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Die schüchterne Memo folgt einer Duftspur aus Kindheitstagen und landet unversehens in einer alten, scheinbar maroden Stadtvilla, die eine ungeahnte Welt unglaublicher Fantasiegebilde und seltsamer Bewohner in sich verbirgt. Die freundliche Hausherrin zieht die junge Memo in ihren Bann und lockt sie immer tiefer in die Gemäuer des verwunschenen Hauses, das alle je erdachten Träume erfüllt. Bis sie plötzlich auf einen einsamen wilden Mann stößt, der in dem schier endlosen Labyrinth gefangen ist. Seine kühnen Behauptungen über das neu gewonnene Paradies fressen sich gegen jeden Widerwillen in Memos Gehirn, bis sie sich plötzlich in einem unwirklichen Kampf um Leben und Tod befindet...
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Seitenzahl: 757
Für meine liebe Schwester Anna, meine Schwägerin Lisa und meine ewig beste Freundin Heather, ohne deren Hilfe ich es nicht geschafft hätte.
ANKOMMEN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
BEGREIFEN
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
HANDELN
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Ein langer Weg manifestiert sich in ihrem Kopf, gesäumt von etlichen Erinnerungen, guten und schlechten, wobei die guten wohl überwiegen. Das rotierende Gedankenkarussell versprüht elektrisierende Funken längst vergessener Tage, welche kurz in unfassbar realen Bildern aufflammen, um genauso schnell wieder zu erlöschen. Fluoreszieren gleich neckischer Glühwürmchen im weißen matten Mondschein. Memo ist an diesem Morgen heiß und dann auch wieder kalt. Als ob ihr Körper sich nicht für das eine oder das andere entscheiden kann - Schweiß oder Gänsehaut. Selbst ihre sonst so sichere Nase bringt sie aus dem Takt, den das allwissende Universum ihr bis jetzt vorzugeben schien. Dabei ist es nur ein Hauch von Erde und Minze, welches der Wind sanft an ihr Gesicht heranträgt. Schmeichelt ihrem Wohlbefinden und rüttelt sie dennoch hellwach. Es ist ein vielsagender Geruch aus ihrer Vergangenheit, der sie aus dem gestressten Alltag entfesselt. Er zeichnet schemenhaft ein Porträt ihres kindlichen Ichs auf die erst milchig, dann immer klarer wirkende Leinwand in ihrem düsteren Hinterkopf. Plötzlich erlischt der erhellende Funkenregen wieder. Aber diesen einen Gedanken unter tausenden, ein letztes Glühen, kann sie fest umklammern. Und dieser formt ein Bild ihrer schmerzlich vermissten Großmutter Irene.
Oma Irene besaß einen riesigen Garten hinterm Haus. Dort hatte sie allerlei Gemüse und Obstsorten in ordentlichen Reihen angebaut. Als ob es gestern gewesen wäre, erinnert sie sich, wie sie damals auf feuchtem Mutterboden saß und mit Dreck bemalten Fingern stolz eine leuchtend gelbe Karotte gen Himmel reckte. Regenwürmer krochen an ihren nackten Zehen vorbei und Schmetterlinge erheiterten sie mit ihren flinken Flügelschlägen. Nach Lust und Laune zog sie mal hier und mal dort eine Karotte aus dem dunklen Erdreich. Dabei war eine gute Technik gar nicht so unwichtig, wie vielleicht andere Leute glauben mochten. Zerrt man zu störrisch an dem filigranen Blattgrün, wird man gerne mal unsacht auf dem Hinterteil landen; zwar die Blätter in der Hand, die Rübe aber bleibt immer noch fest im Boden verankert. Dann bleibt einem nichts anderes als mühsames Ausbuddeln übrig. Ungefähr genauso hatten Memos erste Selbstversuche ausgesehen. Allerdings hatte sie schnell den richtigen Bogen raus: Zuerst sollte die Möhre so nah als möglich an der Blattwurzel gepackt, dann hin und her bewegt und dabei langsam Stückchen für Stückchen herausgezogen werden. Die Geduld zahlte sich mit einer wunderbaren von dunkelbraunen Erdkrumen übersäten Karotte aus. Unter dieser braunen Schicht verbarg sich der schmackhafte Gegenstand ihrer kindlichen Begierde, welchen sie gierig mitsamt Dreck anknabberte.
Für sie waren es die leckersten Karotten der Welt! – keine anderen hätte sie jemals lieber gegessen. Wochen zuvor hatte sie mit Oma Irene die Samen in den Schoß der Muttererde eingesät und behutsam zugedeckt. Bei jedem Besuch konnte sie etwas mehr an Grün aus der Oberfläche hervorlugen sehen. Und bei jeder Gelegenheit schleppte sie die große tannengrüne Gießkanne, randvoll mit Wasser gefüllt, zum Beet und übergoss die kleinen zarten Pflänzchen. Ungeachtet dessen, dass knapp die Hälfte des Gießkanneninhalts bereits auf dem Weg dorthin verloren ging. Natürlich konnte sie es kaum abwarten, endlich eine reife Frucht herauszuziehen, um das Resultat ihrer Arbeit zu bewundern und genüsslich zu vertilgen.
Oma Irene freute sich, ihrer einzigen Enkeltochter die Gartenarbeit näher zu bringen und Memo freute sich mal hier und mal da naschen zu dürfen. Die alte Frau hatte oft gute Laune beim Arbeiten. Sie summte Lieder vergangener Tage vor sich hin, was auf die junge Memo oft eine ansteckende Wirkung hatte. Sie trällerte 'Bruder Jakob' oder 'Taler, Taler, du musst wandern', während sie ihre auferlegten Aufgaben bereitwillig erledigte. Oma Irene hatte nicht nur die leckersten Karotten der Welt in ihrem hübschen Garten, sondern auch sattrote Erdbeeren, grüne Schlangengurken, mannsdicke Kürbisse, Rhabarber so groß wie ein Schulkind und einen riesigen Strauch süßer Stachelbeeren. Doch vor allem liebte die kleine Memo Omas Vorliebe für wohlduftenden Tee.
Im Herbst roch es in dem kleinen Holzhäuschen am Rand des Dorfs überall nach Pfefferminze. Diese wurde büschelweise zum Trocknen an Schnüren aufgehängt und verhinderte großgewachsenen Leuten ein barrierefreies Durchkommen. Küche und Schlafzimmer waren voll von herabhängendem Tee und Gartenkräutern, wovon die Minze besonders hervorstechend ihren Duft an die Raumluft absonderte. Jedes Jahr zum Wintereinbruch war genug Vorrat vorhanden, um sich täglich eine Tasse warmen Tee am Kamin zu gönnen. Im Sommer war der Eingang zum Garten kniehoch mit etlichen Pfefferminzpflanzen bewachsen. Sie kitzelten jedes Mal in Memos Kniehöhlen, wenn sie wieder einmal den Versuch unternahm, die große Gießkanne voll gefüllt bis zum Ende des Gartens zu schleppen. Manchmal wenn Oma Irene im angrenzenden Holzschuppen oder im Haus verschwunden war und Memo sich sicher war, ganz alleine zu sein, legte sie sich in das Pfefferminzbeet hinein. So tief lag sie dort in einer duftenden Blätterkuhle, dass kein Mensch sie von Weitem sehen konnte. Es war ein tolles Versteck und es beheimatete einen solch herrlichen Duft. Hier konnte sie ihren Tagträumen nachjagen, während sie die gezackten Blätter an ihrer Nase entlang rieb. Die Welt war plötzlich so klein: Sie bestand nur noch aus Memo, dem minzigen Duft, den das wuchernde Grün um sie herum verströmte und dem blauen Himmel über ihr. Eine winzige Insel mitten im Nirgendwo, weit weg vom Alltag. Leider bemerkte Oma Irene immer, wenn Memo Verstecken gespielt hatte. Die kleine Kuhle im Beet war nicht wegzuzaubern. Ihre buschigen weißen Augenbrauen schoben sich dann über ihren eisblauen, außergewöhnlich schönen Augen zusammen und sie schimpfte mit erhobenem Zeigefinger. Doch dauerte der Tadel nie lange an und oft sah Memo ihre großmütterlichen Augen dabei verschmitzt lachen. Sie konnte ihr einfach nicht wirklich böse sein. Wahrscheinlich musste sie daran denken, wie sie selbst als kleines schelmisches Mädchen gewesen war.
In ihrem Wohnzimmer hing ein gerahmtes großformatiges Schwarz-Weiß-Foto von fünf Kindern, die brav wie die Orgelpfeifen einer neben dem anderen standen. Es war nur ein Mädchen darunter, was nicht gleich zu erkennen war, da dieses Mädchen Hosen wie die Buben trug und auch keine geflochtenen Zöpfe vorzuweisen hatte, sondern einen kurzgeschnittenen Bob. Oma meinte, dass sie wie ein Junge aufwuchs und alles konnte, was ein Junge auch konnte. Zwei der Kinder auf dem Bild lebten damals schon nicht mehr. Oma Irene selbst hat vor nun mehr als fünf Jahren ihre Lider für immer geschlossen.
So tapfer wie sie im Leben war, so tapfer ist sie auch von ihren Liebsten gegangen. Memo war eine der Letzten, die sie noch lebend gesehen hatte. Sie hielten sich Hand in Hand fest, während die Großmutter ihrer Enkelin Mut zuredete und ihr versprach immer bei ihr zu sein und ein Auge auf sie zu werfen. Sie solle ja keine großen Dummheiten machen und sich nicht von den Männern unterbuttern lassen. Memo gab ihr gern dieses Versprechen. Sie verabschiedete sich mit einem lachenden und einem weinenden Auge.
