Die Unterwerfung der Frauen - John Stuart Mill - E-Book

Die Unterwerfung der Frauen E-Book

John Stuart Mill

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Beschreibung

Harriet Taylor Mill (1807–1858) ist eine der wichtigsten Frauenrechtlerinnen, ihr Mann John Stuart Mill (1806–1873) gilt aufgrund seiner Überlegungen zu Utilitarismus und Freiheit nicht nur als einer der einflussreichsten Philosophen überhaupt, sondern auch als ein früher und entschiedener Kämpfer für die Gleichberechtigung. Das Werk über die Unterwerfung der Frau, ein Ergebnis langer Diskussionen zwischen den beiden, stellt einen der wichtigsten feministischen Texte des 19. Jahrhunderts dar: Wie lässt sich eine freiheitliche Gesellschaftsordnung vor dem Hintergrund der Geschlechterfrage entwickeln? Der Text erscheint hier in neuer und kommentierter Übersetzung. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

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John Stuart Mill / Harriet Taylor Mill

Die Unterwerfung der Frauen

Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Dieter Birnbacher

Reclam

Dieser Text entspricht der 3. Auflage (London: Longmans, Green, Reader, and Dyer) von 1870 und bildet die Originalausgabe von 1869 ab. Die Paginierung der 3. Auflage von 1870 wird in eckigen Klammern wiedergegeben.

 

2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2020

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961817-3

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014044-4

www.reclam.de

Inhalt

Die Unterwerfung der Frauen

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Literaturhinweise

Nachwort

[7]Die Unterwerfung der Frauen

[9]Erstes Kapitel

Mit dem vorliegenden Essay verfolge ich die Absicht, so klar wie möglich die Gründe darzulegen, die mich zu einer Ansicht gebracht haben, an der ich festgehalten habe, seitdem ich fähig war, mir eine Meinung über soziale und politische Verhältnisse zu bilden. Statt schwächer oder schwankender zu werden, hat sich diese Ansicht durch Nachdenken und Lebenserfahrung immer stärker befestigt. Diese Ansicht ist, dass das Prinzip, das gegenwärtig die sozialen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern regelt – die rechtliche Unterordnung des einen Geschlechts unter das andere –, für sich genommen falsch und eines der wesentlichsten Hindernisse bei der Vervollkommnung der Menschheit ist; und dass an die Stelle dieses Prinzips ein Prinzip vollkommener Gleichheit treten sollte, das auf der einen Seite keine Macht und keine Vorrechte und auf der anderen Seite keine Rechtlosigkeit zulässt.

Bereits die Schwierigkeit, die Worte zu finden, die notwendig sind, um die von mir unternommene Aufgabe auszudrücken, zeigt, wie schwierig die Aufgabe ist. Es wäre jedoch falsch zu meinen, die Schwierigkeit des Unternehmens liege in dem Mangel oder der Unklarheit der Vernunftgründe, auf denen meine Überzeugung beruht. Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, dass sie gegen eine tief in Gefühlen verwurzelte Ansicht ankämpfen müssen. Solange eine Ansicht in bestimmten Gefühlen verwurzelt ist, wird sie dadurch, dass sie mit starken Argumenten konfrontiert wird, eher Stabilität gewinnen als verlieren. Solange eine Ansicht auf Argumenten beruht, lässt sie sich durch die Widerlegung dieser Argumente erschüttern. [10]Beruht sie jedoch lediglich auf Gefühlen, werden ihre Anhänger, je schlechter sie im Kampf mit den Argumenten abschneiden, desto stärker davon überzeugt sein, dass diese Gefühle einen tieferen Grund haben – einen Grund, der durch Argumente gar nicht zu erreichen ist. Solange das Gefühl Bestand hat, wird es nicht aufhören, neue Verschanzungen zu errichten und die von den Argumenten gelegte Bresche aufzufüllen. Und es gibt so viele Ursachen dafür, dass die Gefühle der Anhänger der alten Institutionen und sozialen Normen in diesem Punkt so stark und verwurzelt sind, dass wir uns nicht wundern dürfen, wenn wir sie vom Fortschritt der gegenwärtigen großen geistigen und sozialen Übergangsperiode noch so wenig gelockert und erschüttert finden. Noch dürfen wir annehmen, dass die barbarischen Sitten, an denen die Menschen am längsten festhalten, weniger barbarisch sind als die, die sie schon seit längerem abgeschüttelt haben.

