Die Türme von Eden - Alessandra Reß - E-Book

Die Türme von Eden E-Book

Alessandra Reß

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Beschreibung

"Du musst vor nichts mehr Angst haben. Angst braucht nur zu haben, wer allein in der Masse ist. Aber du bist nicht allein und es gibt keine Masse mehr. Nur mehr viele, irgendwann alle und vielleicht einen. Du bist jetzt ein Teil von Eden." Vierzehn Jahre nach der Flucht von seinem zerstörten Heimatplaneten nimmt der Spion Dante einen ungewöhnlichen Auftrag an: Er soll herausfinden, was hinter den Versprechungen der Liminalen steht. Immer wieder bringen deren Mitglieder Sterbende auf ihren Planeten Eden. Denn dort, so heißt es, soll den Menschen ein neues Leben als "Engel" ermöglicht werden. Um seine Aufgabe zu erfüllen, schließt sich Dante den Liminalen als Novize an. Doch sein Auftrag stellt sich bald als schwieriger heraus als gedacht: Um die Rätsel von Eden zu lösen, muss Dante in eine Welt eintauchen, in der Traum und Realität verschwimmen – und sich einer Vergangenheit stellen, die ihn stärker mit den übrigen Novizen verbindet, als er sich eingestehen will …

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Alessandra Reß

Die Türme von Eden

Reß, Alessandra: Die Türme von Eden, Hamburg,

Lindwurm Verlag 2020

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-948695-21-7

PDF-eBook: ISBN 978-3-948695-20-0

Print: ISBN 978-3-948695-19-4

Lektorat: Angellika Bünzel, Lektorat Bünzel

Satz: Flora Schöntaube, Lindwurm Verlag

Cover: © Annelie Lamers, Lindwurm Verlag

Covermotiv: Hintergrund & Struktur: pixabay.com

Innenillustration: von Sepia100 / stock.adobe.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

https://www.verlags-wg.de

_______________________________

© Lindwurm Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.lindwurm-verlag.de

Contents

Teil I – LEGBA

ABSCHIED

RÜCKKEHR

ENTSCHEIDUNG

ERKENNTNIS

RUINEN

HERZ

SEELEN

KONTROLLE

HEILUNG

Teil II – XIBALBA

STIMMEN

GEMEINSCHAFT

FURCHT

GEBOTE

UNGEDULD

PROPHEZEIUNG

GRENZGÄNGER

DELUS

MONDLICHT

VERRAT

BERICHT

DAPHNE

IRRLICHT

SIGNAL

NEOPHYT

Teil III – EDEN

METALL

WAHRHEITEN

ALABASTER

MINZE

WASSER

TRÄUME

ERINNERUNG

KANIWE

FALL

ENGEL

CYBERIA

EPILOG

GLOSSAR

Landmarks

Cover

TEIL I

LEGBA

KAPITEL 1

ABSCHIED

»Es ist Zeit.«

Keri nickte.

Die Besucher hatten dieses Mal darauf verzichtet, Aufsehen zu erregen. Zu zweit standen sie im Dunkeln vor der Eingangstür, ein Mann und eine Frau, ausnahmsweise nicht umgeben von der Traube neugieriger Gaffer, die ihresgleichen sonst auf Schritt und Tritt folgte. Ihre Uniformen verbargen sie unter schwarzen Mänteln.

Keri wusste trotzdem allzu genau, wer oder vielmehr was sie waren. Zwar war sie sich nicht sicher, ob sie den beiden schon einmal begegnet war, doch die Besucher verströmten die charakteristische Kälte der Liminalen.

»Wir warten im Hof«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang sanft und kam Keri vage bekannt vor, aber sie konnte diese Leute nicht auseinanderhalten. Ob Mann oder Frau, groß oder klein, dunkel- oder hellhäutig – ihre Aura war immer die gleiche. Egal, wie sanft sie klangen, sie blieben kalt.

»Du hast fünfzehn Minuten. Du brauchst nichts mitzunehmen.«

Wieder nickte Keri, worauf sich die beiden umdrehten und in der Dunkelheit verschwanden. Ihre Schritte knirschten im Kies.

Keri schloss die Tür und ging ins Haus zurück. Ihre Eltern und Max saßen im Wohnzimmer. Max’ kleine Tochter schlummerte an seiner Schulter. Wortlos sahen die drei Keri an und in ihrem Blick las sie, dass sie wussten, wer an der Tür gewesen war.

Ihre Mutter reagierte als Erste, kam auf Keri zu und umarmte sie – das erste Mal seit Monaten, das zweite Mal in den letzten vier Jahren. Keri zögerte einen Moment, dann erwiderte sie die Geste. Früher hatte sich das vertraut angefühlt. Heute schmeckte es nach Erinnerung. Keri spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete.

Ihre Mutter ließ sie los und trat zurück. Sie lächelte.

»Wir sind so stolz auf dich«, flüsterte sie und fischte eine einzelne Träne aus ihrem Augenwinkel. »Du tust das Richtige.«

Keri versuchte zurückzulächeln, war sich aber unsicher, ob es ihr gelang.

Ihr Vater sagte nichts, als er sie an der Schulter drückte. Doch auch er lächelte, obwohl Traurigkeit in seinem Blick lag. Dann kehrte er zu seinem Sessel zurück und eine unangenehme Stille erfüllte den Raum. Worüber sprach man, wenn man nicht wusste, ob man einander je wiedersah?

»Ich muss … was holen«, brachte Keri schließlich hervor und floh aus dem Wohnzimmer, die Treppe hinauf in ihre Kammer. Sie schloss die Tür, lehnte sich mit geschlossenen Augen dagegen und atmete tief durch.

Seit Monaten hatte sie gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Dass sie irgendwann vor der Tür stehen und Keri abholen würden. Es war in Ordnung. Sie hatte sich das selbst ausgesucht und es kam ihr auch heute noch richtig vor. Meistens zumindest.

Mit einem Seufzen öffnete Keri die Augen und sah sich um. Es gab nichts, das sie holen musste. Auch das hatten sie ihr schon vor Monaten gesagt. Keris altes Leben würde hierbleiben und es sollte nichts geben, was sie daran erinnerte.

Der Gedanke, sich von all den Dingen zu trennen, tat weh. Da waren die alten Bücher, die sie irgendwann aus der Bibliothek mit heimgenommen hatte, weil sich außer ihr ohnehin niemand für die Geschichten interessierte. Da waren die Kleider, die ihre Freundin Penninah ihr genäht hatte, die Fotoalben voller Erinnerungen an früher und vor allem der Armreif mit den Blumenornamenten. Es war Valerians letztes Geschenk an sie gewesen.

Valerian … Auf Keris Schreibtisch lag ein Blatt Papier. Sie hatte ihm noch schreiben wollen, aber dafür blieb keine Zeit mehr. Vielleicht würde es auch bald keinen Grund mehr dazu geben.

Im Grunde war es gut, dass diese Dinge hierblieben. Sie würden sie nur ablenken und an ihrer Entscheidung zweifeln lassen.

Eines aber musste Keri mitnehmen. Aus ihrem Schrank holte sie ein reich besticktes Leinenkleid. Seit fünf Jahren hatte sie es nicht mehr getragen. Der Stoff war viel zu kühl für diese Jahreszeit und wahrscheinlich würde Keri bald selbst ihre Kleidung ablegen müssen – sie hatte noch nie gesehen, dass die Liminalen etwas anderes als ihre Uniformen getragen hätten, von den Umhängen einmal abgesehen. Aber das Kleid schien ihr für den Moment angemessen.

Sie hatte es gerade angezogen, als es an der Tür klopfte.

»Ja?«, fragte sie zaghaft und erwartete, ihre Mutter zu sehen. Doch zu ihrer Überraschung betrat Max das Zimmer.

Eine Weile musterten sie einander wie zwei Fremde, die einander zum ersten Mal sahen. Und tatsächlich war ihr Bruder in den letzten Jahren für sie zu einem Fremden geworden. Wenn sie einander in der Stadt begegneten, hatte er meist nicht einmal einen abfälligen Blick für sie übrig, und auch in der Familie machte er keinen Hehl aus seiner Abneigung. Es fiel ihr schwer, ihn anzusehen. Sie kratzte sich am Arm.

»Es ist gut, dass du das machst«, sagte er schließlich.

Keri blinzelte überrascht.

»Das ist deine Chance, es wiedergutzumachen«, fügte er hinzu. Er schien mit sich zu ringen, noch etwas sagen zu wollen. Das Unausgesprochene hing in der Luft und Keri wünschte sich, Max würde es aussprechen. Doch er beließ es bei einem letzten Blick und einem Stirnrunzeln. Vielleicht erinnerte er sich an den Tag, an dem er das Kleid zuletzt an ihr gesehen hatte?

Nachdem er gegangen war, starrte Keri eine Weile reglos auf die geschlossene Tür. Die wenigen Worte ihres Bruders hatten sie gefreut und zugleich wehgetan. Ihre ganze Familie schien sicher zu sein, dass sie das Richtige tat. Dass es Kaniwe war, ihr Schicksal. Ihre Chance, die Schuld von sich zu nehmen, die sie vor fünf Jahren auf sich geladen hatte. Vielleicht würden ihre Eltern sie eine Weile vermissen. Aber im Grunde waren sie froh über den Weg, den Keri gewählt hatte. Jetzt konnten sie sie wieder als ihre Tochter bezeichnen.

Keri faltete die Kleidung, die sie ausgezogen hatte, ordentlich zusammen. Ob ihre kleine Nichte sie einmal bekommen würde? Nun würde Max das vielleicht zulassen. Vielleicht wäre er sogar stolz, wenn er seine Tochter in Keris Kleidern sah.

