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Der letzte Lichtmagier brachte eine Prophezeiung unter das Volk von Maalan. Aus Angst vor ihrer Erfüllung wurde er verbannt und die Prophezeiung verboten. Doch die verstreuten Teile setzen sich wieder zusammen und die beiden Magieradepten Lymle und Jonathan müssen erkennen, dass sie die Schlüssel zu ihrer Erfüllung darstellen. Ein Magierkrieg entbrennt und die beiden stehen vor der Entscheidung ihres Lebens: Erfüllen sie die verbotene Prophezeiung oder kämpfen sie gegen sie an?
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Seitenzahl: 783
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Sarah Neumann
Die verbotene Prophezeiung
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog | Scarlett | Die Prophezeiung des Weisen
Kapitel 1 | Jonathan | Maalan
Kapitel 2 | Lymle | Tanzen mit dem Licht
Kapitel 3 | Jonathan | Flucht
Kapitel 4 | Lymle | Zauberei mal anders
Kapitel 5 | Jonathan | Zugangssperre
Kapitel 6 | Lymle | Die unbekannte Stimme
Kapitel 7 | Jonathan | Razzia
Kapitel 8 | Lymle | Magier und Technomanten
Kapitel 9 | Jonathan | Ziehmutter
Kapitel 10 | Lymle | Neue Kristalle
Kapitel 11 | Jonathan | Heilende Magie
Kapitel 12 | Lymle | Reno mit der Flammenfaust
Kapitel 13 | Jonathan | Erste Kämpfe
Kapitel 14 | Lymle | Die dunkle Nebelwolke
Kapitel 15 | Jonathan | Die Wartezeit
Kapitel 16 | Lymle | Das Laboratorium
Kapitel 17 | Jonathan | Die Suche
Kapitel 18 | Lymle | Menschliche Wärme
Kapitel 19 | Jonathan | Einkaufen
Kapitel 20 | Lymle | Der Weise aus dem Spiegel
Kapitel 21 | Jonathan | Rauch der Erinnerung
Kapitel 22 | Lymle | Geheimnisvolle Verbundenheit
Kapitel 23 | Jonathan | Karten zeichnen
Kapitel 24 | Lymle | Erinnerungen an Caitlin
Kapitel 25 | Jonathan | Versuchung
Kapitel 26 | Lymle | Gilbert I.
Kapitel 27 | Jonathan | Neuigkeiten
Kapitel 28 | Lymle | Erste Zeilen
Kapitel 29 | Jonathan | Ärger
Kapitel 30 | Lymle | Der Graben
Kapitel 31 | Jonathan | Lymles Zauberhaar
Kapitel 32 | Lymle | Gedächtnislücken
Kapitel 33 | Jonathan | Die Verbindung
Kapitel 34 | Lymle | Zeros Erinnerung
Kapitel 35 | Jonathan | Differenzen
Kapitel 36 | Lymle | Hinter den Toren
Kapitel 37 | Jonathan | Verwunschener Wald
Kapitel 38 | Lymle | Das Reich Hinter Maalan
Kapitel 39 | Jonathan | Das Ungetüm
Kapitel 40 | Lymle | Das hypnotische Symbol
Kapitel 41 | Jonathan | In Adams Fängen
Kapitel 42 | Lymle | Der Erinnerungsblocker
Kapitel 43 | Jonathan | Neugierige Adepten
Kapitel 44 | Lymle | Renos Annäherungsversuche
Kapitel 45 | Jonathan | Ein Kuss?
Kapitel 46 | Lymle | Die Strophe der Technomanten
Kapitel 47 | Jonathan | Caitlin & der Skorpion
Kapitel 48 | Lymle | Verletzte Gefühle
Kapitel 49 | Jonathan | Auf der Spur
Kapitel 50 | Lymle | Wahre Familie?
Kapitel 51 | Jonathan | Katakomben
Kapitel 52 | Lymle | Hereinbrechende Dunkelheit
Kapitel 53 | Jonathan | Traum oder Wirklichkeit
Kapitel 54 | Lymle | Wiedervereinigung
Kapitel 55 | Jonathan | Abschied
Kapitel 56 | Lymle | Der betörende Geruch
Kapitel 57 | Jonathan | Gut verborgen
Kapitel 58 | Lymle | Die Befruchtung
Kapitel 59 | Jonathan | Das Verhör
Kapitel 60 | Lymle | Beziehungen
Kapitel 61 | Jonathan | Hilflos
Kapitel 62 | Lymle | Unerwartete Begegnungen
Kapitel 63 | Jonathan | Kraft der Bäume
Kapitel 64 | Lymle | Seltsames Verhalten
Kapitel 65 | Jonathan | Das Wiedersehen
Kapitel 66 | Lymle | Angst um Reno
Kapitel 67 | Jonathan | Der Widerstand
Kapitel 68 | Lymle | Schleichende Gedanken
Kapitel 69 | Jonathan | Das Vermächtnis
Kapitel 70 | Lymle | Trübe Abhängigkeit
Kapitel 71 | Jonathan | Der Aufstand
Kapitel 72 | Lymle | Das fehlende Herz
Kapitel 73 | Jonathan | Adam gegen Blue
Kapitel 74 | Lymle | Unerträgliche Schmerzen
Kapitel 75 | Jonathan | Es beginnt
Kapitel 76 | Lymle | Die Prophezeiung
Kapitel 77 | Jonathan | Alles verloren
Kapitel 78 | Lymle | Caitlins Zorn
Kapitel 79 | Jonathan | Erkenntnisse
Kapitel 80 | Lymle | Der Neubeginn
Epilog
Impressum neobooks
Einmal im Jahr, wenn der Mond und die Venus in einer Linie zur Erde stehen und der Himmel frei von Wolken das Antlitz der beiden Liebenden zeigt, findet das Fest unseres Volkes statt. Wir versammeln uns auf dem Platz des Mondlichts, dem einzigen Punkt in der Stadt, auf den das Mondlicht unverändert und ohne Schatten strahlen kann.
»Scarlett! Wir kommen noch zu spät.« Mutter stand in ihrer dunklen Festrobe in der Tür und reichte mir die Hand. In ihrem schwarzen Haar, das sie zu einem Bauernzopf geflochten hatte, funkelten kleine Perlen. »Du siehst hübsch aus. Lass uns gehen.«
Vater war wie jedes Jahr mit den Ältesten einer der Ersten auf dem Platz des Mondlichts und bereitete das Fest vor. Die Spiele und Prüfungen, die Musik und den Tanz, all das, was uns Freude machte an einem Tag wie diesem hier.
Doch heute spürte ich etwas Ungewöhnliches in der Luft. Ich konnte es nicht genauer beschreiben. Es war ein flaues Gefühl, dass irgendetwas in den Schatten vor sich ging. Und so verließ ich nicht einen Moment den Rockzipfel von Mutter, ehe wir nicht den Platz des Mondlichts erreichten.
Sie begrüßte freudig die anderen Hexen, umarmte und küsste Vater und schickte mich zu den Junghexen zumTanz. Es war derTanz, der das Fest einläutete.