Wer eine nahezu allgemein verbreitete Ansicht angreift, hat es in jeder Hinsicht schwer. Er bedarf ungewöhnlicher Fähigkeiten und, damit es ihm gelingt, sich überhaupt Gehör zu verschaffen, auch ein bisschen Glück. Er muss mehr Mühe aufwenden, um seine Sache vor Gericht zu bringen, als andere, um ein Urteil zu ihren Gunsten zu erstreiten. Hat er sich tatsächlich einmal Gehör verschafft, unterwirft man ihn einer Reihe von Beweisanforderungen, die sonst von keinem anderen verlangt werden. Üblicherweise geht man ja davon aus, dass der, der eine Sache behauptet, sie zu beweisen hat. Wird [262] jemand des Mordes angeklagt, ist es Sache des Anklägers, seine Schuld zu beweisen, nicht die des Angeklagten, seine Unschuld darzulegen. Bei Meinungsverschiedenheiten über historische Tatsachen, von [11]denen die Gefühle der Menschen im Allgemeinen weniger berührt werden, etwa die Belagerung Trojas, erwartet man, dass die, die behaupten, das Ereignis habe wirklich stattgefunden, ihre Argumente dafür vorlegen, und erst wenn dies geschehen ist, verlangt man, dass die, die die historische Wahrheit des Ereignisses anzweifeln, ihre Position dazu darlegen; und man fordert von ihnen niemals mehr, als dass sie die von der Gegenpartei vorgebrachten Argumente entkräften. Ähnlich wird in Fragen der politischen oder sozialen Praxis die Beweislast gewöhnlich denen zugeschrieben, die sich gegen die Freiheit erklären und für eine Einschränkung oder ein Verbot eintreten, sei es eine Beschränkung der Handlungsfreiheit im Allgemeinen, sei es eine Ungleichheit oder ein Vorrecht einer Person oder einer Klasse von Personen im Vergleich zu andern. Die a-priori-Annahme ist stets auf der Seite der Freiheit und der Unparteilichkeit. Man geht davon aus, dass die Gleichheit nur zugunsten des Allgemeinwohls beschränkt werden darf und dass Gesetze für alle gleich und ohne Ansehen der Person gelten, ausgenommen da, wo eine ungleiche Behandlung durch Gründe der Gerechtigkeit oder der Staatsklugheit geboten erscheint. Den Vertretern der von mir hier dargelegten Meinung wird man allerdings nicht erlauben, aus diesen Beweisregeln Vorteile zu ziehen. Es nutzt mir nichts zu sagen, dass diejenigen, die die Doktrin vertreten, dass der Mann das Recht habe zu befehlen und die Frau die Pflicht zu gehorchen, oder dass der Mann für die Regierung geeignet und die Frau ungeeignet ist, eine Behauptung aufstellen und es deshalb ihre Aufgabe sei, entweder Beweise dafür beizubringen oder sich die Widerlegung ihrer Behauptung gefallen zu lassen. Ebenso wenig nutzt es mir, [12]darauf aufmerksam zu machen, dass von denen, die den Frauen Freiheiten und Privilegien, die den Männern von Rechts wegen zustehen, vorenthalten wollen und sich damit dem doppelten Bedenken aussetzen, die Freiheit beeinträchtigen und die Parteilichkeit empfehlen zu wollen, deshalb die strikteste Beweisführung für ihre Sache zu verlangen ist, und, solange diese nicht jeden Zweifel ausschließt, das Urteil gegen sie ausfallen muss. In gewöhnlichen Fällen würde man diese Einwände als begründet anerkennen. Aber nicht in diesem Fall. In diesem Fall kann ich nur dann hoffen, eine Wirkung zu erzielen, wenn ich nicht nur eine Antwort auf alles habe, was von denen, die in dieser Frage auf der anderen Seite stehen, jemals gesagt worden ist, sondern wenn ich mir vergegenwärtige, was von ihnen noch Weiteres gesagt werden könnte – indem ich alle denkbaren Gründe auf der Gegenseite widerlege; und nicht nur widerlege, sondern unwiderlegbare Gründe für meine Widerlegung beibringe. Und selbst dann, wenn ich all diesen Anforderungen genügen würde und die Gegenpartei mir auf einer Menge von Argumenten die Antwort schuldig bliebe, während ich die ihrigen ohne Ausnahme widerlegt hätte, wäre damit noch immer nur sehr wenig getan. Denn von einer Position, die sich auf der einen Seite auf das allgemeine Herkommen, auf der anderen auf eine weit verbreitete Denkweise stützt, muss man annehmen, dass sie alle Vorurteile auf ihrer Seite hat und dass sich diese als stärker erweisen als die Überzeugungskraft, die man von einem Appell an die Vernunft erwarten kann – ausgenommen bei besonders hochstehenden Menschen.