Vielleicht tat Keri tatsächlich das Richtige.

Sie ging wieder nach unten, warf ihrer Familie ein Lächeln zu, das sie erwiderten. Alle. Zu sagen gab es nichts mehr, oder vielleicht auch zu viel, um es auszusprechen.

Keri wandte sich um und ging in die Kälte.

KAPITEL 2

RÜCKKEHR

Misakis Augen folgten dem kleinen roten Punkt, der sich langsam durch die Schwärze bewegte, die alles war, was auf dem Bildschirm von der Weite zwischen dem Planeten Legba und der Umlaufbahn des Mondes Cyberia angezeigt wurde.

»Einen Moment lang dachte ich ja, sie würden geradewegs nach Cyberia fliegen«, sagte Oswin, der neben Misaki saß und sich auf seinem Drehstuhl ständig von rechts nach links drehte. Er grinste.

»Ich finde diese Vorstellung nicht witzig«, sagte Jerram. Mit verschränkten Armen stand er neben seinen beiden Freunden.

Oswin hob beschwichtigend die Hände. »Sie sind ja vorbeigeflogen.«

»Schon zum zweiten Mal«, bemerkte Jerram mit finsterem Blick.

»Vermutlich gibt es keine Neuigkeiten dazu, was sie auf Cuchulain gewollt haben könnten?«, fragte Misaki und drehte sich zu Jerram um, der so intensiv auf den Bildschirm blickte, als hoffe er, den Punkt kraft seiner Gedanken verschieben zu können.

Er schüttelte den Kopf. »Sie haben eine Gau-Hauptstadt auf dem Planeten angeflogen und knapp zwei Stunden dort verbracht. Soweit wir sagen können, nur um Aufzutanken und ein paar Waren an Bord zu holen, ehe sie auf fast demselben Weg wieder nach Legba zurückgeflogen sind.«

»Eine Gau-Hauptstadt.« Misaki verzog das Gesicht. »Auf Cuchulain klingt einfach alles martialisch. Was meint ihr denn, welche Art von Waren das gewesen sein könnten?«

»Äxte, Schwerter, Wolfsfelle, Leder aus Menschenhaut, …«

»Oswin!« Jerrams Stimme hatte einen warnenden Unterton.

»Was denn?«, fragte Oswin mit unschuldigem Blick. »Ich kenn mich aus mit den Handelswaren, die Cuchulain an irre Reisende vertickt!«

Jerram rollte mit den Augen, wandte sich dann aber an Misaki, als habe es den Einwurf ihres Kollegen nie gegeben. »Das versuchen unsere Leute auf Cuchulain noch herauszufinden. Bisher deutet alles darauf hin, dass es sich um gewöhnliche Lebensmittel gehandelt hat – Reis, Brot, ein paar Früchte.«

»Das ergibt einfach keinen Sinn.« Oswins Grinsen war wie weggefegt. »Das alles findet man auch auf Legba. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Liminalen extra nach Cuchulain fliegen, nur um exotisches Obst abzuholen, das bis Legba ohnehin ungenießbar sein wird. Meint ihr nicht … also, wäre es nicht denkbar, dass Renovas an Bord aufgeflogen ist und sie das Signal nur noch nutzen, um uns zu verwirren?«

Misaki musste schlucken. »Sag doch sowas nicht«, flüsterte sie.

»Wir gehen allen Möglichkeiten nach, die uns einfallen«, sagte Jerram tonlos. »Ich denke aber nicht, dass sie sich mit solchen Spielchen aufhalten würden. Wenn sie von Renovas’ Doppelrolle wüssten, befände sich sein Sarg schon auf dem Weg zu uns. Ich denke eher …« Er verstummte.

»Was?«, fragte Misaki beunruhigt.

»Es gibt vieles, was wir in Betracht ziehen sollten. Möglicherweise haben die Liminalen wirklich nur ihre Vorräte für die Rückreise aufgestockt. Vielleicht haben sie auch jemanden abgeholt oder etwas abgeliefert, oder vielleicht versuchen sie, Spuren zu verwischen.«

»Spuren verwischt man doch nicht, indem man über eine der Hauptrouten eine Großstadt anfliegt!«, hielt Misaki dagegen und zwirbelte geistesabwesend eine lange schwarze Strähne um ihren Zeigefinger. »Und mit Sicherheit haben sie auch Transporter auf Cuchulain, die was auch immer nach Legba bringen könnten.«

Jerram nickte langsam. »Ich bin mir der Probleme in meinen Überlegungen bewusst.«

Misaki fragte sich, ob in seinem Kommentar eine Maßregelung lag. Seit sieben Jahren arbeitete sie mit Jerram zusammen und noch viel länger zählte sie ihn zu ihren Freunden – eine Zeit lang war er für sie sogar noch mehr als das gewesen. Dennoch fiel es ihr inzwischen immer schwerer, zu deuten, was hinter seinen Aussagen lag. Dass er sich Sorgen machte, war offensichtlich – das machten sie sich alle. Nicht nur wegen der seltsamen Route der Liminalen, sondern vor allem, weil Renovas bei ihnen an Bord war, anstatt gemeinsam mit seinen Freunden im Büro zu sitzen. Im Prinzip unternahm er nur eine Dienstreise, wie er es schon unzählige Male zuvor getan hatte. Nur konnte dieses Mal keiner sagen, wohin sie führte.

Trotzdem, im Moment war es nicht nur die Sorge um Renovas, die Jerram so verbissen machte.

»Nun, inzwischen haben sie ihre Route geändert und fliegen nicht mehr wie auf dem Hinweg«, sagte Oswin und strich sich durch den hellbraunen Bart. »Seht ihr?« Er richtete sich auf und fuhr auf dem Bildschirm die grüne Linie nach, die den Flug der Liminalen dokumentierte. »Bis hierhin«, er zeigte auf eine Stelle, »haben sie noch denselben Weg genommen, danach sind sie abgewichen.«

Jerram zuckte mit den Schultern. »Wenn sie zurück nach Make wollen, ist das nicht so verwunderlich.«

»Ich habe meine Zweifel, dass sie dorthin zurückfliegen. Bald treten sie in die Atmosphäre von Legba ein und derzeit deutet nichts darauf hin, dass sie auch nur entfernt planen, die Stadt anzusteuern.«

»Anscheinend haben sie eine komplizierte Art des intraplanetarischen Flugs gewählt«, sagte Misaki mit einem schiefen Lächeln.

Jerram ging darauf nicht ein, sondern betrachtete schweigend den Punkt, der sich weiter dem blauen Planeten Legba näherte.

»Wie dem auch sei«, sagte er schließlich. »Ich habe einen Termin mit Behzad. Oswin, du wertest weiter die Aufnahmen aus Adad aus. Misaki behält Renovas und seine Liminalen im Auge.«

Er stand auf und begann, seine Sachen zusammenzusuchen. Oswin seufzte hörbar, tat es seinem Vorgesetzten aber gleich.

Misaki wandte sich wieder dem Bildschirm zu, wo nun am Rande Legba sichtbar wurde, der größte und bevölkerungsreichste Planet Aditis. Dorthin flog Renovas – gemeinsam mit Mitgliedern eben jener Organisation, die er so verabscheute.

Jerram hatte Bedenken gehabt, ausgerechnet ihn auf diese Mission zu schicken. Nicht nur, dass die Folgen nicht absehbar waren, was mit Renovas geschehen würde, wenn die Liminalen entdeckten, dass sie einen Spion unter sich hatten. Das Problem lag auch bei Renovas selbst. Niemand in Jerrams Abteilung war den Liminalen besonders zugetan – selbst, wenn man von ihren schrägen Ansichten absah, gab es dafür einfach zu viele ungeklärte Verbrechen, die in Richtung der Organisation wiesen. Doch Renovas’ Abneigung ging tiefer, grenzte an Verachtung. Und das mochte ihn zu voreingenommen machen, zu unvorsichtig. Wie sollte er sich einer Organisation unterordnen, für die er keinerlei Verständnis aufbrachte?

Misaki schüttelte den Gedanken ab, während Jerram und Oswin den Raum verließen. Es nutzte nichts, wenn sie sich endlos diese Fragen stellte – Jerram hatte schließlich nachgegeben und Renovas war aufgebrochen. Der rote Punkt war im Moment alles, was Misaki von ihm geblieben war.

Inzwischen zeigte er an, dass der Transporter mit Renovas und den Liminalen an Bord in die Atmosphäre Legbas eingedrungen war. Als er zum Landeanflug ansetzte, zoomte Misaki die Karte näher heran und langsam wurden Einzelheiten des Planeten sichtbar. Kontinente, Ozeane, sogar Gebirge konnte Misaki ausmachen, bis …

Schlagartig richtete sie sich auf, ihre Augen bewegten sich hektisch über den Bildschirm. Wo war das Signal hin?

Misaki zoomte die Karte noch näher heran, bis sie sogar Flüsse und Großstädte erkennen konnte. Die grüne Linie, die Renovas’ Flug seit Cuchulain markierte, war wie üblich verschwunden, sobald der Transporter die Atmosphäre erreicht hatte. Das Signal hätte aber weiter sichtbar sein sollen, doch es gab keine Spur mehr davon.

Schweißperlen traten auf Misakis Stirn. Der Kontakt zu Renovas war endgültig abgebrochen.

KAPITEL 3

ENTSCHEIDUNG

Die meisten Menschen, die nicht enttarnt werden wollten, legten sich eine neue Identität zu.

Dante kehrte zu seiner Alten zurück.

