Die Traumreise zum unbekannten Kadath - H. P. Lovecraft - E-Book

Die Traumreise zum unbekannten Kadath E-Book

H. P. Lovecraft

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in die albtraumhafte Welt von H. P. Lovecrafts Fantasy-Epos The Dream-Quest of Unknow Kadath. Begeben Sie sich auf eine Reise durch das Reich der Träume, das jenseits des menschlichen Verstandes liegt. Begleite Randolph Carter, einen wiederkehrenden Protagonisten vieler Lovecraft Erzählungen, auf seiner Suche nach der Heimstatt der Großen auf dem Berg Kadath. Einer Reise voller Gefahren: Mächtige Götter und unheimliche, bizarre Kreaturen lauern in den finsteren Winkeln dieser surrealen Welt. Während Carter immer tiefer in die Traumlande vordringt, verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Wahnsinn. Wird er die Großen auf dem Berg Kadath und die sagenumwobene Stadt seiner Träume finden, oder wird er für immer in die Abgründe des kosmischen Horrors entgleiten? Ein fesselndes Abenteuer für alle Lovecraft-Liebhaber, die beim Lesen zahlreiche Referenzen an viele der anderen Lovecraft-Geschichten wiederentdecken werden. Elemente aus wenigstens 15 anderen Lovecraft-Erzählungen wurden hier zu einem fantastischen Epos verwoben.

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Die Traumreise zum unbekannten Kadath

The Dream-Quest of Unknown Kadath

von H. P. Lovecraft (1927)

Übersetzung: Stefan Gresse (2024)

Teil I – Die verlorene Stadt des Sonnenuntergangs

Dreimal träumte Randolph Carter von der wunderbaren Stadt, und dreimal wurde er fortgerissen, noch während er auf der hohen Terrasse über ihr verweilte. Ganz golden und lieblich funkelte sie im Sonnenuntergang, mit ihren Mauern, Tempeln, Brücken und Kolonnaden aus geädertem Marmor, den Springbrunnen mit silbernen Becken auf den weitläufigen Plätzen, die ihre prismatischen Nebel versprühten. Den duftenden Gärten und breiten Straßen, die zwischen zierlichen Bäumen, mit Blüten beladenen Blumenurnen und Elfenbeinstatuen in glänzenden Reihen verliefen, während sich an den steilen Nordhängen rote Dächer und alte Spitzgiebel emporschlängelten, die kleine Gassen mit grasbewachsenem Kopfsteinpflaster verbargen. Es war wie ein göttliches Fieber, eine Fanfare himmlischer Trompeten und wie der Klang unsterblicher Zimbeln. Über allem hing das Mysterium wie die Wolken über einem famosen, noch unbestiegenen Berg, und als Carter atemlos und erwartungsvoll an der Brüstung stand, stieg in ihm die Intensität und Anspannung einer fast verschwundenen Erinnerung auf, der Schmerz über verlorene Dinge und das unerträgliche Verlangen, wiederzufinden, was dereinst einen Ehrfurcht gebietenden und bedeutungsvollen Platz in seinem Herzen hatte.

Er wusste, daß diese Stadt für ihn einstmals von höchster Wichtigkeit gewesen sein musste; doch in welchem Zyklus oder in welcher Inkarnation er sie gekannt hatte, ob im Traum oder im Wachzustand, vermochte er nicht zu sagen. Vage erinnerte er sich an eine ferne, vergessene erste Jugend, als Staunen und Vergnügen in allen Geheimnissen des Alltags zu finden waren und der Tagesanbruch und die Abenddämmerung gleichermaßen prophetisch zum erwartungsvollen Klang von Lauten und Gesang voranschritten und sich märchenhafte Pforten zu weiteren und noch verblüffenderen Wundern auftaten. Sobald er abends aber auf der hohen Marmorterrasse mit den merkwürdigen Urnen und dem verzierten Geländer stand und dabei im Sonnenuntergang seinen Blick über diese schweigsame Stadt der Schönheit und der überirdischen Immanenz schweifen ließ, spürte er die Knebel der tyrannischen Götter des Traums; denn auf keine Weise gelang es ihm, diesen erhabenen Ort zu verlassen oder die breiten marmornen Treppen hinabzusteigen, die sich schier endlos abwärts wanden, bis zu der Stelle, an der sie auf die Pfade der älteren Zauberei trafen, die ihn so geheimnisvoll lockten.