Inmitten des Festplatzes stand der Altar des Lichts - ein antiker Opfertisch aus Kalkstein mit verschnörkelten Symbolen darauf. Einst wurde dort der mächtigste Weise unseres Volkes aus der Stadt verbannt. Die Gründewurdennicht an uns Junghexen weitergetragen. Es war nur ein Gerücht, aber er soll von einer bösen Prophezeiung gesprochen haben. Ich fragte mich jedes Jahr aufs Neue, wenn ich hierher kam, was aus ihm und der Prophezeiung geworden war. Ob sie bereits in Erfüllung gegangen war? Und wie lautete sie?
»Scarlett!«, riefen sie mich schon und ich reihte mich in die Tanzreihe rund um den Altar des Lichts ein. Wir umtanzten die im Kreis aufgestellten Säulen, ließen Feuerzauber den Nachthimmel erhellen und besangen in unseren Liedern die Ahnen. Ich konnte nicht gut mit dem Element Feuer zaubern, diese Gebilde und Figuren, lebendige Tiere und Zeichen. Meine Gabe war eine andere als die Elementarzauberei. Ich widmete mich also völlig dem Gesang, in Gedanken an den armen Weisen, der vertrieben worden war.
Als die Glocken der Rosalie erklangen, sollte der Paartanz vorgeführt werden. Es war ein Tanz, bei dem die Junghexen und Jungmagier gemeinsam tanzten. Man kannte sich leider nicht gut, weil sie die Klassen getrennt führten.
»Sei meine Tanzpartnerin!«, rief ein Junge von der anderen Seite des Platzes zu mir herüber. Ich hatte ihn ein paar Mal in der Akademie beobachtet. Er konnte sämtliche Elemente nach Belieben beherrschen. Sein Name war Samuel Blue und ich bewunderte ihn. Seine blauen Augen wirkten äußerst anziehend unter seinem dunklen Haarschopf und er zeigte stets ein nettes Lächeln. Wieso wollte er ausgerechnet mit mir tanzen?
Ich nickte und wir nahmen die Haltung zum Paartanz an. Alle Junghexen trugen die dunkelblau schimmernde, mit schwarzen Rüschen besetzte Festrobe der Akademie. Die der Jungmagier dagegen schimmerte silbern im Mondlicht. Eine weiße Rose zierte ihr Revers.
Es musste schön anzusehen sein, wie wir dort gemeinsam tanzten. Mir war eher schwindelig von den Drehungen. Samuel war so in den Tanz vertieft, dass er das gar nicht mitbekam und schneller und schneller wurde, völlig aus dem Takt geriet. Plötzlich brach das flaue Gefühl von eben wieder aus. Mir wurde für einen kurzen Moment schwarz vor Augen und ich stolperte über etwas, sodass ich hinfiel.
»Scarlett!? Alles in … Aaaahhh!« Ich hörte nicht nur seinen Schrei. Viele fingen an zu schreien, und als ich aufsah, hockte ich am Boden, Samuel lief davon und überall zog Nebel auf, der immer dichter wurde. Wolken drängten sich vor das Mondlicht und ein silbernes Leuchten erhellte den Platz. Währenddessen erhoben sich dunkle Gestalten aus den Nebelschwaden und gaben so helle Schreie von sich, dass man fast innerlich zersprang vor Schmerz. Was war hier los?
»Scarlett!«, hörte ich Mutter schreien. Sie suchte bereits nach mir, doch ich wollte nicht wieder gut behütet weggeschlossen werden undnichtsvon all demmitbekommen, was hier vor sich ging. Ich spürte genau, dass etwas in der Luft lag. Also bemerkten sie es erst recht. Bestimmt wollten sie irgendetwas vor uns Junghexen und Jungmagiern geheim halten. Ich dachte gar nicht daran,längerim Dunkeln zu tappen. Ich musste wissen, was dort passierte.
Ich rannte zumAltar, unbemerkt von den dunklen Kreaturen, die bereits Magier und Hexen bekämpften, und erblickte zu spät den in Bandagen gewickelten, alten Mann mitlangemsilbernem Haar. Da befand ich mich auch schon direkt vor ihm und sah zu ihm hinauf. Er stand gekrümmt auf demAltardes Lichts und hob seine Hände und einen Stab gen Himmel. Bisher schien ihn in der allgemeinen Panik niemand zu bemerken. Hatte er etwa diesen Nebel und die dunklen Kreaturen gerufen? Die Schreie wurden immer lauter und ich hörte, ohne hinzusehen, dass es bereits Verletzte geben musste. Dennoch schaffte ich es nicht, meine Augen von ihm zu lösen. Er war einfach anziehend, wie er da stand und leuchtete. Wie die Lichtblume selbst. Auf einmal fiel sein Blick auf mich und ich stellte entsetzt fest, dass man ihm die Augenhöhlen ausgebrannt hatte. Wer war nur fähig, so etwas Schreckliches zu tun!? Und das einem alten Mann!? Er konnte mich nicht sehen und doch sah er irgendwie durch mich hindurch!
Ich war wie gebannt vor Angst, als er seine Hand nach mir ausstreckte und leicht meine Stirn mit seinen beiden Fingern berührte. Sie zitterten kraftlos und ich bemerkte, wie ein Symbol in seinen Augen zu leuchten begann. Sofort wurden meine Ohren taub und ich nahm meine Umgebung und die Schreie nur noch dumpf wahr, als wären sie in weite Ferne gerückt.
Ich konnte seine Worte genau hören, in meinem Kopf, ohne dass er etwas sagte.
Wenn der Mond die Sonne verdrängt
und der Nebel Gestalt annimmt
wenn die Kraft der Erde bricht
und der Himmel aus den Wolken fällt
verschlingt die Dunkelheit das Licht,
auf das sich Zauberkarte und Lichtblume finden.
Verwundert sah ich ihn an. Was bedeuteten diese Worte, die er nicht sprach, sondern direkt in meinen Kopf pflanzte? Wer war dieser alte Mann und wieso war er hier wie aus dem Nichts aufgetaucht?
»Scarlett!« Mutter riss mich von ihm weg, ehe ich ihm all meine Fragen stellen konnte. Ich sah entsetzt, dass ihn dieÄltestenumzingelten – die dunklen Kreaturen mussten alle ausgelöscht worden sein – und ihm drohend ihre bloße Hand entgegenstreckten. Sie formten Zeichen in der Luft. Ich schrie, sie sollen ihn nicht bestrafen, er habe doch niemandem etwas getan, aber sie hörten mich nicht einmal an. Lichtblitze schossen aus ihren Fingerspitzen in seinen Körper. Der alte Mann streckte noch ein letztes Mal vergeblich seinen Arm nach mir aus. Seine Worte wanderten unhörbar in meinen Kopf, ehe er vor meinen Augen verschwand.
