Die unsichtbare Grenze - Dominique Anne Schuetz - E-Book

Die unsichtbare Grenze E-Book

Dominique Anne Schuetz

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Beschreibung

"Nie wieder wollten sie den Leibhaftigen beim Baden stören, und hofften, dass er dafür Dorf und Bewohner verschonte. Das blieb auch viele Jahrhunderte lang so. Bis einer die unsichtbare Grenze, die das Gute vom Bösen trennte, übertrat." Am Ende des 19. Jahrhunderts, tief im Valsertal. Im Dorf Fanell wächste der wissbegierige Andreas auf. Er findet sich in der streng katholischen und abergläubischen Gemeinschaft nicht zurecht und flüchtet in die Welt der Bücher. Sobald er kann, verlässt er das Dorf, um in Zürich Mathematik zu studieren - seine große Liebe Elfi muss er zurücklassen. In Davos begegnet er dem unheimlichen Engländer Clifton, der besessen ist vom Bösen. Als ihm Andreas die Teufelssage von Fanell erzählt, wittert dieser die dunklen Mächte und bricht ins Valsertal auf. Erst spät realisiert Andreas, welche Gefahr dem abgeschotteten Dorf und seiner großen Liebe droht.

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Gefördert durch die UBS Kulturstiftung

© 2014 by Europa Verlag AG Zürich

Umschlaggestaltung und Satz: Christine Paxmann text • konzept • grafik

Umschlagbild: © Dominique Anne Schuetz

Druck und Bindung: CPI books, Ulm

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book-ISBN 978-3-905811-99-5

Für Thierry und Laurent

Von seinen Worten, den unscheinbar leisen

Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen

Er macht die leere Luft beengend kreisen

Und er kann töten, ohne zu berühren.

Hugo von Hofmannsthal, Der Prophet

Prolog

DIE  SAGE  VOM  SCHRECKLICHEN  EREIGNIS

Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Kanton Graubünden ein Ort des Grauens, seine Durchquerung nur etwas für Wagemutige und Lebensmüde. Schmale Saumwege und Pfade, die Mensch und Tier kaum Halt boten, wanden sich an tiefen Furchen und Schrunden entlang, und die Wettergeister waren oft schlecht gelaunt. Wenn trotzdem einmal ein Fremder hier durchmusste, wollte er nur eines: möglichst schnell wieder weg. Langsam begann sich dies zu ändern. Die reine und leichte Bergluft, das neue Wundermittel im Kampf gegen die Schwindsucht, zog immer mehr Lungenkranke der Hautevolee aus Europa und Übersee an, die Belle Époque hielt Einzug und nahm der abweisenden Bergwelt ein wenig von ihrem Schrecken. Trotz des einsetzenden Tourismus blieben einige Gegenden im Bündnerland blinde Flecke, und der allerblindeste Fleck war wohl das Valsertal, eingeschlossen in der rauen Geografie hoher Berge und tiefer Schluchten. Kein Gleis und keine Straße führte in diese versteckte Hautfalte, wo einsame Gehöfte aus schwindelerregender Höhe nach unten blickten und die Wasser durch ihr felsiges Korsett donnerten. Ganz zuhinterst in diesem geheimnisumwitterten Tal lag Fanell auf einem grünen Inselchen, tausendachthundert Meter über dem Meer. Ein Dorf wie viele, mit einer Kirche, einem kleinen Friedhof und einem Gewühl aus niedrigen Holzhäusern mit schuppenartigen Dächern aus Gneis- und Glimmerschieferplatten. Und doch gab es etwas, das den Ort von anderen unterschied. Wenn man den Blick in Richtung Frunthorn und Dachberg lenkte, war ein unheimliches Phänomen zu beobachten, eine neblige Schwade, die nie verschwand. Das sei der Ewige Nebel, sagten die Dörfler und warnten, der Boden dort sei verflucht. Wenn man sie fragte, warum das so sei, flüsterten sie: Hast du noch nie etwas vom Schrecklichen Ereignis gehört?

Laut Überlieferung war es im Jahr 1432 gewesen, als sich zwei tapfere Faneller aufgemacht hatten, um jenen mystischen Ort zu erkunden, der sich hinter dem Ewigen Nebel verbarg. Petrus und die Berggeister schienen gut gelaunt, denn der Tag versprach Milde und Trockenheit. Zuversichtlich machten sich die Burschen mit Wanderstock, Wasser, Brot, etwas Trockenfleisch und einem Kruzifix an den Aufstieg, während ihnen die Dörfler nachsahen, bis sich ihre schattigen Gestalten im morgendlichen Dämmer verloren hatten. Mit forschem Schritt erklommen die Abenteurer das steile Gelände. Der Weg war ihnen vertraut, schon als Buben waren sie auf den Weiden herumgesprungen, mit nackten Füßen, hatten Ziege und Schafe gehütet und ihre euterfrische Milch getrunken. Sie kamen gut voran, doch je höher sie stiegen, desto sorgenvoller sahen sie zum Himmel, und wie befürchtet, hetzte alsbald drohendes Gewölk über ihre Köpfe, der Wind frischte auf, Donner dröhnten, und trockene Blitze schossen in den Boden. Tapfer kämpften sich die beiden weiter, brachten die Fruntalp hinter sich und lenkten ihre Schritte über Felder aus Stein. Völlig unerwartet beruhigte sich das Firmament, und der Ewige Nebel blähte sich vor ihnen auf wie ein zerfetztes Segel. Nach dem grausigen Brausen und Pfeifen war die plötzliche Stille gespenstisch, sodass sie unsicher innehielten. Sollten sie nicht umkehren, solange sie noch konnten? Doch in diesem Alter wollte man alles sein, bloß kein Feigling, und so traten sie in die weiße Wand und tasteten sich durch die milchige Suppe. Sie waren nicht weit gegangen, da lichtete sich der Nebel ein wenig, und vor ihnen lag ein kleiner See, der von einer heißen Quelle gespeist wurde und aus dem beständig Dampf aufstieg. Das also war des Rätsels Lösung! Erleichtert schnauften sie auf und sahen zu, wie das Wasser aus dem Fels sprudelte. Doch was war das? War es Täuschung, oder sahen sie tatsächlich die Umrisse von etwas Lebendigem? Da der Dunst die Sicht trübte, gingen sie näher, und dann sahen sie es, schwarz behaart wie ein alter Ziegenbock, und aus seinem höckerigen Rücken ragten zwei zerfledderte Flügel. Erschrocken wichen die Bauernsöhne zurück, hofften, ungesehen fliehen zu können, doch es war zu spät, das Scheusal hatte sich bereits umgedreht und fixierte sie mit seinen gelben Augen. Der Leibhaftige! In wilder Wucht bäumte er sich auf und brüllte, welche Menschenkreaturen es wagen würden, ihn bei seinem Bad zu stören. Wahnsinnig vor Angst, rannten die jungen Männer, so schnell sie konnten, durch den Nebel. Fort, nur fort von diesem schlimmsten aller schlimmen Orte! Doch wie sie in Panik nach einem Ausgang suchten, nahmen ihnen schweflige Schwaden die Sicht, sie kamen vom Weg ab und irrten an gefährlichen Abhängen entlang, bis einer der Burschen mit einem Schrei ins Bodenlose stürzte. Der andere tappte weiter, halb verrückt vor Angst, und als er aus diesem Labyrinth der Wahrnehmung herausgefunden hatte, kämpfte er sich erneut durch ein grässliches Unwetter, bis er endlich in Fanell ankam, sein Gesicht bleich, sein Körper fiebrig. Mit letzter Kraft schilderte er den Dörflern, was sich am Berg oben zugetragen hatte, dann blieb er für den Rest seiner Tage stumm.

Seit dem Schrecklichen Ereignis mieden die Faneller die Nähe des Ewigen Nebels. Nie wieder wollten sie den Leibhaftigen bei seinem Bad stören, und hofften, dass er dafür Dorf und Bewohner verschonte. Das blieb auch viele Jahrhunderte lang so. Bis einer die unsichtbare Grenze, die das Gute vom Bösen trennte, übertrat.