»Twi Dante Feyn«, las die Liminale auf der anderen Seite des Schreibtischs in Legbas Standardsprache vor.

Es war seltsam, so angesprochen zu werden. Wie lange war es her, dass Dante auf diesen Namen gehört hatte? Sechs Jahre, sieben?

Die Frau blickte weiter auf seine ID-Karte, obwohl sie ohne ein Lesegerät nicht viel davon ablesen konnte. Vermutlich wusste sie ohnehin bereits alles über ihn. Wer es bis hierhin schaffte, war gründlich durchleuchtet worden und ein offenes Buch für die Liminalen. Außer man besaß die richtigen Freunde auf Cyberia.

Endlich sah die Liminale auf. »Sie sind auf … Thot geboren?«, fragte sie. Das kurze Zögern machte deutlich, dass sie sich nicht sicher war, wie sie Dantes einstigen Heimatplaneten nennen sollte. Sie hatte sich für die nostalgische Variante entschieden.

»Ja«, entgegnete er wahrheitsgemäß.

Der Blick der Frau war schwer deutbar. Bei seinen Recherchen zu Eden war sie Dante schon häufiger aufgefallen. Beispielsweise war sie auf den Aufzeichnungen aus Adad und Demeter zu sehen gewesen, als man die beiden Neophyten abgeholt hatte. Vor dreizehn Monaten, als einer von ihnen angeblich zurückgekehrt war, hatte Dante die Frau das erste Mal in persona gesehen. Sie hatte sein Interesse geweckt, weil ihre schmale Figur und die lockige Kurzhaarfrisur im ersten Moment deplatziert wirkten in der harten, dunklen Uniform der Liminalen. Doch wenn man sie näher betrachtete, wurde deutlich, dass der Eindruck täuschte: Ihr Körper war schmal, aber auch muskulös, und es ging eine reservierte Kälte von ihr aus, die nur allzu gut zur Uniform passte.

Dante vermutete, dass sie in der Organisation einen hohen Rang einnahm, deshalb überraschte es ihn, ihr nun gegenüberzusitzen. Warum ließ sie sich zu Gesprächen mit jemandem herab, der bisher nicht einmal ein Novize war? War Dante vielleicht doch aufgeflogen?

Nein. Wahrscheinlicher war es, dass sich diese Frau selbst ein Bild von den Menschen machen wollte, die Teil ihrer obskuren Gemeinschaft werden sollten. Die anderen potenziellen Novizen hatte Dante noch nicht kennengelernt, doch er vermutete, dass es nicht allzu viele waren. Die Liminalen gingen schließen nicht einfach herum und fragten, wer sich ihnen anschließen wollte. Ohne die Möglichkeiten der Suchenden hätte Dante nicht gewusst, wie er überhaupt in Kontakt zur Organisation hätte treten sollen, und er fragte sich, wie das jemandem gelingen sollte, der weder Bürger von Cyberia war, noch in Nähe eines ihrer Tempel lebte. Normalerweise suchten sich die Liminalen ihre potenziellen Novizen selbst aus oder nutzten ihre Kontaktpersonen dafür. »Wenige meiner Brüder und Schwestern kommen von Thot«, bemerkte die Frau und riss Dante damit aus seinen Gedanken.

Kein Wunder, dachte er. Niemand verlässt mehr die Ruinen.

»Wann sind Sie von dort weggegangen?«

»Ich war zwanzig.«

»Vor vierzehn Jahren also.«

Es war eine Feststellung, doch Dante spürte die unausgesprochene Frage dahinter. ›War es Zufall oder wurdest du gewarnt?‹ Die Liminale besaß genug Pietät, die Frage nicht zu stellen und stattdessen zur nächsten überzugehen.

»Sind Sie noch einmal zurückgekehrt?«

Dante öffnete den Mund, zögerte aber einen Moment. Die Frage kam überraschend und verunsicherte ihn. In Gedanken ging er den Lebenslauf durch, den er mit Oswin und Misaki erstellt hatte. Laut diesem hatte er seine zerstörte Heimat nie wieder besucht. Trotzdem blieb er lieber bei der Wahrheit, solange es ihm möglich war.

»Ja«, antwortete er daher. »Fünf Jahre später bin ich noch einmal an meinen Heimatort zurückgekehrt.«

Beziehungsweise zu dem, was noch von ihm übrig war.

Wieder so ein schwer deutbarer Blick.

Vielleicht hätte er das doch verschweigen sollen. Aber den Liminalen musste klar sein, dass er bei seiner Rückkehr gründlich durchgecheckt worden war und man ihn nie nach Legba zurückgelassen hätte, wenn er auch nur das geringste Anzeichen einer Kontamination gezeigt hätte.

Nach einem erneuten langen Schweigen fuhr die Frau in ihrer Befragung fort: »Sie haben angegeben, sich uns anschließen zu wollen, weil Sie nach einem neuen Sinn suchen. Nach etwas, woran Sie glauben können.«

Dante nickte. Dieser Teil war Misakis Idee gewesen. Sie fand, das passe zu ihm.

»Und Sie sind sicher, ihn bei uns zu finden?«

»Wenn nicht auf Eden«, entgegnete Dante, »dann nirgendwo.«

»Laut unseren Informationen haben Sie den Ruinenplaneten nie verlassen, bis Sie kurz vor dessen Zerstörung nach Legba gereist sind. Seitdem liegt dort Ihr Lebensmittelpunkt. Berufsbedingt haben Sie einige Monate auf Adad verbracht, ansonsten sind uns nur Kurzaufenthalte auf den anderen Planeten und Sibera bekannt.« Die Liminale benutzte die Bezeichnung der Auswärtigen für Cyberia. Jerram hatte Dante immer wieder eingeschärft, diesen Begriff zu verwenden, solange er sich in der Nähe von Liminalen befand.

»Es gibt noch viele Orte in diesem Sternensystem, die Sie nicht besucht haben und an denen Sie nach Ihrem Sinn suchen könnten«, fuhr die Frau fort. »Warum wollen Sie gerade den Engeln dienen?«

Wieder zögerte Dante. Zwar war die Antwort auf diese Frage durch die vorangegangenen Verhöre längst zur Routine geworden, doch er hielt es für klüger, seine Antwort nicht danach klingen zu lassen.

»Die Schweigenden sind tot«, antwortete er schließlich und blickte auf die Tischplatte. »Es gibt niemanden mehr, der den Menschen einen Weg weisen, der über sie wachen würde. Die Menschen haben versucht, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Aber ich bin Zeuge ihres Versagens geworden.« Die Bitterkeit in seiner Stimme brauchte er nicht zu spielen. »Wo Menschen leben, existiert kein Sinn.«

Die Frau nickte. Sie wirkte zufrieden mit der Antwort.

»Sie haben nun zwei Möglichkeiten, Feyn«, erklärte sie. »Entweder Sie gehen durch die Tür hinaus, durch die Sie diesen Raum betreten haben. Dann bekommen Sie Ihre ID-Karte zurück, bleiben, wer Sie sind, und können gehen, wohin es Ihnen beliebt. Sie werden vergessen, jemals hier gewesen zu sein, wie auch wir Sie vergessen werden. Sie können Ihr Leben frei leben, fern von jeglicher Verantwortung gegenüber der Welt. Oder Sie gehen durch diese Tür.« Sie wies auf einen unscheinbaren Durchgang hinter sich. »In diesem Falle werden Sie sich ab sofort unserer Gemeinschaft unterordnen und ein Teil von ihr werden. Sie werden tun, was Ihnen aufgetragen wird. Sie werden gehen, wohin Ihnen befohlen wird. Sie werden nur noch auf den Namen hören, den wir Ihnen gestatten, und das Leben, das Sie bisher gelebt haben, hinter sich lassen. Sie werden kein Ich mehr sein, sondern ein Wir. Sie werden den Dienern der Welt dienen, und das wird Ihr einziges Lebensziel sein, bis zu Ihrem Tod oder, wenn Sie sich als würdig erweisen, Ihrer Transformation. Es liegt in Ihrer Hand, wie Sie sich entscheiden. Doch bedenken Sie, dass es Ihre endgültige Entscheidung sein wird. Ein Zurück akzeptieren wir nicht.«

Dante hatte nie nachvollziehen können, wieso sich Leute freiwillig den Liminalen anschlossen. Die vier bewohnbaren Planeten und der Mond Cyberia boten so viele Möglichkeiten – was bewog einen da, sich dieser Gemeinschaft aus uniformierten Lügnern und Anhängern einer untergegangenen Zeit anzuschließen? Konnte die kleine Aussicht auf angebliche Unsterblichkeit so groß sein, dass man bereit war, sich diesem Schwachsinn unterzuordnen? Nach dieser Ansprache konnte er sich das noch weniger vorstellen.

Ohne ein Wort zu sagen, stand er auf. Die ID-Karte lag vor ihm, doch er ignorierte sie. Stattdessen umrundete er den Schreibtisch und öffnete die Tür hinter der Liminalen.

Die nächste Identität wartete.

KAPITEL 4

ERKENNTNIS

Als die Liminalen Keri in den Schlafsaal brachten, wäre sie am liebsten sofort wieder umgedreht. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. Eine dunkle Kammer in einem der großen Engelstempel auf Legba vielleicht oder eine Kabine auf einer Raumstation? Vielleicht sogar einen herrschaftlichen Raum auf Eden, falls es diesen Planeten wirklich gab.