Ich erwähne diese Schwierigkeiten nicht, um mich über sie zu beklagen. Das wäre nicht angebracht, denn mit ihnen [13]ist bei jedem Bemühen zu rechnen, mit der Vernunft der Menschen gegen deren Gefühle und eingespielte Gewohnheiten anzukämpfen. Die Vernunft der meisten Menschen müsste viel stärker kultiviert werden, [263] als es bisher geschehen ist, ehe man von ihnen erwarten könnte, auf ihre Fähigkeit, Argumente zu würdigen, so weit zu vertrauen, dass sie beim ersten mit Argumenten geführten Angriff, dem sie rational keinen Widerstand entgegenzusetzen vermögen, Prinzipien aufgeben, in die sie hineingeboren und in denen sie erzogen worden sind und die die Grundlage eines Großteils der gegenwärtigen Weltordnung ausmachen. Ich mache den Leuten deshalb auch keinen Vorwurf daraus, dass sie zu wenig Vertrauen in Argumente haben, sondern dass sie zu viel Vertrauen in Herkömmliches und allgemein verbreitete Meinungen haben. Eine der charakteristischen Voreingenommenheiten der Reaktion des 19. Jahrhunderts auf das 18. besteht darin, dass es den gefühlshaften Anteilen der menschlichen Natur dieselbe Unfehlbarkeit zuschreibt, die das 18. Jahrhundert nach geläufiger Ansicht den rationalen Anteilen zugeschrieben hat. An die Stelle der Vergöttlichung der Vernunft ist die des Instinkts getreten, und Instinkt wird all das genannt, was wir in uns vorfinden und für das wir keine vernünftigen Gründe finden. Dieser Götzendienst – noch weitaus erniedrigender als der frühere und der verderblichste unter den falschen Kulten der Gegenwart – wird sich wahrscheinlich so lange behaupten, bis er einer fundierten Psychologie weichen muss, die die wahre Wurzel vieler Vorstellungen bloßlegt, denen sich die Menschen gegenwärtig als Naturzwecken und göttlichen Anordnungen unterwerfen. Was die von mir zu behandelnde Frage betrifft, bin ich [14]bereit, die mir durch das Vorurteil gestellten ungünstigen Bedingungen anzunehmen. Ich willige ein, dass die herkömmlichen sozialen Normen und die allgemeine Meinung so lange als gegen mich entscheidend gelten, bis nachgewiesen ist, dass sie ihre jahrhundertelange Geltung anderen Ursachen als ihrer Wohlbegründetheit verdanken und dass sie ihre Macht mehr aus den schlechteren als den besseren Seiten der menschlichen Natur beziehen. Ich willige ein, dass das Urteil so lange zu meinen Ungunsten lautet, bis ich nachgewiesen habe, dass der Richter bestochen ist. Dieses Zugeständnis ist nicht so groß, wie es scheinen mag. Der Beweis dafür ist der bei weitem leichteste Teil meiner Aufgabe.