Zwei Welten

London, 1876

Sir Aleister Francis B. Devlin war gestorben. Bei nassgrauem Wetter wurde er auf dem Londoner Highgate Cemetery zu Grabe getragen. Ein schwarzer Tross von Regenschirmen bewegte sich durch das exotische Tor, das zur Egyptian Avenue im westlichen Teil des Friedhofs führte, an der Spitze des Zuges der Verstorbene in seinem Schrein, getragen von sechs Männern. Ein schöner Sarg mit Goldbeschlägen, sein Inneres mit blütenweißer Seide ausgeschlagen. Der Bestatter hatte ein Modell aus Mahagoni amerikanischer Provenienz empfohlen. Wie er sagte, vermochte das Edelholz dem Zerfall noch länger zu trotzen als Eiche, und zudem konnte für einen Mann wie ihn nichts gut genug sein, denn Sir Aleister Francis B. Devlin war tatsächlich ein reicher und geachteter Mann gewesen. Konservenfabrikbesitzer.

Dem Sarg und den Trägern folgte ein riesiges Aufgebot an Trauergästen, unter ihnen die Witwe, Eleanor Devlin, sowie ihr zwölfjähriger Sohn Clifton. Obwohl es sein Vater war, der zu Grabe getragen wurde, fühlte der Junge keine Trauer, vielmehr genoss er die skurrile Umgebung mit den Grabsteinen, Grüften und Mausoleen. Tief sog er die feuchte Luft ein, die zart nach Fäulnis und Wachs roch. Seine Mutter, eine gebürtige Schweizerin von kühler Schönheit, ging neben ihm her, ihre Bewegungen von ätherischer Eleganz, als würde sie nie ganz den Boden berühren. Ihr hauchdünner Trauerschleier flatterte im Wind, was Clifton an Fledermäuse erinnerte.

Die Beerdigung lag nun schon Monate zurück, doch Mutter und Sohn hatten seither kaum miteinander geredet. Das war nicht weiter verwunderlich, Clifton hatte nie eine große Rolle im Leben seiner Mutter gespielt. Eleanors Aufmerksamkeit hatte in erster Linie ihrem Mann und ihren Vergnügungen gegolten.

Während der Zwölfjährige den Vater nicht vermisste und sich weiter in seine einsame, morbide Unterwelt zurückzog, verharrte Eleanor in stilvoller Trauer, verbrachte die Tage im düsteren Labyrinth ihres feudalen Anwesens. War die Villa, die man wegen ihrer Fassade aus rotem Granit Red Mansion nannte, zu Lebzeiten des Fabrikanten ein Ort der Bälle und Bankette gewesen, war es nun still geworden hinter den neugotischen Mauern. Eleanor wurde erdrückt von diesem bleiernen Gefühl der Verlassenheit, und weil sie zudem eine Frau ohne inneren Antrieb war und nichts mit sich anzufangen wusste, begann sie, unnütze Dinge zu tun, redete mit den Rosen im Garten, rückte das Silber in den Vitrinen zurecht oder gab dem Personal überflüssige Anweisungen.

Im November machte sie in der Nähe der Westminster Abbey ein paar Besorgungen. Da der Abend nahte und die Themse ihren grauen Atem ausstieß, nahm sie eine Abkürzung, um möglichst schnell eine Kutsche zu mieten und sich in die Red Mansion fahren zu lassen. Während sie durch eine der Gassen hastete, gewahrte sie die Umrisse einer alten Frau. Die gebeugte Gestalt stand am Rande eines Gaslichts, sodass sie diese kaum erkennen konnte. Eleanor wusste nicht, weshalb, aber sie konnte nicht an der Fremden vorbeigehen. Irgendetwas war an ihr, das sie neugierig hinüberschielen ließ. Sie verlangsamte ihre Schritte, und das Klappern ihrer Absätze auf dem Kopfsteinpflaster wurde leiser und leiser, bis es ganz aufhörte und nur noch Stille zwischen ihr und der Unbekannten war.

«Milady», krächzte es aus dem Halbdunkel. «Gebt mir Eure Chände, und ich lesen Zukunft aus Krümmungen von Linien. Alles für eine Penny.»

Unschlüssig starrte Eleanor auf die Erscheinung, ein Weiblein aus Haut und Knochen, in bunte Tücher und klimpernden Firlefanz gehüllt, das Haar eine silberne Gespinstwolke, die ihr Gesicht verbarg. Als die Frau – offensichtlich eine Zigeunerin – Eleanor erneut aufforderte, zog sie beinahe wie in Trance ihre Hände aus der Wärme ihres Nerz-Muffs und näherte sich der Alten. Sie war aufgewühlt, als würde sie etwas Verbotenes tun, doch sie konnte nicht anders, musste endlich dieses trübe Nichts aufhellen, wissen, was die kommende Zeit bringen würde. Es dauerte einen Moment, dann packte die Frau Eleanor am Mantel, zog sie, die immer noch die Hände ausstreckte, als würde sie schlafwandeln, ins Licht der Laterne, ergriff ihre Linke und tastete mit den Fingerkuppen die Innenfläche ab. Dabei hielt sie ihren Kopf schrägt wie ein Vogel, sodass das Licht auf ihr Gesicht fiel. Eleanor erschrak. Erst jetzt, im Schein der Straßenlaterne, sah sie, dass die Frau stockblind war, aus den Höhlen starrte lediglich das stumpfe Weiß der Augäpfel. Eleanor zuckte unwillkürlich zusammen, sie verspürte den Impuls, davonzulaufen, doch in diesem Moment begann die Zigeunerin zu reden. Ihre Stimme kratzte, und ihr Akzent war rau, aber dennoch strahlte sie eine ungeheure Ruhe aus. «Ihr chabt Eure Mann verloren, und nun sitzen Ihr allein in diese große Villa. Eine Villa, die aussehen wie Kathedrale.»

Eleanor fuhr zusammen. Woher wusste sie …?

«Ihr chaben eine Tochter … nein, eine Sohn. Er sein nicht Teil von Eure Leben, aber er wird noch werden. Mehr, als Ihr könnt Euch vorstellen jetzt. Uhh, und chier, genau chier, an diese Punkt von Lebenslinie, spüre ich Veränderung. Ich sehen eine …», erregt befühlte sie die Stelle in Eleanors Hand, und es schien, als würden ihre toten Augen für einen Moment flackern, «… eine Raum, voll mit Bücher. Alte Bücher. Dort Ihr werdet Vergangenheit und Zukunft in eine Person begegnen.»

Unsicher flüsterte Eleanor: «Was bedeutet das?»

Die Zigeunerin öffnete ihren Mund zu einem gehauchten Lachen, und Eleanor sah mit einem Schaudern in diese dunkle Höhle, in der nur noch wenige braune Zahnstümpfe steckten.

«Das Ihr werdet verstehen, wenn geschieht. Und wird geschehen.» Nervös glitten ihre Finger mit den vergilbten Nägeln abermals über die Handinnenfläche ihrer Kundin. «Da fühlen ich Freundschaft, aber auch Eifersucht und … und … Tod.»

Eleanor zog ihre Hand zurück. «Schluss!», sagte sie schroff, «Schluss!» und drehte sich ab, wollte möglichst schnell fort von der Frau, doch die Finger der Alten hatten sich in ihren Nerzmantel verkrallt. «Gebt mir meine Penny!» Und dann kicherte sie und hielt ihre faltige Hand auf. Hastig kramte Eleanor eine Münze aus ihrem Täschchen, legte sie mit einem Anflug von Ekel in die kalte Handfläche und eilte davon, während es hinter ihr hallte: «Hi, hi, hi, Glück und Unglück, chin und zurück, chin und zurück, hi, hi, hi.»

Die Begegnung mit der Wahrsagerin ließ Eleanor keine Ruhe. Was hatte sie mit Vergangenheit und Zukunft in einer Person gemeint? Und was mit Tod? Wen würde es treffen? Tod. Die ganze Zeit hämmerte dieses Wort in ihrem Kopf, sie konnte es einfach nicht mehr zum Schweigen bringen. Obwohl ihr die Erinnerung an jenen Abend Gänsehaut verursachte, musste sie die Zigeunerin erneut aufsuchen, sie fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Wäre sie bloß nicht so überstürzt davongeeilt!