Als sie beerdigt wurde, gab Memo ihr einen Zweig Pfefferminze mit ins Grab. Beide wussten schon, was es bedeuten sollte, auch wenn es auf andere möglicherweise befremdlich gewirkt haben musste. Pfefferminze verband sie. Wenn es Kuchen gab – und den gab es oft bei Oma Irene – dann gab es auch Pfefferminztee dazu. Noch heute als erwachsene Frau hat Memo einen schweren Kübel des Pfefferminzkrauts aus Großmutters Garten auf ihrer Terrasse stehen. Jeden Frühling wenn die kleinen Pflänzchen sich neugierig aus der Erde winden, spielt der Duft ein Lied kindlicher Erinnerung für sie.
Genau dieser Geruch überwältigt Memo so unerwartet, als ob sie mit der Stirn frontal gegen eine unsichtbare Wand mitten auf dem Gehweg gelaufen wäre. Denn es ist ein kalter Januartag! Wie kann es möglich sein, da der Schnee vom Vortag noch immer die Straßenränder bedeckt? Frische Pfefferminze kann es im Winter doch gar nicht geben. Du musst dich irren. Dieser unverkennbare Hauch in der Luft mischt sich mit einer Note feuchter Erde, sowie Memo es damals als Kind beim Essen einer Karotte gerochen hatte. Beides zusammen verwirrt sie unweigerlich und ohne dass sie einen klaren Gedanken fassen kann, bewegen sich ihre Füße wie von Geisterhand. Sie ändern die Koordinaten, kennen die Richtung, bevor der Kopf sie kennt. Der Wind spricht mit säuselnder Stimme, verlockt ihm zu folgen und zu gehorchen. Die Beine gehorchen, doch in Memos Gehirn tanzen bunt gemischt allerhand Gedanken hin und her. Dann breitet sich schließlich eine ausgelassene Harmonie – verschwommene Bilder von ihrem kindlichen Ich und Oma Irene – aus. Erst jetzt sieht sie vor ihrem Sichtfeld, ganz so als wären es für kurze Zeit gar nicht ihre eigenen Augen gewesen, eine große braune Holztür mit Eisenbeschlägen auftauchen. Wo in Herrgotts Namen bin ich hier hingeraten? grübelt sie, während die enorme Wucht des minzig-erdigen Dufts sich ihrer ermächtigt. Intensiver als jedes Deodorant, brechen alle Zweifel hinweg, ebnen die Fläche für den aufdringlichen Pfefferminz-Geruch und allen Erinnerungen, die wie frischer Tau daran haften. Es ist die Kraft, die förmlich aus allen Poren dieser morschen alten Tür herausströmt.
Memo zwingt sich, einen kühlen Kopf zu bewahren, reißt sich mühevoll aus den alten Tagen hinfort, sieht sich neugierig um und analysiert ihren neuen Aufenthaltsort. Die Fassade des historisch anmutenden Hauses - nein wohl eher des stattlichen Anwesens einer Adelsfamilie - hat seine besten Jahre bereits hinter sich gelassen. Nicht nur die Pforte ist von Holzwürmen durchbohrt, auch der Lack platzt in hässlichen Ausbeulungen von den geschlossenen Fensterläden. Ursprünglich waren die dicken Mauern der Villa wohl von strahlendem Weiß, sollten einst wie edler italienischer Marmor gewirkt haben. Jetzt haben sie ihre Wirkung vertan. Die stumpfe Farbe ähnelt mehr einem matten Grauton, aufgetragen von jahrelanger Abgasverschmutzung. Taubenkolonien erledigten das Übrige und besudelten die Außenwände und Fenstersimse mit ihren Exkrementen. Der Anblick dieses wohl einst neoklassischen Architekturjuwels mit beeindruckenden Säulen links und rechts des Eingangs ist kein seltener in dieser Stadt. Viele Gebäude sind von altem Baujahr, allerdings sind auch einige wieder schön hergerichtet worden; ihre Fassaden strahlen in einem reinen Weiß. Dieses Haus ist demnach nicht besonders auffällig, da es sich im historischen Stadtkern befindet und dennoch bemerkt Memo sofort, dass es sich hierbei nicht um ein gewöhnliches ungenutztes Anwesen handelt. Vielmehr fühl ich es. Jeder andere würde vielleicht, den Blick auf das Smartphone gesenkt, daran vorbeilaufen, ohne es wirklich zu bemerken. Und trotzdem liegt hier etwas Besonderes in der Luft. Pfefferminze und Erde. Möglicherweise gibt es einen überwucherten Garten mit wildem Tee?
Doch halt, stopp! Ihr Gehirn muss ihr einen Streich spielen, da ist sie sich sicher. Schließlich ist Januar! Dennoch hat das verfallene Haus mit den großen rechtwinkligen Steinen, den sie beobachtenden Wasserspeiern und der rundumlaufenden Mauer Memo in seinen Bann gezogen. Sie kann den romantischen Charme, den die Stadtvilla einst ausgestrahlt haben mochte, fast auf ihrer Zunge schmecken. Ihre Neugierde ist entfacht – das sollte sie noch teuer bezahlen.
Sie trippelt an die verschwiegene Mauer linkerhand heran und stellt sich auf die Zehenspitzen. Doch egal wie sehr sie sich auch anstrengt, die Mauer ist einfach zu hoch. Auch albernes Hüpfen auf der Stelle bringt ihr keinen sichtlichen Erfolg. Es ist unmöglich, auch nur einen winzigen Ausschnitt vom mysteriösen Grundstück zu erhaschen. Das bisschen Grün um sie herum ist vertrocknetes, vom Schnee weiß gepudertes Gras.
Memo beginnt zu rätseln. Warum war mir das Haus niemals zuvor aufgefallen? Dabei wohnt sie nur mehrere hundert Meter entfernt, quasi ein Katzensprung. Es liegt auf einer ihr wohl bekannten Strecke, die sie im Schlaf ablaufen könnte. Sie hätte schwören können, dass hier zuvor ein heruntergekommenes Casino, mit lachendem Clownsgesicht, aufgeklebt auf den zugezogenen Fensterscheiben, stand. Die Neonlichter der Reklame waren fast zur Hälfte erloschen, blinkten irritierend und ein neuer Maleranstrich hätte sicher auch nicht geschadet. Nichts Ungewöhnliches; von diesen Läden gab es sicher ein Dutzend.
Dann muss ich mich möglicherweise irren. Vielleicht war ich vorhin zu tief in meinen Gedanken versunken und habe gar nicht bemerkt, wie ich einen anderen Weg eingeschlagen habe. Schließlich bin ich neu in der Stadt. Ich muss mich einfach in der Straße irren.
Aber im Grunde ihres Herzens weiß sie, dass sie sich niemals verläuft. Sie trägt einen inneren Kompass und liebt es zu navigieren. Ihrem Mann hat sie in ihren gemeinsamen Urlauben keine Chance gelassen, je eine Route zu planen. Ja, sie hat ihn schier wahnsinnig gemacht, da er selbst gern das letzte Wort behielt. Stets war sie mit Land- oder Stadtkarte in der Hand zielsicher vorausgegangen.
Gerade als sie auf dem Absatz wieder kehrt machen will, hört sie ein süßes Säuseln im Wind, dass sie zum Bleiben auffordert. Die morsche Tür öffnet sich mit leisem Knirschen um einen dunklen Spalt breit. Ein schön verzierter Löwenkopf mit schwerem Eisenring im durch lockige Zotteln umrahmten Maul grinst sie an.
Hundertvierundzwanzig, hundertfünfundzwanzig, hundertsechsundzwanzig..." Noah zählt wieder einmal die winzigen blauen Blüten der vergilbten, hier und da zerschlissenen Tapete seines kleinen Zimmers - oder sollte er vielleicht besser Zelle sagen?
Viel Abwechslung wird ihm nicht geboten, weshalb die Tage grauenvoll langsam an ihm vorüberziehen, gleich einem Stalagmit einer Tropfsteinhöhle, welcher Jahrhunderte benötigt, um in einer beachtlichen Größe aus dem Boden emporzuwachsen. Ähnlich mühsam, so kommt es Noah zumindest vor, kriechen die Minuten und Stunden an ihm vorbei. Tröpfchen für Tröpfchen. Millimeter für Millimeter. Minute für Minute.
Anfangs hatte er sich vorgenommen für jeden Tag, den er hier verbringen sollte, einen Strich in die Tapete zu ritzen. Die ist ohnehin in einem miserablen Zustand. Und eine Art Kalender würde ihm sicherlich helfen, sich zu orientieren. Dieses einfache Unterfangen stellt sich jedoch schwieriger als erwartet heraus. Wann ist der Tag zu Ende und wann beginnt ein neuer? Wann ist es dunkel und wann hell? Solche Fragen waren damals von Bedeutung, heute sind sie überflüssig geworden. Wenn er Lust hat, legt er sich schlafen und löscht zuvor das Licht durch den Lichtschalter. Immerhin gibt es Elektrizität. Und wenn er wach wird, ist eben Morgen. Es spielt keine Rolle. Kein Fenster kann ihm den Verlauf der Sonne am Himmel verraten oder den kühlen nächtlichen Mond zeigen. Wie gerne würde er einmal nach draußen in die weite Ferne sehen. Er vermisst die strahlende Sonne, ihre Auf- und Untergänge, den blauen Himmel, die Bäume, sogar den Großstadtlärm, einfach alles - selbst seine nervige Schwester Lina.
Nur in seinen Träumen kann er völlig frei sein. Noah springt dann über saftige, vom feuchten Tau überzogene Wiesen, deren flüsternde Grashalme seine nackten Fußsohlen streicheln. Liebt und streitet leidenschaftlich wie ein Casanova. Fliegt mit dem Wind so hoch es geht, um die wunderschöne große Welt ganz klein von oben zu betrachten. Winzige Menschen tummeln sich wie emsige Ameisen, kleine bunte Spielzeugautos fahren auf Ministraßen und Bäume schließen sich zu verschlungenen, finsteren Wäldern zusammen. Wie sehr hat er diesen Anblick früher geliebt.