Stattdessen saß sie nun in einem Raum mit Linoleumboden, einfachen Holzbetten und staubigen Fenstern, die zu einem Innenhof hinausgingen. Außer ihr waren noch fünfzehn andere in dem Raum; Novizen wie sie, die darauf warteten, was nun mit ihnen geschah. Keri hatte nicht damit gerechnet, dass es so viele sein würden. Wenn sie ehrlich war, hatte sie bisher sogar geglaubt, die Einzige zu sein.

Die Novizen hatten nichts gemein mit den kalten Gestalten, die Keri verhört und später abgeholt hatten. Lachend und schwatzend saßen sie in kleinen Gruppen zusammen, kaum jemand blieb für sich. Die meisten von ihnen waren Erwachsene, doch kaum einer schien älter als Mitte Zwanzig zu sein.

In den letzten Jahren hatte Keri sich Mühe gegeben, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Normalerweise war das auch nicht schwierig gewesen, denn wer gab sich schon mit einer Unglücksbringerin ab? Doch kaum hatte sie sich hier ein freies Bett ausgesucht, war eine hochgewachsene Frau mit schwarzem Pferdeschwanz und schräg stehenden Augen neben sie getreten. Sie sah sich durch Keris Schweigen offenbar nicht im Mindesten entmutigt, in ihrem schon seit ihrer Begrüßung andauernden Wortschwall fortzufahren. »Du musst wissen«, erzählte sie gerade mit leichtem Akzent, »daheim auf Adad gibt es zwar an jeder Ecke irgendeinen Tempel, aber versuch mal, Liminale aufzutreiben! Als ich endlich welche gefunden hatte, wollten sie mich abwimmeln, sie dachten wohl, ich würde es nicht ernst meinen. Aber ich hab mich durchgebissen und jetzt bin ich hier. Hoffe, das war den ganzen Stress wert. Ich meine«, sie senkte die Stimme und nickte zu den Fenstern, »wenn das da draußen Eden ist, überleg ich mir noch mal, ob das hier wirklich ein Job für mich ist.«

Keri sah zum Innenhof und lächelte müde. Nein, das war sicher nicht Eden. Es hieß, der verborgene Planet Eden sei ein Paradies aus Alabaster, auf dem der Himmel aus Diamanten bestehe und sich die Türme bis über die Wolken erhoben. Dort lebten die Liminalen und jene, denen sie dienten – die Engel.

»Entweder dort oder nirgends«, flüsterte Keri.

»Hm?«, fragte ihre Nachbarin, wartete aber keine Entgegnung ab, sondern sagte: »Guck mal, die beiden dahinten!«

Sie zeigte auf eine Gruppe von fünf jungen Männern, doch Keri ahnte, auf welche beiden die Bemerkung ihrer Gesprächspartnerin abzielte. »Cuchulainer«, stellte Keri fest. »Die Tätowierungen am ganzen Körper und die Undercuts sind Stammessymbole und weisen sie als Kriegsjungen aus.«

Während sie das sagte, hob einer der beiden den Kopf. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke und Keri sah schnell zur Seite, zum angrenzenden Bett. Ein Mann lehnte dort mit verschränkten Armen und musterte Keri kurz. Sie hatte das unangenehme Gefühl, dass er sie zuvor schon beobachtet hatte. Zu viele Menschen!

»Die Frisur sieht bescheuert aus«, sagte die Schwarzhaarige. »Erinnert mich an Streifenhörnchen. Huch, der eine kommt rüber.«

Keri sah wieder nach vorne und tatsächlich kam gerade der Cuchulainer herüber, dessen Blick sie zuvor begegnet war.

»Hallo«, begrüßte er sie. »Wollt ihr euch nicht zu uns setzen?« Er wies zu den anderen.

Keris Sitznachbarin stand auf. »Sie hier sagt, du kämst von Cuchulain. Stimmt das? Ich hab noch nie jemanden von dort getroffen.«

»Das ist jetzt gleich«, erwiderte der Mann nach kurzem Zögern. »Wir sind alle Kinder Edens.«

Hinter Keri ertönte ein Lachen und als sie sich umdrehte, bemerkte sie wieder den Mann, der am Bett lehnte.

»Hast du ein Problem?«, fragte der Cuchulainer ihn unwirsch.

Der andere schüttelte den Kopf. »Aber wir sind noch nicht auf Eden.«

Der Cuchulainer entgegnete nichts darauf und wandte sich wieder den Frauen zu. »Also, wenn ihr mögt …« Er deutete mit dem Kopf in Richtung seiner Freunde und ging zu ihnen zurück.

»Komm schon«, forderte Keris Sitznachbarin sie auf und folgte ihm.

Mit einem Seufzen erhob Keri sich, als sie erneut den Blick des Mannes auf dem Bett bemerkte.

»Ist was?«, fragte sie.

»Nein. Tut mir leid.« Sein Grinsen war verschwunden. »Ich dachte nur – du kamst mir bekannt vor.«

Keri musterte den Mann genauer. Er schien ihr einer der ältesten im Raum zu sein, sie schätze ihn auf Mitte dreißig. Seine halblangen Haare und der Dreitagebart waren von einem dunklen Braun, sein Teint hatte einen Bronzeton. Er war größer als der Cuchulainer, aber nicht so muskulös.

»Wie heißt du?«, fragte sie.

»Dante.«

»Woher kommst du?«

Ein kurzes Zögern. »Legba.«

»Ich kenne keinen Dante aus Legba.« Sie wandte sich um und folgte den anderen beiden. Sie war sich sicher, dem Mann nie begegnet zu sein. Aber gut möglich, dass er sie schon einmal gesehen hatte.

Keri musste schlucken. Sie hatte bisher nicht daran gedacht, aber was, wenn alle Novizen hier sie schon einmal gesehen hatten? Die Aufnahmen und Interviews waren damals um die Welt gegangen und wäre es nicht logisch, dass jemand, der sich für die Liminalen interessierte, sie sich noch einmal ansah?

Sie atmete tief ein und brachte nur ein kurzes Lächeln zustande, als die Gruppe um die beiden Cuchulainer ihr Platz machte, damit sie sich zu ihnen setzen konnte. Neugierige Blicke, jemand gab ihr die Hand. Aber keine Fragen mehr, ob man einander kenne, niemand sah sie zu lange an.

Nein, bestimmt erkannte sie hier niemand.

Sie wagte es nicht, zu Dante zurückzusehen. Vielleicht nur ein Missverständnis oder er hatte nach einem Weg gesucht, sie anzusprechen.

»Wir haben uns gerade gefragt, wie es nun weitergeht«, sagte ein schlaksiger, bleicher und rotwangiger junger Kerl aus der Gruppe um die Cuchulainer. Seine grüngefärbten kurzen Haare zogen zwangsläufig die Blicke auf sich. »Ob wir noch hierbleiben oder es bald weiter nach Eden geht.«

»Vielleicht trainieren sie uns hier? Sicher werden sie uns nicht einfach so nach Eden lassen«, vermutete der Cuchulainer, der Keri eben hergebeten hatte. »Das ist eine Ehre, die man sich verdienen muss.«

»Wo sind wir hier überhaupt?«, fragte die Schwarzhaarige.

»Es ist irrelevant, wo wir sind«, entgegnete der Cuchulainer. »Entscheidend ist, wo wir hinkommen.«

Ehe jemand darauf reagieren konnte, ging die Tür zum Schlafsaal auf und eine Liminale in Uniform trat ein.

Augenblicklich erstarben die Gespräche ringsum. Keri schlang unwillkürlich die Arme um sich. Ihr war, als sei die Temperatur um zehn Grad gefallen.

»Stellt euch auf«, befahl die Liminale.

Die Novizen erhoben sich und warfen einander unsichere Blicke zu.

»Jeder vor sein Bett!«, fauchte die Frau ungeduldig und die Novizen beeilten sich, der Forderung nachzukommen, bis sie einander in zwei Reihen gegenüberstanden.

»Ihr habt es weit geschafft«, begann die Liminale, sobald sich die Unruhe gelegt hatte. Langsam schritt sie den Mittelgang entlang, die Hände hinter ihrem Rücken verschränkt. »Weiter als die meisten anderen. Es ist euch gelungen, uns zu überzeugen, dass euer Herz und euer Verstand den Dienern der Welt gehören und ihr bereit seid, euch unserer Gemeinschaft und ihren Zielen unterzuordnen. Wir wissen das zu schätzen.« Ihr Blick und ihre Stimme ließen das allerdings bezweifeln. »Aber bevor ihr tatsächlich Teil unserer Gemeinschaft werdet, müsst ihr beweisen, dass auch eure Seelen dem Wunsch eures Herzens und eures Verstands folgen. Ihr müsst die Engel überzeugen.«

Keri beobachtete die Mienen ihrer Kameraden. Die Augen des Mannes ihr gegenüber glänzten, während er gebannt an den Worten der Liminalen hing, doch einige schauten verunsichert oder sogar ängstlich drein.

»Ihr werdet die Nacht hier verbringen«, sprach die Liminale derweil. »Euch wird Verpflegung gebracht werden und ihr erhaltet Hygieneartikel. Morgen erwarten euch dann die Prüfungen. Morgen wird sich zeigen, ob euer Herz, euer Verstand und eure Seele eins sind. Morgen wird sich zeigen, ob ihr die Kleidung der Dienersdiener tragen dürft und ob ihr eurer neuen Identität würdig seid. Morgen erst wird sich entscheiden, ob ihr würdig seid, zu uns zu gehören.«

Sie war am Ende der Reihen angekommen und musterte die Novizen noch einmal gründlich. »Ich hoffe, möglichst viele von euch wiederzusehen.« Mit diesen Worten ging sie den Weg zurück und verschwand durch die Tür.