Wiederholt suchte Eleanor in der Nähe der Westminster Abbey nach der blinden Frau, doch der Platz unter der Laterne blieb leer, und auch in den angrenzenden Straßen und Gassen konnte sie die Wahrsagerin nicht entdecken. Es kam ihr vor, als hätte ihr an jenem Abend ein runzliges Gespenst aus der Hand gelesen. Sie war verwirrt und suchte jemanden zum Reden, doch alle, denen sie von ihrer Begegnung erzählte, lachten sie aus. Handleserei sei barer Unsinn und schlimmster Aberglaube und wie sie bloß auf so ein Weib habe hereinfallen können. Aus Trotz und weil sie beweisen wollte, dass sie kein leichtgläubiges Ding war, entschloss sie sich, der Sache nachzugehen. Es war vielleicht das erste Mal, dass sie eine eigene Entscheidung traf, von der Wahl ihrer exquisiten Garderobe einmal abgesehen. Welchen Raum mit Büchern mochte die Zigeunerin gemeint haben? Eine Bibliothek womöglich? Die King’s Library? Das war zweifelsohne ein Raum voll mit alten Büchern.

Während mehreren Wochen ging Eleanor fast täglich hin, aber nichts von Bedeutung geschah. Keine Begegnung, noch nicht einmal eine flüchtige. Sie war unsicher, ob es nur am falschen Zeitpunkt lag oder ob die Zigeunerin vielleicht etwas anderes gemeint hatte. Womöglich war gar nicht die königliche Bibliothek gemeint, sondern nur irgendein Antiquariat. Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht? Zwischen Jane Austen und Daniel Defoe würde sie bestimmt jene geheimnisvolle Person treffen, die sie aus ihrer Tristesse herausholte. Schließlich hatte die Zigeunerin nicht nur diesen Raum mit alten Büchern gesehen, sie hatte auch von Freundschaft gesprochen, und daran glaubte Eleanor felsenfest, denn nichts erhoffte sie mehr als eine neue Liebe.

Sie klapperte Antiquariat um Antiquariat ab, wo sie stets ratlos zu den überfüllten Regalen aufschaute, und wenn sie einer der Buchhändler fragte, wonach sie suche, wusste sie es nicht, sie wolle nur ein wenig stöbern, wenn das gehe, und in der Verlegenheit kaufte sie dann ein Gedichtbändchen oder einen Liebesroman. Sie hatte nicht das Geringste erreicht, nur der Stapel verstaubter alter Bücher in der Red Mansion wuchs und wuchs. Als der Butler fragte, wo man die Bücher einordnen solle, sagte sie bloß, man könne sie wegwerfen oder verschenken, es sei ihr egal.

Im Februar sanken die Temperaturen so tief wie noch nie in diesem Winter, und Eleanor verließ eine weitere Buchhandlung auf ihrer endlosen Suche. Die Kälte umklammerte sie, und sie hasste sich selbst für ihre hilflosen Bemühungen. Energisch winkte sie ein Cab herbei. Der Kutscher klappte das Trittbrett herunter, die Kundin raffte ihren bodenlangen Pelzmantel, stieg ein und nannte ihm die Adresse. Erschöpft lehnte sich Eleanor zurück und schalt sich im Stillen: Dies, Mrs Devlin, ist dein letzter Anlauf gewesen. Vergiss die Wahrsagerin, vergiss den Raum mit den alten Büchern, vergiss die ganze unselige Geschichte!

Nach einer Weile realisierte sie, dass der Kutscher in Richtung East End fuhr. Wahrscheinlich hatte er die Adresse falsch verstanden, glaubte wohl, sie sei eine von diesen wohltätigen Ladys, die in den Osten der Stadt fuhren, um den Armen zu helfen. Nun, dann hätte sie wohl kaum den Nerz angezogen. Sie ärgerte sich und wollte bereits reklamieren, als sie innehielt. Nur kurz hatte sie es gesehen, dieses heruntergekommene Antiquariat, aber es zog sie auf magische Art und Weise an. Sie vergaß alle Vorsätze, ließ unverzüglich anhalten, bis zum Geschäft umkehren, stieg aus und bezahlte den Kutscher. Zögerlich näherte sie sich dem Laden. Tür und Schaufensterrahmen waren in flaschengrüner Farbe gestrichen, die an manchen Stellen abgeplatzt war, und über die Breite der Fassade erstreckte sich in verwitterten Goldlettern der ehrenwerte Name der Buchhandlung: Penn’s Antiquarian & Rare Books, ergänzt durch den kleinen Zusatz since 1798. Der Laden hatte zweifelsohne schon bessere Tage gesehen, aber noch immer hielt er sich standhaft an diesem Ort des Zerfalls.

Eleanor trat ein, das Türglöckchen bimmelte, und vor ihr tat sich ein hoher, zweigeschossiger Raum auf. Linker Hand führte eine Wendeltreppe zu einer offenen Galerie. In der spärlichen Beleuchtung konnte sie das tatsächliche Ausmaß des Antiquariats nur erahnen, aber es erschien ihr weit größer als alles, was sie bisher gesehen hatte. Von außen mochte das Geschäft des Herrn Penn nicht viel hermachen, aber das Innere war überwältigend, ein riesiger Gnadenhof für alles, was man zwischen Buchdeckeln fassen konnte. Romane, Erzählungen, Fachliteratur, Folianten und mehrbändige Werke, schmale Hefte und wertvolle Raritäten. Türme, Mauern, Wände und Säulen aus altem Papier und brüchigem Leder, das ganze Gebäude schien aus Schrift errichtet. Verwundert drehte sie sich, und ihr war, als könnte sie die Stockflecken und die Schwärze der Druckerfarbe riechen, den Duft von alten Geschichten und das zarte Parfum gepresster Blumen zwischen Löschpapier, den Gestank von schimmligen Einbänden, den frischen Wind eines kommenden Abenteuers.

Seltsamerweise sah sie weit und breit keine Menschenseele, und es war so still, dass sie bei jeder Bewegung das Rascheln ihres Unterkleides hören konnte. Doch als sie gerade überlegte, ob sie durch Rufen auf sich aufmerksam machen sollte, tauchte plötzlich ein Mann in einem altmodischen, leicht abgewetzten Samtanzug aus der Düsternis auf, neben sich ein altersschwacher Bullterrier mit einem halben Ohr.

«Womit kann ich dienen, Milady?»

Eleanor starrte den Mann an. Noch selten hatte sie einen derart missgestalteten Menschen gesehen. Ein Schiefhals zwang ihn in eine bedauerliche Haltung, er hatte das Gesicht einer Krähe, und seine Hände waren von der Gicht gekrümmt. Trotzdem strahlte er Würde aus, und Eleanor starrte diese sonderbare Erscheinung sprachlos an.

«Milady?», wiederholte er sachte.

Eleanor zuckte zusammen. «Ja, also ich … ich suche Bücher über …» – sie wusste auch diesmal nicht, wonach sie suchte –, «nun ja, über …»

«… über die geheimen Wissenschaften?»

Sie hatte keine Ahnung, was er damit meinte, aber wie es aussah, war sie nicht die Einzige, die an solcher Literatur interessiert war. Das Antiquariat musste eine bekannte Adresse für diese Art von Büchern sein. Zaghaft nickte sie, und der Buchhändler zeigte mit seinem gekrümmten Finger in die Tiefe seines Reichs.

«Bitte folgt mir, Milady!»

Er lotste die vornehme Kundin durch diesen einzigartigen Irrgarten, vorbei an hohen Regalen, die so nah standen, dass Eleanor kaum atmen konnte. Vor einem Tischchen mit einer Argand-Öllampe blieb der Antiquar stehen, schob das Kinn vor und zeigte in einen Gang zwischen zwei langen Regalen. «Astrologie, Numerologie, Handlesen, Tarot, Alchemie, Hexerei, schwarze Magie, Freimaurerei, Geisterbeschwörung, Voodoo, Literatur über Vampire, Werwölfe, Hexen und Dämonen – was immer Ihr sucht, Milady.» Dann entfernte er sich geräuschlos und ließ seine Kundin in der okkulten Sammlung allein. Eleanor war konsterniert. Was sollte sie hier? Abwesend zog sie ihre Handschuhe aus. Sanft fuhr sie mit den Fingerspitzen über die Buchrücken und las nacheinander einzelne Titel oder flüsterte die Namen von ihr unbekannten Autoren. Vorsichtig kippte sie ein erstes Buch aus dem Regal, schlug es auf, begann zu lesen. Eine ungeahnte Faszination ergriff sie. Planlos wühlte sie sich durch die Buchreihen, zupfte hier ein kleines Werk heraus und dort einen dicken Wälzer, setzte sich an den Tisch, blätterte, vertiefte sich in einzelne Abschnitte, bestaunte die Abbildungen. Der Lesestoff nahm sie derart gefangen, dass sie nicht merkte, wie die Zeit verging, und als plötzlich Penn neben ihr auftauchte, schrak sie auf wie aus einem Traum. Er bat um Verzeihung für die Störung, aber er müsse nun das Geschäft schließen. Eleanor ließ sich einen Stapel Bücher einpacken, und als sie zurück in der Red Mansion war, begann sie sofort, begierig zu lesen, geriet völlig in den Sog dieser ihr bis dahin unbekannten Materie.