Als er zum dritten Mal erwachte, ohne diese Treppen betreten zu haben und auch die schweigsamen Straßen im Sonnenuntergang noch immer nicht durchschritten hatte, betete er lange und innig zu den verborgenen Göttern des Traums, die launisch über den Wolken auf dem unbekannten Berg Kadath in der kalten Einöde brüteten, einem Berg, den noch kein Mensch bestiegen hatte. Aber die Götter antworteten nicht. Und als er im Traum zu ihnen betete und sie durch die bärtigen Priester Nasht und Kaman-Thah opferbereit anrief, deren Höhlentempel mit seiner Flammensäule nicht weit von den Toren der wachen Welt entfernt war, zeigten sie weder Nachsicht noch gaben sie ihm ein wohlwollendes Zeichen. Es hatte sogar den Anschein, dass ihm seine Anrufungen nachteilig ausgelegt wurden, denn schon nach dem ersten seiner Gebete vermochte er die wunderbare Stadt nicht mehr zu erblicken, als ob seine drei flüchtigen Ausblicke aus der Ferne reine Zufälle oder ein Versehen gewesen wären, und sich gegen einen verborgenen Plan oder Wunsch der Götter gerichtet hatten.

Seine Sehnsucht nach jenen glitzernden Straßen im Sonnenuntergang und den geheimnisvollen Hügelpfaden vorbei an den uralten Ziegeldächern machte ihn ganz krank und weder im Schlaf noch im Wachzustand war er imstande, sie aus seinen Gedanken zu vertreiben. Schließlich beschloss Carter kühn dorthin zu gehen, wohin noch nie ein Mensch zuvor gegangen war, die Dunkelheit der Eiswüsten herauszufordern, wo das unbekannte Kadath umgeben von den Wolken und gekrönt von unbekannten Sternen, die geheime Onyxburg der Großen beherbergte.

Während eines leichten Schlummers stieg er die siebzig Stufen zur Flammenhöhle hinab und erzählte den bärtigen Priestern Nasht und Kaman-Thah von seinem Plan. Als sie hörten, was er vorhatte, schüttelten die Priester nur ihre Köpfe und beschworen ihn, dass dieses Vorhaben den Tod seiner Seele bedeuten würde. Sie wiesen darauf hin, dass die Großen ihren Wunsch bereits offenbart hatten und es ihnen nicht gefallen dürfte, durch beharrliches Bittstellen belästigt zu werden. Sie erinnerten ihn nicht nur daran, dass noch niemals ein Mensch im unbekannten Kadath gewesen war, sondern klärten ihn auch darüber auf, dass kein Mensch wusste, in welchem Teil des Raumes sich dieser Ort überhaupt befand. Lag Kadath in einem Traumland jenseits unserer Welt oder in den Traumlanden, die sich in der Umgebung der unbekannten Gefährten der Sterne Aldebaran oder Formalhaut befanden? Sofern Kadath in unserem Traumland zu finden war, könnte man möglicherweise dorthin gelangen. Seit Anbeginn der Zeit hatten allerdings nur drei menschliche Seelen die schwarzen, gottlosen Abgründe zu den anderen Traumländern passieren können. Zwei von ihnen waren jedoch völlig verrückt zurückgekehrt. Solche Reisen waren zweifelsohne voller unabsehbarer Gefahren, denn schließlich lauerte dort, wohin keine Träume reichen, außerhalb des geordneten Universums, die entsetzliche ultimative Bedrohung; jene letzte amorphe Plage unterster Verwirrung, die im Zentrum aller Unendlichkeit lästert und brodelt – der seelenlose Dämonensultan Azathoth, dessen Namen niemand auszusprechen wagt und der inmitten des dumpfen, wahnwitzigen Schlagens abscheulicher Trommeln und des dünnen, monotonen Heulens verfluchter Flöten hungrig in unvorstellbaren, unbeleuchteten Kammern jenseits der Zeit ausharrt. Und zu diesem abscheulichen Pochen und Pfeifen tanzen gemächlich und unbeholfen die gigantischen ultimativen Götter, die blinden, stummen, gefühllosen, seelenlosen anderen Götter, deren Seele und Bote das kriechende Chaos Nyarlathotep ist.