Als Noah zehn Jahre alt war, war es für ihn eine bereits beschlossene Sache: Wenn ich einmal groß bin, werde ich Pilot! Das Flugzeug war vor dem Feuerwehrauto sein liebstes Spielzeug. Er besaß nicht nur einen Jumbo-Jet und einen Hubschrauber, auch Kampfjets und sogar einen Zeppelin. Lange Zeit war Dumbo, der kleine fliegende Elefant, zu seinem absoluten Lieblingsbuch auserkoren. Todesmutig stürzte er sich mit wedelnden Händen hinter den Ohren – ganz wie Dumbo mit den Riesenohren – vom Sofa auf eine ausgelegte Matratze am Boden. Zum Fliegen wird man geboren, so lautet das Motto unter den auserlesenen Flugschülern. Sein Herzenswunsch veranlasste ihn, während der Oberstufe die Arschbacken fest zusammenzukneifen, um diesen Traum tatsächlich Wirklichkeit werden zu lassen. Als Jüngster von fünf Kindern wollte er es besser als all die anderen machen und wusste stets sich durchzusetzen. Er paukte, wenn es sein musste, die Nacht vor den Schulprüfungen durch. Trotzdem hatte er am Morgen danach stets ein verschmitztes Lächeln für seine Mitschüler auf Lager und mimte den perfekten Klassenclown. Eine schnelle Auffassungsgabe und seine Vorliebe für Mathematik und Physik bescherten ihm gute Noten auf dem Zeugnis. Er gehörte zu der Sorte Schüler, welche die anderen stets beneideten, da ihm das Wissen wie klebriger Honig fest in den Gehirnwindungen sitzen blieb, nachdem er dieses zum ersten Mal gehört hatte. Ein mühsames Auswendiglernen war nicht nötig. Nach dem Abschluss ließ er sich ein Jahr Zeit, um die horrenden Summen, die für eine Fluglizenz erbracht werden müssen, aufzutreiben. Tagsüber jobbte er als Tankwart und nachts als Barkeeper in einer kleinen Diskothek. Nach mehreren Wochen zermarterte er sich das Hirn. Ihm blieb kaum Zeit zum Schlafen. Dunkle Augenringe zeichneten sich bereits ab und genug Geld konnte er trotz zweier Jobs niemals in einem Jahr zusammenbringen. Viel Geld hatten seine Eltern, Omas und Opas nicht für seine Ausbildung ansparen können. Seine Geschwister waren leider früher als er an der Reihe gewesen, da blieben nur noch ein paar jämmerliche Krumen vom ganzen Kuchen übrig. Wie konnte er dennoch erreichen, allen zu beweisen, dass er nicht nur ein Träumer war?
Seine vier Jahre ältere Schwester Lina hatte ihn immer gern aufgezogen. Sie wusste um sein aufbrausendes Temperament Bescheid und wie schwer es manch einem Lehrer mit seiner herausfordernden Aufmüpfigkeit erging. Autorität ist ein echtes Problem für Noah. Er lässt sich nie gerne vorschreiben, wie er etwas zu tun hat. Lieber selber auf die Schnauze fallen, als einen gut gemeinten Rat anzunehmen, ist eher seine Devise. Umso weniger verblüfft war Lina, als ihr kleiner Bruder eines Tages früher von seinem Job bei der Tankstelle nach Hause kam. Nach seinem energischen Auftreten und den geballten Fäusten in den Hosentaschen zu urteilen, muss Einiges bei der Arbeit schiefgelaufen sein. Lina blieb cool, denn sie war diese Ausraster gewöhnt. Mit zerzaustem Haar und wütendem Blick setzte er sich mit einem ohrenbetäubenden Rums an den Küchentisch und begann lauthals über seinen ehemaligen Arbeitgeber zu lästern.
„Du glaubst ja nicht, was für ein Vollidiot der alte Jürgen ist. Der denkt wohl, er könnte mich verarschen! Mit mir aber nicht! Dreckspisser!"
Lina saß über ihrer Lektüre 'Anatomie und Physiologie der Haustiere' gebeugt da. Die Lippen geschürzt, stieß sie genervt die Luft ruckartig aus ihrer Lunge aus. Ihr giftiger Blick verhieß nichts Gutes. Sie war vertieft beim Lernen für ihre nächste Uniprüfung, bevor ihr Bruder durch die Tür gepoltert kam. „Ist ja klar, dass du wieder so einen Krach machst und keine Rücksicht auf andere nimmst! Was hast du nun schon wieder angestellt? Hat der Jürgen dich wegen unheilbarer Starrsinnigkeit entlassen oder kamst du mal wieder zu spät?"
Er begann zu protestieren: „Du weißt es wohl wieder besser, was? Aber glaub mir, diesmal hatte ich die Nase gestrichen voll!"
Lina schüttelte den Kopf. „Es gibt aber auch immer was zu meckern für dich! Wie willst du denn mal ernsthaft arbeiten? Du musst dir eingestehen, dass du ein echtes Problem mit Autorität hast."
Noahs Gesicht entflammte zu einem purpurroten Hitzemeer, seine Zunge überschlug sich beim Herausschleudern unzähliger Schimpfwörter: „Wenn der alte Sack von Besserwisser dich so herumschubsen würde, wollt ich mal sehen wie lange du das aushältst. Meine Raucherpausen zieht der Geizhals mir von der Mittagspause ab. Dann erfindet der Arsch ständig neue Vorschriften. Ich soll doch tatsächlich nach 19 Uhr keine Würstchen mehr aufbrühen. Wenn aber eben einer später kommt und noch Bock auf ne Wurst hat, warum nicht? Kann er gern von mir haben. Der Affenarsch führt sich wie King Kong auf. Der kann mich mal!"
„Du hast doch nicht wegen einer lächerlichen Wurst gekündigt?" Doch Lina kennt ihren Bruder nur zu gut, um die Antwort bereits zu wissen.
„Genau genommen wegen zwei! Hatte mir noch eine für den Nachhause-Weg aufgehoben. Sollte der Jürgen gar nicht mitbekommen. Sonst hätt ich die zwei Würstchen wegschmeißen müssen. Nach Vorschrift! War über die Zeit drüber. So ne Verschwendung! Anderswo verhungern sie und der Wichser von Besserwisser schmeißt se lieber in die Tonne."
„Und wie willst du dann die Kohle für die Flugschule ranschaffen?" Linas Stimme hatte einen gemäßigteren Ton angenommen. Sie weiß um seine empfindlichen Stellen und dass sie diese Knöpfe nur nicht zu doll drücken durfte, wenn sie eine Katastrophe umschiffen wollte.
„Wenn der glaubt, dass ich angekrochen komme und ihn nochmal um einen Job anflehe, hat der sich geschnitten. Mir wird schon was einfallen. Verdammter Arsch mit Ohren!"
„Einfälle hast du ja genug, Brüderchen!"
Dabei kniff sie ihn spöttisch in die Seite, völlig im Bewusstsein, dass er es gar nicht leiden konnte. Missgelaunt stolperte er in sein Zimmer, schlug die Tür mit Donnergetöse hinter sich zu und fiel rücklings ins Bett.
Sieh es positiv! Du bist zu Größerem berufen, als diesem Sackgesicht von Jürgen den Arsch zu küssen. Dir wird schon was einfallen!
Und das tat es auch. Nachts darauf hinterm Bartresen sprach ihn ein pubertierendes Mädel mit Pickeln am Kinn, aber ansonsten schönen Gesichtszügen und wallender, langer Mähne an. Das Haar blond gefärbt, wie es modern war, jedoch etwas im Farbton vergriffen, sahen die Strähnen eher pissgelb anstatt eines natürlichem Blondton aus. Ihre kleinen Brüste hatte sie in einen engen Push-up-BH gepresst, umhüllt von einem noch engerem Top, welches nur von Damen ohne jeglichen Bauchspeck stilsicher getragen werden konnte. Und sie konnte es. „Haste mal was zum Rauchen?"
„Sorry, meine Kippen sind grad leer. Kann ich dir einen Drink anbieten?" Wie ist die Kleine nur hier herein gekommen? Die kann doch grad erst 15 Jahre alt sein. Vielleicht kennt sie den Türsteher. Gerit vom Sicherheitspersonal hat eine Vorliebe für 'junge Dinger', wie er sie nannte. Das Mädel beugte sich noch weiter zu ihm vor, sodass keiner ihr Gespräch mitverfolgen konnte und Noah einen tiefen Einblick in ihr arrangiertes Dekolleté erhaschen konnte.
„Ne, ob du was zu kiffen hast?"
Noah lachte angesichts der ungenierten Ansprache. Mutig war die Kleine.
„Hey Süße, ich lass dich in meiner Pause mal ziehn. Hab mir zu Hause einen vorgekurbelt. Mehr gibt es nicht."
Von da an erkannte Noah sein großes Potenzial als Angestellter in einer abgewrackten kleinen Diskothek am Rande der eintönigen Eifellandschaft, spezialisiert auf lernfaule Studenten, partylaunige Oberschüler und durstige Azubis, die einem Joint nicht abgeneigt waren, gleich doppelt abzusahnen. Er wusste, wo er den Stoff günstig besorgen konnte und er wusste, wie er es gewinnbringend Weiterverkaufen konnte. Sein Job an der Bar erwies sich als wahre Goldgrube. Bald war er berühmt-berüchtigt in der Kifferszene. Bereits in seiner Schulzeit hatte er des Öfteren mit seinen Kumpels hinterm Sportplatz im Gebüsch einen durchgezogen. Schief gewickelte Tüten wechselten rasch zwischen gierigen Fingern den Besitzer. High ließ es sich manchmal besser lernen und die Launen der Lehrer ertragen. Nach anfänglichen Ausschweifungen mit Partys und täglichen Treffs hinterm Sportplatz bemerkte Noah schnell, wie seine Noten in den Keller rutschten und er den Boden unter den Füßen verlor. Das Ticket zum Leben als suchtkranker Arbeitsloser mit vorgealtertem, nervösem Antlitz und zuckenden Augenlidern war in greifbare Nähe gerückt. Einige seiner Kifferkollegen bekamen die Kurve nicht mehr und versanken im tiefen, nebelschwadenverhangenen Sumpf ihrer schleierhaften Sinne, immer auf der Suche nach der nächsten hereinbrechenden Ekstase. Noah fühlte sich zu Höherem berufen und gab seinen Traum vom Fliegen für den süßen Rausch nicht auf. Er brachte sich unter Kontrolle, konsumierte nur gelegentlich, meist wochenends. Sein Geldbeutel sollte es ihm danken.
