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Stephen Crane: Der James Dean der amerikanischen Literatur! Humorvoll und mit feinsinniger Beobachtungsgabe: 13 von Stephen Cranes wichtigsten Erzählungen sind in diesem Band versammelt. Hier entfaltet er seine ganze Schaffensfreude, beschreibt spannende, tragische, teils auch absurde Situationen wie in Seefahrer wider Willen. Stephen Crane gilt als einer der Wegbereiter der modernen amerikanischen Literatur. Seine Geschichten sind gerade deshalb so authentisch und mitreißend, weil er als Abenteurer und Reporter vieles davon selbst erlebt hat. Die großartige Darstellung eines Schiffbruchs in Das offene Boot und die in Nebraska angesiedelte Geschichte Das blaue Hotel zählen zu den Meisterwerken der Weltliteratur.
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Seitenzahl: 293
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Stephen Crane
Die tristen Tagevon Coney Island
Geschichten
Herausgegeben und mit einem Nachwortvon Wolfgang HochbruckÜbersetzt von Bernd Gockel
PENDRAGON
Die tristen Tage von Coney Island
Seefahrer wider Willen
Gefesselt
Die Braut kommt nach Yellow Sky
Eine Geschichte aus dem Krieg
Männer im Sturm
Das blaue Hotel
Das Feuer
Aus der See – Stephen Cranes eigene Geschichte
Das offene Boot
Crane bei Velestino
Unter Beschuss
Das starrende Gesicht
Nachwort
Die tristen Tage von Coney Island
„Wenn die Saison hier zu Ende geht“, sagte mir der Fremde, „werde ich unweigerlich schwermütig. Die Tristesse, die zu dieser Jahreszeit ein Seebad wie Ihr Coney Island befällt, löst bei mir regelrecht Depressionen aus. Diese riesigen, leerstehenden Paläste, von krankhaft optimistischen Architekten in die Landschaft gesetzt, erinnern mich unangenehm an meine eigenen Kindheitsträume. In jenen Jahren, in denen man noch ungeniert seinen Visionen nachjagen kann, entwarf ich riesige Schlösser, in denen ich all meine Freunde und Bewunderer bewirten wollte. Erst später wurde mir klar, dass der banale zweigeschossige Holzrahmenbau eine weitaus komfortablere Alternative ist. Diese ausgemergelten Bienenwaben hingegen, die stur und stoisch auf das Publikum warten, ohne das sie nun mal nicht leben können, wirken auf mich erschreckend pathetisch – zumal wenn das Meer, ungerührt und unerschütterlich wie’s nun mal ist, putzmunter zu Füßen der traurigen Karusselltiere planscht und keinen Gedanken an die verschwundenen Gäste verschwendet.“
Beim Sprechen schaute der Fremde mehrfach aufs Wasser, als wolle er dem wogenden Meer seine ausdrückliche Missachtung bekunden. Die leichte Brise, die von den Navesink Hills in New Jersey hinüberwehte, hatte ihm die philosophischen Locken zerzaust und auf die Denkerstirn geweht. „In gewisser Weise“, fuhr er fort, „sind die Häuser sogar deprimierender als die Menschen – wobei es hier genug Menschen gibt, die nichts zu lachen haben. Ich beobachtete unlängst einen talentierten und sehr wortgewandten Zeitgenossen, der Ferrotypie-Fotos anfertigte. Doch der gute Mann fand kaum noch Gelegenheit, seine Überredungskünste an den Mann zu bringen. Die wenigen Besucher ergriffen bereits die Flucht, bevor sie der Mann in seinen Laden zerren konnte. In den endlosen Pausen dazwischen signalisierte sein Gesichtsausdruck, dass das Ende der Welt für ihn nur noch eine Frage der Zeit wäre. Einmal beobachtete ich ihn, wie er sich ein vielversprechendes junges Opfer schon von Weitem ausgeguckt hatte. Man sah geradezu, wie sich seine Muskeln verkrampften, um genau im richtigen Moment zuzuschlagen. ‚Hereinspaziert!‘, sagte er mit einem Enthusiasmus, der ihm die Tränen in die Augen trieb. ‚Hier gibt’s das beste Foto der ganzen Welt. Und für ’nen Quarter gibt’s sogar gleich vier am Stück! Versuchen Sie’s doch einfach mal! Ich garantiere Ihnen, dass Sie stolz nach Hause gehn.‘
‚Ich werd’ stolz nach Hause gehn, auch ohne es versucht zu haben‘, sagte der Junge trocken. Und genau das tat er denn auch. Der Fotograf hätte seine Musterbilder am liebsten auf den Boden geknallt und den Jungen vermöbelt. Er hielt sich zum Glück unter Kontrolle und schenkte seine Aufmerksamkeit lieber zwei Frauen und einem Jungen, die zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum mehr als drei Pünktchen am Horizont waren.
Einmal wurde ich Zeuge, wie ein Popcorn-Verkäufer so schrill und verzweifelt jammerte, als würde er das Lamento auf seinen eigenen Tod anstimmen. Mir lief’s kalt den Rücken runter, als mir schlagartig das ganze Dilemma der desolaten Popcorn-Branche bewusst wurde. Ich begann zu verstehen, dass es für diese gequälten Kreaturen ein Affront ist, sich ihnen zu nähern, ohne auch nur irgendetwas von ihnen zu kaufen. Ich entschied mich, auf meinen Spaziergängen lieber neue und unorthodoxe Routen zu erkunden, um mir dieses Dilemma zu ersparen.