Vor all diesen Dingen wurde Carter von den Priestern Nasht und Kaman-Thah in der Flammenhöhle gewarnt. Trotzdem beschloss er nach den Göttern auf dem unbekannten Kadath in der kalten Einöde zu suchen, wo auch immer das sein mochte, um von ihnen den Anblick, die Erinnerung und das Obdach der wunderbaren Stadt des Sonnenuntergangs zurückzuerlangen. Er war sich darüber im Klaren, dass seine Reise sonderbar und lang sein würde und dass die Großen etwas dagegen hatten. Da er im Land der Träume aber bewandert und erfahren war, rechnete er damit, dass ihm viele nützliche Erinnerungen und Hilfsmittel zur Seite stehen würden. So bat er die Priester um einen letzten Abschiedssegen und legte sich eine Reiseroute zurecht, danach stieg er kühn die siebenhundert Stufen zum Tor des tieferen Schlafes hinab und machte sich auf den Weg durch den verwunschenen Wald.

In den Niederungen dieses Waldes, die durch die verschlungenen und tiefhängenden Äste der gewaltigen Eichbäume gebildet wurden und in denen die Phosphoreszenz seltsamer Pilze schimmerte, lebten die geheimnisvollen Zoogs. Sie kannten viele der dunklen Geheimnisse der Traumwelt und auch so einige der wachen Welt, da der Wald an zwei Orten an das Land der Menschen grenzte. Die Position dieser Übergänge genauer zu beschreiben, könnte sich allerdings als verhängnisvoll erweisen.

Um die Menschen, zu denen die Zoogs Kontakt hatten, ranken sich merkwürdige Gerüchte. Es wird von mysteriösen Geschehnissen berichtet. Menschen sollen sogar verschwunden sein. Es ist daher beruhigend zu wissen, dass sich die Zoogs nicht allzu weit außerhalb der Traumwelt bewegen können. Über die Regionen, die an die Traumwelt angrenzen, ziehen sie jedoch ungehindert hinweg, klein und braun und von niemandem bemerkt, huschen sie umher und kehren mit pikanten Geschichten von dort zurück, um sich die Stunden an den Feuerstellen in ihrem geliebten Wald zu vertreiben.

Die meisten von ihnen leben in Höhlen, doch manche bewohnen die Stämme der großen Bäume; und obwohl sie sich hauptsächlich von Pilzen ernähren, munkelt man, dass sie ebenfalls eine Vorliebe für Fleisch haben, sei es körperlicher oder spiritueller Natur, denn sicher ist, dass viele der Träumer, die diesen Wald einst betreten hatten, nicht wieder zurückgekehrt waren. Carter jedoch hatte keine Angst, denn er war ein alter, erfahrener Träumer, hatte ihre Sprache gelernt und bereits viele Verträge mit ihnen geschlossen; er hatte mit ihrer Hilfe die prächtige Stadt Celephaïs in Ooth-Nargai jenseits der Tanarischen Berge gefunden, wo die Hälfte des Jahres der große König Kuranes regierte, ein Mann, den er im wachen Leben unter einem anderen Namen gekannt hatte. Kuranes war die einzige Seele, die jemals zu den Abgründen der Sterne gereist und frei vom Wahnsinn zurückgekehrt war.

Während sich Carter nun durch das niedrige, phosphoreszierende Unterholz zwischen den riesigen Stämmen schlängelte, gab er Geräusche nach Art der Zoogs von sich und lauschte sporadisch auf eine Antwort. Er erinnerte sich an ein bestimmtes Dorf dieser Kreaturen ungefähr in der Mitte des Waldes, wo auf einer Lichtung, die im Kreis aufgestellten, gigantischen, moosbewachsenen Steine von noch älteren und noch schrecklicheren Bewohnern zeugten, die aber längst vergessen waren, und so eilte zu dieser Stelle. Er bahnte sich seinen Weg vorbei an grotesken Pilzen, die immer besser genährt zu sein schienen, je näher man dem furchtbaren Steinkreis kam, in dem älteren Wesen einst getanzt und ihre Opfer dargebracht hatten. Schließlich offenbarte der zunehmende Lichtschein dieser größeren Pilze eine unheimliche grünlich, graue Erhebung, die sich durch das Dach des Waldes nach oben und außer Sichtweite schob. Es musste sich um den nächstgelegenen Menhir des großen Steinkreises handeln, und daher wusste Carter, dass er dem Dorf der Zoogs immer näherkam.