Ich zitterte am ganzen Leib. Sie hatten ihn getötet. Warum!? Dabei hatte er mir doch nur etwas gesagt, oder nicht? Ich begriff seine Worte nicht einmal. Sie hallten zwar in meinem Kopf wider und festigten sich mehr und mehr, aber ich konnte sie nicht verstehen. Der Mond und die Sonne, Nebel in Gestalt, die Erde und der Himmel, die Dunkelheit und das Licht, ich verstand nichts von diesen Dingen, von deren Zusammenhang. Was hatte es mit seinen Worten auf sich? Eine Zauberkarte und eine Lichtblume? Zauberkarten waren einealteMacht, Magie zu benutzen. Sie kam kaum noch vor, aber ich hatte davon gehört. Und die Lichtblumen blühten in der Nacht außerhalb der Stadt auf den Feldern, oder etwa nicht? Sie waren gleichermaßen selten, allerdings sah man sie hin und wieder. Was sollte daran so besonders sein? Wieso töteten sie einen alten Mann, der Dinge sagte, in unsere Köpfe pflanzte, die man nicht verstehen konnte? Moment … Hatten die anderen seine Worte auch gehört?
»Scarlett!«, rüttelte Mutter erschrocken an mir, bis ich sie ansah und erkannte. »Was hat er zu dir gesagt!?«
»Nichts.« Ich log nicht, schließlich hatte er wirklich nichts gesagt. Ich verstand ihn auch ohne hörbare Worte. Wie das allerdings möglich war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
»Bist du dir ganzsicher, dass sie nichtsweiß?«, fragte ein Ältester Mutter streng. Er sah aus wie ein Geist mit seinen langenweißenHaaren, die er offen über die Schultern fallen ließ. Sie nickte nur, nachdem sie mich erneut gefragt und ich wiederholt hatte, dass er mir nichts gesagt habe. Ich bemerkte den ernsten Blick des Ältesten, den er mir zuwarf, ehe er sich den anderen zuwandte: »Befragt alle Kinder, Junghexen und Jungmagier. Wenn einer von ihnen die Prophezeiung vernommen hat, so löscht sein Gedächtnis.«
Ich erschrak. Die Prophezeiung? Sollten diese Worte etwa die von allen gefürchtete Prophezeiung sein? Das hieße ja, dass dieser alte Mannder verbannte Weisegewesen sein musste! Aber wie war er zurück in die Stadt gekommen? Und wieso verboten sie, dass wir die Prophezeiung erfuhren? War eine Prophezeiung nicht etwas, das wahr wurde? Auch wenn sie schlecht oder böse sein sollte, so musste man sie doch kennen, um etwas gegen sie unternehmen zu können, oder nicht? Warum löschten sie unsere Gedächtnisse, dass wir es einfach vergaßen?
»Scarlett, und du weißt wirklich nichts?«
»Er hat mir nichts gesagt, Mutter.«
»Da bin ich aber beruhigt. Lass uns gehen. Dein Vater wird heute spät nach Hause kommen«, sagte sie und nahm mich bei der Hand. Ein Blick zurück zeigte angsterfüllte Gesichter, einen Rest Nebel und weinende Kinder, die von den Ältesten befragtwurden. Hatte wirklich niemand außer mir den Worten des Weisen gelauscht?
Ich musste mich unwissend stellen. Es war meine einzige Chance, mein Wissen zu behalten. Ich wusste zwar noch nicht, was ich damit anfing, aber ichwürdees schon verstehen, sobald ich alt und frei genug dafür war. Ich fände heraus, was es mit dieser Prophezeiung auf sich hatte. Und vielleicht konnte ich sie sogar miterleben.
FünfJahrewar es nun her. Wer hätte gedacht, dass sich alles doch noch zum Guten entwickeln würde?FünfJahre, in denen ich von einem kleinen Straßenjungen zum Magier geworden war. Fast jedenfalls. Denn ich befand mich nach wie vor in der Ausbildung.
Das letzte Schuljahr war angebrochen und nun durften wir uns Adepten nennen. Endlich gehörten wir nicht mehr zu der anonymen Masse der Schüler, die die Akademie Semester für Semester aufs Neue überschwemmte, in der Hoffnung, ein Magier oder eine Hexe zu werden. Doch von denen schaffte es mit Glück nur jeder Zehnte bis ins letzte Jahr. Die Kriterien waren streng, denn nun ging es erstmals raus aus den Klassenräumen in die freie Welt, um unser Können zu beweisen. Es war das Abschlussjahr, in dem uns die praktischen Prüfungen erwarteten.
So lief ich mit gemischten Gefühlen durch Maalan, auf dem Weg zum ersten Tag des letzten Jahres, das über meine Zukunft entscheiden sollte. Es war früh am Morgen und die Nebel lagen noch in den Straßen der erwachenden Stadt.
Ich suchte mir meinen Weg durch die vielen kleinen, verschlungenen Gassen des Bettlerviertels, in dem ich wohnte. Ich hatte nie Wert auf Reichtum oder Besitz gelegt. Ein sauberes Erscheinungsbild war mir wichtiger; denn lieber war ich arm aber glücklich, statt reich und arrogant. Die meisten Schüler konnten mit ihren latenten magischen Fähigkeiten eine Menge Geld machen und trugen ihre Nase entsprechend hoch. Sie schauten herab auf das normale Volk. Ich hasste sie.
Die Sonne stieg langsam über den Horizont und tauchte den Himmel in ein dunkles Rot. Ich sah auf dem kleinen Marktplatz, der zentral im Viertel lag, die ersten Händler ihre Waren anpreisen. Fisch, frisch am frühen Morgen gefangen, und Obst, welches bereits bessere Tage gesehen hatte. Ein paar boten Gegenstände des alltäglichen Lebens an: Geflochtene Körbe, Werkzeuge, sogar ein Schneider hatte eine Auslage vor seinem Laden aufgebaut.
Allesinallemwar der Markt im Bettlerviertel für mich immer wieder schön anzuschauen. Er war nicht so überfüllt undjederkanntejeden. Es war eine familiäre Atmosphäre. Ich hielt mich nicht lange auf und schlenderte weiter zur Brücke, die zum Festland führte. Mein Viertel war auf einer kleinen Insel in der Flussmündung des Vasyli gelegen und man musste über eine der Brückenanbindungen gehen, um in die anderen Bereiche von Maalan zu gelangen.
Vor den Stadttoren bildete sich eine ellenlange Schlange von Händlern und Leuten, die in die Stadt drängten. Die Tore waren noch nicht geöffnet.
Jede Nacht wurden zur Dämmerung die meistenZugängegeschlossen, um zwielichtiges Gesindel davon abzuhalten, unerkannt in die wichtigen Teile Maalans zu kommen. Trotzdemwar es nicht zu verhindern: Schloss man die Tore zum Bettler- und Fremdenviertel, blieben doch die zu den Vierteln mit besserem Ruf noch langezugänglich. Es war eine der vielen Repressalien, die wir einfachen Bürger zu ertragenhatten.
Die Tore öffneten sich. Langsam setzten sich Winden in Gang und man konnte die Dampfmaschinen arbeiten hören. Eine kleine Rauchfahne stieg aus dem Schornstein des Torhauses. Kaum hatte sich das Tor weit genug geöffnet, strömten die Wachen hervor und drängten die Menschen zurück. In dicken Rüstungen und mit Feuerlanzen bewaffnet sicherten ein paar Soldaten das Geschehen.
