er musste sich noch die Frachtpapiere holen.

Der Fahrdienstleiter Jack Mason begrüßte ihn. Er stand kurz vor seiner Pensionierung und kannte Percy seit vielen Jahren. Er erklärte ihm schließlich, dass er heute die Glasgow-Route nehmen musste.

»Jack, wieso immer ich«? fragte Percy aufgebracht. »Die Rücktour ist erst morgen und dann komme ich ja heute nicht mehr heim«.

»Ron hat sich krank gemeldet«, entgegnete er. »Außer Dir kann niemand einspringen«.

Jetzt sah er ihn misstrauisch an. »Sag mal Percy, hast Du etwa getrunken? Du hast eine meterlange Fahne, aber bis Edinburgh hast Du ja noch Zeit. Dein Zug steht am Gleis zwölf«.

Percy drehte sich zur Seite. »Nein, ich habe eine Erkältung und deshalb Hustensaft eingenommen. Jack Du weißt doch, dass ich so etwas nicht machen würde«.

Jack wiegte den Kopf. »Na dann will ich das mal glauben. Hier sind der Frachtbrief und die Unterlagen für die Pension, in der Du übernachten kannst«.

Jetzt sah er ihn dankbar an. »Ich bin froh, dass Du mal wieder einspringst und werde dafür sorgen, dass Du einen Sonderbonus bekommst«.

Percy nahm die Unterlagen und sah ihn dabei nicht an. »Das hat mir die Geschäftsleitung schon so oft versprochen und nicht gehalten. Also hör auf mir Honig ums Maul zu schmieren«. Wütend verließ er das Büro.

Im Regionalzug nach Edinburgh blätterte er in den Papieren. Er hatte Drogerieartikel und zehn Waggons mit Lacken zu transportieren.

`Ein Gefahrentransport`, dachte er. `Hätte ich mich bloß auch krank gemeldet`. Der Regionalzug bremste bereits in Edinburgh-Waverley.

Er sprang heraus und lief zu seiner Lok. Alle Waggons waren bereits umrangiert und gekoppelt. Der Wagenmeister rief ihm zu: »Alles klar und gute Reise«.

Percy sah auf die Uhr und dann auf das grüne Signal am Gleis. Er löste die Bremsen und nahm Fahrt auf. Völlig übermüdet saß er in seinem Führerhaus. `In knapp drei Stunden bin ich dort`, dachte er. `Ich lasse sofort abkoppeln und werde mich erst einmal ausruhen`.

Die Gleise teilten sich. Satte Wiesen kamen in Sicht und langsam stieg die Sonne nach oben.

Jetzt, zum Beginn des Herbstes hingen taubehangene Äste der Bäume an der Strecke, die sich langsam bunt verfärbten. Auf den umliegenden Feldern standen Rehe, die nur darauf warteten, in einem günstigen Moment über die Bahngleise zu springen, um an die Früchte der Kastanienbäume heranzukommen. Percy sah ihnen lächelnd nach.

Er versuchte sich jetzt zu konzentrieren und alle Anzeigen im Führerstand und auf der Strecke im Blick zu behalten. Nach einer halben Stunde kam die erste Kleinstadt in Sicht.

Als er wieder auf die Strecke schaute, sah er mit Schrecken, dass an einer Straße, die er queren musste, die Schranke nicht geschlossen war.

Autos fuhren hin und her und er schätzte, dass er jetzt nicht mehr als dreihundert Meter von ihnen entfernt war. Hastig betätigte er die Dampfbremse, doch er kam unaufhaltsam näher.

Verzweifelt zog er jetzt die Reibungsbremse, mit der er sonst einen Zug nach dem Abstellen nur sicherte. Die Bremsklötze quietschten erbärmlich.

»Weg da«, schrie er. »Seit Ihr alle wahnsinnig«? Aber er wusste, dass ihn keiner hören konnte.

Es war zu spät. Ein kleiner LKW wurde erfasst und vor ihm hergeschoben. Plötzlich gab es einen dumpfen Aufprall und die Lok stand ruckartig still. Percy schloss die Augen und wurde ohnmächtig.

Als er wieder zu sich kam und blinzelnd um sich sah, stellte er fest, dass er in einem weiß gestrichenen Raum in einem Bett lag. Vor ihm an der Wand hing ein kleines hölzernes Kreuz.

Langsam drehte er den Kopf zur Seite und sah zum Fenster. Komisch`, dachte er. `Wieso sind da Gitterstäbe`?