Er wiederholte die Geräusche, wartete geduldig und wurde schließlich mit dem Eindruck belohnt, dass nunmehr viele Augen auf ihm ruhten. Es waren zweifelsohne die Zoogs, denn man sieht ihre seltsamen Augen schon lange bevor man ihre kleinen, glitschigen braunen Konturen ausmachen kann.

Sie schwärmten aus verborgenen Höhlen und den Bäumen herbei, bis die ganze schummrige Gegend von ihnen wimmelte. Die ungestümen unter ihnen rempelten Carter unangenehm an, und einer knabberte sogar widerwärtig an seinem Ohr; aber diese ungestümen Rüpel wurden bald von ihren Ältesten zur Ordnung gerufen. Der Rat der Weisen erkannte den Besucher und bot ihm eine Kalebasse mit dem vergorenen Saft eines verwunschenen Baumes an, der anders als die anderen war, da er aus einem Samen erwachsen war, den jemand zuvor auf dem Mond fallen gelassen hatte. Nachdem Carter feierlich zu trinken begonnen hatte, entspann sich eine sonderbare Unterhaltung. Auch die Zoogs hatten keine Ahnung, wo sich das Gebirge von Kadath befand. Sie konnten nicht einmal sagen, ob die eiskalte Einöde in unserer oder in einer anderen Traumwelt lag. Gerüchte über die Großen erhielten sie gleichermaßen aus allen Himmelsrichtungen, und das Einzige, was man mit Sicherheit sagen konnte, war, dass sie eher auf hohen Berggipfeln als in Tälern gesehen wurden und sie auf diesen Gipfeln beim Schein des Mondes immer andachtsvoll in Erinnerungen zu schwelgen pflegten.

Dann erinnerte sich ein sehr alter Zoog an etwas, das die anderen nicht wussten, und sagte, dass sich in Ulthar, jenseits des Flusses Skai, noch immer der letzte Nachdruck jener unvorstellbar alten pnakotischen Manuskripte befand, die einst von den wachen Menschen in den vergessenen Königreichen angefertigt und ins Land der Träume verbracht worden waren. Dies war zu einer Zeit geschehen als die haarigen kannibalischen Gnophkehs Olathoë mit seinen zahlreichen Tempeln besiegt und alle Helden des Landes Lomar erschlagen hatten. Diese Manuskripte, so sagte er, wussten so einiges von den Göttern zu berichten; und außerdem gab es in Ulthar Männer, die die Zeichen der Götter gesehen hatten, und sogar einen sehr alten Priester, der einmal einen gewaltigen Berg erklommen hatte, um sie im Mondlicht tanzen zu sehen. Während er seine Unternehmung erfolglos abbrechen musste, hatte sein Begleiter mehr Erfolg. Allerdings verstarb dieser später ohne jegliche Hinterlassenschaft.

Nachdem sich Randolph Carter bei den Zoogs bedankt hatte, die ihm daraufhin freundlich gestikulierten und noch einen Krug des Weines vom Mondbaum als Proviant mitgaben, machte er sich auf den Weg zur anderen Seite des phosphoreszierenden Waldes, dorthin, wo der rauschende Skai von den Hängen des Lerion herabfließt und sich die Berge Hatheg, Nir und Ulthar über die Ebene erheben. Heimlich und im Verborgenen schlichen einige der neugierigen Zoogs hinter ihm her; denn sie waren begierig zu erfahren, wie es ihm wohl ergehen würde und wollten ihrem Volk nach ihrer Rückkehr von seiner Reise berichten. Die riesigen Eichenbäume wuchsen immer dichter, je weiter er sich von ihrem Dorf entfernte. Carter hielt intensiv Ausschau nach einer bestimmten Stelle, an der sich die Eichen etwas lichteten und entweder gänzlich tot oder absterbend zwischen dem unnatürlich dichten Pilzbewuchs, dem verrottenden Schimmel und den fauligen Stämmen ihrer gefallenen Brüder standen. Dort würde er scharf abbiegen, denn an dieser Stelle ruhte eine mächtige Steinplatte auf dem Waldboden; und diejenigen, die es gewagt hatten, sich ihr zu nähern, berichten, dass sie mit einem drei Fuß breiten Eisenring versehen war.