Nach und nach wurde jeder, der in die Stadt wollte, durchsucht und nach seinem Grund befragt, ehe man sie betreten durfte. Es dauerte eine Weile, bis ich an der Reihe war.
»Hey du!«, rief mich eine der Wachen an. »Du bist dran. Träum nicht herum, sonst kannst du dich wieder hinten anstellen!«
Ich wandte mich ihr zu und zog einen alten, schon oft benutzten Passierschein aus meiner Tasche. Die Stadtwache warf nur flüchtig einen Blick darauf und ließ mich mit einer leichten Verbeugung passieren. Es war einer der Vorteile, an einer der Akademien zu studieren. Jeder Magier, jede Hexe und auch jeder der Technomanten hatte solch eine Genehmigung, die Stadt jederzeit zu betreten und zu verlassen. Die Regierung legte viel Wert auf ihr kostbares Gut.
Ich kam auf dem großen Marktplatz vor den Markthallen aus. Hier war einiges los. Die Marktkarren kamen aus allen Richtungen, um die besten Plätze zu ergattern. Geräumige Lastkarren transportierten Waren vom Hafen und den Kontoren, die sie anschließend an die Großhändler lieferten. Ein paar dampfbetriebene Kutschen bahnten sich hupend ihren Weg durch die fluchende Menschenmasse.ReicheLeute, die keine Rücksicht auf den kleinen Bürger nahmen.
Ich überquerte schnell den Platz und versuchte, mich nicht über den Haufen fahren zu lassen. Mein Weg führte mich die Gassen des Marktviertels entlang und immer wieder wich ich den Handelskarren aus. Markttage waren schrecklich hektisch und sorgten nur für eine Verstopfung der Straßen.
Es wurde langsam heller; erste Sonnenstrahlen fielen in die Gassen der Stadt und lösten den Nebel auf. Zu meiner Rechten befand sich nun der weitläufige Übungspark der Akademie. Hier sollten auch Teile unserer Prüfungen stattfinden. Die Mauern waren dick und hoch und mit Eisen ummantelt. In regelmäßigen Abständen gab es kleine Stahltüren, um eine FluchtoderEvakuierung vom Gelände zu ermöglichen. Zu oft gerieten manche Maschinen und Zauber außer Kontrolle und verletztenodertöteten Adepten. Zum Schutz der Stadt wurde das Mauerwerk fast jedes Jahr verstärkt, da die Kräfte, die hier freigesetzt wurden, ernsthaften Schaden anrichten konnten. Der sogenannte Übungspark war von vier mächtigen Wachtürmen umstellt, die schwer bewaffnet Sicherheit darstellen sollten. Doch für wen? Man hörte nie etwas von den Prüfungen, denn alles, washinterdiesen Mauern geschah, war streng geheim. Manchmal wurde beobachtet, wie die Geschütze der Türme während einer Prüfung in den Park feuerten und harte Geschosse und Zauber auslösten. Die Prüflinge bekam man danach nie mehr zu Gesicht. Es hieß immer, ihre eigenen Zaubersprüche und Maschinen hätten sie getötet und mussten von den Türmen gestoppt werden, um die Bevölkerung nicht zu gefährden.Wardas denn die Wahrheit? Es gab zahlreiche Gerüchte, aber ich wollte nicht viel darauf geben, bald würde ich es eh erfahren, wenn ich dort zu meiner Prüfung im Übungspark stand. Unter den wachsamen Augen der Turmbesatzungen.
Ich kam langsam zum Mittelpunkt der Stadt. Die Straßen waren hier gepflastert und ich konnte mehr Wachen entdecken als zuvor. Ich befand mich im Regierungsviertel. Mein Ziel war nicht weit entfernt.
Der große Platz lag jetzt vor mir. Das Herzstück Maalans. Direkt an der Magierakademie gelegen bildeteder gut dreihundert Schrittdurchmessende Platzmit seinen Mustern und mittigen Säulen ein eindrucksvolles Bild, welches nur von den imposanten Türmen der Akademie übertrumpft werden konnte. In seinem Zentrum beschäftigten sich noch einige Magier und Hexen mit dem Abbau von Bühnen. In der letzten Nacht hatte hier unser jährliches Fest zum Vollmond stattgefunden. Es erzeugte einen gewissen Rausch, dem man sich nicht entziehen konnte, und auch ich hatte mir den einenoderanderen Tanz mit einer hübschen Hexe genehmigt. Einmal im Jahr waren wir alle eine große Familie. Nun wurde es ernst; ab heute entschied sich, ob ich in dieser Sippe bleiben durfteodernicht.
Grad in dem Moment, in dem ich fast in düstere Gedanken abdriftete, hörte ich jemanden meinen Namen rufen.
»Hey! Jonathan!« Es war die Stimme von Richard. Ich drehte mich zu ihm um und erblickte auch Cloe an seiner Seite. Sie waren zwei meiner besten Freunde.
»Was macht ihr denn schon so früh hier?«, rief ich und ging ihnen entgegen.
»Nicht nur du willst heute wieder zur Akademie, du Halunke«, entgegnete er mir.
»Wir haben uns heute extra früh auf den Weg gemacht, weil wir dich abfangen wollten. Wie kann man nur so ein Frühaufsteher sein?«, erklärte Cloe. »Komm doch mit uns mit. Wir haben ja noch ne Menge Zeit, bis wir uns in der Akademie melden müssen.«
Eigentlich mochte ich es, als Erster an der Akademie zu sein, aber für meine Freunde hatte ich immer Zeit. »Na gut. Was habt ihr denn vor?«, fragte ich zurück.
»Wir wollten noch etwas über die Märkte schlendern und gucken, ob wir nicht das ein oder andere Brauchbare finden können. Na komm!« Cloe hakte sich mit diesen Worten bei mir und Richard ein und führte uns hinein in den Trubel der Stadt.
Wir verließen den Platz in östliche Richtung und tauchten ein in die schmalen Gassen des Magierviertels. Kaum war man zwischen die alten, zum Teil schiefen Häuser getreten, kam es einem so vor, als hätte man eine andere Welt betreten.
Der Lärm der Stadt war nur noch leise zu erahnen. Mit jedem weiteren Schritt in das älteste Viertel Maalans verließ man die Normalität. Ein feiner Geruch von Zimt stieg mir in die Nase – eines der Zeichen, dass hier Magie am Werk war.
Die Dächer der Häuser schoben sich in der Höhe immer dichter zusammen und ließen die Wege schummerig und düster erscheinen. Kaum hatte man das Gefühl, komplett von den Gassen verschlungen zu werden, da gaben sie uns frei und wir betraten einen kleinen Platz. Rechts und links am Rand gab es eine Reihe von magischen Geschäften, jedes für eine andere Spezialität berühmt.
Auch hier war der Trubel der erwachenden Stadt angekommen und fleißig bauten einige Händler ihre Stände auf, in der Hoffnung, ihre Zaubereien und Zaubertrankzutaten an den Magier oder die Hexe bringen zu können.