Von da an besuchte sie das Antiquariat regelmäßig, fühlte sich auf eigenartige Art und Weise wohl in Penn’s Antiquarian & Rare Books. Der Inhaber mochte ein schräger Vogel sein, aber er war gebildet und von angenehmer Zurückhaltung.

Eleanor war einsam, unausgefüllt und ziellos gewesen, das machte sie empfänglich für alles, das diese Stumpfheit zu durchbrechen vermochte. Geheime Praktiken, Tischrücken, Untote, Weissagungen, Kristallkugeln – diese ganze irreale Welt hatte bei ihr Türen aufgestoßen. Sie begann, immer und überall auf Zeichen zu achten und diese zu deuten. Nichts war mehr Zufall, die Wahrsagerin nicht und nicht der Kutscher, der in die falsche Richtung gefahren war.

Clifton hatte keine Ahnung, was seine Mutter den ganzen Tag trieb. Er sehnte sich nach ihrer Zuneigung, aber solange er denken konnte, hielt sie zu ihm Distanz. Da sie ihn nicht in ihr Leben ließ, zog er sich weiter in die Düsternis zurück, streifte durch Friedhöfe, nahm an Beerdigungen von Menschen teil, die er gar nicht kannte, verschlang Schauerliteratur und Groschenromane mit gruseligen Titelbildern, die von manchen abschätzig «Penny Dreadfuls» genannt wurden.

Seine Mutter merkte nicht, dass seine Seele immer mehr zu einer Katakombe wurde, aber es gab Mitbewohner in der Red Mansion, die aufmerksamer waren. Zu ihnen gehörte eines der Dienstmädchen, Mary, ein junges Ding vom Land mit roten Wangen, das mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Ihre Aufgabe war es, das Zimmer des jungen Gentleman in Ordnung zu halten. Jeden Morgen huschte sie in ihrem schwarzen Kleid mit der weißen Schürze durch diese Gruft mit der bordeauxroten Tapete, der dunklen Boiserie und den schweren Möbeln, schob unter Anstrengung die Vorhänge zur Seite, die dick waren wie Teppiche, ließ für einen Moment Licht und Luft in den Raum und fuhr dann – ein Liedchen summend – mit Lappen und Staubwedel über das Mobiliar und die Stapel von Büchern. Es hatte sie nie gereizt, sich die Bücher anzuschauen oder gar darin zu lesen, alles Geschriebene war für sie ein Hindernislauf. Aber da eines der Bücher offen dalag, trat sie doch einmal neugierig näher. Der junge Herr war nicht im Haus, und seine Mutter ging nie in das Zimmer, Mary wusste, es würde sie niemand stören, daher begann sie, hier und dort zu blättern, starrte auf die schauerlichen Abbildungen und quälte sich mühsam durch ein paar Sätze. Was war das bloß für seltsames Zeug, dachte sie und schüttelte ratlos den Kopf. O, diese feinen Herrschaften und ihre eigenartigen Vorlieben. Das sollte eine wie sie verstehen. Während sie die Bücher wieder zuklappte und sich erneut ihrem Staubwedel widmete, dachte sie an den Richter, bei dem sie in Diensten gestanden hatte. Altes Operationswerkzeug hatte der gesammelt, obwohl der vom Menschen-Aufschneiden und -Zunähen weniger Ahnung hatte als der Stalljunge vom Vornehmtun. Und ihre letzte Landlady, eine alternde Schauspielerin, hatte ihren verstorbenen Mops ausstopfen und auf ein Brett mit kleinen Rädern montieren lassen, um ihn hinter sich herzuziehen wie ein Kind ein Spielzeug. Das waren verschrobene Erwachsene, aber der junge Devlin war doch noch ein halbes Kind. Wenn sie Kinder hätte, niemals würde sie ihnen so etwas zu lesen geben.

Nachdem sie ihren Rundgang erledigt hatte, ging sie hinunter zur Köchin, um ihr zu berichten. «Also du wirst es nicht glauben, was ich in dem Zimmer von dem jungen Gentleman gesehen habe.»

Die Köchin sah sie nur mit stoischer Ruhe an und konzentrierte sich dann wieder auf die Zwiebeln vor ihr.

«Der liest sonderbare Sachen von Monstern, Untoten, Blutsaugern, Hexen und so Gruselgestalten.»

Nun sah die Köchin das Mädchen scharf an. «Ich habe es schon immer geahnt.»

«Was hast du geahnt», sagte Mary und schob sich ein Stück Zwiebel in den Mund.

«An dem jungen Herrn ist etwas, das einem Angst machen kann. Nur schon sein Aussehen.»

«Was meinst du damit?»

«Sein Haar und seine Augen sind schwarz wie das Pianoforte drüben in der Bibliothek, aber seine Haut ist blass wie die seiner Mutter. Er sieht doch selber aus wie eines von diesen Wesen, die das Sonnenlicht scheuen.»

Das Dienstmädchen überlegte kurz. «Jetzt, wo du es sagst. Ja, als wär da gar kein Blut in ihm drin, als hätten ihn die Vampire ausgesaugt.»

Die Köchin sah vor sich hin. Sie griff zur Roten Bete, und während sie das Gemüse schälte, färbten sich ihre Hände rot.

DER  TOD  DES  VATERS

Etwa zur gleichen Zeit, als in London der Fabrikant Devlin in einer pompösen Zeremonie zu Grabe getragen worden war, hatten sich in der Schweiz, im Bündnerland, die Bewohner des kleinen Dorfes Fanell im Hellig-Garta – so ihr Name für den Friedhof – versammelt, um von einem der Ihren Abschied zu nehmen. Es war der Furger Jöri, ein redlicher Bauer, endlich erlöst von der Tschifera, die er sich wie alle anderen hatte auf den Buckel schnallen müssen, um Waren die Alp hoch, die Alp hinunter und über die Pässe zu schleppen, gab es doch keine Straße, die in diese abgelegene Ritze führte. Der Sarg war einfach, und, wie bei Verheirateten Sitte, schwarz angestrichen. Auch das Holzkreuz war bescheiden, trug lediglich die Jahreszahlen 1829–1876 und Jöris Initialen J. J. F. Schief steckte es im gefrorenen Boden. Leichter Schneefall legte sich als puderige Schicht auf die schwarze Kiste und die frierende Trauergemeinde. Der Pfarrer, sonst ein überschäumender Prediger, hielt keine große Grabrede. In einem Dorf wie Fanell kannte jeder jeden, keiner konnte besser und keiner schlechter gemacht werden, nachdem er sich auf die letzte Reise begeben hatte.

An Begräbnissen, Kindstaufen und Hochzeiten nahm stets die ganze Dorfgemeinschaft teil, doch heute fehlten gleich zwei Gemeindemitglieder. Dass der Ungläubige der Bestattung fernblieb, war normal. Er kam nie in die Kirche, und dem kleinen Friedhof würde er auch so lange fernbleiben, bis er selbst in einer dieser Kisten lag. Doch neben dem Heiden ließ sich auch der älteste Sohn des Verstorbenen nicht blicken. Alle wussten, dass er die ganze Nacht dem Schnaps zugesprochen hatte. Allerdings nicht aus Trauer. O nein. Albert hatte gefeiert, denn als Erstgeborener war er nun der Herr auf dem Arvahof. Endlich!

Während der betrunkene Sohn auf einem Ballen Stroh lag wie ein nasser Lappen, stand Jöri Furgers Witwe in Tränen aufgelöst am Grab. Ihr Mann war die Liebe ihres Lebens gewesen, für ihn war sie sogar in dieses abgeschottete Tal gezogen. Überwältigt von der Trauer, betete sie in einem fort. Nie wieder würde sie damit aufhören. Neben ihr standen ihre achtzehnjährige Tochter Silvia, die mit leerem Blick auf den Sarg starrte, und ihr zwölfjähriger Sohn Andreas, der hemmungslos weinte. Mit verschwommenem Blick sah der Bub hinunter in das Loch, dieses letzte Ruhebett aus feuchter Erde, Wurzeln und Würmern. Immer wieder wischte er sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen und dachte über die Vergänglichkeit nach, fragte sich, wo sein Vater wirklich hinging. Es war das erste Mal, dass er an etwas zweifelte, das er nie zuvor infrage gestellt hatte.