In einigen Fällen liefert die allgemeine Verbreitung einer Praxis einen starken Grund dafür, dass sie löbliche Zwecke hat oder zumindest früher einmal hatte. Dies ist der Fall, wenn die Praxis zu löblichen Zwecken eingeführt oder aufrechterhalten worden ist und wenn die Erfahrung gezeigt hat, dass sich die Zwecke auf diese Weise am wirksamsten erreichen lassen. Wäre die Herrschaft der Männer über die Frauen bei ihrer ersten Einführung das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung zwischen verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Organisation gewesen; wäre, nachdem man verschiedene andere Formen der Organisation ausprobiert hatte – die Herrschaft der Frauen über die Männer, die Gleichheit zwischen beiden oder irgendwelche wie immer gearteten anderen gemischten Formen – auf der Grundlage der Erfahrung entschieden worden, dass diejenige Form, bei der die Frauen gänzlich der Herrschaft der Männer unterworfen sind und keinen Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten haben, und dass das Arrangement, [15]nach dem jede im Privatbereich gesetzlich zu Gehorsam gegenüber dem Mann verpflichtet ist, mit dem sie ihr Schicksal verbunden hat, am ehesten zum Glück und Wohlbefinden beider beiträgt; dann könnte man mit einigem Recht annehmen, dass seine allgemeine Annahme ein Hinweis darauf ist, dass sie zum Zeitpunkt seiner Annahme das Beste war – auch wenn die Gründe, die dafür sprachen, wie so viele andere in früheren Zeiten liegende gewichtige Gründe später, im Lauf der Jahrhunderte, nicht mehr bestanden. In der vorliegenden Frage verhält es sich allerdings genau umgekehrt. Erstens [264] beruht die Parteinahme für das gegenwärtige System, das das schwächere Geschlecht dem stärkeren vollständig unterordnet, lediglich auf Theorie: Ein anderes System ist niemals ausprobiert worden, so dass man von der Erfahrung – in dem Sinn, in dem sie gemeinhin der Theorie gegenüberstellt wird – nicht sagen kann, dass sie jemals ein Urteil gesprochen hätte. Zweitens war die Einführung des Systems der Ungleichheit niemals das Resultat von Überlegungen, Planungen, sozialen Ideen oder irgendwelchen anderen Erwägungen darüber, was dem Wohl der Menschheit oder einer guten gesellschaftlichen Ordnung förderlich wäre. Es verdankte seine Entstehung keinem anderen Umstand, als dass sich seit den frühesten Anfängen der Menschheit jede Frau (entsprechend dem ihr von den Männern beigemessenen Wert in Kombination mit ihrer Unterlegenheit an Körperkräften) in einem Zustand der Knechtschaft zu einem Mann befand. Gesetze und politische Systeme gehen stets von der Anerkennung der Beziehungen aus, die sie bei den Individuen vorfinden. Sie verwandeln das, was ursprünglich eine bloße Tatsache ist, in Recht, geben ihm die [16]Sanktion der Gesellschaft und trachten danach, die öffentliche und organisierte Aufrechterhaltung und Sicherung des Rechts an die Stelle ungeregelter und gesetzloser, mit physischer Kraft ausgetragener Konflikte zu setzen. Diejenigen, die bereits physisch zum Gehorsam gezwungen worden waren, wurden nun auch gesetzlich dazu verurteilt. So wurde die Sklaverei, die zunächst eine bloße Frage der physischen Kraft zwischen dem Herrn und dem Sklaven gewesen war, geregelt und zu einem vertraglich gesicherten Besitzstand von Herren gemacht, die sich zum gegenseitigen Schutz miteinander verbanden und sich ihren Privatbesitz einschließlich ihrer Sklaven mit ihrer vereinigten Kraft wechselseitig garantierten. In früheren Zeiten war die große Mehrzahl des männlichen Geschlechts Sklaven, ebenso wie das gesamte weibliche Geschlecht. Und es vergingen viele Jahrhunderte – darunter einige von hoher Kultur –, ehe ein Denker die Kühnheit hatte, die Rechtmäßigkeit und gesellschaftliche Notwendigkeit der einen oder der anderen Form von Sklaverei in Frage zu stellen. Nach und nach fanden sich solche Denker, und zumindest in allen Ländern des christlichen Europa ist die Sklaverei schließlich – u. a. im Zuge des allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritts – abgeschafft (wenn auch in einem Land erst in den letzten Jahren) und die des weiblichen Geschlechts nach und nach in eine mildere Form der Abhängigkeit umgewandelt worden. Diese Abhängigkeit, wie sie gegenwärtig existiert, ist keine ursprüngliche Institution, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und der sozialen Nützlichkeit heraus entstanden wäre. Sie ist der weiterbestehende primitive Zustand der Sklaverei, nur gelindert und gemäßigt durch dieselben Ursachen, die die allgemeinen Sitten [17]gemildert und die zwischenmenschlichen Beziehungen stärker den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Humanität unterworfen haben. Sie trägt noch immer den Makel ihres brutalen Ursprungs. Aus der Tatsache ihrer Existenz kann deshalb kein Argument zu ihren Gunsten gemacht werden. Das Einzige, was man vielleicht zu ihren Gunsten anführen könnte, müsste sich darauf gründen, dass sie sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat, während so viele andere Sitten, die ihren Ursprung in derselben trüben Quelle haben, abgeschafft sind. Dieser Umstand führt dazu, dass die Behauptung, die Ungleichheit der Rechte zwischen Mann und Frau habe keine andere Quelle als das Recht des Stärkeren, für die meisten Ohren seltsam klingt.

Der Anschein des Paradoxen dieser Behauptung ist in einigen Hinsichten dem Fortschritt der Zivilisation und der moralischen Gesinnungen der Menschheit zugutezuhalten. Wir – d. h. eine oder einige der am weitesten [265] fortgeschrittenen Nationen – befinden uns gegenwärtig in einem Zustand, in dem das Gesetz des Stärkeren als Prinzip gänzlich aufgegeben zu sein scheint. Niemand bekennt sich offen dazu, und in den meisten Beziehungen zwischen Menschen ist es unzulässig, nach ihm zu handeln. Tut es jemand dennoch, geschieht dies unter einem Vorwand, der ihm den Anschein gibt, er habe ein allgemeines gesellschaftliches Interesse auf seiner Seite. Angesichts dessen schmeichelt sich das Publikum, die Herrschaft der Gewalt sei ein für alle Mal beendet und das Gesetz des Stärkeren könne unmöglich der Grund für die Existenz von etwas sein, was bis auf den heutigen Tag mit unverminderter Kraft fortbesteht. Wie immer unsere gegenwärtigen Institutionen begonnen haben mögen, sie können sich, denkt [18]man, unmöglich bis zu unserer jetzigen Periode fortgeschrittener Zivilisation erhalten haben, wenn sie nicht gestützt würden durch ein wohlbegründetes Gefühl, dass sie zur menschlichen Natur passen und dem Allgemeinwohl förderlich sind. Man versteht nicht die große Vitalität und Dauerhaftigkeit von Institutionen, die das Recht auf die Seite der Macht setzen – wie stark man an ihnen hängt; wie weitgehend die guten und schlechten Neigungen und Gesinnungen der Mächtigen daran gemessen werden, wie weit sie an ihnen festhalten; wie lange es dauert, bis sie nach und nach absterben, zuerst die schwächsten, angefangen mit denen, die am wenigsten mit den täglichen Lebensgewohnheiten verwoben sind; und wie selten die Institutionen, die ihre Rechtskraft aufgrund physischer Kraft erlangt haben, diese verloren haben, bevor die physische Kraft auf die Gegenseite übergegangen ist. Ein solcher Übergang hat im Fall der Frauen nicht stattgefunden. Dieser Umstand hat es von Anfang an gewiss gemacht, dass diese Ausprägung des Gesetzes des Stärkeren – obwohl in ihren schlimmsten Aspekten zu einem früheren Zeitpunkt gemildert als andere – als letzte verschwindet. Es war unvermeidlich, dass von allen auf Macht gegründeten gesellschaftlichen Beziehungen diese eine alle anderen überdauern würde, durch Generationen hindurch, in denen die Institutionen ansonsten zunehmend auf Gleichheit und Gerechtigkeit gegründet worden sind, als eine singuläre Ausnahme vom allgemeinen Charakter der Gesetze und Sitten. Doch solange sie ihren Ursprung verleugnet und die öffentliche Diskussion ihren wahren Charakter nicht offenlegt, gilt sie als mit der modernen Zivilisation ebenso wenig unvereinbar wie die Sklaverei bei den [19]Griechen mit ihrem Selbstverständnis als Volk von freien Bürgern.