Er schaute zur anderen Seite und blickte in das Gesicht eines Mannes in Uniform. Der erschrak, sprang von seinem Stuhl hoch und riss die Tür auf.

»Kommen Sie schnell. Der Lokführer ist wieder wach«.

Von weitem konnte Percy jetzt Schritte hören, die immer näher kamen und dann standen mehrere Männer mit ernsten Mienen an seinem Bett. Ein älterer Herr in einem weißen Kittel beugte sich über ihn und leuchtete ihm mit einer kleinen Taschenlampe direkt in die Augen.

»Ich bin Professor Lloyd«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wie ich sehe, sind Sie wieder bei uns. Bitte blinzeln Sie, wenn Sie verstehen, was ich gerade zu Ihnen gesagt habe«.

Percy schloss kurz die Augenlider, dann sah er den Arzt wieder an. Der drehte sich nun zu den anderen Männern um. »Mr. Johnson ist zwar jetzt stabil, aber noch zu schwach für ein Verhör. Lassen Sie ihn ein paar Stunden schlafen, dann können Sie ihn fragen, was Sie wollen«.

Ein Mann drängte sich aufgeregt nach vorn. »Das geht nicht. Wir müssen ihn jetzt sofort verhören, denn wir brauchen schnellstens Klarheit über den Unfallhergang. Schließlich gab es zwei Todesopfer«.

Der Arzt nahm seine Lesebrille ab. »Was hier in diesem Haus geht und was nicht, bestimme ich meine Herren«, sagte er harsch. »Sie verlassen jetzt sofort diesen Raum. Am Nachmittag wird Mr. Johnson zum Verhör bereit sein, eher nicht«.

Widerwillig verließen die Männer den Raum.

Der Professor sah die Schwester an. »Stabilisieren Sie ihn so gut es geht, versorgen Sie ihn ausreichend mit Flüssigkeit und wenn er will, kann er auch etwas essen. Weitere Medikamente braucht er meiner Meinung nach nicht, denn Schmerzmittel hat er zurzeit genügend in sich«. Noch einmal leuchtete er ihm mit der Taschenlampe vorsichtig in die Augen.

»Naja, sein Alkoholpegel scheint ja auch wieder gesunken zu sein«.

Dann ging er zu einem Waschbecken und drehte den Hebel herum. »Hat der ein Glück gehabt«, murmelte er. »So ein schwerer Unfall und nur ein verstauchter Knöchel. Er hat fast keinen Kratzer abbekommen«.

Die Schwester drehte sich zu ihm um. »Ja Sir, er hatte schon gehöriges Glück«, flüsterte sie aufgebracht. »Aber der Fahrer des LKWs und der Junge neben ihm hatten es nicht. Die sind jetzt tot«.

Der Arzt trocknete sich langsam die Hände ab. »Schwester Helen, soweit ich gehört habe, ist der Junge als Anhalter in diesem klapprigen LKW mitgefahren. Hätte er sich ein normales Bahnticket gekauft, würde zumindest er noch leben«.

Die Schwester zischte: »Bei allem Respekt Sir. Wollen Sie behaupten, dass diese bedauernswerten Menschen selbst schuld an ihrem Tod sind«?

Er warf das Handtuch an die Seite und sah sie ungerührt an. »Das haben wir letztendlich nicht zu beurteilen, aber eine Medaille hat immer zwei Seiten. Oder etwa nicht? Und jetzt lassen wir ihn schlafen und kümmern uns um die anderen Patienten«. Die Tür wurde leise geschlossen.

**

Rudi saß am Nachmittag allein im Aufenthaltsraum über seinen Hausaufgaben, denn Mitch hatte seit Tagen Fieber und Halsschmerzen. Deshalb lag er auf der Krankenstation und niemand sollte ihn im Moment besuchen.

Rudi hoffte aber, dass er bald wieder im Schlafsaal übernachten durfte und nicht in diesem fürchterlichen Raum allein bleiben musste.

Simon spielte mit seinen Freunden in einer Ecke Cribbage. Immer wieder lachte er leise, wenn er die gewonnenen Punkte auf dem Cribbage-Brett absteckte und feststellte, dass er seinen Vorsprung gegenüber den anderen Mitspielern ausbauen konnte.

Rudi störte das nicht. Nein ganz im Gegenteil. So gut es ging, lauschte er, denn er kannte die Spielregeln nicht. Aber vielleicht würde er auch einmal diese Pokerkarten in der Hand halten und wie Simon oft sagte, Abwerfen und Kontern.