Wir gingen über den Platz und beobachteten ein paar von ihnen beim Aufbau. Mit einem Mal wurde mir ganz warm und ich nahm die Gespräche um mich herum nicht mehr richtig wahr. Eine himmlische Melodie war an meine Ohren gedrungen und umfing mich sanft. Ich reckte mich in die Höhe und sah mich um. Cloe und Richard guckten mich nur verständnislos an.
»Was ist denn los? Suchst du jemanden?« Sie war immer sehr aufmerksam und bekam viel mit.
»Kommt mit«, erwiderte ich nur knapp und stürzte über den Platz in eine der Gassen. Die Musik wurde lauter und nun schien es so, als bemerkten Cloe und Richard auch etwas. Ich stoppte abrupt vor einem Fenster. Hier lag die Quelle der Melodie. Ich starrte ungeniert in das Haus und sah zuerst nur verschwommene Bewegungen. Schließlich löste sich langsam eine Silhouette aus schnellen Bewegungen heraus und passte sich der ruhiger werdenden Musik an. Ein Mädchen mit honigfarbenem Haar tanzte und warf sich erneut in Posen und Figuren, die ich nie zuvor gesehen hatte.
»Das ist dochLymle«, flüsterte Richard.
»Wer ist das?«, fragte ich nach.
»Sie ist neu hergezogen und wohnt hier im Magierviertel. Wenn du dich nicht immer so herumtreiben würdest, wüsstest du auch mehr über unser Viertel Bescheid«, ermahnte sie mich mit ihrem berühmten Zeigefinger.
»Sie tanzt so wunderbar … fast wie ein Engel«, seufzte Richard. Cloe gab ihm einen Klaps auf den Kopf.
»Red nicht dauernd so einen Blödsinn. Woher willst du wissen, wie Engel tanzen?«, fragte sie gespielt erbost. »Du weißt doch genau … Mist! Hört ihr das? Die Glocken der Akademie! Wir kommen noch zu spät.« Mit diesen Worten riss Cloe uns beide mit sich.
Erstjetzt bemerkte auch ich die Glockenschläge. Wie lange hatten wir bei ihr am Fenster gestanden?
Mit Mühe schafften wir es noch pünktlich zum Unterricht. Cloe hatte einen anderen Stundenplan als Richard und ich, deswegen sahen wir sieerstin der Pause wieder.
»Und wie verliefen eure ersten Stunden?«, wollte sie wissen, während wir uns auf den Weg zum gemeinsamen Kurs machten.
»Fast wie jedes Mal am Anfang eines neuen Schuljahres. Die Lehrer halten noch immer Vorträge, wie wichtig doch unsere Ausbildung sei und dass wir grade jetzt allesgebenmüssten.Laaaangweilig.« Richard gähnte übertrieben dazu und wir lachten.
Im Klassenzimmer nahmen wir nebeneinander Platz und warteten auf den Kursleiter. Mit etwas Verspätung kam schließlich Professor Blue. Er trug moderne Hemden in knalligen Farben zu blauen Jeans, war Mitte dreißig und Lehrer für Zauberpraxis. Das Fach war für uns neu, weil es nur im Abschlussjahr gelehrt wurde. Er übernahm auch die Leitung unserer Klasse.
Professor Blue stellte sich vor das Pult und blickte uns nacheinander an.
»Willkommen in eurem letzten Schuljahr. Ich denke, die anderen Lehrer werden euch zu Genüge mit ihren Vorträgen genervt haben, deswegen lasse ich es gleich sein.« In der Klasse gab es eine kurze Welle der gemurmelten Zustimmung und viele Gesichter erhellten sich freudig. Professor Blue fuhr fort:»Als euer Kurs- und Klassenleiter istes heute aber meine Aufgabe, euch eine neue Schülerin vorzustellen. Komm doch bitte herein, Lymle.«
Die Tür zum Klassenraum öffnete sich einen Spalt.Schnellhuschte ein Mädchen zum Professor und stellte sich leicht hinter ihn.
»Na, nicht so schüchtern. Sag ein paar Worte zur Klasse.« Der Professor schob sie sanft vor sich und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Mit einem Mal wirkte sie viel selbstbewusster und nun erkannte ich sie auch: Es war das honigblonde Mädchen vom Morgen!
»Hallo! Ich heiße Lymle Lumina und bin erst vor kurzem hierher gezogen. Ich wohne bei Miss Scarlett im Magierviertel. Kommt mich doch mal dort besuchen und wenn ihr schon mal da seid, lasst euch gleich von Miss Scarlett eure Zukunft vorhersagen. Mmh … was jetzt? Ich bin noch nicht so bewandert in der Zauberei wie ihr, aber ich hoffe, dass ich ganz viel von euch lernen kann, und freue mich auf die kommenden Unterrichtsstunden.«
Als sie fertig war, trafen sich kurz unsere Blicke und ich war mirsicher, dass sie einen Moment in ihrer Bewegung stockte, während sie zu ihrem neuen Platz geschickt wurde.
Elementarzauberei. Eine von fünf Kategorien, die Zauber jeglicher Art beschrieb. Professor Blue schien mit dieser Gruppe das Schuljahr beginnen zu wollen und erklärte uns die einfachste Handhabung eines Elementes.
Eigentlich interessierte ich mich sehr für die Zauberei. Es war das erste Semester überhaupt, das ich auf dieser Akademie besuchen durfte. Davor unterrichtete mich Miss Scarlett persönlich. Ich hatte meine Magie nie zeigen dürfen, nie außerhalb meines praktischen Trainings.
Doch komischerweise konnte ich mich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Mein Blick schweifte abermals von der Tafel rüber zu dem Jungen, der mich zuvor so seltsam angesehen hatte. Seine Haarfarbe war meiner ähnlich. Und auch so schien er nicht die Begabung deranderenzu teilen, einfache Zauber durchzuführen. Irgendetwas warandersan ihm, das spürte ich regelrecht. Erklären konnte ich es mir nicht.
Erschrocken bannte ich meinen Blick auf die Tafel, als er ebenfalls umherschaute und scheinbar bei mir hängen blieb. Ich wollte ihn ansehen, unbedingt, noch einmal in diese merkwürdigen Augen sehen. Aber wenn ich das tat, würde ich nicht mehr von ihnen loskommen, das spürte ich.
Schließlich wanderte sein Blick zurück zur Wandtafel und ich entspannte ein wenig, ehe ich ihn von Neuem ansah. Ich saß zwei Reihen hinter ihm, sodass er nicht bemerken konnte, dass ich ihn beobachtete. Oder doch?
»Okay, versucht es einmal«, hörte ich Professor Blue sagen und schaute verunsichert zu meinen Mitschülern, was genau wir tun sollten. Sie legten ihre Hände ruhig nebeneinander auf den Tisch, die Handrücken nach unten geneigt. Ich sah, wie sich langsam Wärme in den Handflächen sammelte und bei einigen sogar die ersten kleinen Flammen zu erkennen waren, die aber schnell wieder verschwanden und nur kurz aufflackerten.