Die Wahrheit ist, dass die Menschen der gegenwärtigen und der zwei oder drei vorangegangenen Generationen jedes Verständnis für die ursprüngliche Verfassung der Menschheit verloren haben. Nur die wenigen, die sich auf ein genaueres Studium der Geschichte eingelassen oder häufiger Teile der Welt besucht haben, die von Repräsentanten vergangener Zeiten bewohnt werden, sind in der Lage, sich ein Bild vom früheren Zustand der Gesellschaft zu machen. Den Menschen ist nicht klar, mit welcher Absolutheit das Gesetz des Stärkeren in früheren Jahrhunderten das Gesetz des Lebens war und wie offen und öffentlich man sich zu ihm bekannte – ich sage nicht: zynisch oder schamlos bekannte, denn das würde nahelegen, dass man sich des Beschämenden dieser Verfassung bewusst gewesen wäre, was nicht der Fall war, außer bei Philosophen oder Heiligen. Die Geschichte vermittelt uns ein durchweg grausames Bild von der menschlichen Natur, indem sie uns zeigt, wie genau die Rücksicht, die man dem Leben, dem Eigentum und dem ganzen irdischen Glück einer Klasse von Menschen schuldig zu sein glaubte, nach nichts anderem als ihrer jeweiligen Sanktionsmacht bemessen wurde. Alle, [266] die sich der über Waffen verfügenden Autorität widersetzten – mochte die Veranlassung dazu eine noch so entsetzliche gewesen sein –, hatten nicht nur das Recht des Stärkeren, sondern alle Gesetze und sozialen Normen gegen sich, und in den Augen der Mächtigen waren sie nicht nur Verbrecher, sondern Verbrecher der allerschlimmsten Art, die die grausamsten Strafen verdienten, die Menschen anderen antun können. Der erste schwache Schimmer [20]eines Gefühls der Verpflichtung eines Höhergestellten zur Anerkennung der Rechte Untergebener zeigte sich erst, als er durch irgendwelche Umstände genötigt war, ihnen gegenüber ein Versprechen abzugeben. Auch wenn diese Versprechen, selbst wenn sie durch die feierlichsten Eide bekräftigt worden waren, jahrhundertelang bei den nichtigsten Anlässen gebrochen wurden, ist es doch wahrscheinlich, dass dies – ausgenommen bei Mächtigen von einer noch unter dem Durchschnitt liegenden Moral – selten ganz ohne Gewissensskrupel geschah. Die alten Republiken, die zumeist anfangs auf einer Art gegenseitigen Vertrag gegründet oder durch den Zusammenschluss von Personen von etwa gleicher Stärke gebildet wurden, lieferten das erste Beispiel einer gesellschaftlichen Verbindung, die sich von der allgemein üblichen absonderte und sich unter ein anderes Recht als das des Stärkeren stellte. Und obwohl das ursprüngliche Recht des Stärkeren zwischen den Freien und ihren Sklaven und ebenso (wo es nicht durch ausdrücklichen Vertrag beschränkt war) zwischen dem Staat und seinen Untertanen und andern unabhängigen Staaten in voller Kraft weitergalt, ging doch von der Aufhebung dieses Rechts für diesen engen Bereich eine Regeneration der menschlichen Natur aus und ließ Anschauungen entstehen, von denen die Erfahrung bald zeigte, dass sie auch für die materiellen Interessen der Menschen außerordentlich wertvoll waren und von da an nicht eigens geschaffen, sondern lediglich erweitert werden mussten. Auch wenn die Sklaven kein Teil der Republik waren, waren es doch die freien Staaten, die als erste anerkannten, dass Sklaven als Menschen Rechte haben. Die Stoiker waren, glaube ich, die ersten (mit Ausnahme des [21]jüdischen Gesetzes) die als einen Teil ihrer Moral lehrten, dass der Freie gegen seine Sklaven moralische Verpflichtungen hat. Seit dem Auftreten des Christentums konnte keinem mehr diese Lehre – zumindest in der Theorie – ganz fremd sein. Mit dem Aufstieg des Katholizismus gab es immer Menschen, die für sie eintraten. Aber ihre Durchsetzung war eine der schwersten Aufgaben, die das Christentum zu bewältigen hatte. Über mehr als tausend Jahre kämpfte die Kirche ohne nennenswerten Erfolg. Nicht, weil es ihr an Macht über die Gemüter der Menschen mangelte – ihre Macht war gewaltig. Sie konnte Könige und Fürsten dazu bringen, auf ihre kostbarsten Schätze zugunsten des Reichtums der Kirche zu verzichten. Sie konnte Tausende dazu bringen, sich in der Blüte ihres Lebens und im Vollbesitz irdischer Privilegien in Klöstern einzuschließen, um durch Armut, Fasten und Beten das Seelenheil zu erlangen. Sie konnte Hunderttausende über Land und Meer, durch Europa und Asien schicken, um für die Befreiung des Heiligen Grabes ihr Leben zu lassen. Sie konnte Könige dazu bringen, sich von Ehefrauen loszusagen, die sie leidenschaftlich liebten, nur weil die Kirche erklärte, dass sie mit ihnen im siebten (nach unserer Berechnung im 14.) Grad verwandt waren. So viel hat die Kirche vermocht. Was sie nicht vermochte, war, die Menschen dazu zu bringen, sich weniger zu bekämpfen oder ihre Leibeigenen und, soweit sie dazu in der Lage waren, ihre Untergebenen weniger grausam zu behandeln. Sie konnte sie nicht dazu bringen, auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten, sei es kämpfende oder sei es triumphierende Gewalt. [267] Dazu war nur eine andere, überlegene Gewalt fähig. Nur die wachsende Macht der Könige setzte den bis dahin [22]geführten Kämpfen ein Ende, außer denen zwischen den Königen selbst und den Bewerbern auf die Königswürde. Nur durch das Erstarken eines reichen und waffentüchtigen Bürgerstandes in den befestigten Städten und durch städtisches Fußvolk, das sich im Feld als mächtiger erwies als die undisziplinierte Reiterei, gelang es, die unverschämte Tyrannei der Adeligen über den Bürger- und Bauernstand zu begrenzen. Dieser Zustand bestand fort nicht nur bis, sondern noch lange nachdem die Unterdrückten so viel Macht erlangt hatten, dass sie gründlich Rache nehmen konnten. Auf dem Kontinent herrschte dieser Zustand noch vielfach zur Zeit der Französischen Revolution, während in England die frühere und bessere Organisation der wahlberechtigten Klassen ihm durch Einführung allgemeingültiger Gesetze und freie nationale Institutionen ein schnelleres Ende gemacht hatte.