Plötzlich kam Ethan Gray herein. Suchend blickte er sich um, ging direkt zu Rudi und setzte sich mit ernster Miene gegenüber. Der schraubte seinen Füllfederhalter zu und sah ihn fragend an.

»Du bist doch mit Mitch befreundet«, begann er. Rudi setzte sich aufrecht hin. »Ja, was ist denn mit ihm«? fragte er erschrocken.

»Er wurde vorhin ins Krankenhaus gebracht«, erklärte Ethan. »Letzte Nacht stieg das Fieber weiter an und auch die kalten Umschläge haben nichts mehr genützt. Die Schwester wusste sich nicht mehr zu helfen«.

Rudi schluckte: »Und jetzt? Wie geht es ihm denn«? fragte er weiter.

Ethan hob die Schultern. »Das wissen wir im Moment nicht«. Er lehnte sich nach vorn. »Sag mal Rudi, hat Dick Mitchel Dir mal erzählt, wo seine Mutter jetzt lebt? Wir wollten sie erreichen um ihr zu sagen, dass es ihrem Sohn gar nicht gut geht. Aus den Unterlagen, die Mr. Walter im Büro hat, wird er angeblich nicht schlau. Sie soll ihren Wohnsitz in Glasgow haben, aber dort ist niemand erreichbar«.

Rudi überlegte. »Mitch hat mir nur erzählt, dass er hier ist, weil seine Mum ihn vernachlässigt hat und seine Schwestern auch. Er sagte, dass die in einem Heim für Mädchen wären. Und sonst hätte er niemanden. Mehr weiß ich wirklich nicht, denn danach haben wir nie wieder darüber gesprochen«.

Der Sportlehrer lehnte sich besorgt zurück und sah ihn an. »Schade, denn ich habe gehofft, dass wir seine Familie finden, ohne die Behörden einschalten zu müssen«.

Nach einer kurzen Pause sagte er: »Morgen werde ich Dick im Krankenhaus besuchen, denn sonst hat er ja niemanden. Und ich wollte Dich fragen, ob Du vielleicht mitkommen willst«?

Rudi nickte hastig. »Ja gerne, aber meinen Sie wirklich, dass Mr. Walter das erlaubt«?

»Ich werde das mit ihm klären«, antwortete Ethan. »Nimm Dir bitte nach dem Mittagessen nichts anderes vor, ok«? Rudi nickte wieder und fragte nun leise: »Wird Mitch denn wieder gesund«?

Der Sportlehrer stand auf. »Das wollen wir mal hoffen. Ich werde auf jeden Fall ein paar Früchte besorgen, damit er schnell wieder zu Kräften kommt«.

Am Abend saß Rudi wieder vor dem großen Regal im Flur und bürstete alle Schuhe.

Den ganzen Nachmittag hatte er darüber nachgedacht, was Mr. Gray wirklich damit meinte, dass es Mitch sehr schlecht ging. Er selbst hatte doch früher auch manchmal hohes Fieber, aber das ging doch meistens schnell vorbei.

Am nächsten Tag saß er in der Schule und schaute ständig auf die Uhr über der Kreidetafel. Die Zeit schien still zu stehen und außerdem wusste er immer noch nicht, ob er Mr. Gray zu Mitch begleiten durfte.

Endlich läutete die Pausenglocke. Schnell schob er sein Lesebuch und das Schreibheft in seine Stoffmappe. Die meisten anderen Jungen waren bereits auf dem Weg in den Innenhof.

Plötzlich stand wie aus dem Nichts Mr. Walter vor ihm. Und wie so oft hatte er die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, was Rudi Angst einflößte.

»Du hast heute eine Stunde früher aus und darfst mit ins Krankenhaus fahren«. Dann sah er auf seine Armbanduhr. Ohne ihn anzusehen, ergänzte er:

»Wenn Du nicht Punkt halb 7 wieder hier bist, bekommst Du einen Tag Arrest. Hast Du das verstanden«? Jetzt sah er doch über die goldenen Ränder seiner Lesebrille.

Rudi stand auf. »Ja Mr. Walter. Ich habe es verstanden und werde pünktlich wieder hier sein«.

»Gut«, antwortete der gedehnt. »Dann ist ja alles klar«. Wortlos drehte er sich um und verließ das Klassenzimmer.