Feuerbälle zaubern, dachte ich versunken und tat ihnen gleich. Ich formte zuerst betende Hände, breitete sie danach verzögert auseinander, bis die Handrücken den Tisch berührten, und versuchte, die Feuerflamme zu rufen, wie sie es taten.
Ich spürte jedochnichts.
Ich wiederholte das Prozedere, sah ihnen zu und machte es noch einmal und noch einmal und ein weiteres Mal. Es ging nicht. Es war keine Wärme in mir, die ich nach außen transportieren konnte. Ich war nicht in der Lage, dieses Element zu beherrschen, ganz einfach, weil ich es nicht in mir trug.
Ich erinnerte mich an Miss Scarletts Worte, dass jeder nur die Kraft herbeirufen könne, die auch in ihm schlummere.Würdeman also mit Gewalt versuchen, das Meer zu kontrollieren, selbst wenn man nur die Energie für ein Flüsschen hatte, sowürdeman an der geballten Stärke zerbrechen. Ich schloss daraus, dass man seine Grenzen kennen sollte.
Aber war dies nicht nur ein einfacher Feuerzauber? Es hattenichtsmit Beherrschung oder Sonstigem zu tun. Es war eine klitzekleine Flamme, kleiner als die eines Streichholzes, die ich aus mir heraus transportieren wollte. Doch wieso spürte ich die Wärme in mir nicht, die von den Feuerflammen der anderen und so auch von ihnen ausging?
»Klappt es?« Professor Blue stand plötzlich neben mir und lächelte mich sanft an. Ich hatte ihn während meiner Gedankengänge nicht bemerkt. Wie lange sah er meinen verzweifelten Versuchen schon zu?
»Nicht so richtig«, antwortete ich wahrheitsgemäß, obwohl ich lieber etwasanderesgesagthätte. »Kann es nicht vielleicht sein, dass ich einfach nicht die Begabung für das Element Feuer besitze?«
»Das wäre denkbar. Aber diese Annahme ist viel zu früh, Lymle. Ihr müsst euch alle erst an die Zauberpraxis gewöhnen. Kein Meister fällt vom Himmel. Mit ein wenig Übung wirst du den einen oderanderenFeuerzauber beherrschen können. Nur Mut«, munterte er mich auf, tätschelte mir kurz den Kopf und ging weiter durch die Reihen.
Ich sah ihm verwundert nach. Wieso herzte er mich so? Das tat er bei denanderendoch auch nicht?
Daraufhin sah ich nachdenklich auf meine Hände. Übung sagte er? Na schön!
Ich hatte die restlichen Stunden diese Zeichenabfolge wiederholt. Immer und immer wieder. Professor Blue war bereits bei den nächsten Zaubern angelangt, wie einem kleinen Windstoß, um Papier von seinem Schreibtisch runterzuwehen oder Wasser aus einem Glas schweben zu lassen. Er schaute einige Male zu mir, aber ich beschäftigte mich einzig mit der Übung des Feuerzaubers. Ich wollte es können. Wenn er Recht behielt und ich das wirklich bewerkstelligen könnte, würde ich nur genug üben, schaffte ich es auch und das schon sehr bald! Das nahm ich mir fest vor.
Ich schaute immer nur kurz auf, notierte mir die Praxis der nächsten Zauber und die Seitenzahl im Buch, wandte mich danach aber der Übung des Feuerzaubers zu. Ich musste es einfach schaffen. Unbedingt!
Die Klingel riss mich aus meinen Gedanken und ich sah, wie die anderen ihre Taschen packten. Professor Blue kam zu mir und lächelte: »Der Unterricht ist vorbei. Versuch es morgen nochmal. Dusolltestdich nicht überanstrengen.«
»Ja, danke«, antwortete ich nur bedrückt. Ich wollte schreien. Wiesosolltemich die Übung eines einfachen Zaubers überfordern!? Sah ich so zerbrechlich aus?
Doch als ich aufstand, fühlte ich sofort, was er meinte. Er hielt mich am Arm, damit ich nicht fiel. Niemand bemerkte es – ein Glück.
»Du solltest dich hinlegen, bevor du heimgehst. Du siehst blass aus«, sagte er und ich spürte Mitgefühl in seiner Stimme.
»Es geht schon, danke«, antwortete ich nur und stieß mich etwas von ihm ab. Ich wusste nicht, was ich sagen musste, dass er sich keine Sorgen um mich machte. Deshalb winkte ich nur lächelnd und verließ das Klassenzimmer Richtung Innenhof.
Mir war bewusst, dass der Ausgang in der entgegengesetzten Richtung lag, doch ich konnte mich noch nicht unter die Leute mischen. Ich suchte mir ein stilles Plätzchen im Grünen, legte mich ins Gras und tankte ein paar Sonnenstrahlen. Jetzt spürte auch ich Wärme in mir aufkeimen und setzte mich auf. Die Hände auseinanderbreitend konzentrierte ich die Energien in meinen Handflächen, die ich von der Sonne empfing. Langsam bildete sich ein Licht in meinen Händen.
Ich schnappte sie augenblicklich zusammen und es verschwand. Kein Feuer, dachte ich gekränkt und drehte mich auf den Bauch. Vor meiner Nase krabbelte ein Marienkäfer den Grashalm hinauf und ich kicherte, als er das Gleichgewicht verlor, der Halm sich kräuselte und er im Fall davon flog.
»Okay«, sagte ich mir. »Auf zum praktischen Training.«
Ich wartete immer, bis das Licht der Sonne etwas verschwand und die Dunkelheit der Nacht sich ankündigte, ehe ich zu meinem Trainingsplatz ging und trainierte. Er befand sich zwischen dem Viertel der Händler und dem der Handwerker. Es war ein Platzohnehohe Gebäude,ohnePflastersteine, über deren Unebenheiten man stolpern konnte; aus glatten, bunten Steinen, die zusammen verschiedene Mandalas darstellten. Es war der Ort, an dem die Musik und der Tanz sich trafen und liebten, sich den Menschen zeigten, um von ihnen geliebt zu werden.
Auch heute waren viele Stadtbewohner zu unserem Trainingsplatz gekommen, um uns dabei zuzusehen. Um mich herum auf den umliegenden Mandalas tanzten bereits einige Akrobaten und Musiker. Sie hielten sich den ganzen Tag über hier auf und verdienten ihr Geld damit. Ich dagegen stand immer noch auf dem kleinsten Mandala des Platzes, das Händlerviertel im Rücken und mein Blick ins Himmelreich gerichtet.
Gleich ist es soweit, dachte ich und wartete auf den Sonnenuntergang, dass das Abendrot verschwand und der Himmel nur leichte Lichter zeigte. Sie sollten schließlich nicht das Abendlicht ansehen. Nur mich allein sollten sie sehen, wenn ich tanzte und das war die Stunde, die für mich schlug. Kein anderer Tänzer oder Akrobat auf diesem Platz vermochte in dieser Zeit so viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen wie ich.