Zwar konnte ihm die neue Arbeitsstelle hinter dem Bartresen, so nah am feierfreudigen Partyvolk, gefährlich werden, doch wenn Noah einmal angebissen hatte, ließ er nicht mehr locker. Lina machte sich darüber immer lustig und meinte nur, dass er mit dem Kopf durch die Wand laufen wolle. Seine angeborene Protesthaltung und die kindliche Traumvorstellung Pilot zu sein, war zu etwas greifbar Realem in seinem Kopf herangewachsen. Die heraufbeschworene Blase war zu groß, um sie einfach platzen zu lassen. Er wusste, dass er ein paar Wochen vor den Aufnahmetests clean sein musste, um den glücklichen Sprung ins Cockpit hineinzuschaffen. Aber das konnte zu seiner Anfangszeit als Barkeeper noch ein Weilchen warten. Seine Kehle war trocken und sein Hirn in Wartestellung auf den nächsten Kick.
Noah schwelgt gerne in Erinnerungen. Diese reißen traurige Löcher in seine leere Gegenwart und doch sind sie das Einzige, was ihm noch in seinem bemitleidenswerten Alltag geblieben ist. Quasi eine Schutzhülle, welche ihn täglich stärkt, ihn weiterkämpfen lässt. Sein Schlüssel zur Freiheit. Denn nur durch sein Gedächtnis kann er bleiben, wer er ist: Noah Allenstein. Wie lange kann er sich an sein kontemporäres Ich noch festklammem? Wie soll er seinen Willen nachhaltig aufrechterhalten, ohne vor ES auf die Knie zu fallen und endlich um Gnade zu winseln? Darauf weiß er keine Antwort. Noah hat Zeit darüber nachzudenken. Zu viel Zeit.
Augenblicklich erschrickt Memo fürchterlich. Der Schatten hinter der Tür nimmt ihr wohlbekannte Formen an. Da steht tatsächlich ihre geliebte Oma Irene mit frischem, rosigem Teint wie damals, als sie noch klein und die Großmutter gut bei Kräften war. Bevor sie noch eine Sekunde darüber nachdenken kann, schießt es aus ihr heraus: „Das kann nicht sein. Ich habe dich tot gesehen!"
Ein mildes Lächeln umspielt die blassen Lippen der alten Dame. Plötzlich sieht sie Memos Großmutter kaum noch ähnlich. Sogar kein bisschen ähnlich. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich auf den albernen Gedanken kam. Hat mein Gehirn mir etwa noch einen Streich gespielt? Der Duft und die hochgekommenen Erinnerungen haben mich wohl aus der Bahn geworfen. Anders ist es nicht zu erklären.
„Hallo junge Frau. Ich fühle mich ganz lebendig, das können Sie mir glauben. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? Sie sehen ganz verschreckt aus, Sie armes Ding, als wenn Sie ein Gespenst gesehen hätten." Dabei fängt die Greisin an, wie ein Pferd zu wiehern, so als hätte sie einen besonders guten Witz gerissen. Wenn sie nicht einen so munteren Charakter ausstrahlen würde, wäre Memo möglicherweise vollends irritiert gewesen. Doch Memo liebt alte Damen. Schließlich ist sie selbst nach dem frühen Tod ihrer Eltern von einer großgezogen worden. „Tut mir leid", hört sie sich von weit weg sagen, „Sie erinnern mich an meine Oma. Die ist vor fünf Jahren gestorben." „Das macht doch nichts, Schätzchen! Kann ich Ihnen vielleicht eine Tasse Tee zur Beruhigung anbieten?"
Eigentlich bin ich auf dem Weg zum Einkaufen und habe es eilig.
Memos beste Freundin Lea sitzt im Zug geradewegs zu ihrer alten Schulfreundin. In vier Stunden soll sie ihren Zielbahnhof erreichen. Memo will ihr Lieblingsessen, Lasagne mit Frischkäse, zubereiten und benötigt hierfür noch ein paar Dinge aus dem Supermarkt. Seit der 5. Klasse sind die Beiden unzertrennlich. Leas forsche Art und Memos geübte Zurückhaltung verschmolzen zu einer Art Symbiose. Lea hatte einige Tricks auf Lager, während Memo allzu oft Schmiere stehen musste; da keiner in ihrem zarten Engelsgesicht etwas Bedrohliches sah, konnte Lea gleichzeitig allerlei Dummheiten in die Tat umsetzen.
Gelegentlich nutzte Lea die Großzügigkeit Memos Großmutter aus. Stahl Süßigkeiten in lustig, farbenfroh bedrucktem Papier aus der geheimen Schachtel, oben auf der Küchenzeilenablage oder überredete sie geschickt dazu, so viele Geschichten wie sie nur hören wollten, vorzulesen. So kam es auch, dass Lea häufig bei ihrer Freundin übernachtete. Sie mochte die Herzlichkeit, welche Oma Irene und ihr kleines gemütliches Häuschen ausstrahlten. Und doch konnte sie es nicht lassen, ihre freche und eloquente Begabung der Trickserei zu nutzen. Nach einiger Zeit wusste sie genau, welchen Ton sie bei der alten Dame anschlagen musste, um noch eine Kugel Eis oder eine längere Fernsehzeit herauszuhandeln. Ihre eigenen Eltern hingegen waren sehr strenge Kirchengänger. Sie bestanden auf eine konservative, alteingestaubte Erziehung ihrer drei Kinder, ohne Extrawurst und Kuschelkurs. Andererseits war Lea nicht auf den Kopf gefallen und wusste, wie sie sich in familiären Situationen zu geben hatte. Dort spielte sie die perfekt erzogene, brave Pfarrerstochter.
Memo hingegen ist anfänglich etwas schüchtern. Sie braucht eine gewisse Eingewöhnungsphase, um dann voll aufzudrehen. Sie war nicht gerade die Beliebteste in ihrer Klassengemeinschaft gewesen. Wenn sie sich an der Wand entlang zu ihrem Sitzplatz drückte, tuschelten fiese Mitschüler mit gesenkten Köpfen über sie. Darüber, dass ihre Oma eine Hexe ist und sie ebenso eine werden wird. Lauter Blödsinn, den eh niemand glaubte, der aber unglaublich verletzend war. Irgendwie hat sie sich immer schon so gefühlt, als wäre sie von einem anderen Stern. Eben anders wie die Anderen. Dabei soll das keineswegs überheblich klingen. Sie hing oft in ihren Gedankensträngen, gleich einer Endlosschleife, fest und wünschte sich doch so sehr, wie die Anderen zu sein. Nach der Pubertät begriff Memo, wie dumm sie gewesen sein musste und erkannte ihre Stärke in ihrer Eigenartigkeit. Sie liebt Theater, sie liebt zu tanzen nach eigener Choreografie und sie liebt es stets mit sich selbst zu reden. Eine seltsame Angewohnheit, welche oft böse Witze nach sich zieht. Doch mit Lea an ihrer Seite fühlt sie sich existenziell. Plötzlich war sie eine signifikante Persönlichkeit, zumindest für Lea. Und Lea weiß immer Kontra zu geben.
Eine schlechte Nacht und wuseliges, zielloses Umherlaufen bestätigen Memos Ungeduld und nicht auszuhaltende Vorfreude über ihre baldige Ankunft. Seit nun sechs Monaten hatten sie sich nicht mehr in die Arme schließen können. Lea war im Ausland unterwegs und hatte bestimmt eine ganze Menge an unfassbaren Stories zu erzählen und massenhaft Fotos vorzuzeigen. Ein kleines gelbes Post-it mit fein säuberlich aufgeschriebener Uhrzeit und Gleisnummer schlummert wohl verstaut in ihrer Mantelinnentasche. Die kleine Meira hat ein schiefes Mondgesicht mit Küsschen auf die Rückseite gemalt. Papa Hendrik und sie hatten am Vorabend am kleinen Kindertisch – Henri pflegt immer Zwergentisch zu sagen - gesessen. Sie mit hochkonzentrierter Mimik, die Stirnfalten, falls es bei glatter Kinderhaut überhaupt möglich ist, gekräuselt und immer wieder 'Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht' vor sich hin gesungen und gezeichnet. Vater und Tochter gaben sich wiederholt metaphorisch einen Kuss, indem sie ein kleines X auf den Mund malten. Kein Blatt und keine Wand sind vor der Kreativität der Dreijährigen sicher. So schnappte sie sich an diesem Morgen das gelbleuchtende Post-it und verschönerte es freudestrahlend für ihre Mama. „Küsschen für Mami", plapperte die Kleine in ihrer sorglosen hellen Stimme vor sich hin. Memo nahm sie auf ihren Schoß, gab ihr einen Kuss auf die kühle Stirn und zog sie dicht an sich heran. „Ich liebe dich, mein Schatz. Jetzt geht's aber los zum Kindergarten. Deine Freunde warten doch auf dich. Und heute Abend kommt Tante Lea zu Besuch. Dann gibt es eine kleine Party." „Au ja, ich liebe Party. Ich tanze mit Mami!" Memo strich ihr lachend die Haare aus der Stirn und nickte zustimmend.