Die Eisenbahnschaffner und das Bahnhofspersonal legen inzwischen eine Toleranz und Hilfsbereitschaft an den Tag, für die es nur eine Erklärung gibt: Sie sind heilfroh, die Sommerferien-Schlacht lebend überstanden zu haben. Ich bin jedenfalls noch nie Kontrolleuren begegnet, die mit den Beschwerden der Passagiere so entspannt umgingen wie diese hier. Auch in den Biergärten ergreifen die Kellner gleich die Gelegenheit, sich mit den Kollegen auszutauschen und ausgiebig zu schwatzen – was für den Kellner ein nicht unbeträchtlicher Bestandteil dessen ist, was er als Glück empfindet. Manchmal kann’s aber passieren, dass man in einem spärlich besuchten Lokal schlechter bedient wird als in einem überfüllten. Einmal wartete ich geschlagene zwanzig Minuten auf eine Flasche Bier, das den Namen Bier nicht mal verdient hatte. Mein Kellner amüsierte sich derweil mit einer Gruppe von Landsleuten, denen er eine anscheinend rührende Geschichte erzählte. Ich ließ ihn anschließend mit leiser Stimme wissen, dass ein derartiges Gebräu zumindest den Vorzug haben sollte, umgehend serviert zu werden.
Die Restaurants hingegen sind für meinen Geschmack ganz ausgezeichnet – auch wenn sie zum großen Teil einen zweifelhaften Ruf genießen und ihre Gäste unter Bergen roter Krabben begraben. Die schiere Quantität der Meeresfrüchte – seien es die Schalen auf dem Fußboden oder die gefüllten Regale mit frischen Austern – gibt mir immer das Gefühl, ein Mahl auf den Tisch zu bekommen, wie’s frischer nicht sein könnte. Was übrigens ein Wissen ist, das ich sehr wohl zu schätzen weiß. Gäste, die gerne Träumen von kolossalen Portionen nachhängen, kommen natürlich ebenso auf ihre Kosten.
Ich entdeckte zahllose Restaurants, die meinem individuellen Geschmack erstaunlich nahekamen – und mir obendrein die Gelegenheit boten, beim Essen das grandiose Schauspiel der ewig wogenden See zu genießen. Der Kellner pflegte dann immer an meinen Tisch zu treten und die Pfeffermühle auf die Speisekarte zu stellen, damit mich die salzhaltige Brise nicht vom Bestellen meines Dinners abhielt.
Und trotzdem gibt es Situationen, in denen mir das Speisen am Meer gegen den Strich geht. Ein Mann, der Wert auf seinen künstlerisch geprägten Sinn für ein stilvolles Mahl legt, wird sich, wenn er sich in seiner Lieblingsbeschäftigung verlieren kann, immer wie ein Fürst fühlen. Das Meer hingegen, für das ich nicht mehr bin als ein bedeutungsloses Objekt, verweigert mir oft das Gefühl, völlig entspannt speisen zu können. Der daraus resultierende Konflikt irritiert mich zutiefst und hat dazu geführt, dass ich inzwischen mehr die Restaurants in den Gassen bevorzuge. Ich erzähle Ihnen das alles nur, weil ich denke, Ihnen eine diesbezügliche Erklärung schuldig zu sein.“
Als wir uns vom Strand entfernten und eins der riesigen Gebäude umrundeten, dessen Pathos den Fremden so irritierte, sahen wir vor uns ein beeindruckendes Areal, das eine Unzahl von Karussells, Achterbahnen, Ringschaukeln, Riesenrädern und ähnlichen Attraktionen beherbergte. Der Fremde hielt für einen Moment inne und ließ das Spektakel auf sich wirken.
„Sie werden’s nicht glauben“, sagte er dann, „aber ich bin von diesen Spielzeugen tatsächlich fasziniert. Natürlich wird Ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass diese Jahrmarktattraktionen nichts anderes sind als Spielzeuge, die zu überdimensionaler Größe aufgeblasen wurden. Sie bestätigen auch meine langgehegte Theorie, dass die Menschheit nur zehn Minuten lang auf den Rummelplatz muss, um locker vier Jahrhunderte Agonie vergessen zu können. Damit wir uns nicht missverstehen“, fuhr der Fremde in einem Atemzug fort, „ich bin ein großer Freund dieser Fahrgeschäfte! Wenn ich beobachte, wie sich eine Person im Kreis dreht, rauf und runter saust oder drunter und drüber, bin ich felsenfest davon überzeugt, dass sich irgendjemand im Himmel diese wundervollen Spielzeuge ausgedacht haben muss.