Mit dem ersten Paukenschlag der Stadthymne, die jetzt erklang, setzte ich schleichend den Fuß nach vorne, denrechtenArm ausgestreckt vor die Brust und den Blick zum Himmel gerichtet. Ich wollte die Wellen rufen, also musste ich mich verhalten wie sie. Mein Körper schwang erst links dann rechts, wieder und wieder, langsam der Musik folgend. Meine Arme umspielten meine Bewegungen wie Schmetterlinge, und als mein Fuß im Sprung den Boden des Mandalas berührte, kamen die Wellen mit mir.
Es war, als würde ich auf dem Wasser tanzen. Dort, wo ich auf dem Mandala aufkam, erzeugte ich eine kleine Woge, einen Kreis, der von mir ausging und bis zum Ende meines Tanzbereichs schwappte. Doch es war kein Wasser, das die Wellen schlug. Es war Licht. Und es strahlte, wie auch ich, wenn ich tanzen konnte.
Die Stadtbewohner wichen ein wenig zurück, um nicht in die Lichtwellen hineinzulaufen. Sie blieben an der Kante meines Mandalas stehen.
Als die Musik schließlich an Schnelligkeit zunahm und die Geschichte der Stadthymne uns in Gedanken die damalige Flucht nachempfinden ließ, wechselte ich den Tanzstil. Es waren nicht mehr die sanften Wellen, die mich berührten. Es wurde schneller.
Ich sprang auf der Stelle in die Höhe, riss die Beine nach oben und kam auf dem rechten Arm wieder auf. So für einige Sekunden verharrend ging ich über in deneigentlichenTanz. Er lebte von der raschen Rotation meines Körpers, sodass man die grundlegende Bewegung nur verschwommen erkennen konnte.
Daraufhin murmelte ich das Wort und meine Handflächen begannen zuleuchten. Durch die schnelle Rotation wirkte es wie ein einzigesLeuchtenmeinerseits, bis ich die Abfolge verlangsamte und im seitlichen Sitz anhielt. Danach legte ich meine leuchtenden Hände auf den Mandalaboden.
Ich bemerkte das Staunen der Stadtbewohner, als um mich herum das gesamte Mandala aufleuchtete und ein seichter Windstoß die Lichter vom Boden löste. Ein Lächeln zauberte sich in mein Gesicht.
Ich erhob langsam meine Hand. Ein Lichtschleier erschien aus der Stelle, auf die ich mein Leuchten gedrückt hatte. Ich zog ihn empor und das Mandala verdunkelte sich, während ich aufstand und mit einem Schleiertanz begann, der so strahlend war, dass fast der gesamte Platz erhellt wurde.
Eine Panflöte setzte in die Hymne ein und ich bog mich nach hinten, die Hände auf den Boden und schlug meine Beine zurück. Dann sprang ich in einen Handstand, aus dem ich in die Hocke glitt und rotierte. Der Lichtschleier hüllte meine Gestalt völlig ein, und erst als ich emporsprang und auf einer Hand neben dem Schleier aufkam, folgte er mir.
Mit dem Einsetzen der Ratschen und Rasseln wechselte ich erneut den Stil und bewegte die Hüften hin und her. Die Arme waagerecht von mir gestreckt, die Wellen zu mir zurückfließend.
Jetzt sah ich ihn. Er stand da, mitten im Publikum. Unsere Blicke trafen sich und ich stockte ungewollt in meiner Tanzfolge. Der Lichtschleier löste sich in abertausende Lichtfunken auf, die um mich herum schwirrten wie leise Glühwürmchen. Die Lichtwellen brachen völlig ab. Und ich stand da und konnte mich nicht bewegen. Warum war er hier? Wieso sah er mich so an?
Plötzlich spürte ich ein unterdrückendes Gefühl und wandte meinen Blick zu einer Traube um, die für Unruhe unter den Stadtbewohnern sorgte. Stadtwachen!
Hastig schaute ich mich um. Und da entdeckte ich sie, meine Chance zur Flucht.
Ich wandte ihm ein letztes Mal meinen Blick zu und setzte meine noch leuchtenden Finger an meine Lippen. Ein Luftkuss wurde aus meiner abschließenden Tanzbewegung geboren. Die Lichter rieselten über der Zuschauermenge hinab wie leichter Regen und sie jubelten, als ich mich umwand und mit einem Satz über gestapelte Fässer auf ein Hausdach schwang und verschwand.
Mist! Die Stadtwachen kamen genau zum falschen Zeitpunkt. Ich war eben erst auf dem Platz angekommen, da holten sie mich schon ein. Es waren mindestens fünf, also war Verstärkung eingetroffen.
Ichhätteauf meinem kleinen Streifzug besser aufpassen müssen. Ich war wie fast jeden Abend durch die dunklen Gassen geschlichen und hatte nach offenen Fenstern gesucht, um die Taschen der Reichen zu leeren. Ich konnte es nicht ertragen, wie sich die Menschen in dieser Stadt in zwei Gruppen teilten: die finanzstarke Oberschicht, meist Magier, Technomanten und Händler, und die ärmliche Unterschicht, die kaum mehr besaß, als ein Dach über dem Kopf. Aber selbst das gehörte in der Regel einem Reichen, der zahlreiche Häuser kaufte und sie zu Wucherpreisen vermietete.
Schon früh erzogen mich meine Eltern dazu, mich nicht unterdrücken zu lassen. Einst waren sie Magier gewesen, die den Armen halfen, sie in der Not heilten und mit Geld unterstützten. Doch damit hatten sie sich zu viele mächtige Feinde gemacht. Eines Tages kehrten sie vom jährlichen Mondfest nicht zurück.
Sie waren ermordet worden, so hatte man mir erzählt. Ich besaß wenige Erinnerungen an meine Kindheit, und die paar, die ich behalten hatte, entsprachen mehr dem Gefühl, dass sie anständige Menschen gewesen sein mussten. Ich besaß keine Bilder von ihnen.
Ihre Mörderwarennie gefasst worden. Nach meiner Ausbildung würde ich sie suchen und zur Rechenschaft ziehen!
Seit diesem Tag nahm ich es in meine Hand, die Wehrlosen zu unterstützen. Ich ging auf Streifzüge durch die Villen der Reichen und suchte nach Gegenständen, die sie nicht sofort vermissten, wie kleinere Geldbeträge und Wertgegenstände, oft auch einfach nur Nahrung.
Es konnte ja nicht jedes Mal gut gehen! Heute Abend war ich von einer Wache entdeckt worden, als ich unachtsam aus einer Villa kletterte. Auf meiner Flucht bis hier her waren immer mehr hinzugestoßen und ab und zu schrillten Pfiffe, um nach weiterer Verstärkung zu rufen.
Die Stadtwachen schienen in den letzten Nächten aufmerksamer. Etwas ging vor sich, wovon der normale Bürger noch nichts wusste.
Ich drängte mich durch die Menschenmenge und die Wachmänner schwärmten aus, um mich auf dem Platz einzukreisen. Die Menge wurde unruhig, als sie die bewaffneten Wachleute bemerkte. Ich war mirsicher, für einen Moment meine Ruhe zu haben, und nutzte die Gelegenheit, um mich zu erholen. Siewürdennoch ein paar Minuten brauchen, um mich zu entdecken, aber ich brauchte dringend eine Pause.