Dieser zuckrige Moment ist nun genau eineinhalb Stunden her. Jetzt steht sie verwirrt vor einer alten Dame, die in ein vornehmes dunkellila-farbiges Kleid mit abgesetzter Häkelspitze gehüllt ist. Ihre grünen wachen Augen mustern sie interessiert und lassen ihr Gegenüber keine Sekunde unbeobachtet. Trotz fortgeschrittenen Alters keine Spur von Demenz oder spröder Senilität. Um ihren dünnen, faltigen Hals schlängelt sich eine hübsche Goldkette mit glänzendem, schwerem Schlüsselanhänger. Ihre fleckigen Finger hingegen sind unberingt, lang und dürr. Pianistenfinger. Ihr schmales Gesicht ist von einer dünnen durchschimmernden, leicht gelblichen Haut überzogen. Eine Warze direkt am unteren rechten Kieferknochen verleiht ihr einen unverkennbaren Charakter. Ungeachtet ihrer Altersmale erkennt Memo, wie überdurchschnittlich schön sie in ihren besten Jahren wohl gewesen sein muss. Ihre weißen Haare trägt sie für ihr Alter gewagt lang, zu einem akkuraten Zopf geflochten.
Seltsamerweise hört Memo sich mit fremder Stimme sagen: „Ich komme gerne kurz herein. Sie haben nicht zufälligerweise Pfefferminztee? Ich dachte, ich hätte beim Vorbeilaufen etwas gerochen." Memo kommt sich willenlos vor, als würde eine unsichtbare Hand sie über die Türschwelle schieben. Sie spürt zwar, wie ihr Unterkörper einen Schritt nach vorne vollzieht, jedoch ohne den Befehl dazu erteilt zu haben. Betrachtet die absonderlich anmutende Situation, ohne dass ihre Nervenzellen Alarm im Unterbewusstsein schlagen. Alles scheint OK zu sein. So friedlich wie der Händedruck des Dalai Lama. Die schwere eisenbeschlagene Tür schließt sich mit einem Knall, ganz so als hätte die magere alte Frau eine erstaunliche Kraft in ihren schlaffen Armen entwickelt. Daraufhin redet sie weiter auf Memo ein: „Das Prunkstück des Hauses ist ein riesiges Gewächshaus im Innern, mit allerlei Pflanzenzüchtungen. Die Pfefferminze ist mir persönlich am liebsten. Allerdings geht mir die Arbeit immer schwerer von der Hand."
„Wohnen Sie ganz alleine hier?"
„Ja und nein. Ich habe jeden Tag liebe Menschen um mich, die sich um mich kümmern. Sie glauben ja nicht, was für eine Arbeit dieses Haus mit sich bringt. Außerdem bin ich nicht gerne allein. Wer ist das schon?" Ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelt es wie aus einem lavaspuckenden Vulkan aus ihr heraus: „Ich habe sehr viele Verwandte und manchmal nette Gäste aus der Nachbarschaft. In meinem Alter kennt man eine Menge Leute. Gerade dieses Wochenende feiern wir meinen Geburtstag. Einige aus meiner Familie sind bereits angereist. Wahrscheinlich warten sie nur darauf, dass ich endlich ins Gras beiße und sie dieses schöne Fleckchen Erde an den Höchstbietenden verhökern können. Was meinen Sie nur, wie viel dieses Grundstück im Herzen der Stadt heute an Wert besitzen dürfte? Alles Aasgeier!... Aber wie gesagt, ich kann schlecht alleine sein. Drum nutze ich meinen Vorteil, solange wie es geht. Mein Name ist übrigens Lethe. Nenn mich Lilly, Schätzchen."
Memo weiß nicht Recht, was sie darauf antworten soll. Vielleicht ist die Frau einfach nur froh, mal jemand um sich zu haben, der möglicherweise nicht nach ihrem Erbe trachtet. Vertrauenswürdig nimmt sie die schüchterne Memo an der Hand, so als würden sie sich bereits Jahre kennen und führt sie eine steinerne breite Treppe rauf.
Irgendwas in Memo sträubt sich gegen die ausstrahlende widerliche Kälte die Lethes Hand auf ihrer, gleich einem eisigen Abdruck, hinterlässt. Ein erstickter Schrei steckt in ihrer stummen Kehle fest. Er will ihr befehlen, ihren Hintern sofort wieder zur Tür hinauszubewegen, als wäre etwas Gefährliches im Gange. Memo unterdrückt das unwohle Warnsignal und folgt ihr brav.
Was soll schon passieren? Ein bisschen Tee trinken und dieser alten, im Herzen einsamen Frau einen Gefallen tun. Jeden Tag eine gute Tat. Mein Besuch kann noch warten.
Lethe scheint wie auf Wolken über die Stufen der Marmortreppe zu schweben. Der lange Saum ihres samtenen Gewands lässt keinen Blick auf ihre Füße zu. Ihre Bewegungen sind gespenstisch, von fließender Anmut und sehr unerwartet für eine gealterte Frau. Sie gerät nicht einmal ins Stocken, um nach Luft zu ringen oder stolpert gar über ihren unfassbar langen Saum. Majestätisch gleitet sie hinauf, ihre neue Eroberung im Schlepptau.
Dies alles nimmt Memo nicht einmal wahr, wieder ist sie in ihren Gedankenströmen versunken. Oder ertrunken? Geistesabwesend denkt sie an Meira, wie ihre winzige Patschehand ihr zugewunken hat, als sie den Kindergarten verließ. Wie könnte ich nur je dieses süße kleine Gesicht mit den großen Strahleaugen vergessen? Memo wird sich wundern, was sie alles vergessen kann.
Oben am Treppenabsatz angekommen, öffnet sich eine neue Welt aus Luxus und gigantischen Dimensionen. Memo begreift, wie pompös das von außen verkommene Haus von innen tatsächlich ist.
Ich komme mir wie eine Prinzessin in einem verwunschenen Märchenschloss vor. Meine Güte, muss die Alte reich sein. Kein Wunder, dass ihre Verwandten ihr Honig um den Mund schmieren.
Völlig erschlagen von dem barocken Panorama, das sich ihr bietet, realisiert sie ihre opulente Umgebung. Lässt ihren Blick die marmorweiß strahlende Treppe herunter, über die farbigen hohen Wände und riesigen Fenster schweifen, eine Hand in Lethes geschmiegt. So stehen sie da und schweigen für eine Weile.
Die Decke wirkt zu weit entfernt, so als würde sie auf Wolken im Himmel schweben. Ein großer funkelnder Kronleuchter, dessen zierliche Glasperlenschnüre ihn wie glänzende Tränen einhüllen, hängt über den Treppenstufen herab. Tausend kleine Perlen glitzern gleich tanzender Wassertröpfchen im Licht. Das Außengewand der aufwendig bemalten Zimmerdecke ist mit wunderschöner Freskenmalerei altgriechischer Mythen geschmückt. Die Sage des berühmten Helden Theseus überspannt den Raum wie einen mythischen Baldachin. Im Mittelpunkt ist das weltbekannte Labyrinth des Minotaurus mit seinen verworrenen Wegen dargestellt. Hinterhältig hat der tugendhafte Held sich dem schrecklichen Bewohner, einem Mischwesen aus halb Mensch und halb Stier, genähert. Jener erschlägt dieses Monster furchtlos und rettet sich mit Hilfe eines gespannten, roten Wollfadens, ein Geschenk der schönen Geliebten Ariadne, aus dem Gefängnis. Viele Menschenopfer hat das grässliche Mischwesen zuvor verschlungen; die blutigen Taten sind auf einem kleineren Wandbild neben dem Labyrinth zu sehen. Einzelne Gliedmaßen ragen aus dem weitgeöffneten Höllenschlund des blutverschmierten Stierkopfes hinaus. Ein unvermeidbarer Schauer läuft Memo übers zarte Gemüt. Sie wankt leicht hin und her, so als wolle sie diese Mordgeschichte von sich abschütteln. Beinahe kann ich sehen, wie die Beine und Arme hin und her zappeln und sich immer noch wehren. Ich bin einfach zu anfällig für solche Gruselgeschichten.
Kleine nette Putten flankieren mit ihren dicken beflügelten Leibern die Gemälde an den vergoldeten Rändern. Ihr rosiger Teint in Kombination mit neckischem Blick, der nichts als Schabernack vermuten lässt und den niedlichen blonden Korkenzieherlocken kontrastiert mit der unheimlichen Kulisse, die sie einrahmen. Nur schwer können sich Memos anheftende Augen von den detailgetreuen Gräueltaten lösen und gleiten nun an den monströsen Fenstern herunter. Die Scheiben sind mit schweren dunkelroten Samt-Vorhängen verhüllt, sodass kein Sonnenstrahl von außen eindringt. Dazwischen sind die Wände in hellem Grün mit goldenen, grazilen Leisten aus Stuck bemalt. Auf dem Fußboden erstreckt sich eine Jagdszene, nicht weniger prächtig als das Minotaurus-Labyrinth; gelegt in winzigen Mosaiksteinchen mit gejagten Füchsen und Wildschweinen. Das Grün der Bäume und der Jäger dominiert das Geschehen, spiegelt sich in vielen Farbnuancen wider. Verletzte Tiere liegen am Boden, teils getroffen von den Gewehrschüssen der Schützen, teils verdeckt von Bluthunden, die ihre Mäuler tief im dunkelroten Fleisch vergraben. Memo ist fasziniert von der opulenten und kunstvollen Schönheit des Vorraums und gleichzeitig angeekelt von der Vielzahl an brutalen Szenerien. Wie haben nur die kleinen Kinder, die mal hier gewohnt haben, nachts schlafen können? Sie erschaudert bei dem Gedanken an ihre Tochter Meira.