Die Zoogs erinnern sich sehr genau an den archaischen Steinkreis mit den großen moosbewachsenen Felssteinen und daran, wozu er möglicherweise einstmals errichtet worden war. Deshalb halten sie auch niemals in der Nähe der großen Steinplatte mit dem riesigen Ring aus Eisen inne; denn sie wissen nur allzu gut, dass alles, was vergessen ist, nicht unbedingt tot sein muss, und sie möchten keineswegs erleben, wie diese Steinplatte langsam und bedächtig geöffnet wird. Carter entschied sich daher an geeigneter Stelle für einen Umweg und hörte daraufhin hinter sich das ängstliche Geflatter einiger der scheueren Zoogs. Er hatte bereits geahnt, dass sie ihm folgen würden, und so ließ er sich durch ihre Anwesenheit auch nicht aus der Ruhe bringen, denn man gewöhnt sich recht schnell an die Eigenarten dieser neugierigen Kreaturen.

Es dämmerte bereits, als er den Rand des Waldes erreichte, und der stärker werdende Lichtschein verriet ihm, dass die Morgendämmerung begonnen hatte. Über den fruchtbaren Ebenen, die sich am Skai entlangschlängelten, sah er den Rauch der Schornsteine von den Hütten aufsteigen, und überall befanden sich Hecken, gepflügte Felder und die strohgedeckten Dächer eines friedlichen Landes. Einmal hielt er an dem Brunnen eines Bauern an, um eine Tasse Wasser zu trinken, und urplötzlich bellten alle Hunde voller Aufregung die verstohlenen Zoogs an, die durch das Gras hinter ihm her krochen. In einem anderen Haus, in dem sich umtriebige Leute aufhielten, fragte er nach den Göttern und ob sie häufig auf Lerion tanzten; aber der Bauer und seine Frau machten nur das Zeichen der Älteren und zeigten ihm den Weg nach Nir und Ulthar.

Um die Mittagszeit durchschritt Carter die einzige Hauptstraße von Nir, eine Stadt, die er zuvor bereits einmal besucht hatte und die seine bisher weiteste Reise in diese Richtung markierte. Wenig später erreichte er die große steinerne Brücke, über die man den Fluss Skai passiert und in deren Mittelpfeiler die Steinmetze, als sie die Brücke vor dreizehnhundert Jahren erbauten, ein lebendiges Menschenopfer eingemauert hatten. Auf der anderen Seite des Flusses angekommen, verriet die Vielzahl der Katzen (die alle ihren Buckel vor den hinterdreinlaufenden Zoogs aufstellten) die Nähe zu Ulthar; denn in Ulthar darf nach einem alten und bedeutsamen Gesetz kein Mensch eine Katze töten. Schön anzusehen waren die Vororte von Ulthar mit den kleinen grünen Häuschen und den sauber eingezäunten Bauernhöfen und noch angenehmer war die malerische Stadt selbst mit ihren alten Spitzdächern, überstehenden Obergeschossen, den unzähligen Schornsteinen und den engen Gässchen auf den Hügeln, in denen man altes Kopfsteinpflaster bestaunen kann, sofern die anmutigen Katzen dafür ausreichend Platz machten. Nachdem die Katzen von den kaum sichtbaren Zoogs etwas auseinandergetrieben worden waren, bahnte sich Carter seinen Weg direkt zu dem bescheidenen Tempel der Älteren, wo sich mutmaßlich die Priester und die ältesten Aufzeichnungen befanden. Als er sich schließlich in diesem altehrwürdigen runden Turm mit dem efeubewachsenen Mauerwerk befand, der den höchsten Hügel Ulthars krönte, erkundigte er sich nach dem Patriarchen Atal, der in der Steinwüste auf dem verbotenen Gipfel Hatheg-Kla gewesen und sogar lebendig wieder zurückgekehrt war.