Als Andreas nach der Beerdigung wieder zu Hause war, spürte er den Drang, zurück zum Hellig-Garta zu gehen. Er musste mit seinem Vater reden, irgendwie, und sei es, dass er seine Fragen und Anliegen diesem Kreuz vorbringen musste, das auf dem frischen Grabhügel stand. Und so lief der Junge in den folgenden Wochen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Gottesacker, dessen Tor schief in den verrosteten Angeln hing und immer offen stand, als wollte es sagen: Komm herein, Bub, dein Vater freut sich schon auf deinen Besuch.

Jöri Furger hatte die Familie zusammengehalten. Selbst der missratene Älteste, Albert, hatte vor dem Vater einen Heidenrespekt gehabt. Doch seit dessen Tod war nichts mehr wie früher. Andreas konnte diese plötzliche Wendung in seinem Leben nicht begreifen, zu viel war über ihn hereingebrochen, er suchte nach einer Erklärung, einem Grund. War es eine Strafe? Oder lag es an den Heiligen, die ihn vergessen hatten?

Der Winter ging bereits dem Ende zu, als Andreas wieder einmal dem Vater einen Besuch abgestattet hatte. Er wollte den Friedhof schon verlassen und zum Arvahof zurückgehen, als er plötzlich auf halber Strecke kehrtmachte und auf die Kirche zuhielt. Er zog das schwere Holzportal auf, über dem die Jahreszahl 1629 eingeritzt war, und trat ein. Er wollte zu San Bäärtlema und zum Einarmigen. Vielleicht könnten sie ihm sagen, was er tun und glauben sollte. Im Kircheninnern empfing den Buben der übliche Geruch aus Paraffin und Feuchtigkeit. Kurz streifte sein Blick das schmucklose Kreuzgewölbe, die Holzbänke, die mit etwas Schnitzwerk und zwei gewundenen Säulen verzierte Kanzel und den Altar mit dem spitzenumrandeten Altartuch, um dann an den Fresken mit den zwölf Aposteln hängen zu bleiben. Der heilige Bartholomäus oder eben San Bäärtlema war nicht nur der Schutzpatron von Fanell, sondern auch der Beschützer gegen Dämonen. Andreas ging näher und strich mit den Fingerspitzen über dessen Abbild. In Fanell berührten die Gläubigen nach jedem Kirchgang das Fresko des Apostels, da sie glaubten, derart sicher vor allem Bösen zu sein, doch mit den Generationen hatte das Wandgemälde gelitten, der Heilige war fadenscheinig geworden, sein Gesicht kaum mehr zu erkennen. Das war Andreas zuvor nie aufgefallen, aber nun fragte er sich, ob der Apostel langsam seine Kräfte verlor und was wohl sein würde, wenn San Bäärtlema ganz von der Wand verschwunden wäre? Kämen dann die Dämonen ins Dorf?

Nachdenklich schritt er durch den Mittelgang, kniete in der vordersten Kirchenbank nieder und sah in die mit wenig Stuck und ein paar Vergoldungen etwas opulenter gestaltete Apsis. In ihrer Mitte hing ein von einem einst bekannten Holzbildhauer geschaffenes Kruzifix. Leider fehlte dem lebensgroßen Heiland der rechte Arm. Das sakrale Kunstwerk hatte sich beim Transport aus dem Schwabenland aus der Befestigung gelöst, und beim unglückseligen Sturz vom Saumpferd war der linke Arm abgebrochen und in dem gierigen Schlund der Schlucht verschwunden. Da die Faneller den verunglückten Heiland nicht nochmals den weiten Weg zum Künstler zurücktransportieren wollten, um den Schaden beheben zu lassen, beließen sie es dabei. Da das Ereignis bereits zwei Jahrhunderte zurücklag, gab es nicht wenige Dörfler, die behaupteten, dies sei bloß Legende, in Tat und Wahrheit habe der Teufel diesen wichtigen Teil des Leibes Christi geholt. Andreas war es einerlei, er hatte nie einen anderen Heiland gekannt als ebenden mit nur einem Arm. Andächtig kniete er in der Bank, faltete die Hände und begann, mit dem Sohn Gottes zu reden. Er stellte Frage um Frage und hoffte, der Heiland würde ihm ein Zeichen schicken, eine Botschaft, die ihn beruhigen und den Sturm in seinem Kopf besänftigen würde. Leider blieben die Zeichen aus, und der Bub kam zur Erkenntnis, dass der Einarmige womöglich doch nicht der richtige Gesprächspartner war.

DER  UNGLÄUBIGE

Für Andreas sah es nicht gut aus. Seine Mutter hatte sich völlig in die Frömmigkeit geflüchtet, lebte in ihrer verschlossenen Welt des Gebets und überließ den Halbwüchsigen sich selbst. Seine Schwester Silvia hatte kurz nach dem Tod des Vaters den Dorflehrer geheiratet und war ausgezogen. So war Andreas allein mit dem beschränkten Knecht Walterli auf dem Hof zurückgeblieben, ausgeliefert den Launen seines Bruders. Der Arvahof – der Name rührte von der über fünfhundertjährigen Arve, die hinter dem Stall stand – war ein guter Hof, der eine große Familie zu ernähren vermochte, doch der dreiundzwanzigjährige Albert war ein hitziger Bursche, das bisschen Verstand, das er besessen haben mochte, hatte er versoffen, und man konnte zuschauen, wie er alles herunterwirtschaftete. Einige Faneller hatten vergeblich versucht, mit ihm zu reden, aber sie mussten den Hof unverrichteter Dinge verlassen und schimpften, bei dem sturen Hund beiße man auf Valser Quarzit, eher bewege sich das Zervreilahorn als der.

Doch obwohl die Tristesse niederschmetternd war, wollte Andreas die Hoffnung nicht aufgeben, träumte gar davon, auf ein Gymnasium zu gehen. Aber für einen wie ihn war eine höhere Schule weiter weg als das Land der Franzosen oder Amerika, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich mit Büchern zu behelfen. Dumm nur, dass es im oberen Valsertal an Büchern mangelte. Die Väter gaben ihr Wissen mündlich an ihre Söhne weiter, und die Mütter ebenso an ihre Töchter, und abends brütete man nicht über bedrucktem Papier, sondern ließ sich alte Sagen und Legenden erzählen. Trotzdem fanden sich selbst in einem Dorf wie diesem ein paar wenige, die Bücher lasen. Es waren genau deren drei. Einer war Hannes, der Mann von Andreas’ Schwester Silvia. Unglücklicherweise war sein Steckenpferd die griechische Mythologie, und damit konnte Andreas nichts anfangen. Er wollte verstehen, wie die wahre, die jetzige Welt funktionierte, wie sich die Räder in den Maschinen drehten, wie der Dampf aus der Lokomotive kam, wie man den Umfang der Erdkugel messen konnte, wie groß die Distanz bis zum Mond war, und was es nun genau mit dem Leben und dem Tod auf sich hatte. Der zweite Leser des Dorfes war der Pfarrer. Wie zu erwarten, war die Bibliothek des Seelsorgers recht einseitig ausgerichtet, sein ganzer Stolz eine in rotes Leder gebundene Erstausgabe mit dem Titel Katholischer Katechismus, verfasst von einem Johann Nepomuk Neumann, ehemaliger Bischof von Philadelphia. Das rote Buch mochte für die Faneller eine Art geistig-spirituelles Lexikon sein, das bei allen Fragen, die über das Melken, Schlachten und Heuen hinausgingen, zurate gezogen wurde, aber bei dem Zwölfjährigen hielt sich die Neugier diesbezüglich in Grenzen. Trotzdem wandte Andreas sich in seiner Not auch an den Geistlichen. Er könne ihm zwar keine Lektüre ausleihen, sagte dieser, aber er solle eine halbe Stunde nach der Abendmesse in die Kirche kommen, dann könnten sie gemeinsam in den Büchern nach Antworten suchen.