Ich verstehe auch nicht, warum es niemanden gibt, der dem Volk eine riesige Menge von Schaukelpferden zur Verfügung stellt, damit sich alle schwebend und schaukelnd ins zeitweilige Vergessen verabschieden können. Eine spezielle Polizeieinheit müsste diese Phasen intensiver Stille überwachen – wobei leise Unterhaltungen zwischen den reitenden Gästen natürlich möglich sein sollten. Taubstumme könnten sich unters Volk mischen und ihnen schlaffördernde Getränke anbieten. Und ich meine das wirklich im Ernst! Ich rede hier von völlig rationalen Gedankengängen. Der Mensch braucht nun mal den Nervenkitzel – und bekommt seine Dosis, wenn er sich wie ein Papierdrachen ohne Schweif in die Luft schleudern lässt. Als Gegengewicht ist dann aber ein beruhigendes Element hilfreich – und das bekommt er, indem er sich auf eine Schaukel setzt und ein Gefühl erlebt, als würden 35 temperamentvolle Schauspielerinnen schmachtend dahinschmelzen. Sicher, es gibt einige Herrschaften, die von diesem Glücksgefühl nichts wissen wollen und sich über die Spielzeugmaschinen lustig machen. Aber ich garantiere Ihnen: Wenn man sie in einer dunklen Nacht beobachten könnte, ohne dass einer ihrer Freunde anwesend wäre, würde ihnen allen ein Lächeln übers Gesicht huschen – zumindest den meisten von ihnen. Und was mich selbst betrifft: Wäre ich nicht gerade der große Philosoph, hätte ich keinerlei Hemmungen, mich auch persönlich an dieser Form des Rausches zu beteiligen.“
Wir spazierten weiter zum Tingeltangel-Viertel. Die Häuschen in den überfüllten Gassen rücken hier erstaunlich eng zusammen und erinnerten an die „Straßenszene in Kairo“: Ein immerwährendes Tuten, Flöten und Schrammeln begleitet das chaotische Gezeter, manchmal noch akzentuiert vom Knattern der Schießbuden und den hypnotisierenden Gesängen der zahllosen Fakire. An einem der Stände, an dem man mit einem Baseball auf Holzkatzen und schwarze Holzköpfe werfen kann – und womöglich Gefahr läuft, eine schlechte Zigarre zu gewinnen –, hatte sich ein selbstbewusster junger Mann mit einem ganzen Haufen Bälle eingedeckt. Der Spott der Zuschauer war groß, als jeder Ball sein Ziel verfehlte. „Du würdest ja nicht mal ’nen Kirchturm treffen“, höhnte ein großer und kräftiger Kerl. „Das ist nicht wahr“, entgegnete der junge Mann, in seinem Stolz sichtlich getroffen. In ihrer Nähe standen drei finster aussehende Männer, die in eine hitzige Diskussion vertieft waren. „So viel ist klar“, konnte man einen von ihnen reden hören, „der Junge hat einfach zu viel Geld in der Tasche.“ Die Sonne war in die Wolken hinter Staten Island und den Narrows verschwunden. Das seitlich einfallende Licht gab den Gebäuden mit ihrem grellen Saphirblau und Karminrot inzwischen eine dezentere Tönung. Durch eine Hauslücke erhaschte man einen Blick aufs Meer, das an dieser Stelle eine blassgrüne Farbe angenommen hatte. Straßenlaternen wurden angezündet und verbreiteten schnell einen intensiven, orangefarbenen Glanz. In einem sonst menschenleeren Restaurant hatten sich zwei Gäste eingefunden: ein junger Mann und eine zierliche Sängerin aus einer der Music Halls. Die Art und Weise, wie sie lachte und munter drauflos schnatterte, war für ein Tingeltangel-Mädchen wohl nicht weiter ungewöhnlich. Der Junge wirkte eher so, als fühle er sich nicht wohl in seiner Haut. Er hockte da wie ein Häufchen Elend und sah ganz erbärmlich aus. Das Mädchen hingegen – daran hatte der Fremde keinerlei Zweifel – war von ihrem Gegenüber höchst angetan. Er schien das Music-Hall-Mädchen in kürzester Zeit ins Herz geschlossen zu haben.
Wir hatten das Amüsierviertel inzwischen verlassen und sahen plötzlich ein Meer aus wogendem Marschgras vor uns. Ein schwarzer Zug schien mittendurch zu dampfen. „In einer der Music Halls habe ich übrigens eine echte Entdeckung gemacht“, sagte der Fremde, als wir uns auf den Rückweg machten. „Es handelt sich um eine grauhaarige alte Dame, die voller Stolz die Position der ersten Pianistin bekleidet. Ich gehe gerne in dieses Etablissement und male mir die Schlägereien und Trinkgelage aus, die sie überstehen musste, um diesen krönenden Abschluss ihrer Karriere zu erreichen. Wenn man ihr zuschaut, hat man den Eindruck, sie würde ein siebzigköpfiges Orchester leiten – dabei dirigiert sie nur sich selbst. Es ist jedenfalls ein Schauspiel, diesen grauen Kopf in Bewegung zu sehen. In diesen Momenten habe ich tatsächlich das Gefühl, mit mir und der Welt so ziemlich im Reinen zu sein – ein Geständnis, das einem Philosophen meines Kalibers nicht gerade leichtfällt.
Auch die Männer, die vor den Fahrgeschäften arbeiten, nehmen ihre Tätigkeit unglaublich ernst. Man glaubt, in ihren Gesichtern die Gefräßigkeit und Unersättlichkeit eines Raubtiers erkennen zu können – als stünden sie ständig kurz davor, sich auf dich zu stürzen und zum Kauf einer Eintrittskarte zu zwingen. Diese knausrigen und übervorsichtigen Schaulustigen müssen sie doch geradezu in den Wahnsinn treiben. Als ich zum ersten Mal in diesen Teil der Stadt kam, war ich jedenfalls überrascht und hocherfreut. Seit ich aus dem Westen hierherkam, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, ein Rudel gefährlicher Wölfe beobachten zu können. Jaja, ich weiß, was Sie mir jetzt sagen werden: dass das alte Coney Island mit dem heutigen Coney Island überhaupt nicht vergleichbar sei. Das wollten Sie mir doch gerade sagen, oder etwa nicht?“
Wir gingen für eine Weile schweigend nebeneinander her, bis der Fremde zu einem Stand ging, um sich ein Würstchen zu kaufen. „Als Respektsperson ist man natürlich an gewisse Regeln gebunden“, sagte er nach seiner Rückkehr. „Es ist fast so, als sei man an ein Rad gekettet – und wenn sich der Triumphzug der Mode dann in Bewegung setzt, kommt man schnell unter die Räder. Natürlich kann man sich die Situation schönreden und auf das Gesetz verweisen, dass absolut alles, was gesellschaftlich noch inakzeptabel ist, eines Tages als selbstverständliche Errungenschaft gefeiert werden wird. Der Nachteil besteht darin, dass man warten muss, bis andere Leute diesen Wunsch äußern – und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man in der Zwischenzeit seinen eigenen Impuls bereits wieder verloren hat. Was macht also ein Mann, der leidenschaftlich gern Würstchen auf der Straße verzehrt? Würde ich mich an die gesellschaftlichen Spielregeln halten, könnte ich bis zum Jahr 3365 warten. Dann nämlich wird es eine Selbstverständlichkeit sein, raue Mengen von Würstchen auf der Straße zu vertilgen. Ich hingegen hätte zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon völlig andere Vorlieben entwickelt. Aber ich bin nun mal keine Respektsperson, sondern ein Philosoph. Ich esse Würstchen auf der Straße mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der Sie vielleicht eine Zigarette rauchen.