Einen Moment lang blieb es ruhig, dann wurden die geordneten Reihen wieder zu einer Ansammlung kleiner Trauben und die Diskussionen fingen an.

»Ob sie einen Lügendetektor benutzen?«

»In Cuchulain ist es üblich, durch eine Tat seinen Mut zu beweisen. Bestimmt ist das hier ähnlich.«

»Es sind Götter oder wenigstens Halbgötter! Die brauchen keine Hilfsmittel, um uns in die Seelen zu schauen.«

Keri hörte den Gesprächen nur mit halbem Ohr zu. Mit einem leisen Seufzen ließ sie sich auf ihr Bett sinken.

Eine Prüfung also. Noch eine.

»Aber sie hat gesagt, die Engel prüfen uns!« Keri sah zu einem Mädchen, das vergeblich versuchte, sich Gehör bei einem der Grüppchen zu schaffen. Als sie Keris Blick bemerkte, sagte sie: »Die Frau hat doch gesagt, dass wir die Engel überzeugen müssen! Das heißt, wir werden tatsächlich Engel treffen!« Sie strahlte übers ganze Gesicht.

Keri zwang sich zu einem Lächeln. »Vielleicht hast du recht«, flüsterte sie viel zu leise dafür, dass das Mädchen sie hätte verstehen können. »Vielleicht werden wir einen Engel treffen.« Ihr Lächeln schwand.

KAPITEL 5

RUINEN

»Du hättest nicht herkommen sollen«, sagte Talane. »Ich wollte dich vor diesem Schicksal bewahren.«

Sie stand im Staub, barfuß, und sah genauso aus wie an dem Tag, als er sie das erste Mal getroffen hatte. Das lange weiße Kleid mit den braunen Borten. Die ungewöhnliche hellrosa Haut. Die roten Locken, die in einer sanften Brise wehten, obgleich es windstill war.

»Warum?«, fragte er. »Warum hast du mich weggelockt?«

»Warum hast du dich weglocken lassen?«, entgegnete sie, wobei ihre Figur langsam verblasste, eins wurde mit dem Staub und Nebel um sie herum.

Wieder ließ sie ihn allein. Verschwand einfach aus seinem Leben und ließ ihn zurück zwischen Trümmern und Ruinen.

Als Dante erwachte, lagen ihm die Gerüche des Traums noch in der Nase. Asche. Moder. Verdunsteter Regen. Ein entfernter Hauch nach Pfirsich und Durian.

Er blinzelte, um die letzten Traumbilder loszuwerden, und der fruchtige Geruch verschwand. Der Rest blieb, hing fest zwischen den Steinritzen an der Decke, durch die hier und da Wasser tropfte.

Steinritzen?

Mit einem Ruck setzte er sich auf – ein Fehler, denn sogleich begann sich alles um ihn herum zu drehen. Er kniff die Augen zusammen und atmete tief ein, um seinen Puls zu beruhigen. Es gelang ihm auch halbwegs, doch sein Atem ging schwerfällig und ein pelziges Gefühl breitete sich in seinem Mund aus. Ihm war, als wollte etwas in der Luft verhindern, dass er Sauerstoff bekam.

Dante hielt die Augen weiter geschlossen, während er seine Umgebung mit anderen Sinnen wahrnahm. Ein feiner Schweißfilm zog sich über seine Haut. Wasser plätscherte und irgendwo gurrte ein Vogel. Sein Ruf klang vertraut, obwohl sich Dante sicher war, ihn nie auf Cyberia gehört zu haben.

Aber ich bin nicht mehr auf Cyberia, rief er sich ins Gedächtnis. Ich bin bei den Liminalen.

Und offenbar nicht mehr im Schlafsaal.

Nun öffnete er doch die Augen. Er saß auf einer Steinliege und außer dem Laken darauf erinnerte nichts mehr an das Zimmer, in dem er eingeschlafen war.

Stattdessen befand er sich in einem kleinen, von dunklen Steinen eingefassten Raum. Moos und tropische Gräser hatten sich ihren Weg hineingebahnt und im hinteren Teil, in dem ein Stück der Wand weggebrochen war, floss ein steter, dünner Wasserstrahl den Stein entlang. Mattes Licht schien durch die Tür, die schief in ihren Angeln hing. Verkohlte Scherben und verbogenes Metall sprachen von einer Zeit, in der dieser Raum mehr als eine Ruine gewesen war.

Dante wusste, wo er sich befand. Im Grunde war es ihm schon beim Aufsetzen klar gewesen.

Nicht alles war so, wie er es in Erinnerung hatte. Bei seinem letzten Besuch hatte er nichts von der Welt außerhalb seines Schutzanzugs riechen können, und zuvor hatte dieser Ort nicht Staub und Asche gehört. Doch das stete Plätschern, der Ruf des Vogels, das Gefühl der feuchten Luft auf seiner Haut – all das war Thot. Jenes Thot, das er vor vierzehn Jahren verlassen hatte, nicht wissend, dass es ein Abschied für immer sein würde.

Die Ruinen, die Dante draußen erblickte, waren dagegen das Thot, das er vor neun Jahren wiedergesehen hatte. Und doch waren sie es auch nicht.

Er betrat den Platz, der einst das Herz des Dorfes ausgemacht hatte, in dem er aufgewachsen war. Dante verband zwei Erinnerungen mit ihm: Die Erste war die eines tagsüber stets von Dutzenden Menschen belagerten Platzes, umgeben von kleinen Läden, Restaurants und Cafés. Einmal die Woche waren die Händler aus der Umgebung und aus der Hauptstadt gekommen, deren Vororte nur wenige Kilometer entfernt begannen, und hatten dem ohnehin lebendigen Platz selbst in der Zeit des Krieges Lebensfreude beschert. Das Gebäude, in dem Dante erwacht war, hatte damals als Gedenkstätte für die Schweigenden gedient – es verwunderte ihn nicht, dass ihn die Liminalen ausgerechnet dorthin gebracht hatten.

Die zweite Erinnerung war von Tod durchdrungen. Obwohl der verheerende Krieg mit Cuchulain Jahre zurücklag, waren seine Spuren noch überall sichtbar gewesen. Zwar hatte Erebos, das interplanetarische Unternehmen, das noch bis vor fünf Jahren abenteuerlustigen Reisenden und verstörten Angehörigen Trips in die lebensfeindlichen Trümmer des Ruinenplaneten ermöglicht hatte, ein paar der Hauptstraßen freiräumen lassen. Doch außerhalb dessen wurde kein Finger gerührt. Selbst die sterblichen Überreste der Bürger von Thot waren hier und da noch sichtbar gewesen, wenngleich die meisten vom Giftstaub zersetzt worden waren.

Auch heute noch erzählte der Platz von der Zerstörung des Krieges: Kein einziges Gebäude war intakt, die meisten bestanden nur mehr aus ihren Fundamenten, wenn überhaupt etwas von ihnen übrig war. Aber der angrenzende Regenwald hatte sich das Gebiet zurückerobert. Die klaffenden Wunden waren inzwischen vom Moos verarztet, Feigengewächse mit Luftwurzeln und Bromelien an den Ästen schmiegten sich an Gebäudefragmente, Farne bevölkerten den Boden. Während Dante das alles in sich aufnahm, ging ein seltsames Flirren durch das Bild, doch es verschwand, als er blinzelte.

Es war ein melancholischer und zugleich paradiesischer Anblick.

»Ist das euer Eden?«, flüsterte Dante. Er war sich sicher, dass die Liminalen ihn beobachteten, irgendwie. Aber sie antworteten ihm nicht.

Er ging über den Platz, kletterte dabei über Trümmer und dicke Wurzeln. Den Blick gen Himmel vermied er. Hier unten wirkte es, als habe Thot seinen Frieden gefunden. Doch der grün gefärbte Himmel würde Dante daran erinnern, dass der Planet noch auf Jahrhunderte ein lebensfeindlicher Ort war.

Weshalb hatten die Liminalen ihn hierhergebracht? Gewiss hing es mit seiner Prüfung zusammen. Aber wenn hier etwas geschehen sollte, musste es bald sein, andernfalls war Dante dem Tode geweiht. Wenn er das jetzt nicht ohnehin schon war. Noch immer fühlte er sich schummrig und ein dumpfer Schmerz am Oberarm verriet ihm, dass ihm etwas gespritzt worden war. Vielleicht hatten die Liminalen ein Antiserum gegen das cyberianische Gift gefunden, den Schweigenden Tod, mit dem Cuchulain den Krieg auf grausame Weise für sich entschieden hatte?

Ein Teil der Flora und Fauna hatte sich offenbar an die neuen Gegebenheiten anzupassen gewusst. Für die Menschen galt das nicht – sie waren restlos vom Schweigenden Tod dahingerafft worden. Eine ganze Abteilung der Suchenden von Cyberia beschäftigte sich zwar mit den Gerüchten, nach denen einige Bewohner überlebt und neue Siedlungen gegründet haben sollten. Aber soweit Dante wusste, war diese Abteilung bisher noch erfolgloser gewesen als seine eigene. Es war schwer, einen Planeten zu erforschen, auf dem man nicht atmen konnte und dessen Wissen vernichtet worden war.

Vielleicht hatten die Liminalen hier tatsächlich eine Basis. War Thot das neue Eden? Das von Toten beherrschte Jenseits?

Eine Theorie, die ihren Charme hatte, auch wenn Thot nicht zu den Vorstellungen passte, die von Eden verbreitet wurden. Was natürlich nicht viel heißen musste. Der Planet Eden mit seinen angeblichen Bewohnern, den Engeln, war lediglich ein Mythos, wenn ihn auch die meisten Regierungen der vier bewohnten Planeten als Fakt anpriesen. Die tatsächliche Wahrheit herauszufinden, oblag den Suchenden – und damit auch Dante, seit er sich ihnen vor sechs Jahren angeschlossen hatte.