Atal, der auf einem elfenbeinernen Podest in einem mit Girlanden geschmückten Schrein in der Tempelspitze thronte, war bereits drei Jahrhunderte alt, aber immer noch sehr geistesgegenwärtig. Von ihm erfuhr Carter viel Wissenswertes über die Götter, vor allem, dass es sich tatsächlich nur um Götter der Erde handelte, die daher nur sehr eingeschränkt über unsere Traumlande herrschen konnten und andernorts weder Macht noch Wohnsitz hatten. Sie seien in der Lage, so sagte Atal, das Gebet eines Mannes zu erhören, sofern sie bei guter Laune waren; aber man sollte besser nicht darüber nachdenken, zu ihrer Onyxfestung auf dem Berg Kadath in der kalten Wüste zu klettern. Es sei ein Glück, dass kein Mensch genau wusste, wo genau sich der Berg Kadath zu voller Größe auftürmt, denn die Konsequenzen eines Aufstiegs wären äußerst schwerwiegend. Atals Gefährte Barzai der Weise war schreiend zum Himmel hinaufgezogen worden und dass, obwohl er nur, den bekannten Gipfel von Hatheg-Kla bestiegen hatte. Mit dem unbekannten Kadath, falls dieser jemals gefunden würde, wäre die Situation noch viel schlimmer; denn, obwohl die Götter der Erde manchmal von einem weisen Sterblichen übertrumpft werden können, werden sie doch von den anderen Göttern von Außerhalb beschützt, über die man besser nicht sprechen sollte. Mindestens zweimal in der Weltgeschichte haben die Anderen Götter ihren Fußabdruck auf dem Gestein der Erde hinterlassen; einmal in vorsintflutlicher Zeit, wie aus einer Zeichnung aus den Teilen der Pnakotischen Manuskripte hervorgeht, die zu alt sind, als dass man sie lesen könnte, und einmal auf Hatheg-Kla, als Barzai der Weise versuchte, den Göttern der Erde bei ihrem Tanz im Mondlicht zuzusehen. Deshalb, sagte Atal, sei es viel besser, alle Götter in Ruhe zu lassen und sie höchstens mit äußerst taktvollen Gebeten zu behelligen.

Obwohl Carter von Atals entmutigenden Ratschlägen und den dürftigen Hinweisen, die er in den Pnakotischen Manuskripten und den Sieben Kryptischen Büchern von Hsan fand, enttäuscht war, verzweifelte er doch nicht gänzlich.

Zunächst befragte er den alten Priester über jene wunderbare Stadt im Sonnenuntergang, die man von der Terrasse aus sehen konnte, und hoffte darauf, dass er diese vielleicht auch ohne die Hilfe der Götter finden könne; aber Atal vermochte ihm nichts dazu sagen. Wahrscheinlich, so sagte Atal, gehörte dieser Ort zu seiner ganz eigenen Traumwelt und nicht zu dem allgemeinen Land der Träume, das vielen bekannt war; es auch war denkbar, dass er sich auf einem anderen Planeten befand. In diesem Falle könnten die Götter der Erde ihm gar nicht helfen, selbst wenn sie es wollten. Aber Letzteres war unwahrscheinlich, denn das Ende seiner Träume hatte ziemlich deutlich aufgezeigt, dass es sich um etwas handelte, das die Großen vor ihm verbergen wollten.

Dann tat Carter etwas Hinterlistiges: Er bot seinem arglosen Gastgeber so viele Schlucke des Mondweins an, den er von den Zoogs erhalten hatte, bis der alte Mann schließlich unverantwortlich redselig wurde. Seiner Zurückhaltung beraubt, plapperte der arme Atal freigiebig über die geheimsten Angelegenheiten. So sprach er von einem großen Relief, das laut den Berichten von Reisenden in das massive Felsgestein des Berges Ngranek auf der Insel Oriab im Südmeer gehauen worden war, und deutete an, dass es sich dabei um ein Abbild handeln könnte, das die Götter der Erde von ihren eigenen Gesichtszügen erschaffen hatten, als sie dereinst auf diesem Berg im Mondlicht tanzten. Schluckend fügte er hinzu, dass die Physiognomie dieser Gesichter äußerst sonderbar war und auf die wahre Herkunft der Götter verwies.