Als sich der Bub zur vereinbarten Zeit im Gotteshaus einfand, wies ihn der Priester in die hinterste Bank und setzte sich dicht neben ihn. Andreas mochte den Mann nicht. Alles an ihm war spitz und dürr und hart, seine Ellbogen, die durch den Stoff drückten, seine Finger, die er so oft zu einem knochigen Knäuel faltete, und ebenso seine Nase, die wie ein kahler Zweig aus seinem hageren Gesicht ragte. Nur die Lippen waren wulstig und feucht und wirkten wie ein Fremdkörper in der kantigen Physiognomie. Was ihn beschäftige, fragte der Pfarrer, und nachdem ihm Andreas geantwortet hatte, öffnete der Geistliche den Katechismus, blätterte hin und blätterte her, hielt an einer Stelle inne, las, oder tat zumindest so, als würde er lesen, und bog sich dann mit gespitztem Froschmaul zu dem Halbwüchsigen hinüber, so nah, dass er mit den Lippen gar dessen Haar berührte, um ihm irgendeine unbefriedigende Antwort ins Ohr zu flüstern.

Nach dem zweiten Treffen eröffnete Andreas dem Priester, dass die Ratschläge aus dem Katechismus nicht das seien, was er zu erfahren erhofft hatte. Der Gottesmann schob sein spitzes Kinn vor und meinte, er habe noch ein ganz besonderes Buch, drüben, in der Sakristei. Erwartungsvoll folgte ihm der Zwölfjährige in den Raum, wo die liturgischen Gewänder und Gefäße aufbewahrt wurden. Der Geistliche tat schrecklich geheimnisvoll, schloss gar die Tür.

Während er allein mit dem Buben in der Sakristei war, hatte sich der Mesner wie immer zu dieser Zeit an die Orgel gesetzt, um die Lieder für die Sonntagsmesse einzuüben. Als Andreas völlig verstört aus der Sakristei kam, vermochte er den Klang der Orgel kaum zu ertragen, hielt sich gar die Ohren zu. Ihm war, als würden unsichtbare Hände seinen Hals zudrücken. Danach mied er den Priester und hasste die Orgelmusik.

Außer Hannes und dem Seelsorger blieb nur noch einer übrig, der es mit dem Lesen hatte. Es war ausgerechnet der Ungläubige. Der Außenseiter lebte am Rand des Dorfes, und noch nie hatte ein Faneller auch nur mit der Zehenspitze sein Haus betreten.

Das mit dem Ungläubigen war ein echtes Problem, und immer wenn Andreas ein Problem hatte, besprach er sich zuerst mit seinem Großvater, dem Enna. Im Dorf nannte man den Alten auch Saga-Furger, weil er besser Geschichten erzählen konnte als jeder andere, und ein wenig sah er auch selbst aus wie eine Figur aus einem Märchen. Er war klein und sehnig, hatte die dunkle, wettergegerbte Haut der Bergler, während sein immer noch volles Haar, der lange Bart und die buschigen Augenbrauen weiß wie Milch waren. Der alte Mann liebte dieses Tal, hier war er geboren, hier würde er zu Grabe getragen werden, nie hatte er etwas anderes gewollt. Nur seine Tochter Vreena, mit der er unter demselben Dach hauste, machte ihm zuweilen das Leben schwer. Die Ledige war eine ganz Zimperliche, pingelig und rechthaberisch. Sie war wohl unzufrieden mit ihrem Leben, denn in ihrem Inneren glomm immer noch das Feuer der Leidenschaft, auch wenn langsam die Einsicht wuchs, dass sie als alte Jungfer enden würde.

Der Saga-Furger betätigte sich im Vorhus, wo allerlei Gerätschaften lagerten. Dabei veranstaltete er einen derartigen Lärm, dass man es schon von Weitem hören konnte. Andreas trat an die zweiteilige Tür, deren oberer Teil offen stand – ein Zeichen, dass Besucher willkommen waren.

«Guota Tagg, Enna», sagte er, doch der alte Mann reagierte nicht.

«Er denkt, ich würde mit ihm reden, deshalb stellt er sich taub», murrte die Ledige, die soeben aus dem Holzschopf gekommen war, Brennholz für das Küchenfeuer in den Armen. «Hast wieder wichtige Dinge zu besprechen, hm?» Es war eine Feststellung, sie erwartete keine Antwort.

Andreas öffnete den unteren Teil der Tür und betrat den Vorraum.

«Herrgott, da drin ist es dunkel wie im Magen eines Rindviehs», sagte Vreena. «Kannst ja nichts sehen, Vater.»

«Jaja», brummte er abwesend.

Da sie keine Hand frei hatte, schubste sie ihn mit dem Fuß. «Besuch für dich.»

Der Alte drehte sich zum Eingang. «Ach, Bub, du. Habe dich eine Weile nicht gesehen. Komm, lass uns ein wenig plaudern, aber nicht hier. Deine Tante hat schlechte Laune, lassen wir sie allein.» Er nahm die Jacke vom Haken und ging mit seinem Enkel vors Haus, wo sie sich auf das verwitterte Bänkli neben dem Holzstoß setzten. Der Herbst nahte, das Licht war schwer und gelb, und weit oben schimmerte der Ewige Nebel wie eine Rauchfahne.

«Sag, Enna», begann Andreas, «wie war das eigentlich damals, als der Ungläubige in unser Dorf gekommen ist?»

Der Alte kramte seine Tabakpfeife aus dem Hosensack, blies kurz hinein und schob sie in den Mundwinkel. Seit er gemerkt hatte, dass ihm das Paffen nicht bekam, begnügte er sich zumeist mit einer kalten Pfeife. «Wozu willst du das wissen?»

«Es interessiert mich halt.»

«Soso. Interessieren tut es dich. Tja, wie war das noch?» Der alte Mann zupfte an seiner Nasenspitze, als ob er damit dem Gedächtnis auf die Sprünge helfen könnte. «Du warst sechs oder sieben Jahre alt, so genau weiß ich das nicht mehr, da ist der Breitenmoser mit ein paar Schafen, einem klapprigen Saumpferd, einem Haufen Zeugs und seinem Hund wie aus dem Nichts hier bei uns aufgetaucht, hat mit keinem geredet, ist nur mit gesenktem Kopf durchs Dorf getrottet, und wir haben ihm nachgesehen und uns gefragt, was der wohl will. Wie wir erfuhren, war er der neue Besitzer vom verlotterten Truffer-Hof, hat nach dem Tod des Bauern den Hinterbliebenen Haus, Stall und das bisschen Weideland für ein paar Franken abgekauft.»

«Und dann?»

«Dann kam der Sonntag. Du kannst dir denken, dass sich ganz Fanell in die Kirchenbänke gedrückt und gespannt auf den Neuen gewartet hat, aber der ließ sich nicht blicken. Nicht ein einziges Mal ist der zum Gottesdienst erschienen. Hin und wieder ist er im Dorf aufgetaucht, weil er Werkzeug kaufen wollte oder ein Stück Vieh, aber keinen Schritt hat der über die Schwelle unserer Kirche gesetzt. So ein schwarzes Schaf in seiner Herde hat dem Herrn Pfarrer natürlich gar nicht gefallen.» Wie alle war auch der Saga-Furger ein gläubiger Katholik, aber den Geistlichen mochte er nicht. Bisher hatte Chur ihnen immer junge Kaplane geschickt, und er fragte sich, warum plötzlich einen gestandenen Priester für ein kleines Dorf wie Fanell.

«Was ist dann passiert?»

Der Alte kratzte die einzelnen Stücke der Erinnerung zusammen. «Ähm, ein paar Tage nach der Ankunft des Neuen ist der Herr Pfarrer mit Riesenschritten und seinem Lieblingsbuch unter dem Arm durchs Dorf gestapft, halb Fanell hinter ihm her. Dann hat er energisch an die Tür vom Truffer-Haus geklopft und gerufen, warum er, der Breitenmoser, nie zur heiligen Messe erscheine. Doch nichts hat sich geregt, es war so still, als ob gar keiner in dem Haus gewohnt hätte. Aber der Herr Pfarrer ist keiner, der sich einfach abwimmeln lässt, der hat weiter mit seiner Faust gegen das Holz gepoltert, und da ist die Tür doch noch aufgegangen, und der geheimnisvolle Neue hat sich mit verschränkten Armen unter den Sturz gestellt. Der Priester hat sich gestreckt und ihn erneut gefragt, warum er sich nie in der Kirche blicken lasse, und da hat der Breitenmoser ganz ruhig gesagt, er komme nicht zur Messe, weil …», der Saga-Furger räusperte sich, und für einen Moment zögerte er, weil er sich fragte, ob es richtig war, seinem Enkel das alles zu erzählen.