Sehen Sie die drei jungen Männer da drüben, die offensichtlich ihr Leben in vollen Zügen genießen? Man beachte ihre herausfordernden Mienen, diese verwegene Draufgänger-Attitüde, mit der sie an ihren Zigarren paffen. Drei junge Männer dabei zu beobachten, wie sie sich ihres Lebens erfreuen, ist für mich ebenso unterhaltsam wie lehrreich. Sinn und Bestimmung dieses unerbittlichen Universums kristallisieren sich dabei für mich immer plastischer heraus. Manchmal muss man sich eben auch amüsieren können, um angesichts des ganzen Wahnsinns nicht Selbstmord begehen zu wollen. Und ich sehe an diesem Beispiel, mit welch simplen und amüsanten Methoden das Universum sein Ziel erreicht. Eine Prise Angeberei, gemischt mit dem Bewusstsein, gesellschaftliche Normen zu verletzen, reichen schon völlig aus, um diese jungen Männer in Hochstimmung zu versetzen. Und zu diesem frühen Zeitpunkt ihres Lebens sollte man sie darin unbedingt unterstützen. Schließlich haben nur die großen Philosophen einen Anspruch auf das Wissen, wie man sein Leben lang unglücklich bleibt.“
Auf dem Weg zum Bahnhof hielt der Fremde noch mehrfach an, wenn ihm Menschen über den Weg liefen, die ihn aus irgendeinem Grund faszinierten. Er tat es mit einer Selbstverständlichkeit und Unverfrorenheit, als würde er sich Käfer unter der Lupe anschauen. Einmal fühlte sich ein Käfer derart provoziert, dass er ihm Prügel androhte. „Was gibt’s da zu glotzen, Alter?“, fragte er ihn. „Mein Freund“, antwortete der Fremde, „wenn sich irgendjemand in dieser Welt für Sie interessiert, sollten Sie die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen, um sich selbst einer substanziellen Selbstanalyse zu unterziehen. Es muss doch eine überraschende Erfahrung für Sie sein, dass es jemanden gibt, der sich nicht nur für sich selbst interessiert.“ Der streitlustige Junge wusste nicht so recht, was er darauf antworten sollte und wandte sich lieber an seinen Freund: „Der Typ tickt doch nicht ganz sauber. Was? Keine Ahnung. Irgendwas von Selbstanalyse oder so was. Die Rädchen in seinem Köpfchen müssen schon reichlich locker sein.“
Auf der Zugfahrt blies der kalte Wind quer durch die offenen Waggons. Im blassen Licht der Innenbeleuchtung konnte man beobachten, wie die Köpfe der Passagiere im Rhythmus der Räder hin und her wippten. Direkt vor uns hörten wir das Knacken von Erdnussschalen: Ein stämmiger Mann, der mit dem Kopf auf der Brust eingeschlafen war, zermalmte sie mit seinen unruhig zuckenden Füßen. Irgendwo im Waggon begann ein Betrunkener zu singen.
„Das Spektakel, die Leute auf der Rückkehr zu ihrem tagtäglichen Schlachtfeld zu beobachten, hat immer eine gewaltige Wirkung auf mich“, sagte der Fremde. „Das Gelächter eines Sonntagabends klingt anders als der Übermut, der bei anderen Anlässen zutage tritt. Ihm ist ein aggressives Draufgängertum zu eigen, eine Angeberei und Sorglosigkeit, in der aber auch so etwas wie mürrische Verdrossenheit mitschwingt. Diese ganze Zugladung voller Menschen ist auf dem Kollisionskurs mit dem unausweichlichen, drohenden und verheerenden Montag. Unser trunkener Sänger da vorne wird vermutlich schon bald wieder sein Fuhrwerk kutschieren und wüst über seine Pferde oder andere Fahrer schimpfen. Er fühlt bereits, wie sich dieser unerbittliche Montag in sein Leben hineinschleicht. Noch vor zwei Stunden wurde er vom Rummelplatz und Bier so in Anspruch genommen, dass für den Montag kein Platz in seinem Kopf war. Nun aber wird er mit ihm knallhart konfrontiert – und da er ihn nicht aus dem Weg räumen kann, reagiert er sich mit Zorn und Verachtung ab. Sie können dieses Sentiment in seinem Lied hören, das letztlich nichts anderes ist als das Quäken eines gekränkten Kinds. Wenn er nicht so eitel wäre … nun, die Welt kann von Glück reden, dass wir nicht alle so große Denker sind.“
Wir saßen auf dem Unterdeck des Bay-Ridge-Boots und schauten auf die beeindruckenden Lichter von New York, die durch die rot-bläulichen Dunstschwaden schimmerten. Die kleine italienische Kapelle, die auf dem Oberdeck spielte – durch zwei Türen und drei Ecken von uns getrennt – produzierte einen verschwommenen, einlullenden Rhythmus, der die Stimmung an Bord perfekt ergänzte. Noch einmal blies eine Brise in die Locken des Philosophen. Vorne am Bug klatschen die Wellen gegen das Boot. Die matten Lichter mit ihrer melancholischen Mischung aus Rot, Grün und Orange baumelten über unseren Köpfen. Über dem Boot segelten ein paar sandfarbene Wolken vor dem Dunkelblau des Himmels. „Donnerwetter“, sagte der Fremde, „wenn ich nicht schon so viel erlebt hätte – und wenn ich nicht so viel über die Zukunft wüsste … ich könnte absolut glücklich sein in diesem Moment – was dann wie ein Lauffeuer um den Globus ginge und auf alle Philosophen der Welt überspringen würde.“
Seefahrer wider Willen
Zwei Männer saßen am Strand.