Lethe nickt zustimmend, ohne ihr bizarr fröhliches Lächeln dabei zu verlieren. „Als ich klein war, hatte ich eine Heidenangst vor den Bildern. Wenn man zu lange hinstarrt, ist es fast so, als könnte man sehen, wie sie sich bewegen."
Memo überlegt, ob sie eben gerade laut vor sich hin geredet hatte oder ob sie bloß insgeheim über die kindliche Furcht nachgedacht hatte. Sie ist sich da nicht mehr ganz sicher. Vielleicht hat die alte Dame auch meinen angewiderten Blick bemerkt. Sie scheint jedenfalls nicht von der langsamen Sorte zu sein.
Seltsamerweise grinst Lethe immer noch gut gelaunt, als wenn die Bilder ihr jetzt nichts mehr anhaben könnten oder sie sie gar für lächerlich erachtet. Beides ist möglich.
„Wir sollten den Tag nicht damit vertrödeln, hier auf der Treppe herumzulungern. Gib mir doch deinen Mantel, Schätzchen. Ich hänge ihn an die Garderobe."
Memo tut, wie ihr befohlen und reicht ihr den Mantel. Ihre Lieblingsjacke ist mit besonders vielen verspielten Details ausgestattet. Mehrere Taschen und ein kleines Geheimversteck, kaum sichtbar ins Innenfutter integriert, wurden nachträglich von ihr selbst eingenäht. Eine schmale gelbe Spitzenborte rundet den Lila-Walk-Mantel zum absoluten Hingucker ab. Sie hatte den Mantel billig im Internet erworben und mit ein paar Tricks hier und da an der Nähmaschine aufgepeppt. Er posaunt geradezu Memos einzigartig bunte Seele frei heraus.
Lethes dünne Finger nehmen den Mantel in Empfang. Während sie sich abwendet, um ihn aufzuhängen, gleitet eine Hand geräuschlos in jegliche Taschen und tastet sie in Sekundenschnelle nach Fundstücken ab. Papiertaschentücher, mehrere zerknitterte Einkaufslisten, Kleingeld, ein Lippenpflegestift, ein Mobiltelefon und einen dicken Geldbeutel, prall gefüllt mit allerlei Fotos und Karten, fliegen förmlich in ihre Hände. Jedoch übersehen sie das kleine Versteck im Innenfutter, welches das beschriebene gelbe Post-it sicher verwahrt. Ebenso flink und mühelos lässt sie die Dinge in den dunklen, geheimnisvollen Weiten ihres Kleidsaums verschwinden.
Memo hat indessen nichts von dem heimlichen Diebstahl bemerkt. „Ich heiße übrigens Memo." Sie holt tief Luft. „Sie haben ein sehr schönes Haus. Allerdings kann ich nicht lange bleiben, ich bin auf dem Weg zum Einkaufen und muss danach meine Tochter aus dem Kindergarten abholen."
So, das wäre geschafft. Ich habe meinen Standpunkt klar und deutlich vertreten.
Ohne auf die ernstgemeinte Ungeduld einzugehen, unterbreitet Lethe ihr ein Angebot: „Ein außergewöhnlicher Name. Ist mir in all den Jahren nicht einmal untergekommen. Wie wäre es, wenn ich dir erst mal mein Gewächshaus mit der Pfefferminze zeige und wir dann eine Kostprobe nehmen?" Ihr breites Lächeln und ihre energischen Augen fordern Memo auf, nicht zu widersprechen. „Komm, Schätzchen. Du wirst Augen machen!"
Wieder greifen die unglaublich langen, schmalen Finger nach ihr. Mit leichtem Nachdruck zupft die alte Frau an ihrem Unterarm und macht ihr so begreiflich eine kleine Drehung zu vollführen. Memos Augen weiten sich wie versprochen um einiges mehr, als sie den mittelalterlich dekorierten Flur erblickt. Ein besonderer Blickfang ist die schwere silberne Ritterrüstung am Ende des kirschroten Läufers. Sie hält ein Schild mit blau-gelben geometrischen Formen in der Linken und ein Langschwert in der Rechten. Buntgeknüpfte Teppiche alter Kriegs- und Bankettszenen säumen beide Flügel. Gewebte, ideenreiche Wimmelbilder, die stundenlanger Betrachtung standhalten können. Eine schön geschnitzte, hölzerne Truhe ruht an einer Wand, darauf ist ein goldener fünfarmiger Kerzenhalter platziert. Memo bemerkt, dass ihr Mund offen steht. Peinlich berührt angesichts ihres dämlichen Äußeren, schließt sie ihn. Überwältigt von dem Prunk vergisst sie, wo sie ist und spricht mehr zu sich selbst: „Sie wohnt so wunderschön hier. Die ganzen alten Sachen sind einfach nur beeindruckend. Der Wahnsinn!"
Lethe erkennt ihre ehrliche Bewunderung und nickt zustimmend. „Komm, Schätzchen. Es gibt so viel zu sehen." Linker Hand schiebt sie einen Riegel zur Seite und schwingt eine Tür auf. Dahinter verbirgt sich eine steinerne Wendeltreppe. Goldenes Licht kriecht gierig die Mauern empor.
„Hier einmal herunter und schon sind wir im Garten. Ich nenne es: Meine kleine Oase. Riechst du diesen himmlischen Duft?" Und tatsächlich ist die Atmosphäre wie auf Kommando mit einer unglaublichen Fülle an Gerüchen geschwängert. Citrus, Minze, Vanille, Jasmin, Veilchen, Honig, moosige und holzige Elemente. Jegliche Duftkomponenten scheinen in einem Farbwirrwarr vor ihrem inneren Auge zu pulsieren. Memo fühlt sich wie in Trance versetzt und der goldene Wendelgang hat ihre blanke Neugierde geweckt. Mal sehen, was die Alte da unten so alles hat. Vielleicht kann ich ja noch etwas lernen.
Bereits in jungen Jahren war Memo klar gewesen, dass für sie nur ein Job unter freiem Himmel in Frage kommt. Ihre Liebe zur Natur - wie sie es bereits als kleines Mädchen in Omas Garten hinterm Haus gespürt hatte - wurde zu ihrer Berufung. Als gelernte Landschaftsgärtnerin kennt sie sich gut im Einmaleins der Pflanzenkunde aus. Mit Oma Irene an ihrer Seite hatte sie bereits in Jugendjahren Geschick beim Gartenanbau beweisen können. Zu beobachten, wie aus einem kleinen Samenkorn ein zartes Pflänzchen und schließlich ein Gemüse, Strauch oder gar ein Baum wird, fand sie von Kindesbeinen an faszinierend. An der frischen Luft - egal ob bei Regen oder Schnee, Hitze oder Kälte - zu arbeiten, liegt in ihrem Naturell. Sie kann sich dabei ordentlich schmutzig machen, ohne dass es einen stört. Einfache Arbeitskleidung, einen Pferdeschwanz und allerlei praktische Gerätschaften gehören zu ihrer alltäglichen Grundausstattung. Sicherlich hätte sie sich in einem schicken Kostüm und Pumps an einem immer gleich währenden Büroschreibtisch sehr unwohl gefühlt; ständig umgeben von den gleichen Personen, die vermutlich aus purer Langeweile das Verhalten ihrer Kollegen studieren und ärgerliche Profile erstellen. Von dem Kinderkram wie zu Schulzeiten hatte sie die Nase gestrichen voll.
In ihrem Beruf als Landschaftsgärtnerin muss sie sich nicht verstellen und kann dabei ihrer Kreativität freien Lauf lassen. Jeder Kunde soll etwas Besonderes, ja Exquisites, nach Abgabe ihrer Arbeit erhalten, zugeschnitten auf dessen individuelle Wünsche. Gerne unterbreitet sie ihre Vorschläge, wobei sie den Auftraggeber oft genug überzeugen kann, ihr Talent auszuschöpfen, um einen kleinen Garten Eden zu schaffen. Wenn sie auch ansonsten einen stillen Charakter mit offenem Ohr für ihre Mitmenschen besitzt, geht es um die Gartenarbeit, blüht Memo wie eine seltene Rose auf und versprüht enthusiastisch ihre eigenen originellen Ideen, die sich bestenfalls wie ausufernde Wurzelstränge in den Gehirnen ihrer Kunden fest verankern und kunstvoll Gestalt annehmen. Ein seltener japanischer Strauch, eine Pflanze mit wechselnden Blütenfarben, eine Bananen-Kiwi-Ranke, um die Terrasse zu verschönern oder ein lebendiger Wasserlauf durch einen Steingarten. Asiatische Pflanzen sind ihr Spezialgebiet und ein Geheimtipp unter ihren Kollegen. Der Sieben-Söhne-des-Himmels-Strauch kann beispielsweise ohne Problem dem frostigen Klima Europas im Winter trotzen und beeindruckt mit seiner prächtigen weißen Blütenpracht jeden vorbeilaufenden Passanten. Nicht nur sein Duft ist betörend, sondern auch die bis in den November hinein ausgebildeten, rötlichen Fruchtdolden sind ein Fest für die Sinne. Es gibt so viele wunderbare Gewächse aus Fernost als Tee, Blume, Strauch oder Ziergehölz. Memo kann ihren unendlichen Wissensdurst und Tatendrang immer wieder aufs Neue stillen. Das krankhafte Verlangen des gut situierten Unternehmers sich vom Nachbargarten hervorzuheben, spielt ihr neue Auftraggeber in die Hände und Geld in die Kasse.
Auf wackligen Beinen folgt Memo Lethe die widerhallenden Stufen hinab. Ihr bereits vorhandenes Gefühlschaos wird durch die immer aufdringlicher werdenden Gerüche verstärkt. Eine Explosion an wabernden Eindrücken, die in sie eindringen und sie scheinbar umzuprogrammieren suchen. Es ist so, als würde sie an vieles gleichzeitig denken und irgendwie doch nicht existieren. Sie ist bloß ein winziges Staubkorn im schwarzen Tümpel der Unendlichkeit.