Wenn sich die Liminalen auf Thot niedergelassen hatten, mochte das auch erklären, weshalb die Suchenden nie einen sechsten Planeten gefunden hatten. Dante schüttelte den Gedanken ab. Falls er sich tatsächlich die ganze Zeit über schon auf Thot befand, würde der Chip in seinem Bein es den anderen Suchenden melden. Für ihn war im Moment anderes wichtiger.

Noch immer lief er über den ehemaligen Marktplatz. Wie oft war er hier über die Pflastersteine gelaufen, die längst überwuchert waren von Zeit und Natur! Er seufzte. Mehr als sechs Jahre war es her, seit er sich geschworen hatte, die Identität von Twi Dante Feyn zu begraben. Er war nach Cyberia gezogen, hatte offiziell seinen neuen Namen angenommen, war Teil einer neuen Familie geworden, die ihn adoptiert hatte, sodass er ein vollwertiger Bürger Cyberias werden durfte. Und lange Zeit hatte es tatsächlich den Anschein gehabt, als könne er die Vergangenheit hinter sich lassen.

Doch nun kam alles wieder – sein alter Name, die Fragen nach Thot. Sogar Talane tauchte wieder in seinen Träumen auf. Er hatte sie nicht vermisst.

Er war einverstanden gewesen, für seine Mission bei den Liminalen zu seinem alten Ich zurückzukehren. Dennoch wünschte er sich, all die Erinnerungen wären geblieben, wo sie waren. Hoffentlich fand er genug raus, damit es das alles wert war.

Ein Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken sprang er zur Seite und betrachtete argwöhnisch den Farn, in dessen Richtung er den Ursprung des Geräuschs vermutete. Erneut ein Rascheln, dann huschte etwas über den Boden, zu schnell, als dass er Einzelheiten erkannt hätte. Eine verwilderte Katze vielleicht oder ein Aguti – diese Nagetiere waren früher die reinste Plage für das Dorf gewesen.

Dante entspannte sich etwas und lachte leise über sich selbst.

Was hatte er erwartet? Dass ein Mutant aus dem Dickicht hinter der alten Apotheke brach? Gut, in Anbetracht der Prüfung und des Ortes, an dem er sich befand, war das nicht einmal auszuschließen. Aber Dante schätzte die Liminalen so ein, dass sie subtilere Prüfungen gegenüber dem Kampf mit einem Monster bevorzugten.

›Morgen wird sich zeigen, ob euer Herz, euer Verstand und eure Seele eins sind. Ihr müsst die Engel überzeugen.‹

Dante glaubte nicht an die Engel, jedenfalls nicht auf die Art wie die Liminalen und die Regierungen der vier Hauptplaneten sie darstellten. Er war mit Oswin und Misaki vor dreizehn Monaten auf Demeter gewesen, an jenem Tag, an dem der Welt das erste Mal offiziell ein Engel präsentiert wurde. Sie hatten nicht besonders nahe an den Ort des Geschehens vordringen dürfen. Aber die wahrscheinlich nur allzu einkalkulierten ›heimlichen‹ Fotos und Videos des strahlenden, haarlosen Etwas, das als Engel bezeichnet wurde, waren um die Welt gegangen, hatten vermutlich selbst die abgelegenste Insel auf Adad erreicht. Die Präsentation war der Höhepunkt eines perfekt inszenierten Spektakels gewesen, das seit knapp zehn Jahren andauerte und Zweiflern und Skeptikern endgültig den Wind aus den Segeln hatte nehmen sollen.

Zum Schaden der Suchenden zeigte dieses Ansinnen Erfolg. Zuvor war Eden eine Mär gewesen, um Altruismus zu lehren. Es hieß, wer bereit war, sein Leben für andere zu opfern, der würde als Neophyt nach Eden gebracht werden, um als Engel wiederaufzuerstehen. Die perfekte Basis für eine Ethik, welche die Gemeinschaft des Sternensystems Aditi nicht erst seit dem Krieg zwischen Thot und Cuchulain gut gebrauchen konnte. Doch viel mehr als Erzählungen über diesen paradiesischen Ort über den Wolken hatte es nie gegeben.

Sicher, die Liminalen waren Gewissheit und immer mal wieder hatte jemand behauptet, er sei einem Engel begegnet. Aber hätten nicht die meisten offiziellen Regierungen den Mythos zur Realität erhoben, er wäre nie bekannter geworden als all das andere Gerede um lebende Schweigende, unsterbliche Propheten und wiedergeborene Muttergöttinnen. Und selbst mit den Beteuerungen der Regierungen hatten noch viele an der Geschichte von Eden gezweifelt – oder es hatte sie schlichtweg nicht interessiert. Wozu mit etwas beschäftigen, was das eigene Leben nicht betraf?

Solange Dante ein Kind gewesen war, war Eden daher für ihn nur eine Gute-Nacht-Geschichte gewesen. Doch je mehr die Engel in seinem Umfeld zur Religion wurden, je häufiger ihnen Tempel gewidmet und Lieder geschrieben wurden, desto stärker war seine Abneigung gegen sie gewachsen. Anfangs hatte er sie sich selbst nicht erklären können. Was war schon falsch an der Ethik der Engel? Richtig klar geworden war ihm das erst nach seinem Umzug nach Cyberia. Als er die Listen der verschwundenen Novizen durchging, die Reden der Regierungsvertreter und die Aufzeichnungen der Liminalen.

Doch je kritischer er Eden gegenüberstand, desto realer schien der Ort zu werden. Erst waren da die Berichte über das Mädchen auf Adad, das einen Jungen aus der stürmischen See gerettet hatte, dabei aber selbst schwerstverletzt worden war. Die Liminalen hatten sie nach Eden geflogen. Als nächstes holten sie den jungen Mann aus Demeter, der seine Schwester gerettet hatte. Jenen Mann, der vor dreizehn Monaten als Engel zurückgekehrt war.

An diesem Tag hatte offenbar ganz Aditi beschlossen, Eden nicht weiter als Mythos, sondern als Realität zu betrachten. Und Dante hatte sich bereit erklärt, als Spion zu den Liminalen zu gehen, um endlich die Wahrheit über Eden und die Engel herauszufinden – gleich, was es ihn kosten würde.

Während er durch seine zerstörte Heimatstadt ging, war er sich allerdings über den Kostenpunkt nicht mehr so sicher.

Es war eine Sache, auf Cyberia zu sitzen und sich auszumalen, was die Liminalen mit ihren Novizen anstellen mochten. Über Trümmer und Ruinen zu klettern, im Wissen, dass eine zwielichtige Organisation, die offenbar selbst große Teile der Regierungen von Legba, Cuchulain, Adad und Demeter hinter sich wusste, einen einer mysteriösen Prüfung unterziehen wollte, war allerdings etwas ganz anderes. In diesem Moment wünschte sich Dante fast, seine Prüfung bestände nur aus einem Mutanten im Wald. Wer wusste schon, was die Liminalen für psychologische Tricks beherrschten, um in die Seelen ihrer Novizen zu blicken. Besaß Dante überhaupt die Macht, darüber zu entscheiden, wie viel er von sich preisgab?

Er bog in eine der Straßen ein, die sternenförmig vom Marktplatz wegführten. Bewusst mied er dabei die Abzweigungen, von denen er wusste, dass sie zum Haus seiner Familie führten. Seiner Familie …

Er schüttelte den Gedanken ab. Misaki, Oswin, Jerram und die anderen Suchenden waren nun seine Familie. Im Falle von Misaki sogar wortwörtlich, schließlich hatten ihre Eltern ihn adoptiert. Die Suchenden hatten Dante aufgenommen, als er ziellos durch das Sternensystem geirrt war, und ihm nicht nur eine neue Heimat gegeben, sondern auch eine neue Identität.

Dante wollte zwar nicht vergessen, was gewesen war – schon gar nicht, wer gewesen war. Aber er wollte auch nicht mehr Twi Dante Feyn sein, der Flüchtling aus einer untergegangenen Welt.

Wenige Schritte vor sich hörte er erneut ein Rascheln. Zögernd, schwankend zwischen Neugier und Vorsicht, hielt er dieses Mal darauf zu. Wieder kletterte er über gewaltige Wurzeln, umrundete ein großes Trümmerstück – und dann stand sie da.

Locker lehnte sie an einer von Rankenpflanzen umwucherten Wand. Dieses Mal trug sie nicht das weiße Kleid mit den braunen Borten. Sie war auch nicht barfuß. Stattdessen war sie in eine kurze blaue Tunika mit schwarzen Ornamenten gekleidet und die braune Hose darunter endete in braunen Lederstiefeln. Es war das erste Mal, dass sie ihre cuchulainische Herkunft nicht vor Dante verbarg.

Unaufgeregt blickte sie Dante entgegen und es kam ihm vor, als habe sie hier all die Jahre auf ihn gewartet, zwischen Moos und Leben, Trümmern und Tod.

»Talane.« Tonlos sprach er ihren Namen aus, seltsam unberührt von dem Auftauchen dieser Frau, die ihm fremd und unangenehm vertraut zugleich war. Wäre sie ihm vor einer Woche auf Cyberia begegnet, ihr Anblick hätte ihn vermutlich völlig aus der Bahn geworfen. Vielleicht wäre er rasend vor Wut geworden oder weinend zusammengebrochen. In jedem Fall hätte er nicht glauben können und wollen, ihr nun, nach all den Jahren, wiederzubegegnen.