„Ich weiß ja, dass ich keine Schönheit bin“, sagte der eine und stocherte mit einem verbiesterten Stock im Sand.
Sein Begleiter konzentrierte sich auf das ewige Spiel der Wellen. Die unausgesprochene Erwartung, seinem Freund die Wahrheit sagen zu müssen, belastete ihn so sehr, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat.
Plötzlich kniff er seine Lippen zusammen, bis sie nur noch ein schmaler Strich in seinem Gesicht waren. „Natürlich bist du das nicht!“, rief er empört. „Du bist hässlich wie die Nacht! Ich möchte dich ja nicht unnötig kränken, aber ich kann dir versichern, dass jedermann, der deine Haut mit all ihren Sommersprossen und Flechten sieht, automatisch an eine goldgeschnörkelte Blümchentapete denken muss. Der obere Teil deines Kopfes sieht aus wie eine kleine Holzplatte – und über deine Figur wollen wir lieber schweigen.“
Für eine Weile waren sie stumm. Sie starrten auf die Wellen, die wie schnurrende Seekätzchen ihre Füße umspielten.
Schließlich meldete sich der Erste wieder zu Wort.
„Und?“, fragte er. „Was ist denn mit meiner Figur?“
„Was damit ist?“, explodierte der andere. „Solltest du dich tatsächlich der Welt im Badeanzug präsentieren wollen, würdest du wie ein kompletter Idiot aussehen. Das ist damit.“
Sie waren wieder still. Der Mann mit den Sommersprossen schien sich zu schämen. Sein langer Freund schaute finster ins Nichts.
„Ich habe meine Entscheidung getroffen“, sagte der Sommersprossige plötzlich. Er sprang vom Sand hoch und ging energisch davon. Der Lange folgte ihm, schaute auf die runde, resolute Figur vor ihm und äffte seine Bewegungen nach.
Der Bademeister, der hinter einem großen Loch in der Holzwand hockte, brauchte gewöhnlich nur einen einzigen Blick, um sich ein Bild zu machen.
Als der übergewichtige Mann seinen Wunsch äußerte – und dabei mit den Händen über seine Rundungen strich, als lege er Wert auf ein besonders hautenges Trikot –, kam er allerdings doch etwas ins Grübeln. Schließlich händigte er ihm ein blaues Etwas aus und strahlte dazu, als habe er für die Dimensionen seines Kunden die perfekte mathematische Formel gefunden.
Der Sommersprossige verließ den Strandverleih mit der gleichen Entschlossenheit, mit der er ihn kurz zuvor betreten hatte.
„Nun schau mal her“, sagte der Lange, der Mühe hatte, ihm zu folgen. „Ich möchte wetten, dass dir der Bademeister irgendeinen Mehlsack in die Hand gedrückt hat. Der Typ konnte doch gar nicht …“
„Und ob er konnte!“, unterbrach ihn der Sommersprossige. „Es war höhere Mathematik, die ich in seinen Augen erkannte.“
„Gehn wir doch einfach mal davon aus, dass er dir eine falsche Größe gegeben hat. Gehn wir doch mal davon aus, dass …“
„Tom!“, unterbrach ihn der Sommersprossige erneut. „Greif dir gefälligst deine zweite Haut und folge mir zu den Umkleidekabinen.“ Der Lange fluchte, ging aber in eine der Holzkabinen und schloss die Tür hinter sich ab.
Sein sommersprossiger Freund folgte seinem Beispiel. Zunächst fühlte er sich wie ein übergewichtiger Mönch in einer winzigen Zelle. Er drehte sich zwei, drei Mal im Kreis, um völlig sicherzustellen, dazu noch immer in der Lage zu sein. Nach einigen Versuchen schaffte er es tatsächlich, in sein blaues Badekostüm zu steigen, ließ sich dann aber gleich schnaufend auf die dreieckige Sitzbank fallen. Als er sich zurücklehnte, bildeten sich auf seinem Bauch hässliche Falten.
Vom einladenden Plätschern der Wellen abgesehen, wurde die Stille von keinem Geräusch gestört. Doch dann hörte er, wie in einer der benachbarten Kabinen zwei Schuhe zu Boden fielen. Wie ein reuiger Sünder, der gegen die unerbittliche Zellentür pocht, hämmerte er gegen die Holzwand.
„Tom“, rief er weinerlich, „Tom …“
Eine wutschnaubende Stimme – wenn auch leicht gedämpft, als streife sich jemand ein Hemd über den Kopf – kam von der anderen Seite zurück: „Ach, geh doch zum Teufel!“
Der Sommersprossige jammerte weiter und ließ sich auch nicht von dem Wissen abschrecken, dass andere Gäste ihr Gezänk verfolgen konnten.
„Hör endlich mit dem Gejammer auf“, schimpfte der Lange aus seiner Kabine. „Du wolltest den Badeanzug schließlich haben, oder nicht? Dann …“
„Es ist aber kein Badeanzug“, schrie der Sommersprossige zurück. „Es ist ein Zirkuszelt, ein Festsaal, ein irgendwas. Ein Badeanzug ist es jedenfalls nicht.“
Der Lange trat aus seiner Kabine. Sein Badeanzug saß so perfekt, dass man den Eindruck gewann, seine Haut habe eine blaue Farbe angenommen. Weltmännisch flanierte er über den Steg, der die Umkleidekabinen miteinander verband. Als er vor der Kabine seines Freundes angekommen war, trommelte er unbeherrscht gegen die Tür.