«Weil?», drängte Andreas.

«Weil diese Sache mit der Dreifaltigkeit reine Erfindung sei, weil Jungfrauen keine Kinder zur Welt bringen würden, und weil der Teufel niemals bade. Da haben sich alle schleunigst bekreuzigt, und der Pfarrer ist so rot geworden wie sein Katechismus.»

«Warum können Jungfrauen keine Kinder zur Welt bringen?»

«Da frag jemand anderes, Bub, sicher möchtest du wissen, was danach geschehen ist.»

«Schon, aber …»

«In seiner Verzweiflung», fuhr der Enna unbeirrt fort, «hat der Herr Pfarrer dem Breitenmoser den Katechismus entgegengestreckt, grad so, als wäre er der leibhaftige Moses mit den Gesetzestafeln, und als er zu einer Strafpredigt ansetzen wollte, hat ihn der Breitenmoser unterbrochen und gesagt, er könne das Buch wieder einstecken, denn er lese keine Märchen. Das hat dem Herrn Pfarrer derart die Sprache verschlagen, dass er mit flatternder Soutane ins Gotteshaus geflüchtet ist. Ein altes Weiblein will gesehen haben, wie er beide Hände ins Weihwasserbecken getaucht habe, als hätte er dem Tüfel persönlich die Hand geschüttelt.»

«Und seither heißt der Breitenmoser nur noch ‹der Ungläubige›.»

«Genau so ist es. Doch die Aufregung hat sich längst gelegt. Er ist Teil unserer Gemeinde wie du und ich, der tut keinem was, und wir lassen ihn in Frieden. Haben genug mit uns selber zu tun. Nur, er ist und bleibt ein Heide.»

Licht und Wärme schwanden von Minute zu Minute, und die Bergspitzen zeichneten sich als zackiger Scherenschnitt vor dem dämmrigen Himmel ab. Es war frisch, und die meisten Unterländer wären längst in ihre Häuser geflüchtet, doch die Bergler waren abgehärtet, und Enkel wie Großvater blieben gemütlich sitzen.

«Er mag ein Heide sein, trotzdem muss ich mit ihm reden», sagte Andreas entschlossen.

«Du musst mit ihm reden? Warum unbedingt mit ihm?»

«Wegen der Bücher.»

«Bücher», wiederholte der Alte, als wäre ihm das Wort völlig fremd. «Was wohl in den Büchern eines Ungläubigen stehen mag», sagte er leise. Dann schweifte sein Blick hoch und höher, bis er an der Spitze des Frunthorns hängen blieb, wo der letzte Funke des Tages erlosch.

Es war Ende Oktober. Die Herden hatte man über die Pässe auf die Märkte getrieben, das eine und andere Tier war geschlachtet und zu Wurst oder Trockenfleisch verarbeitet worden, im Holzschopf stapelte sich das Brennholz, in den Speichern lagerten die Wintervorräte, und das Heu lag im Trockenen. Seit Tagen schüttete es, und Fanell versank im Morast. Manch einer sah besorgt zu den Hängen hoch und hoffte, dass der Arvenwald mit seinem verwurzelten Fundament den Boden dort hielt, wo er hingehörte. Immer, wenn der Regen nicht mehr enden wollte, kehrten die Erinnerungen an das Hochwasser von 1868 zurück. Andreas war noch zu jung, um sich an jenes epochale Unglück zu erinnern, aber ihn beschäftigten in diesem Moment ohnedies ganz andere Dinge. Er hatte endlich allen Mut zusammengenommen und marschierte tapfer auf das Truffer-Haus zu. Durchnässt stand er vor der Tür und klopfte. Zunächst leise, dann lauter, damit es der Heide auch sicher hören konnte. Aufgeregt trat er von einem Fuß auf den andern, doch die Tür blieb zu, und Andreas machte sich auf den Heimweg.

In den folgenden Tagen und Wochen ging er immer wieder beim Truffer-Hof vorbei, doch stets vergeblich, wartete wie ein Reisender an einem stillgelegten Bahnhof. Am Tag, als der erste Schnee fiel, machte er sich erneut auf zum Dorfrand, klopfte und stand sich die Beine in den Bauch. Er wollte bereits wieder davontrotten, als er ein Knarren hörte. Verdutzt starrte er auf die Tür, und als sie aufschwang, überlegte er, ob er nicht doch besser das Weite suchen sollte. Aber seine Füße wollten nicht, und so blieb er stehen wie ein dummer Hackstock. Erschrocken sah er an dem Mann hoch, der wie eine Felswand vor ihm aufragte, weit größer und breiter, als er ihn im Gedächtnis hatte. Mit dem schwarzen Bart und dem dunklen Haar, das ihm bis zur Schulter reichte, dem tief hängenden Augenlid und der Narbe, die sich quer über seine Stirn zog, erschien er ihm ganz schrecklich unheimlich.

«Hast du keine andere Tür, an die du klopfen kannst?», fragte der Mann mit tiefer Stimme.

Andreas war noch immer wie gelähmt, wusste nicht, was er sagen sollte.

«Nun?» Der Ungläubige sah ihn herausfordernd an. «Weshalb bist du gekommen?»

«Ich … ich wo-wollte bloß wissen», Andreas holte tief Luft, bevor er fortfuhr, «ob Ihr wirklich so viele Bü-Bü-Bücher habt.» Jetzt war es heraus.

Der Breitenmoser sah ihn überrascht an.

«Wozu will das ein Lümmel wie du wissen?»

«Weil, weil … na, weil …»

«Weil, weil … Hä? Willst du etwa deine Nase in meine Bücher stecken?»

Der Bub zog die Augenbrauen hoch, presste die Lippen zusammen, ballte die Hände zu Fäusten, schloss die Augen und nickte kurz.

Unschlüssig strich sich der Ungläubige durch den Bart und blickte auf das magere Bürschchen hinab. «Der Katechismus des Pfarrers wird mit der Zeit etwas gar langweilig, hm?»

Wieder nickte Andreas.

Einen Moment blieb der Breitenmoser wortlos stehen, dann drehte er sich um und ließ die Tür offen. Vorsichtig folgte ihm der Bub durch den Vorraum in die Stube. Ihm war trotz der Aufregung nicht entgangen, dass auf dem Türbalken die Initialen der Heiligen Drei Könige fehlten, die jeweils am 6. Januar mit geweihter Kreide über alle Haustüren geschrieben wurden, um dem Bösen den Zutritt zu verwehren, und auch in der Stube suchte er vergeblich nach den Heiligenbildern, dem Kruzifix und dem geweihten Zweiglein vom Palmsonntag, nach Rosenkränzen und Weihwasserschälchen. Stattdessen waren die Wände gepflastert mit Zeitungsausschnitten und Seekarten, mit Zeichnungen von Meeresungeheuern, exotischen Gewächsen und fremdartigen Tieren. Dazwischen hingen bunt gemusterte Teppiche, eine zerschlissene Flagge und zwei gekreuzte Paddel, von der Decke baumelten orientalische Lampen und getrocknete und aufgeblasene Kugelfische an Schnüren, und auf einem Gestänge in der Ecke hockte ein ausgestopfter Papagei mit ramponiertem Gefieder. Fasziniert sah sich Andreas um. Er hatte das Gefühl, nicht mehr in den Alpen zu sein, sondern irgendwo in einer anderen Welt. Der Mann beobachtete den jungen Besucher, holte dann zur Verblüffung des Knaben zwei Bücher aus dem Regal, legte sie auf den Tisch und brummte, er solle aufpassen, dass er keine Eselsohren in die Seiten mache. Von da an war der Bann gebrochen, und zwischen dem mürrischen Einzelgänger und dem wissbegierigen Burschen wuchs das Vertrauen.

Später dann, im Christmonat, nahm der Breitenmoser erstmals den Atlas aus dem Buffet, setzte sich neben Andreas, fuhr mit dem Zeigefinger über die papierenen Meere, Landschaften, Berge und Flüsse und erzählte ihm seine Lebensgeschichte.