Anfangs hatte er noch damit gerechnet. Auf Legba hatte er wochenlang auf sie gewartet. Darauf, dass sie zurückkam, ihm erklärte, dass alles ein Missverständnis und sie noch immer die sei, für die er sie gehalten hatte. Und selbst später, nachdem Dante sich längst eingestanden hatte, dass sie nicht zurückkehren würde und es die Talane, die er kannte, nie gegeben hatte – selbst da war er nachts manchmal in der Erwartung hochgeschreckt, sie stünde neben seinem Bett.

Aber sie war verschwunden, wortlos, an dem Tag, an dem die Nachrichten die Meldung vom Ende Thots brachten. Und irgendwann war sie endlich auch aus seinen Träumen verschwunden.

In den letzten Stunden aber war Dante so oft mit der Erinnerung an Thot konfrontiert worden, dass es ihn nicht mehr überraschte, sie hier anzutreffen. Auf eine seltsam klare Weise passte nun alles zusammen. Es schien alles Sinn zu ergeben, was ihn fort vom verlorenen Thot und über Legba, Adad und Cyberia bis zu diesem Garten Eden gebracht hatte. Er war mit Lügen gekommen, um Wahrheiten zu finden. War es da nicht logisch, dass nun ausgerechnet Talane, die Dante die Lügen gebracht hatte, der Schlüssel zur Wahrheit sein sollte?

»Warum bist du hier?«, fragte er.

Talane ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Warum bist du hier?«, entgegnete sie schließlich. Ihre Stimme klang kräftiger, als Dante sie in Erinnerung hatte.

Er hatte nicht mehr vor, sich auf ihre Spielchen einzulassen. »Arbeitest du jetzt für die Liminalen?«, fragte er mit harter Stimme.

In dem Lächeln, das sie ihm zuwarf, lag etwas Selbstsicheres und Herablassendes. Seiten an ihr, die Dante unbekannt waren. Doch sie brauchte sich nun ja nicht mehr zu verstellen. Musste sich keine Mühe mehr geben, Dante zu gefallen. »Und wenn? Hasst du mich dafür?«

»Dafür?« Dante runzelte die Stirn. »Nein. Ich hasse dich für die Rolle, die du im Krieg gespielt hast. Ich verachte dich dafür, dass du meine Familie und mich verraten hast. Ich verachte dich dafür, dass du uns benutzt hast, um am Ende meiner Heimat mitzuwirken. Und ich verachte dich dafür, mich nach Legba gebracht zu haben. Wenn du für die Liminalen arbeitest …«

Bestätigt das nur meine Meinung über sie und dich, vollendete er den Satz in seinen Gedanken. Doch er zögerte, es laut auszusprechen. Talanes Auftauchen hatte ihn abgelenkt, aber er durfte nicht vergessen, weshalb er hier war. Ob Talane eine Liminale war oder nicht, dieses Zusammentreffen war gewiss kein Zufall, sondern Teil seiner Prüfung. Natürlich – welche bessere Art bot sich den Liminalen, in seine Seele zu blicken, als ihn mit dieser Frau zu konfrontieren?

Dass sie so weit in die Trickkiste griffen, beunruhigte Dante zwar, aber seine Verbindung zu Talane war kein großes Geheimnis. Schließlich war er damals mit ihr nach Legba gereist und falls es noch Informationen über sein Leben auf Thot gab, wussten die Liminalen auch von seiner Verlobung mit dieser Frau, von der er selbst wahrscheinlich nicht einmal den wahren Namen kannte.

»Dass du für die Liminalen arbeitest, enttäuscht mich nur«, schloss er den Satz daher. »Du bist ihrer nicht würdig.«

Talanes Blick flackerte kurz, doch dann hatte sie sich wieder im Griff.

»Wie kannst du so etwas sagen?«, fragte sie, plötzlich anklagend. »Du kennst mich nicht. Du weißt nichts über mich. Ich habe gehört, du hättest Suchende beauftragt, mehr über mich herauszufinden. Aber sie konnten dir auch nichts sagen, nicht wahr? Sie wissen ebenso wenig über mich wie du.«

Bei der Erwähnung der Suchenden stockte Dante einen Moment lang der Atem. Er war sich sicher, sie nirgendwo in dem Lebenslauf erwähnt zu haben, den Oswin und Misaki mit ihm konstruiert hatten. Sie hatten Cyberia zwar nicht vollkommen ausgespart, aber in seiner ersonnenen Biographie hatte Dante den Mond nur für wenige Wochen besucht. Jeglichen Kontakt zu den Suchenden hatte er völlig verschwiegen. Undenkbar, dass die Liminalen jemanden aufnehmen würden, der bei einer Organisation arbeitete, die so beharrlich versuchte, ihre Geheimnisse zu lüften.

Andererseits war es auch nicht ungewöhnlich, dass sich Privatpersonen an die Suchenden wandten, und als Dante erstmals Kontakt zu ihnen aufgenommen hatte, war es tatsächlich wegen Talane gewesen.

»Du hast recht«, erwiderte er daher ruhig, »ich weiß kaum etwas über dich. Ich kannte einmal eine Frau, die dein Gesicht trug. Aber dich habe ich nie kennengelernt, und das ist wahrscheinlich auch gut so. Denn alles, was ich über dich weiß, ist, dass du den Tod der Menschen billigend in Kauf genommen hast, die dir ein Heim geboten haben. Ja, du hast ihren Tod sogar mitverantwortet. Warum du das getan hast, ist mir gleich. Du warst eine Spionin. Du hast uns benutzt, um unseren Untergang vorzubereiten. Das ist alles, was ich wissen muss.«

Er drehte sich um. So lange hatte er gehofft, Talane würde zurückkehren und seine Fragen beantworten. Doch nun wollte er nur noch möglichst viel Abstand zwischen sich und diese Frau bringen. Zwischen sich und die Vergangenheit, die er abgelegt hatte.

Talane ließ das nicht zu.

»Ich habe deinen Tod nicht in Kauf genommen«, erinnerte sie Dante. »Im Gegenteil: Indem ich dich gebeten habe, mich nach Legba zu begleiten, habe ich dir das Leben gerettet. Ich war gewarnt worden, dass der finale Angriff bevorstand, und ich wollte dich in Sicherheit wissen.«

Dante blieb stehen, drehte ihr jedoch weiter den Rücken zu.

»Warum?«, fragte er so, wie er es auch in seinem Traum getan hatte.

»Spielt das eine Rolle? Obwohl du doch weißt, dass ich nur eine Spionin war?« Dante hörte nicht, wie sie näherkam, aber als sie weitersprach, klang es, als stünde sie direkt hinter ihm. »Natürlich spielt es eine Rolle«, flüsterte sie und Dante erschauerte unwillkürlich.

Ruckartig drehte er sich um. Talane stand so dicht vor ihm, dass ihre Lippen fast sein Kinn berührten. »Ich kenne dich, Dante. Ich kenne dich nur zu gut. Du bist besessen von der Suche nach Antworten, nicht wahr? Es reicht dir nicht, zu wissen, was war. Du willst auch den Grund wissen.«

Sie ging einen Schritt zurück und musterte ihn. Wieder erschien das Flirren vor Dantes Augen, aber es verschwand ebenso schnell wie zuvor. Ihm fiel auf, dass Talane seit ihrem letzten Treffen um keinen Tag gealtert schien. Allerdings ließ ihre Selbstsicherheit sie deutlich reifer wirken als damals.

»Mach dir nichts vor, Dante«, sagte sie. Dann drehte sie sich um und ging in die andere Richtung. Leichtfüßig stieg sie dabei über die Wurzeln und Steinbrocken am Boden. Dante hatte ihre Anmut immer bewundert, doch dieses Mal weckte sie Abneigung in ihm. Vielleicht, weil sie das Einzige an dieser Frau war, was mit dem Bild zusammenpasste, das er von seiner einstigen Verlobten hatte.

Dante blieb, wo er war und blickte Talane nach. Mit einer Hand umfasste sie die Reste einer steinernen Wand, bereit, mit dem nächsten Schritt aus Dantes Sichtfeld zu verschwinden. Doch sie hielt inne und wandte ihm ihr Gesicht zu. Das fahle Sonnenlicht spielte leise um ihr sonderbares Lächeln.

»Mach dir nichts vor«, wiederholte sie. »Wir wissen, dass du keine Ruhe finden wirst, bevor du Antworten hast. Aber keine Angst. Ich bin hier, um dir Antworten zu geben. Folge mir.« Sie verschwand hinter der Mauer.

Aufgewühlt blickte Dante ihr nach. Er verspürte den Drang, sich umzudrehen und in die andere Richtung zu laufen – weit fort von dieser Frau und diesem Ort, die ihn in eine Zeit zurückversetzten, mit der er doch abgeschlossen hatte. Allerdings … Sie hatte Recht, das musste er sich eingestehen. Der Traum hatte Dante unangenehm daran erinnert, dass ihm seine Vergangenheit noch immer näher war, als er sich selbst eingestehen wollte. Der Gedanke, erneut fraglos dieser Frau zu folgen, war ihm zuwider. Andererseits war es vielleicht die einzige Möglichkeit, die Situation hier hinter sich zu bringen. Schließlich war da ja auch noch die Prüfung …

Mit einem Seufzen setzte er sich in Bewegung und folgte Talane, die hinter der Mauer auf ihn wartete.

»Was ist nun, bist du eine Liminale?«, fragte Dante erneut. »Oder haben sie dich hergeholt, um …« Ja, um was eigentlich?,fragte er sich. Um mich mit dem Leben abschließen zu lassen, das ich hinter mir lassen soll?