Carter wurde recht schnell klar, wie nützlich ihm all diese Informationen für die Suche nach den Göttern sein konnten. Es war hinlänglich bekannt, daß die Jüngeren unter den Großen in Verkleidung nicht selten die Töchter der Menschen geheiratet hatten, so daß in den Grenzgebieten der kalten Einöde, in der sich Kadath befand, eigentlich alle Bauern ihr Blut in sich tragen mussten. Um diese Wüste ausfindig zu machen, musste man das steinerne Abbild auf dem Berg Ngranek ausgiebig studieren und sich die Gesichtszüge genauestens einprägen. Nachdem man diese sorgfältig verinnerlicht hatte, musste man sich nur noch auf die Suche nach vergleichbaren Gesichtszügen unter den lebenden Menschen machen. Dort, wo die Ähnlichkeit am ausgeprägtesten und deutlichsten war, mussten ganz in der Nähe die Götter hausen; und was auch immer für eine steinige Wüste hinter den Dörfern dieser Region lag, es musste diejenige sein, in der sich der Berg Kadath befand.

In solchen Gegenden konnte man viel über die Großen lernen, und diejenigen, die ihr Blut in sich trugen, könnten über Erinnerungen verfügen, die für einen Suchenden wie Carter sehr nützlich sein konnten. Vermutlich würden sie nichts von ihrer Abstammung wissen, denn die Götter mochten es überhaupt nicht, unter den Menschen bekannt zu sein. Daher gab es auch niemanden, der jemals wissentlich ihre Gesichter gesehen hatte. Ein Umstand von dem Carter bereits wusste, noch ehe er sich entschieden hatte, den Berg Kadath zu besteigen. Diese Menschen aber würden fremdartige und hochtrabende Gedanken hegen und von ihren Mitmenschen missverstanden werden. Sie würden entlegene Orten und Gärten besingen, die so anders waren als alles, was man selbst im Traumland kannte und dass gemeine Volk würde sie für Narren halten. Aber eventuell konnte man bei ihnen ein paar alte Geheimnisse über Kadath erfahren oder Hinweise auf die wunderbare Stadt des Sonnenuntergangs erhalten, welche die Götter vor ihm zu verbergen suchten.

Allerdings wusste Atal nicht, wo man Ngranek auf seiner Insel Oriab finden konnte, und daher empfahl er Carter, dem klingenden Skai bis zum südlichen Meer zu folgen. Einem Ort, an dem zwar noch nie ein Bürger von Ulthar gewesen war, von wo aber die Kaufleute in ihren Booten oder mit langen Karawanen von Maultieren und zweirädrigen Karren herkamen. Dort gab es eine große Stadt, Dylath-Leen, aber in Ulthar hatte sie einen schlechten Ruf wegen der schwarzen dreireihigen Galeeren, die mit den Rubinen einer unbekannten Küste zu ihr segelten. Die Händler, die von diesen Galeeren kamen, um mit den Juwelieren Handel zu treiben, waren Menschen oder besser, den Menschen ähnlich, aber ihre Ruderer sah man nie.

Nachdem Atal all diese Informationen preisgegeben hatte, wurde er sehr schläfrig und Carter legte ihn daher sanft auf eine Pritsche aus eingelegtem Ebenholz und strich ihm seinen langen Bart auf seiner Brust zurecht. Als er sich zum Gehen wandte, bemerkte er, dass ihm kein Rascheln folgte, und er fragte sich, warum die Zoogs in ihrer neugierigen Verfolgung so nachlässig geworden waren. Dann bemerkte er, wie sich all die schlanken, selbstgefälligen Katzen von Ulthar mit ungewöhnlicher Inbrunst ihre Lippen leckten, und dann erinnerte sich an das Fauchen und Gejaule der Katzen, das er ganz schwach in den unteren Ebenen des Tempels gehört hatte, während er in das Gespräch mit dem alten Priester vertieft war. Er erinnerte sich auch an die garstige, hungrige Art und Weise, mit der ein besonders unverschämter junger Zoog ein kleines schwarzes Kätzchen auf der gepflasterten Straße betrachtet hatte. Und weil er nichts auf der Welt mehr liebte als kleine schwarze Kätzchen, bückte er sich und streichelte die geschmeidigen Katzen von Ulthar und trauerte nicht um die neugierigen Zoogs, die ihn nun nicht mehr verfolgen würden.