„Nun komm schon raus, du dummer Kerl“, flüsterte er ungehalten durch die Tür. „Es ist nur deine verfluchte Eitelkeit. Zieh das Ding einfach an – egal, wie du darin aussiehst. Ich hab’ noch nie ’nen eitleren Gecken geseh’n als dich.“
Noch während er schimpfte, öffnete sich die Tür. Als der Große ihn sah, erschreckte er sich dermaßen, dass er stolperte und gegen die hintere Tür krachte.
Der Sommersprossige sah ihn giftig an. „Du bist ein Narr“, sagte er nur, zuckte verächtlich mit den Schultern und marschierte majestätisch den Steg hinunter. Der Stolz, mit dem seine tapsigen Füße über die Holzplanken trippelten, war unübersehbar. Der Lange, noch immer fassungslos, folgte ihm unauffällig; unfähig, seine Augen von der seltsamen Figur loszureißen.
Um seine Unsicherheit zu überspielen, hatte der Sommersprossige eine demonstrativ theatralische Miene aufgesetzt. Er bewegte sich, als sei er Teil einer feierlichen Prozession, überquerte den Boardwalk und schritt die paar Stufen zum Strand hinunter.
Ein Mops und drei ältere Damen saßen auf einer Bank. Ein Stückchen weiter lag ein Pärchen unter einem Sonnenschirm, in die Lektüre eines Buches vertieft. Hoch oben kurvte eine Möwe am Himmel – und weiter draußen feierten Wolken und Wellen eine stürmische Liaison. Weiter unten am Wasser, wo der Sand nass war, stand ein Mädchen und ließ sich von den auslaufenden Wellen umgarnen.
Der Sommersprossige bewegte sich gesetzten Schrittes Richtung Wasser. Der Lange, noch immer wie betäubt, folgte in seinem Windschatten. Sie näherten sich dem Mädchen.
Plötzlich wurde der Lange von einem Lachanfall geschüttelt. Das Mädchen drehte sich um.
Sie warf einen Blick auf den sommersprossigen Mann im Badeanzug. Auf ihrem hübschen Gesicht machte sich der Ausdruck völliger Fassungslosigkeit breit, verwandelte sich aber umgehend in ein strahlendes Lächeln.
Das Lächeln schien den Sommersprossigen allerdings eher aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er warf sich in Pose und spreizte die Schultern, um seinen Badeanzug möglichst vorteilhaft wirken zu lassen. Doch dann, nachdem er den entgeisterten Blick seines Freundes aufgeschnappt hatte, fasste er schnell den Entschluss, lieber das Weite zu suchen.
Der Lange rannte hinter ihm her und machte sich einen Spaß daraus, noch Salz in die Wunden des gekränkten Egos zu streuen. Die spitzen Schreie, die er in gespielter Empörung ausstieß, schmerzten jedenfalls wie tausend Stiche bösartiger Insekten. Der Sommersprossige war drauf und dran, hier und jetzt sein Leben zu beenden, überlegte es sich dann aber doch noch mal und konfrontierte seinen Freund.
„Tom Sharp!“, sagte er durch zusammengepresste Zähne. „Du bist ein unsagbarer Abschaum. Wie einen Wurm möchte ich dich mit dem Absatz meiner Schuhe zermalmen.“
Der Lange war noch immer nicht in der Lage, seine Augen von dem Badeanzug zu reißen. „Oh großer Gott“, murmelte er immer wieder, „oh großer Gott. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie so einen Badeanzug gesehen.“
Der Sommersprossige machte eine Bewegung, als wolle er ihm den Hals abschneiden. „Tom Sharp, du …“
Sein Freund aber war noch immer am Murmeln: „Oh mein Gott, so einen Badeanzug hat die Welt noch nicht gesehen …“
Der Sommersprossige setzte sich in Bewegung und lief in die Wellen hinein.
Das kühle, sprudelnde Wasser spülte seine Wut im Nu wieder weg. Gefühle haben nun mal die Eigenschaft, sich im Ozean zu verlieren. Auch der Lange sprang in die Fluten. Beide vergaßen ihren Disput und genossen das erfrischende Nass.
Bei seinem Versuch, der Menschheit konsequent aus dem Weg zu gehen, war der Sommersprossige nur noch einem Fischer mit Schlapphut begegnet sowie drei Jugendlichen, die sich auf einem Floß vergnügten, das sie aus alten Rundhölzern zusammengebaut hatten.
Die beiden Männer schwammen langsam über die flache Dünung.
Die drei Jungs tauchten vom Floß aus hinab ins Wasser. Kamen sie wieder an die Oberfläche, lachten sie viel und schauten zurück zum Strand. Das Floß drehte sich um seine eigene Achse und wurde von der Unterströmung langsam aufs offene Meer getrieben. Der Sommersprossige ging in Position und machte ein paar professionelle Schwimmzüge, um das Floß nicht entwischen zu lassen. Der Lange tat es ihm nach. Mit der Präzision eines Uhrwerks tauchten seine angewinkelten Arme aus dem Wasser auf und verschwanden dort wieder.
Und doch schien sich das Floß immer weiter vom Land entfernen zu wollen – ganz so, als wolle es die Menschen bewusst aufs offene Meer locken. Die kleine Holzplatte auf dem Kopf des Sommersprossigen sah wie ein rundes, braunes Auge der Küste entgegen. Doch sein Blick war fest auf das Floß gerichtet, das hinterlistig auf ihn zu warten schien. Der Lange nutzte die Holzplatte als Seezeichen.