»Ich werde dir die Antworten geben, nach denen du suchst«, entgegnete Talane geduldig. »Aber nicht hier.«

Sie sprang über eine Wurzel und umrundete ein Konstrukt aus Lianen und Metall, das vielleicht einmal ein Auto oder Bus gewesen sein mochte.

Dante folgte ihr schweigend.

In diesem Teil des Ortes erkannte er nichts wieder; die wenigen verbliebenen Mauern hätten zu jedem ihm bekannten Gebäude gehören können und es gab keine auffälligen Reliefs oder sonstige Erkennungszeichen, die als Wegweiser hätten dienen können. Je länger Dante Talane durch das grüne Labyrinth folgte, desto klarer wurde ihm jedoch, wohin sie ihn führte.

Er blieb stehen.

Talane bemerkte es erst an einer Weggabelung. Sie sagte nichts, sah ihn nur an, und er meinte, ein spöttisches Lächeln in ihrem Gesicht zu sehen. Er konnte sich denken, was sie dachte.

Wir wissen beide, dass du dich nicht ewig weigern wirst.

Äußerst widerwillig setzte sich Dante wieder in Bewegung, trottete hinter Talane her, die nur hier und da auf ihn wartete, um sicherzustellen, dass er den Weg nicht aus den Augen verlor.

Kurz vor dem Ziel erinnerte beim ersten Blick nichts mehr an den Ort, den Dante vor vierzehn Jahren verlassen hatte. Von dem Friseursalon war ebenso wenig geblieben wie von der kleinen Bäckerei, in der er sich mit seinen Geschwistern oder Freunden früher oft Teilchen gekauft hatte. Erst weiter hinten zeugten Steinwände, überwucherte Treppen, die ins Nichts führten, und die Überreste zerschmolzenen Metalls von den Häusern, die hier einmal gestanden hatten. Dieses Gebiet war den Angehörigen der Twi-Kaste vorbehalten gewesen, die die höchste gesellschaftliche Stellung unter den nicht-adligen Bürgern Thots eingenommen hatten. Nicht, dass die Hierarchie am Ende noch viel bedeutet hätte.

Gerade passierte Dante die ersten Fragmente der Twi-Gebäude, als ein heller Schrei die Luft durchschnitt.

Dante hielt inne und sah sich um. Das Geräusch war aus südöstlicher Richtung gekommen, doch er entdeckte dort nichts Verdächtiges.

»Worauf wartest du?«, rief Talane, die ein Stück die Straße hinauf zum Stehen gekommen war.

Anstatt zu antworten, suchte Dante mit den Augen weiter das Dickicht aus Bäumen hinter den Überbleibseln der Gebäude ab und lauschte auf weitere Geräusche. Doch außer dem meckernden Ruf eines Vogels und dem leisen Wasserplätschern, das hier überall herrschte, blieb es ruhig.

Talane kam nun doch zurück. »Was soll dort sein?«, wollte sie ungeduldig wissen, Dantes Blick folgend.

»Hast du den Schrei nicht gehört?«, fragte er gedämpft, um nichts zu übertönen.

»Eben den? Das war doch nur ein Vogel. Die führen hier ein munteres Leben, seit es keine Menschen mehr gibt, die sie jagen. Wenn du bei jedem Zwitschern stehen bleibst, hast du was zu tun.«

»Das klang nicht wie ein Vogel«, entgegnete Dante kühl. »Es klang wie … der Schrei eines Kindes. Eines Mädchens.«

Talane zuckte mit den Schultern. »Und? Die Vögel hier klingen so.«

Dante schüttelte den Kopf. »Ich weiß, wie die Tiere hier klingen. Ich kenne den Ruf des Arassari ebenso wie das Zwitschern des Quetzals. Aber einen solchen Laut stößt kein Vogel aus. Das war ein menschlicher Schrei!« Er verließ den Weg, wandte sich nach rechts, in Richtung des Dickichts aus Bäumen und Farn.

»Wo willst du hin?« Talane klang erschrocken. »Dante, die Vögel hier sind mutiert. Du kannst sie nicht mit den Tieren vergleichen, die du aus deiner Kindheit kennst. Sie klingen heute anders und sie verhalten sich auch anders. Du solltest den Wald nicht betreten.«

Es war das erste Mal seit ihrem Zusammentreffen, dass Talane ihre überlegene Selbstsicherheit ablegte. Vielleicht ging Dante deshalb weiter.

»Dante!« Eine schlanke Hand umfasste seinen Arm und er zuckte zusammen. Abrupt blieb er stehen und riss sich so ruckartig los, dass Talane stolperte und fast über eine Wurzel gestürzt wäre.

»Wag es nicht, mich anzufassen«, fauchte Dante und scherte sich nicht um den finsteren Blick, den ihm seine einstmalige Verlobte zuwarf.

»Du solltest mir dankbar sein«, entgegnete Talane hochmütig. »Du …«

Ein neuerlicher Schrei schnitt ihre Worte ab. Er klang anders als der Erste. Tiefer, aber ebenso menschlich.

»Dante«, sagte Talane eindringlich, »glaub mir, da sind keine Menschen. Wir sind auf dem Ruinenplaneten. Dieses Land ist vergiftet! Die ganze Atmosphäre ist vergiftet!«

»Wir sind hier«, erinnerte Dante sie und hielt wieder auf die Bäume zu. Ihm klangen die Theorien der Suchenden über Überlebende in den Wäldern von Thot in den Ohren. Was, wenn daran mehr wahr war, als er bisher geglaubt hatte? Aufregung überkam ihn, erfüllte ihn mit unbestimmten, nicht ausformulierten Hoffnungen.

Hier, hinter den steinernen Twi-Fassaden, wo einst prachtvolle Gärten gestanden hatten, war das Gebiet restlos vom Dschungel zurückerobert worden. Dante kam nur langsam voran. Noch immer befand er sich innerhalb der alten Ortsgrenzen.

»Wir werden von den Engeln beschützt«, hörte er Talanes Stimme irgendwo hinter sich.

»Dann schützen sie mich hoffentlich auch im Wald«, entgegnete Dante. Vielleicht klang das blasphemisch, doch in diesem Moment war es ihm egal. Wieder hörte er einen Schrei, und dieses Mal war er sich sicher, dass es kein Tier war, das da rief. Was an sein Ohr drang, klang nach einem Wort, auch wenn er die Sprache nicht verstand.

Er überwand ein von Moos überwuchertes Mäuerchen und erblickte dahinter einen etwas lichteren Bereich, hinter dem endgültig der Wald begann.

Talane war vor ihm da.

Verdutzt blieb Dante stehen, als sie zwischen den Bäumen hervortrat, auf die er gerade zuhielt. Er warf einen Blick hinter sich, erwartete fast, Talane habe einen Klon herzitiert. Doch hinter ihm war niemand mehr.

»Wie …«, begann Dante, doch sie unterbrach ihn.

»Bemerkst du das Flimmern?«, fragte sie. »Das Flackern, das hin und wieder durch die Landschaft streift?«

Dante nickte ungeduldig.

»Eine Nebenwirkung des Serums, das uns hier am Leben erhält«, erklärte sie.

»Ach, das ist der Schutz der Engel?«

Talanes bohrender Blick erinnerte Dante daran, dass er auf seinen Ton achtgeben musste.

Doch ob Talane nun zu den Liminalen gehörte oder nicht, sie beschloss offenbar, darüber hinwegzugehen. »Die Nebenwirkungen lassen nach einiger Zeit nach, aber du hast dich noch nicht an den Stoff gewöhnt«, erklärte sie weiter. »Ich habe die Schreie auch gehört und glaub mir, für mich klingen sie ganz und gar nach Tierstimmen. Aber du stehst noch unter dem Einfluss der Nebenwirkungen, deshalb glaubst du wohl, Stimmen zu hören. Es ist ja auch verständlich, wenn du dir wünschst, hier könnten noch immer Menschen leben. Dante, warte«, rief sie, denn er hatte sich von ihr abgewandt und machte Anstalten, den Wald zu betreten. »Du kennst den Ruinenplaneten nicht, das ist nicht mehr die Heimat deiner Kindheit!«, redete Talane auf ihn ein. »Aber ich bin schon eine Weile hier, ich habe gesehen, was nun in den Wäldern hier haust. Dante, es sind keine Schlangen, Raubkatzen und Krokodile mehr, vor denen du dich in Acht nehmen musst. Auf diesem Planeten wurden Kräfte freigesetzt, die niemals in menschliche Hände hätten gelangen dürfen, und die Engel können uns im Wald nicht …«

»Ich weiß, welche Kräfte hier angewendet wurden«, grollte Dante, »und ich erinnere mich auch, wer sie zum Einsatz gebracht hat.«

Talane nickte. »Es war ein abscheuliches Werk der Cyberianer.«

Wieder brachte sie Dante dazu, innezuhalten. Er musste sich zusammenreißen, um ihr darauf keine wütende Antwort zu geben. Er wusste um die unrühmliche Rolle, die Cyberia bei der Vernichtung Thots durch Cuchulain gespielt hatte. Cyberia genoss seine Unabhängigkeit, aber um diese zu erhalten, mussten seine Bewohner hin und wieder Kooperationen eingehen. Manchmal bedeutete es, dass das Wissen der Mondbewohner dazu verwendet wurde, Waffen zu entwickeln, welche es vermochten, die Bevölkerung eines ganzen Planeten auszulöschen. Dass Talane sie als die Hauptschuldigen bezeichnete, weckte dennoch Dantes Zorn. Es waren nicht die Cyberianer gewesen, die das Gift eingesetzt hatten.