Solange man sich so wenig darüber im Klaren ist, wie vollständig das Recht des Stärkeren die bei weitem längste Zeit der Existenz des Menschengeschlechts das anerkannte Gesetz des allgemeinen Verhaltens und jedes andere nur die besondere und ausnahmsweise Folge spezieller Bindungen war, und seit wie wenigen Jahren es so ist, dass die gesellschaftlichen Angelegenheiten nach moralischen Prinzipien geregelt werden (oder dies zumindest beanspruchen), desto mehr gerät in Vergessenheit oder wird nicht bedacht, wie Institutionen und Sitten, die niemals in etwas anderem als dem Recht des Stärkeren gründeten, in Zeitalter und Denkweisen hinein fortbestehen, die ihre Ersteinrichtung niemals zulassen würden. Es ist noch nicht 40 Jahre her, dass es Engländern gesetzlich erlaubt war, Menschen als käufliches Eigentum in Knechtschaft zu [23]halten. Noch in unserem Jahrhundert war es zulässig, sie zu rauben, fortzuschleppen und buchstäblich zu Tode zu verschleißen. Dieses äußerste Extrem des Rechts des Stärkeren, das selbst von denen verurteilt werden dürfte, die ansonsten jede andere Form von Willkürherrschaft tolerieren, und das die Gefühle aller, die die Sache von einem unparteiischen Standpunkt aus sehen, auf das Höchste empört, war noch im zivilisierten, christlichen England zu einer Zeit Gesetz, an die sich einige der heute Lebenden noch erinnern können. In der einen Hälfte des angelsächsischen Amerika gab es vor drei oder vier Jahren nicht nur die Sklaverei; auch der Sklavenhandel und die Aufzucht von Sklaven zum Zweck des Verkaufs war zwischen den Sklavenstaaten gängige Praxis. Allerdings wurde diese Praxis nicht nur überwiegend abgelehnt, es gab, zumindest in England, auch weniger Fürsprache und Interesse zu seinen Gunsten als bei den anderen üblichen Formen von Machtmissbrauch. Denn sein Motiv war Gewinnsucht, nackt und unverhüllt, und die, die davon profitierten, waren zahlenmäßig nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung, während das natürliche Gefühl aller, die daran kein persönliches Interesse hatten, purer Abscheu war. Ein so extremes Beispiel macht es eigentlich überflüssig, weitere zu nennen. Doch nehmen wir uns einmal die lange Dauer der absoluten Monarchie. In England herrscht gegenwärtig fast durchweg die Überzeugung, dass militärischer Despotismus nichts anderes als eine Form des Rechts des Stärkeren ist und keinen anderen Ursprung und keine andere Rechtfertigung hat. Dennoch existiert er in allen großen europäischen Staaten außer England noch heute oder hat erst vor kurzem zu existieren aufgehört und hat gerade [24]gegenwärtig starke Fürsprecher in allen Schichten des Volkes und insbesondere unter Personen von Rang und Einfluss. So groß ist die Macht eines etablierten Systems, auch wenn es längst nicht mehr universell ist und es in jeder Periode der Geschichte in Gemeinwesen, die ausnahmslos zu den berühmten und wohlhabenden gehörte, große und wohlbekannte Beispiele des [268] gegenteiligen Systems gegeben hat. Auch in diesem Fall ist der illegitime Inhaber der Macht und derjenige, der ein direktes Interesse an dieser Macht hat, nur eine einzige Person, während die, die ihr unterworfen sind und unter ihr zu leiden haben, wortwörtlich alle übrigen sind. Das Joch, das ihnen auferlegt wird, ist natürlicher- und notwendigerweise für alle demütigend, mit Ausnahme des einen, der auf dem Thron sitzt, allenfalls zusammen mit dem, der Aussichten hat, sein Nachfolger zu werden. Wie sehr unterscheiden sich diese Beispiele von der Herrschaft der Männer über die Frauen! Ich will die Frage der Rechtfertigbarkeit nicht vorab beantworten. Ich will nur zeigen, wie diese Herrschaft, selbst wenn sie sich nicht rechtfertigen ließe, doch zwangsläufig sehr viel langlebiger sein musste als diese anderen Formen von Herrschaft, die dennoch bis in unsere Zeit fortgedauert haben. Die Genugtuung, die die Ausübung von Macht dem Stolz gewährt, und das persönliche Interesse an ihrer Ausübung ist in diesem Fall nicht auf eine bestimmte begrenzte Klasse beschränkt, sondern ist etwas, was das gesamte männliche Geschlecht gemeinsam hat. Anders als Ideale, die für ihre Anhänger im Wesentlichen abstrakt bleiben, oder politische Ziele, für die Parteien kämpfen, aber allenfalls für deren Führer von privater Bedeutung sind, geht es hierbei um Haus und Herd jedes Familienoberhaupts und [25]eines jeden, der diese Rolle später einmal zu übernehmen hofft. Der niedrigste Tagelöhner hat an dieser Macht genauso teil – oder hofft zumindest, daran einmal teilzuhaben – wie der höchstgestellte Aristokrat. Der Wunsch nach Macht ist in diesem Fall umso stärker, als jeder, der nach Macht strebt, sie vor allem über die zu besitzen wünscht, die ihm am nächsten stehen, mit denen er sein Leben verbringt, mit denen er die meisten Dinge teilt und bei denen Unabhängigkeit seinen eigenen Neigungen am ehesten im Weg stehen würde. Sind schon die anderen angeführten Beispiele einer auf Gewalt gegründeten und noch viel weniger legitimen Macht nur langsam und mit den größten Schwierigkeiten zu beseitigen gewesen –, um wie viel schwieriger muss es in diesem Fall sein, obwohl sie keine bessere Grundlage aufweisen kann. Bedenken wir dabei, dass die Inhaber der Macht in diesem Fall über sehr viel weitergehende Mittel verfügen, eine Rebellion zu verhindern als in den anderen Fällen. Jede der Unterworfenen lebt unter den Augen, man könnte sogar sagen: in den Händen ihres Herrn; in engerer Gemeinschaft als mit irgendeiner ihrer Geschlechtsgenossinnen; ohne die Möglichkeit, sich gegen ihn zu verbünden; ohne die Macht, auch nur in den kleinsten Dingen über ihn zu dominieren; dafür aber mit den stärksten Motiven, seine Gunst zu gewinnen und alles zu vermeiden, was ihn aufbringen könnte. Aus den Kämpfen um politische Emanzipation ist hinreichend bekannt, wie häufig deren Anführer durch Bestechung oder Einschüchterung von ihren Zielen abgebracht worden sind. Im Fall der Frauen befindet sich jede Einzelne in einem chronischen Zustand kombinierter Bestechung und Einschüchterung. Dafür, dass sie die Fahne des [26]Widerstands hochhielten, mussten eine große Zahl der Anführerinnen und eine noch größere Zahl derer, die sich ihnen anschlossen, auf die Freuden und Annehmlichkeiten, die ihnen ihr Schicksal gewährt hatte, fast vollständig verzichten. Wenn jemals ein System einseitiger Privilegien und gewaltsamer Unterdrückung ein Joch auf den Hals derer gelegt hat, die es niederhalten soll, dann dieses. Ich habe noch nicht gezeigt, dass es ein falsches System ist. Doch jeder Verständige sieht ein, dass selbst wenn es falsch war, es doch alle anderen Formen ungerechter Herrschaft überdauern musste. Und da, wie wir gesehen haben, einige der haarsträubendsten Formen ungerechter Herrschaft noch in mehreren zivilisierten Ländern existieren und in anderen erst kürzlich beseitigt worden sind, müsste es [269] mit einem Wunder zugehen, wenn diese am tiefsten verwurzelte Form irgendwo in nennenswertem Umfang überwunden sein sollte. Umso mehr muss man sich wundern, dass sich schon so zahlreiche und gewichtige Proteste dagegen erhoben haben, wie es in der Tat der Fall ist.