Der Sommersprossige erreichte das Floß als Erster und zog sich hoch. Nach Luft schnappend kam er auf dem Rücken zu liegen. Sein Badeanzug klebte an seinem Körper wie ein schlaffer Luftballon. Der Lange folgte ihm, schnaufte laut und vernehmlich, schüttelte seine nassen Locken und ließ sich neben ihm nieder.
Die körperliche Anstrengung hatte bei ihnen eine euphorische Erschöpfung ausgelöst. Die Planken waren so bequem, als seien sie speziell für ihre müden Glieder gemacht. Verträumt schauten sie in den endlosen Sommerhimmel hinauf.
„Was für ein perfekter Tag“, sagte der Lange. Sein Freund schnaufte glücklich.
Das Meer hatte unsichtbare Helfer engagiert, um die beiden ins Paradies zu schaukeln. Die sich überlappenden Wellen säuselten verführerische Melodien, bis sie die Männer ins Land der Träume verfrachtet hatten.
„Tom?“, murmelte der Sommersprossige.
„Was?“
„Ich glaub, wir sind im Paradies.“
Sie lagen regungslos auf den Planken und ließen ihre Gedanken ziellos wandern.
Ein Seeadler, der hoch über ihnen am Himmel kreiste, ging plötzlich in den Sturzflug über und schoss senkrecht aufs Meer hinab. Der Lange drehte seinen Kopf und verfolgte, wie der Vogel seine Klauen ins Wasser hackte und sich Sekunden später – deutlich schwerfälliger – mit einem silbrig glänzenden Fisch in die Lüfte schwang.
„Und wieder hat sich der dumme Vogel die Füße nassgemacht“, murmelte der Lange verschlafen. „Er sollte sich was schämen. Seine Erkältung wird nie wieder verschwinden. Er sollte beim nächsten Mal Gummistiefel benutzen. Sehen auch besser aus. Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich … Herr im Himmel!“
Er hatte seinen Oberkörper aufgerichtet und starrte zum Strand.
„Ted! Ted! Ted!“, rief er. „Schau nur!“
„Was is’n los?“, fragte der Sommersprossige verschlafen. „Irgendwie erinnert mich deine Stimme an den Tag, als ich mit der Schrotflinte in dein Bein schoss.“ Er kicherte in sich hinein.
Sein aufgebrachter Freund bewegte die Lippen, brachte aber nur undefinierbare Laute hervor. Der Sommersprossige hatte sich inzwischen ebenfalls aufgerichtet und schaute ungläubig zur Küste.
„Mein Gott!“ Er schrie auf, als habe ihm jemand ein Messer in den Rücken gejagt.
Die Küste war ein langer, schmaler Streifen mit einem grünen Saum, aus dem die Wellblechdächer der großen Hotels herausstachen. Des Meeres unsichtbare Helfer hatten ganze Arbeit geleistet und das Festland zur Seite geschoben.
Die beiden Männer sprangen auf und ließen ihrer Panik freien Lauf. „Was sollen wir machen? Was sollen wir nur machen?“, rief der Sommersprossige und zappelte verzweifelt in seinem abgeschlafften Luftballon.
Der Lange starrte gebannt auf das ungewohnte Panorama der Küste und sagte für eine Weile nichts.
Doch dann, nachdem er seinem unkontrollierten Horror Einhalt geboten hatte, drehte er sich abrupt um und schaute seinem Freund direkt ins sommersprossige Gesicht. Demonstrativ verschränkte er seine Arme vor der Brust.
„Also“, sagte er und dehnte nun jedes seiner Worte. „Das ist also das Resultat deiner verfluchten Eitelkeit. Dein Badeanzug und deine Dummheit haben dazu geführt, dass du deinen besten Freund auf dem Gewissen hast.“
Er drehte sich um. Sein Freund stolperte zurück, als sei er von einem imaginären Schlag getroffen worden.
Er streckte seine Arme aus. „Tom“, sagte er flehentlich. „Tom! Nun sei doch kein Idiot.“
Auf dem breiten Rücken seines Freundes formte sich ein abgrundtief höhnisches Lächeln.
Drei Schiffe verschwanden vom Horizont. Auf dem Festland verschmolzen die Farben. Das Pfeifen einer Lokomotive klang so entrückt, als sei es ein Signal aus dem Himmel.
„Tom, Tom, mein lieber Junge“, flehte der Sommersprossige, „sprich bitte nicht so mit mir.“
„Nein, warum sollte ich auch“, erwiderte der Lange verbittert. Er schaute seinen Freund noch immer nicht an, sondern spuckte ihm seine Worte über die Schulter entgegen. „Glaubst du etwa, dass ich diese Katastrophe unkommentiert akzeptiere? Und mir nicht die leiseste Kritik erlaube? Und alles schön runterschlucke? Glaubst du das wirklich?“
„Nun, ich …“, stotterte der Sommersprossige.
Der Lange steigerte sich immer mehr in Rage. „Du hast mich entführt! Darauf läuft’s doch hinaus. Du hast mich entführt!“
„Hab ich nicht“, protestierte sein Freund. „Du musst mich wohl für einen kompletten Idioten halten.“
Der Lange antwortete nicht, sondern fluchte nur. Er setzte sich auf den Rand des Floßes und trat mit seinen Beinen verärgert ins Wasser. Die Gesetze der Physik verlangten, dass sich sein Freund auf dem anderen Ende niederließ.
Unter der Wasseroberfläche huschten kleine Fischschwärme hin und her und erzeugten dabei winzige Strudel. Träge Quallen schwebten ganz in der Nähe vorbei und zuckten nervös mit ihren unzähligen Tentakeln. Eine Gruppe von Tümmlern begleitete das Floß wie eine Prozession sich drehender, synchronisierter Zahnräder. Von ein paar Stellen abgesehen, die der Sonnenuntergang noch in warme Farben tauchte, machte sich am Himmel zunehmend ein diesiges Grau breit.