Wie kam ich doch gleich hierher? Ach ja, den Einkauf darf ich nicht vergessen. Lea wird hungrig von der Reise sein. Süße Meira, dich vergess ich natürlich nicht. Keine Sorge, Mami wird bald wieder bei dir sein.
Als sie unter dem malerischen Torbogen hervortritt, weiten sich ihre Augen fast schmerzhaft. Wenn ich dachte, dass vorhin war bereits der Kracher, dann habe ich mich geirrt.
„Das ist beeindruckender als alles andere, was ich bisher in meinen 28 Jahren sehen durfte", murmelt sie vor sich hin, ohne zu bemerken, es laut ausgesprochen zu haben. Vor ihnen öffnet sich die 'kleine Oase'. Paradies wäre nach Memos Wortschatz wohl die passendere Beschreibung gewesen. Soweit sie blicken kann, springen ihnen sattes Grün und blühende Landschaften in allen Farbnuancen entgegen. Überall rankt, sprosst und blüht es.
Palmenähnliche Bäume mit dunkellila Stämmen, scharfgezackten tannengrünen Blättern und üppig an weiß-rosa Blüten ragen hoch in den Himmel. Beunruhigend scharfkantig gleich einer Messerscheide blitzen die gezackten Blätterränder auf. Als müsste man Angst haben, sich bei minimalster Berührung in die Finger zu schneiden. Sehr seltsam. Lange gelbe Staubfäden hängen wie sabbernde Zungen aus den geöffneten Blütenkelchen, verteilen den Blütenstaub, der im hellen Lichtschimmer mehr kleinen goldenen Feen ähnlich sieht. Fein verästelte, schmale Ranken wickeln sich um die knotigen Stämme der seltsamen Palmenbäume, welche das Herzstück des Gartens bilden. Kleine Knospen öffnen sich hier und dort, silbern wie funkelnde Sterne verteilen sie sich über die Ranken der Schlingpflanzen. Farnähnliche Gewächse von riesigem Auswuchs bevölkern den Boden. Rispen mit kugeligen, leuchtend roten Früchten hängen wie zarte Juwelen herab. Memo kann sich kaum vorstellen, dass solche Früchte genießbar sind. Bestimmt sind die giftig!
Je ein angelegter Weg erstreckt sich rechter und linker Hand der mysteriösen Palmenbäume. Der linke ist mit saftig grünem, kurzgeschnittenem Gras bedeckt, er teilt eine herrlich schillernde Blumenwiese mit angrenzendem Obstgehölz vom restlichen Teil ab. Eine gigantisch aufgeblähte Duftwolke aus tausend Blütenkelchen verbreitet eine Harmonie für alle Sinne. Es ist, als würde eine wohlklingende Melodie Herz und Kopf in Einklang bringen, den ganzen Hass und das Böse auf dem Erdball entmündigen. Schmetterlinge aller Farben und Formen flattern engelsleise über die geweiteten Blumenmäuler hinweg, landen, um sich an dem süßen Nektar gütlich zu tun und stoßen sich federleicht wieder in die Lüfte. Orange-schwarz-gestreifte Bananen, pink gepunktete Erdbeeren und goldene Feigen schaffen eine lebendige Farbenmagie. Memos verträumter Blick gleitet an den Bananen herunter und bleibt auf einem kleinen Baum direkt daneben haften. Er ähnelt einem Walnussbaum, nur eben im Miniaturformat. Größer als ein Bonsai, aber erheblich kleiner als ein ausgewachsener Nussbaum werden kann. Allerdings wirken seine Früchte wenig appetitlich. Ovale, limettengrüne Kugelfrüchte füllen die Baumkrone. Einige sind bereits aufgeplatzt und geben ihr schwarzes fauliges Fruchtfleisch preis. Ihr Verwesungsgestank dämpft den Wohlgeruch der schönen Blüten. Memo verschließt angewidert die Augen. Als sie sich wagt, sie wieder zu öffnen und ihr Blick sich ein weiteres Mal auf die verschimmelten Schwarznüsse richtet, sind diese plötzlich unversehrt. Mit nervös hastenden Augen sucht sie den Baum erneut ab, doch alle Früchte sind sorgsam in grüner Schale verschlossen. Selbst der ekelerregende Geruch stört nicht mehr den einlullenden Gleichklang. Vermutlich ein Fantasiegebilde ihrer lebhaften Einbildungskraft.
Was ist hier nur los? Bin ich jetzt völlig neben der Spur? Wahrscheinlich träume ich und wache gleich durch Meiras Stimme auf. Mama aufstehen! Mama warum schläfst du?
Sie kann fast den warmen kindlichen Atem auf ihren Wangen und das Klingeln in ihren Ohren spüren. Einen kurzen Moment entgleitet ihr die Welt, aber Memo krallt sich an der Realität fest. Ihr Blick streift weiter über den Boden, zurück zu dem grasbewachsenen Gang, der nur durch runde vereinzelte Steinplatten erschlossen ist. Wachtelgroße Tiere huschen über die Erde, teilen flink die Grashalme, zu schnell um erkennen zu können, was es ist.
Nun fokussiert sie den rechten Weg, denn der ist aus durchsichtigem Glas. Darunter fließt gemächlich ein Bächlein aus kristallblauem Wasser. Zuerst glaubt Memo unter Drogen zu stehen, dann verengen sich ihre Pupillen und sie kann klar sehen: „Wow! Was für eine tolle Idee! Warum ist mir das bis jetzt nicht selbst eingefallen", flüstert sie leise und denkt dabei an ihr Aufgabenspektrum als Landschaftsgärtnerin.
„Du meinst wohl die gläserne Brücke? Sehr kostspielig, aber ich finde, es hat sich durchaus gelohnt. Wieso setzt du nicht mal einen Fuß darauf? Nur Mut!"
Erst zögerlich betritt Memo den lebendigen Fluss, ihre Neugierde geht als Sieger in dem Rennen um ihre Emotionen hervor. Sie fühlt sich beflügelt, als würde das Wasser all ihre schlechten Gefühle – ihre Ängste und Zweifel - hinfort tragen und nur das Schöne vermehren. „Was für eine Konstruktion und das helle Blau des Wassers erst! Es liegt eine blaue Folie darunter?"
Lethe grinst sie an: „Architektonische Details sind mir einerlei, es zählt das Ergebnis. Und das ist gut gelungen."
In wenigen Schritten spurtet die Greisin zielorientiert an ihr vorbei. Memo nimmt vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Sie ist so sehr von dem meeresblauen Bächlein hingerissen und gleichermaßen etwas verunsichert, scheinbar darüber zu fliegen, dass sie erst gar keine Notiz davon nimmt, welches Bild sich rechts der Brücke erstreckt. Ein zierliches Geländer, silberglänzend, schmiegt sich kühl an ihre Hand. Dies verleiht ihr einen festen Standpunkt und befreit ihre Körperhaltung aus dem engen Korsett. Rundgeschliffene große Steine säumen den Wasserlauf. Jenseits davon liegt ein Teich - wenn man das noch einen Teich nennen kann – und speist den Bach mit frischem Wasser. Der Teich, der gar keiner ist, sondern eher ein kleiner See, füllt das unfassbar große Gewächshaus bis zum Rand aus.
Meine Güte, dass mir das nicht gleich aufgefallen ist.
Memo umklammert das Geländer, um den gläsernen Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Soweit das Auge reicht, Wasser! Bäume mit geneigten Häuptern und ins Nasse eintauchender Arme schließen den Tümpel am Ende des Gartens ab. Farbenprächtige Papageien tummeln sich in den verschlungenen Geästen, nisten in Kolonien. Ihr Gekrächze und lautes Flügelschlagen erfüllen den Raum. Mannsgroße Seerosenblätter treiben ruhig auf der spiegelgleichen Wasseroberfläche. Ihre zarten, rosaroten Blütenblätter schimmern wie Feenpaläste im Licht der Sonne. Glitzernde goldene und silberne Fische tanzen in den Tiefen umher, einstweilen taucht einer auf, um den neuen Gast ehrgebietend zu begrüßen.
Abgelenkt von ihrer eigenen Verwunderung erkennt Memo zu spät, dass Lethe ihr einige Schritte voraus ist. Um nicht unhöflich zu sein, sputet Memo sich, trotz ihrer innerlichen Bedenken vor der Stabilität der gläsernen Brücke und hastet nun keuchend hinter der alten Frau her. Am Ende des Weges führt eine Treppe auf sicheren Steinboden. Ein schmaler hölzerner Steg führt von dort auf den offenen See.
Oder nein, dort scheint etwas im Wasser zu liegen. Für ein Boot ist es zu klein. Nein, es ist eins dieser riesigen Nymphaea-Blätter.
Eines der sonderbaren Seerosenblätter schwimmt wartend am Ende des Stegs. Lethe breitet die Arme in Richtung des hölzernen Weges aus: „Wie ich sehe, scheint es dir zu gefallen, Schätzchen. Du bist ja ganz aus dem Häuschen. Willst du dich vielleicht erst einmal setzen und tief durchatmen?"
Memo muss ihren gehetzten Atem erst einmal unter Kontrolle bringen und ihre durcheinander gewürfelten Gedanken sortieren. Eine ärgerliche Sache, die sie fortwährend begleitet, seit sie über den Pfefferminzgeruch gestolpert ist. Diese Sorgfältigkeit scheint Lethe nicht zu gefallen. Eine gekräuselte Oberlippe stellt ihre Abneigung offen zur Show. Als sie jedoch erkennt, wie Memo, aufgrund ihrer feinen Antennen für die Psyche ihrer Mitmenschen, darüber nachdenkt, legt sie ein freundlicheres Gesicht auf. Tiefe Furchen zieren die faltige Haut. Ihr ansteckendes Lächeln breitet sich von einer Wange zur nächsten aus und lässt Memo fürs erste ihre Unsicherheit vergessen. „Was meinen Sie mit setzen?", fragt sie irritiert, als sie sich einigermaßen gefangen hat.