Einige könnten einwenden, dass man die Herrschaft des männlichen Geschlechts und die anderen angeführten Formen ungerechter Macht gar nicht miteinander vergleichen könne. Diese seien willkürlich und die Folge bloßer Usurpation, jene aber natürlich. Aber gab es jemals eine Herrschaft, die denen, die sie besaßen, nicht natürlich erschien? Es gab eine Zeit, zu der die Teilung des Menschengeschlechts in zwei Klassen, eine kleine der Herren und eine zahlreiche der Sklaven, selbst den gebildetsten Geistern ganz natürlich, ja: als die einzige natürliche Verfassung des Menschengeschlechts erschien. Kein geringerer Geist als Aristoteles, der zum Fortschritt der Menschheit so viel [27]beigetragen hat, vertrat diese Ansicht, ohne jeden Zweifel und ohne jedes Bedenken, und leitete sie aus denselben Voraussetzungen ab, aus denen die Behauptung der Notwendigkeit der Herrschaft der Männer über die Frauen üblicherweise abgeleitet wird, nämlich dass es innerhalb des Menschengeschlechts verschiedene Naturen gebe – freie Naturen und Sklavennaturen. Die Griechen hätten eine freie Natur, die barbarischen Rassen der Thraker und Asiaten eine Sklavennatur. Doch weshalb bis auf Aristoteles zurückgehen – stellten nicht die Sklavenhalter in den Südstaaten von Amerika dieselbe Behauptung auf, mit dem ganzen Fanatismus, mit dem Menschen an Theorien festhalten, die ihre Leidenschaften rechtfertigen und ihre persönlichen Interessen legitimieren? Nahmen sie nicht Himmel und Erde dafür als Zeugen, dass die Herrschaft des weißen Mannes über den schwarzen natürlich, dass die schwarze Rasse [black race] von Natur aus zur Freiheit unfähig und bestimmt zur Sklaverei ist? Einige gingen sogar so weit zu behaupten, Freiheit für diejenigen, die mit der Hand arbeiten, sei grundsätzlich und überall naturwidrig. Ebenso haben auch die Theoretiker der absoluten Monarchie diese immer wieder für die einzige natürliche Staatsform erklärt. Diese sei hervorgegangen aus dem Patriarchat, das die ursprüngliche und sich spontan entwickelnde gesellschaftliche Form gewesen sei, sie sei nach dem Muster der Herrschaft des Familienvaters gestaltet, die der Gesellschaftsbildung voranging, und sei insofern, wie sie behaupten, die schlechthin naturgemäße Art von Autorität. Ja, selbst das Recht des Stärkeren wurde von denen, die sich auf kein anderes berufen konnten, als der natürlichste Grund für die Ausübung von Gewalt angeführt. Erobernde [28]Völker finden es natürlich, dass die Unterworfenen den Siegern Gehorsam leisten oder, wie sie es wohlklingender umschreiben, dass die schwächeren und weniger kriegerischen Völker sich dem tapfereren und männlicheren unterwerfen. Eine auch nur oberflächliche Kenntnis der Lebensverhältnisse des Mittelalters lehrt uns, wie außerordentlich natürlich dem feudalen Adel seine Herrschaft über die niederen Stände erschien und wie unnatürlich sie den Gedanken fanden, eine Person aus diesen unteren Ständen könne einen Anspruch auf Gleichstellung oder sogar auf Herrschaft erheben. Und diese Ansicht war bei den Unterworfenen kaum weniger verbreitet. Die sich emanzipierenden Leibeigenen und Bürger erhoben selbst in ihren heftigsten Kämpfen keinen Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft, sondern verlangten nur eine größere oder geringere Beschränkung der Macht, [270] sie zu tyrannisieren. Es ist schlicht so, dass unnatürlich gemeinhin nichts anderes bedeutet als unüblich und dass alles, was üblich ist, natürlich erscheint