Die Sonne war bereits am Untergehen, und daher entschloss sich Carter in einem alten Gasthaus einzukehren, das an einer steilen schmalen Straße oberhalb der Unterstadt lag. Als er auf den Balkon seines Zimmers trat und auf das Meer aus roten Ziegeldächern, die gepflasterten Straßen und die lieblichen Felder blickte – ein Anblick, der im Lichtschein geradezu magisch war – erkannte er, dass Ulthar ein Ort war, an dem man für immer hätte bleiben können, wenn nicht die Erinnerung an die größere Stadt im Sonnenuntergang ihn fortwährend zu neuen unbekannten Abenteuern antreiben würde. Dann brach die Abenddämmerung herein, und die rosafarbenen Wände der verputzten Giebel färbten sich in ein mystisches Violett, und kleine gelbe Lichter schwebten eines nach dem anderen aus den alten Gitterfenstern empor. Im Turm des Tempels läuteten die Glocken, und der erste Stern zwinkerte sanft über den Wiesen auf der anderen Uferseite des Skai. Mit der Nacht kam der Gesang, und Carter nickte ein, als die Lautenspieler begannen die alten Tage des einfachen Ulthars zu lobpreisen. Es hätte sogar etwas Anmut im Gesang der vielen Katzen von Ulthar liegen können, aber sie waren noch zu träge und gesättigt von ihrem sonderbaren Festmahl. Einige von ihnen stahlen sich in jene geheimnisvollen Gefilde davon, die nur den Katzen bekannt waren und von denen die Dorfbewohner sagen, sie befänden sich auf der dunklen Seite des Mondes. Indem sie von den Dächern hoher Häuser sprangen, gelangten sie dorthin. Ein kleines schwarzes Kätzchen aber schlich die Treppe hinauf und sprang in Carters Schoß, zum Schnurren und zum Spielen, und rollte sich dann neben seinen Füßen zusammen, bis er sich schließlich auf die kleine Couch legte, deren duftende Kissen mit schläfrig machenden Kräutern gefüllt waren.

Am nächsten Morgen schloss sich Carter einer Karawane von Händlern an, die mit der gesponnenen Wolle und den Kohlköpfen geschäftiger Bauern aus Ulthar nach Dylath-Leen unterwegs war. Sechs Tage lang ritten sie mit bimmelnden Glocken entlang der ebenen Straße, die parallel zum Skai verlief. Manchmal nächtigten sie in den Gasthöfen kleiner, malerischer Fischerdörfer, in anderen Nächten kampierten sie unter dem freien Sternenhimmel, während vom seelenruhigen Fluss der Gesang der Schiffsleute ertönte.

Am siebten Tag sah man am Horizont eine Rauchwolke aufsteigen, und wenig später zeigten sich schon die hohen schwarzen Türme der Stadt Dylath-Leen, die größtenteils aus Basaltgestein erbaut worden war. Dylath-Leen mit seinen schlanken, kantigen Türmen sah in der Ferne wie ein Teil des Giants‘ Causeway aus. Die Straßen waren düster und wirken wenig einladend. In der Nähe der unzähligen Anlegestellen gab es viele trostlose Fischertavernen, und in der ganzen Stadt tummelten sich seltsame Seeleute aus aller Herren Länder und von einigen wenigen, heißt es sogar, sie seien gar nicht von dieser Erde. Carter fragte die in eigentümliche Roben gehüllten Männer dieser Stadt über den Gipfel des Ngranek auf der Insel Oriab aus und stellte fest, dass sie ihn gut kannten. Aus Baharna, einem Ort auf der Insel, waren Schiffe gekommen, und eines sollte in weniger als einem Monat dorthin zurückkehren, und Ngranek sei nur einen Zebraritt von zwei Tagen von diesem Hafen entfernt. Aber nur wenige hatten das steinerne Abbild des Gottes gesehen, denn es befindet sich an einer sehr unwegsamen Flanke des Berges Ngranek, von der aus man nur steile Felsen und ein Tal voller unheimlicher Lava überblicken kann.