«Mit fünfzehn hatte ich genug von den Schlägen meines Vaters und bin abgehauen. In Basel habe ich auf einem Rheindampfer angeheuert, dann auf einem Klipper in Hamburg und danach auf anderen Schiffen. Glaube mir, auf See geht’s rau zu, aber dafür hab ich die Welt gesehen, Nordafrika, Madagaskar, Indien, das verfluchte Schanghai.» Dann rollte er einen Hemdsärmel hoch und zeigte auf seine Tätowierungen.

Die Augen des Jungen weiteten sich. «Gehen die nie mehr weg?»

Der Breitenmoser grinste. «Nein, die bleiben. Die gehören zu mir wie eine zweite Haut. Aber erzähl keinem davon», fügte er sogleich in ernstem Ton an, während er seinen Oberarm wieder bedeckte.

Von solchen Ausnahmen abgesehen, blieb der Mann wortkarg, und wenn Andreas zu viele Fragen stellte, sagte er nur: «Du kannst schauen und lesen, aber halt deinen Schnabel.»

Wenn er auch die Angst vor ihm verloren hatte, blieb der Breitenmoser für Andreas ein Rätsel. Er verstand nicht, weshalb sich ein Ungläubiger, der zur See gefahren war, ausgerechnet in einem stockkatholischen Dorf zwischen den harten Arschbacken der Alpen verkrochen hatte.

Dass Andreas den Ungläubigen besuchte, gab natürlich zu reden. Im Dorf glaubte man schon, der Breitenmoser bringe den Buben auf dumme Gedanken, aber der Saga-Furger wiegelte ab, sein Enkel habe lediglich eine Schwäche für Bücher. Albert, der es gar nicht mit den Buchstaben hatte, konnte es nicht ertragen, wenn sein Bruder zum Haus des Gottlosen ging. In seinen Augen war dieses gedruckte Zeugs etwas für Schwächlinge. Überhaupt hatte der Nichtsnutz gefälligst seine Arbeit zu machen, statt zu lesen. Wenn er ihn wieder einmal erwischte, wie er vom Breitenmoser kam, packte er ihn am Hosenbund, verpasste ihm ein paar saftige Ohrfeigen und zeterte, dass man es bis in die Nebentäler hören konnte. Doch Andreas ließ sich nicht beirren. Er wartete, bis der Wutanfall seines Bruders vorüber war, und machte sich bei der nächsten Gelegenheit wieder auf zum Ungläubigen.

RHYS

Wieder einmal stöberte Eleanor in Penns Antiquariat. Sie kam oft, aber nicht nur, wenn sie etwas Neues zum Lesen suchte, sondern weil sie nach wie vor an die Weissagung der Zigeunerin glaubte. Es hatte jedoch weniger mit Hellseherei zu tun, dass sie tatsächlich jemandem begegnete, der ihrer Einsamkeit ein Ende bereiten sollte.

Penn hatte das gut erhaltene Exemplar eines Buches mit dem Titel A Biography of the Brothers Davenportby T. L. Nichols frontal ins Regal gestellt. Mit ihren spiritistischen Vorstellungen feierten die Brüder Davenport sowohl in Amerika als auch in Europa Triumphe. Ihre erfolgreichste Nummer, der sogenannte «Wunderschrank», war sogar durch den Ghost Club untersucht worden, der ersten Vereinigung in England, die sich mit Geistererscheinungen beschäftigte. Einerlei. Dieses Buch hatte gleichzeitig Eleanors Aufmerksamkeit und die einer anderen Frau auf sich gezogen, und sie waren ins Gespräch gekommen.

«Eleanor Devlin.»

«Rhys. Einfach nur Rhys.»

«Aber das ist doch …»

«Ein Männername? Ist es.»

Fasziniert musterte Eleanor diese selbstsichere Frau. Nicht nur, dass ihr Vorname der eines Mannes war, sie trug zudem ihr schwarzes Haar verboten kurz und besaß den Mut, in Männerkleidung auszugehen.

«Ich bin das Alter Ego von Rhys ab Owain ab Edwin. Ein Waliser König von Deheubarth. Er ist im Jahre 1078 gestorben. Aber ich führe anregende Gespräche mit ihm.»

«Wie Gespräche?»

«Ich bin ein spiritistisches Medium.»

«Oh.»

«Mein Geld verdiene ich jedoch mit dem Schreiben von Romanen. Fantastik, Schwarze Romantik.»

Anerkennend nickt Eleanor und fragte dann: «Sagen Sie, verkehren Sie schon lange hier im Antiquariat?»

«Penn und ich sind alte Freunde.»

«Dann würde ich mich freuen, Sie zusammen mit ihm in der Red Mansion begrüßen zu dürfen.»

Zwischen den beiden Frauen entwickelte sich rasch eine innige Freundschaft, und tatsächlich wurde Rhys, die als Medium mit der Vergangenheit in Kontakt trat, auch zu Eleanors Zukunft. Schon wenige Wochen später zog sie in die Red Mansion ein, was in den besseren Kreisen Londons für lebhafte Diskussionen sorgte. Die Devlin habe den Verstand verloren, hieß es, sie habe sich ganz offensichtlich eine Geliebte genommen.

Doch Eleanor bekam davon kaum etwas mit. Mit Rhys’ Hilfe fand sie Zugang zu ganz anderen Kreisen, Menschen, deren Blick nicht auf den äußeren Schein gerichtet war. Fast täglich war sie jetzt umgeben von Zauberlehrlingen und Okkultisten-Dandys, exotischen Magiern, exaltierten Wahrsagerinnen und Mitgliedern von geheimen Orden. Im ehemaligen Herrenzimmer, an einem runden Tisch aus schwarzem Palisander, führte Rhys ihre Séancen durch. Die rubinroten Brokatvorhänge wurden zugezogen, um Licht und Gegenwart auszuschließen, Kerzen wurden angezündet, und die Anwesenden reichten sich die Hände. Dann stellte Rhys die Verbindung zu den Verstorbenen her, bis sich die Luft im Raum abkühlte und die Kerzen seltsam flackerten. In den Salons wurde derweil über die Geheimnisse der Zwischenwelten diskutiert, man legte Karten und studierte alte Schriften, versuchte, Gegenstände mit der Kraft der Gedanken zu verschieben, orakelte über Sonnenzeichen und Aszendenten, und bei Vollmond taumelte die illustre Gesellschaft in den Garten, alle in wehende Umhänge gehüllt, um dem bleichen Gestirn zu huldigen, während Penns Hund jaulte, dass es jedem, der außerhalb des hohen Zaunes vorbeiging, einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

Außenstehenden erschien die rote Villa zunehmend als unheimlich, und schon bald wurde sie in Anlehnung an den Namen Devlin «Devil’s House» genannt.

Die Veränderungen in der Red Mansion waren Clifton nicht verborgen geblieben. Das sirrende Treiben der Sterndeuter, Mondanbeter und Geisterbeschwörer gefiel ihm, aber es gab auch etwas, das er mit Argwohn beobachtete: Rhys. Sie war ihm von Anfang an suspekt vorgekommen. Doch da er nur selten zu Hause war – er besuchte das Eton College, wo er während der Schulsemester wohnte –, kamen sie sich nicht ins Gehege.

Clifton liebte Eton. Nicht die Mitschüler und nicht die Lehrer, sondern die gotische Kulisse. Diese kleine Stadt aus ferner Zeit, das Gotteshaus mit dem Kloster, die Bibliothek und die unzähligen weiteren Gebäude und Nebengebäude hatten etwas Gespenstisches. Vor allem in der Nacht. Zudem mochte der Dreizehnjährige die Schuluniform. Sie war schwarz.

Wie nicht anders zu erwarten, blieb der junge Mr Devlin ein Einzelgänger. Ihn störte das nicht, er suchte keinen Anschluss. Da er ein brillanter Schüler war, Spross einer angesehenen Familie, gut aussehend und selbst im Sport einer der Besten, blieb der Spott aus, unter dem Außenseiter oft zu leiden haben. Die meisten Mitschüler begegneten ihm mit einer Mischung aus Respekt und Misstrauen, andere bewunderten ihn, er war so, wie sie selbst gerne gewesen wären. Dass die einen wie die anderen auf Distanz blieben, lag nicht nur an Cliftons abweisender Art, er verströmte auch eine geheimnisvolle Aura des Unergründlichen, war nicht fassbar, ein schillernder Fisch, der einem durch die Hände glitt, kaum glaubte man ihn gefasst zu haben.