Auch wenn sie, Rücken an Rücken, auf den gegenüberliegenden Enden des Floßes saßen, gingen sich die beiden Seefahrer noch immer an die Gurgel.
„Dann erklär mir doch eins“, verlangte der Sommersprossige verbittert: „Warum bist du mir überhaupt nachgelaufen?“
„Wenn du nicht wie eine schwangere Flasche aussehen würdest, säßen wir doch beide nicht hier“, knurrte der Lange.
Die letzten Sonnenstrahlen aus dem Westen waren verschwunden. Eine feierliche Stille legte sich übers Wasser. Elektrische Lichter an Land funkelten wie blinzelnde Augen. Die Nacht meldete sich mit drohender Dunkelheit zu Wort und sorgte dafür, dass die verängstigten Seelen der beiden Seefahrer wieder zueinander fanden. Sie hatten sich in die Mitte des Floßes gesetzt und waren eng zusammengerückt.
„Ich hab’ das Gefühl, als wär ich nicht mehr als ein winziges Molekül“, sagte der Sommersprossige fast flüsternd.
„Und ich gäb’ zwei Dollar für ’ne Zigarre“, murmelte der Lange.
Vor dem letzten Zipfel des fahlgelben Himmels flog ein Enten-Geschwader in V-Formation Richtung Barnegat. Vom längst verschwundenen östlichen Horizont kamen nur noch Böen und düstere Schatten.
„Ich glaub, ich höre Stimmen“, sagte der Sommersprossige.
„Diese Dollie Ramsdell war ein richtig schnuckeliges Mädel“, murmelte der Lange.
Als ihnen die Kälte der Nacht immer mehr in die Knochen fuhr, fand der Sommersprossige einen Weg, seine Arme und Beine so zu verschränken, dass er sie unter seinem Badeanzug halbwegs warmhalten konnte. Der Lange hingegen war zum Zittern und Schnattern verdammt. Als sich die Nacht endgültig übers Meer gelegt hatte, begannen rote und grüne Lichter im Dunkel zu blinken. Die Wellen warfen geheimnisvolle Schatten in ihre Täler.
„Irgendwas gibt es da draußen, das uns nach dem Leben trachtet“, flüsterte der Sommersprossige.
„Ich wünschte mir, ich hätte den neuen Anzug nicht bestellt, den ich morgen auf der Tanzparty tragen wollte“, sagte der Lange nachdenklich.
Das Meer wurde zunehmend unruhiger und wogte schwer wie ein längst in der Erinnerung entschwundener Busen, in dem das junge, unschuldige Herz noch vor Wonne rast. Auch wenn die größeren Wogen noch weit entfernt waren, jagten ihnen die aufgebauschten Schaumkronen einen gehörigen Schrecken ein. Ein Mond erschien am Firmament und schaute sich die beiden seltsamen Seefahrer etwas genauer an.
„Irgendjemand ist hier“, flüsterte der Sommersprossige.
„Ich wünschte, ich hätte eine Sternenkarte“, bemerkte der Lange und schaute unentwegt zum Mond empor.
Doch dann waren es rote und grüne Lichter, die in ihrer Umgebung aufblitzten.
„Unsere Schutzengel werden uns schon nicht im Stich lassen“, beteuerte der Sommersprossige.
„Ich wette sogar, dass sie uns sehr schnell finden werden“, ergänzte der Lange. „Ich schulde einigen Leuten noch Geld.“
Er begann damit, auf einem imaginären Banjo zu spielen, hielt aber schnell wieder inne. „Ich hab mal gehört, dass Kapitäne mit funktionstüchtigen Schiffen nie wieder umkehren, wenn sie erst einmal ihren Kurs eingeschlagen haben. Was bedeuten würde, dass wir von einem Schiff aufgegabelt werden, das uns direkt in den sonnenverwöhnten Süden bringen wird. Doch irgendwann wirst du wahrscheinlich wieder einen gottverdammten Blödsinn anstellen – mit dem Resultat, dass sie uns umgehend vom Schiff werfen. Sie werden uns aussetzen! Genau das werden sie mit uns machen. Sie werden uns aussetzen! Auf einer Insel mit Palmen und bezaubernden Inselbewohnerinnen und all diesen Sachen. Bezaubernde Bewohnerinnen, sag ich. Hast du das gehört? Sie werden uns …“
Er verstummte plötzlich und schaute mit versteinertem Gesicht ins Dunkel. Ein großes, grünes Licht hatte sie offensichtlich ins Auge gefasst.
Die beiden Seefahrer standen auf und zappelten hektisch herum und starrten gebannt auf das grüne Auge, das nun mit jeder Minute größer wurde.
Der Umriss eines Phantom-ähnlichen Bootes schob sich heran. Über dem großen, grünen Auge befand sich ein Kranz kleiner, gelber Lichter. Die beiden Seefahrer hörten bereits das Knarren der Takelage und das Klatschen der unsichtbaren Segel. Und schließlich war auch die süße Melodie zu vernehmen, die der Bug beim Durchschneiden des Wassers erzeugt.
Es war genug, um den Langen zu einer wortreichen Rede zu bewegen. „Ha!“, rief er aus. „Hier kommen unsere Retter, tapfere Männer allesamt. Ich kann’s nicht erwarten, die Hand des mutigen Kapitäns zu schütteln. Gleich wirst du ein weißes Schiff sehen, von dessen Seite ein zackiger Anker heruntergelassen wird. Hilfreiche Matrosen in Blau und Weiß werden uns auf das Schiff helfen und unsere ausgemergelten Gestalten aufs Achterdeck geleiten,