„Nenn mich doch Lilly, Schätzchen! Lassen wir doch das alberne Sie. Wer weiß, ob wir morgen noch unter den Lebenden weilen."
Ein bisschen seltsam ist die Alte auf jeden Fall. Und Humor hat sie auch. Glaubt die wirklich, dass ich mich jetzt auf dieses dünne Blatt setze? Ich hab zwar ein paar Kilo abgenommen, leicht genug bin ich aber nicht, dass dieses Ding mich trägt.
„Ein bisschen Tapferkeit und Abenteuerlust hat hier noch keinem geschadet. Ich will es dir zeigen." Die Hausherrin eilt entschlossenen Schrittes an ihr vorbei, bis sie am Rand des Stegs angelangt ist.
„Warte Lethe, hast du das schon einmal gemacht?" Memo beginnt an ihrem gesunden Menschenverstand zu zweifeln, möglicherweise ist die alte Dame seniler als gedacht.
„Nenn mich Lilly, Schätzchen!", posaunt sie freudestrahlend zurück. Memo beeilt sich, um die verwirrte Greisin von ihrem gewagten Vorhaben abzubringen oder sie gegebenenfalls aus dem See zu fischen.
„Ok. Lilly. Trägt dieses dünne Blatt denn überhaupt das Gewicht eines Menschen?" Die Frage kommt ihr noch verrückter vor, als sie laut ausgesprochen über ihnen schwebt.
„Ach, junge unsichere Memo. Du musst mir vertrauen. Ich habe viele Male dort gesessen, dem Zwitschern der Vögel gelauscht und den Duft der Blumen gerochen. Es ist ganz wunderbar. Und so meditativ." Sie hält sich am Pfosten des Stegs fest und geht in die Sitzposition, die Füße über dem Wasser baumelnd, gleitet sie sehr elegant auf das kreisrunde Blatt. Amüsiert über die entgleiste Mimik ihres Besuchs, streckt sie Memo eine helfende Hand entgegen.
„Vielen Dank. Ich will es alleine schaffen."
Mit etwas weichen Knien sinkt Memo zum Boden des Stegs und rutscht bis zur Kante vor. Ihre Füße berühren nun die Oberseite des glatten Seerosenblattes. Ungelenk hält sie sich mit den Armen am Steg fest, dreht sich auf den Bauch, um vergleichsweise unschön, mit langsam in der Luft nach Halt tastendem Gesäß, schließlich glücklich aufzusetzen. Dabei hält sie ihre Augenlider fest zusammengekniffen und glaubt jeden Moment ins kühle Nass zu platschen. Ihr sicherheitsbedürftiger Charakter wird dabei hart auf die Probe gestellt. Und dennoch will sie sich beweisen, nicht hinter einer alten Dame zurückzustecken.
Nun versucht sie, sich krampfhaft irgendwo festzuhalten, bis sie schlussendlich feststellt, dass es da nichts gibt. Ihr unsanftes Aufsetzen schlägt kleine Wellen auf dem wispernden Wasser. Das Blatt schaukelt ungemütlich hin und her. Memo muss sich überwinden, nicht in Panik auszubrechen und zurück auf den Steg zu springen. Hilfe findet sie in ihren Gedanken, bei Lea. Wie immer, wenn sie in solche Situationen gelangt. Ihre tapfere Freundin gibt ihr im Geiste Mut.
Lea hätte das mit links gemacht und sich vor Lachen gekugelt über meinen komischen Anblick. Wenn sie das kann, kann ich das auch. Sieh nur zu, dass dir nicht schlecht wird.
„Na, also war doch gar nicht so schwer." Nach einer kleinen Kunstpause fährt Lethe ungerührt fort: „Die Adern auf der Blattunterseite sind stark verzweigt und besitzen luftgefüllte Kammern. Sie können schwere Lasten wie uns tragen. Ich habe diese sonderlichen Seerosengewächse auf einer meiner Amazonasreisen entdeckt. Victoria Amazonica, so ihre korrekte Bezeichnung."
„Haben Sie, ähm, hast du alle diese Pflanzen und Tiere etwa von Reisen mitgebracht?"
„Gewiss. Ich bin für mein Leben gern gereist. Kein Weg war zu weit und kein Berg zu hoch. Die großen Palmen sind von der Westküste Mittelafrikas, die Riesen-Perlfarne stammen aus Ecuador. Da ich heute zu alt und erschöpft für weite Reisen und Abenteuer bin, habe ich mir diese kleine Oase erschaffen. Hier bin ich immer überall in der Welt. Du darfst gerne die Früchte pflücken und probieren. Der Geschmack ist einzigartig, so exotisch, kaum zu beschreiben: Einfach himmlisch."
Sofort erscheint das plastische Bild der schimmligen Schwarznüsse auf Memos Kopfleinwand und der Gestank sticht ihr in die Nase. Es wird ihr flau im Magen – und dass nicht nur, weil sie droht seekrank zu werden. Sie weiß schon jetzt, dass sie dankend ablehnen wird. Für eine solch tollkühne Kostprobe ist sie einfach viel zu vorsichtig.
Ungehindert Memos Kopfkino berichtet Lethe weiter über ihre Weltreisen und ihre vielen Eroberungen, welche sie mit unzähligen Details ausschmückt. „Ich kann dir sagen, das waren damals andere Zeiten, Schätzchen. Als einzige Frau an einem Wüstenrennen neben guten Freunden des Scheichs teilzunehmen, erforderte eine gehörige Portion Durchsetzungskraft..." Bis sie schließlich zu einem interessanten Punkt kommt: „Manche der Exemplare, die du hier bestaunen kannst, hat mein liebenswürdiger Gärtner Wilhelm van Groeven weiterentwickelt. Er ist ein wahres Genie der Pflanzenzüchtung."
„Zu Schade, dass ich nicht genügend Zeit habe, den netten Herrn persönlich kennenzulernen. Ich könnte noch Einiges lernen."
„Oh, er ist gerade Gast in meinem Haus. Möglich, dass wir ihm über den Weg laufen und einen kurzen Plausch halten können. Ich sehe dir an der Nasenspitze an, dass dich dieses Thema sehr interessiert. Erzähl mir jetzt von dir, Schätzchen."
Dabei klingt ihr offenes Interesse mehr nach einem Befehl als nach einer Bitte. Memo schaut über das erstaunlich still daliegende Wasser. Tief unter der Oberfläche erblickt sie die glänzenden Fischlein, die im Kreis umherwirbeln, dabei ihre zerbrechlichen ellenlangen Schwanzflossen grazil wie Fächer auf und ab schwingen. Der Vergleich einer sich öffnenden und wieder schließenden Unterwasserblume erhellt Memos Vorstellung. Ihre Wangen beginnen zu glühen, als sie über ihre Berufung spricht: „Ich arbeite als Landschaftsgärtnerin. Ein Beruf, der einem körperlich mancherlei abverlangt, aber unglaublich zufriedenstellend ist. Diese Pflanzen sind atemberaubender als alles, was ich bisher gesehen habe. Ihr Paradiesgarten wird mir immer in Erinnerung bleiben und ein Beispiel für meine zukünftigen Arbeiten sein." Obwohl wahrscheinlich keiner meiner Kunden jemals so viel Geld aufbringen könnte, solch einen grünen Palast zu errichten.
Lethe nickt gerührt und errät Memos Eingebung: „Ich denke, dass heute kein Geldaristrokrat mehr Sinn für das Schöne im Leben hat, um sein Vermögen dafür herzugeben. Und andere Schöngeister können sich etwas Vergleichbares finanziell nicht leisten."
„Da haben Sie wohl Recht. Aber ein paar Ihrer herrlich duftenden Blumen und Ihrer neuen Obstzüchtungen wären ein Verkaufsschlager, wenn sie einen höheren Bekanntheitsgrad erreichen." Ohne zu erwähnen, dass immer mehr Kunden noch eine Schippe zum Nachbar drauflegen wollen an extravagantem Aussehen. Schon komisch, dass die meisten hinter ihren verschlossenen Türen langweilige Spießer sind. Aber auftrumpfen wollen sie alle.
Aber davon wollte Memo gar nicht erst anfangen zu erzählen. Ihr Job war die Gartenarbeit, alles andere ist Privatsache. Sie konnte verschwiegen wie ein Grab sein.
„Mein Spezialgebiet sind asiatische Pflanzenzüchtungen...", Memo gerät ins Schwärmen, ihre Zunge beginnt sich zu lockern und sie kann nicht mehr aufhören von den Neuentdeckungen zu schildern, welche sie in den letzten Jahren gemacht hat. Einmal ist sie sogar selbst mit Hendrik nach Japan geflogen. Es war ihre erste und einzige Reise außerhalb Europas, da sie ansonsten lieber mit beiden Beinen auf festem Erdboden steht und das Fliegen gar nicht liebt. Zu Hause in ihrem eigenen bescheidenen Garten fühlt sie sich am wohlsten. Ihr Mann und ihr Kind an der Seite, mit einem guten Tee in der Tasse. Gleichwohl hat sie eine ausgeprägte Neugier, gerade was neue ausländische Kreuzungen betrifft, kann sie davon nicht genug bekommen. Schließlich leben wir im 21. Jahrhundert und können fast alles per Mausklick im Internet vor die eigene Haustür bestellen. Sie erzählt gerade von ihrem letzten Auftrag, wo sie einen kleinen, aber eindrucksvollen Feng Shui Garten mit Buddha-Statue, verspieltem Wasserlauf und geschwungener Brücke kreieren durfte, als Lethe sie mit festem, durchdringenden Blick ansieht und sagt: „Ich danke dir meine Liebe für all das, was du mir gibst, ich fürchte nur, jetzt ist Zeit für meinen Tee!"