Ich blickte mich auf dem Platz um und erkannte erst jetzt, wo ich gelandet war: auf dem Übungsplatz der Künstler. Hier trainierten alle Akrobaten,Tänzerund manchmal sogarZaubererihre Stücke, bevor sie diese in Wettbewerben zeigten. Die Stimmung des Publikums stellte einen sehr guten Indikator für die Qualität des Werkes dar. Ich sah einen berauschendenTanzund in den wehenden Lichtern meinte ich, ein bekanntes Gesicht zu erkennen. War das etwa Lymle?
Ich stockte kurz und wie durch einen Zauber trafen sich unsere Blicke. Verführerisch ... Mir blieb für einen Moment die Luft weg. Auch Lymle schien abgelenkt zu sein und starrte mich etwas länger an. Plötzlich beendete sie ihren Tanz in einem Funkenregen. Sie hatte offensichtlich die Stadtwachen bemerkt und wurde unruhig. Sie warf noch eine Kusshand in das Publikum, doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass sie diese recht zielsicher in meine Richtung geworfen hatte. Mit schnellem Schritt wand sie sich um und sprang in zwei Sätzen über ein paar Kisten auf ein Hausdach im Hintergrund und verschwand in der Nacht.
Ich hatte jetzt keine Zeit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sie vor den Stadtwachen floh, und folgte der Masse. Die Menschen verließen beinahe hektisch den Platz. Ich wählte den sichersten Weg innerhalb der Menge und gelangte so in eine Gasse, die ich bisher nicht kannte. Ohne zurückzuschauen, rannte ich durch die Dunkelheit.
Die Wachen waren mit Sicherheit nach wie vor auf meiner Spur. Meine Beine trugen mich weiter in die dunkle Stadt hinein. Nur hier und da sah ich magische Lichter, die die Straßen beleuchteten. Die Nachtwarnoch warm von dem sonnigen Tag und keine Wolken verdeckten die Sterne. Es war wie eine große Blumenwiese bei Dunkelheit, auf der vereinzelt Glühwürmchen leuchteten. Auch heute strahlten sie so hell, dass man einen Schatten warf. Jedes Jahr um das Lichterfest herum bekamen sie eine ganz besondere Leuchtkraft. Doch leider war nicht die Zeit, diesen Anblick zu genießen.
Hinter mir erklangen erneut die wilden Rufe der Wachen, die nun erschreckend nahe wirkten. Ich bog um eine weitere Häuserecke und brachte mich so aus ihrem direkten Sichtfeld. Natürlich hatten sie mich gesehen, denn kurz darauf kamen auch sie um die Ecke gebogen und damit langsam aber sicher näher.
Ich kam nun ins Handwerkerviertel und die Gebäude glichen mehr und mehr großen Werkstätten, in denen Dampf betriebene Ungeheuer und wundersame Maschinen gebaut wurden.
Ich konnte mich bis heute nicht so recht mit den rätselhaften Gebilden und Erfindungen der Technomanten anfreunden; zu fremdartig und neu. Doch ich wusste auch ihren Nutzen zu würdigen. Es gab Geräte, die einen ohne Zauber fliegen ließen, oder welche, die einen vor den Zauberangriffen in einem Kampf schützten.
Die Stadtwache war zum Teil mit Waffen der Technomanten ausgerüstet und damit um einiges besorgniserregender geworden. Seit ihrer Einführung wurden angeblich nur noch halb so viele Verbrechen verübt. Doch waren da zudem Geschichten, die von der wahren Gefährlichkeit berichteten: von schrecklichen Wunden, die ihre Waffen rissen, die normale Zauber nicht zu heilen vermochten, weil sie bis tief in den Körper reichten und das Blut vergifteten.
Trotzdem gab es nicht nur erschreckende Erfindungen, sondern auch nützliche Gegenstände. Es gab für fast jeden Zauberspruch ein Objekt, das einem Nichtzauberer dieselben Fähigkeiten verleihen konnte.
Plötzlich tauchten erneut die Wachen hinter mir auf und rissen mich aus meinen Gedanken, die mich unglücklicherweise oft unnötig Zeit kosteten. Wie schafften sie es nur, so hartnäckig meiner Spur zu folgen? Ich war langsam außer Atem und würde nicht weit kommen, ohne eine Pause einzulegen. Ein Kampf schien unausweichlich, früher oder später. Besser ich wählte Ort und Zeitpunkt, ehe ich keine Wahl mehr hatte. Doch hier in dieser Gegend kannte ich mich nicht so gut aus. Wie sollte ich so eine passende Stelle finden?
Die ersten Schüsse fielen und die Geschosse aus den Waffen der Wachen flogen sirrend an mir vorbei. Ich schnellte in die nächste Gasse, um so aus der Schussbahn zu gelangen.MehrereProjektile schlugen direkt hinter mir in der Wand ein und große Steinsplitter brachen heraus.
Der Weg erwies sich als Sackgasse. Zwischen zwei Lagerhallen der Handwerker endete er an einer Mauer. Die Wachleute erschienen, ehe ich aus der Falle fliehen konnte.
»Halt! Stehen bleiben!«, schrie eine von ihnen. Um ihre Aussage zu bekräftigen, hoben alle Fünf ihre Waffen gegen mich. »Endlich haben wir dich, du verdammter Dieb! Jetzt kannst du uns nicht mehr entkommen!«
Wie oft hatte ich diesen Spruch schon gehört? Die Gasse war dunkel, das Licht von den weit entfernten Laternen ließ mich nur ihre Umrisse erahnen. Vorsichtig und ohne hastige Bewegungen zu machen griff ich hinter meinen Rücken an den Gürtel. Da waren sie! Das Letzte, was mich noch rettenkonnte: meine Karten. Ich umschloss sie kraftvoll und merkte sofort ein leichtes Vibrieren – sie wollten eingesetzt werden.
Ich blätterte mit einem Finger langsam durch die Karten und suchte etwas, das mir helfen würde. Ichkonntesie zwar nicht sehen, aber ich spürte ihren Zauber, auch ohne dass ich sie gesondert markieren musste.
»Ihr habt den Falschen«, rief ich ihnen entgegen, um mir Zeit zu verschaffen.
»Ach, red keinen Unsinn! Wir haben dich doch den ganzen Weg über verfolgt«, ging eine der Wachen auf mich ein. »Außerdem können wir dasZauberpulveran dir sehen, seit du in die Falle getappt bist.«
»Zauberpulver?«, frage ich, weiter den Unwissenden mimend. »Was soll das denn sein?«
»Ha! Eine Erfindung der Technomanten! Damit und mit diesen Brillen hier können wir euch Gesindel im Dunkeln jagen, weil ihr von Kopf bis Fuß leuchtet. Und du bist in eine der Fallen getappt«, erklärte eine der anderen Wachen.
Die Klügsten waren sie ja nie gewesen, aber mir so einfach zu verraten, warum sie mich verfolgen konnten, grenzte an Dummheit. Natürlich kannte ich das Zauberpulver, von dem sie sprachen, doch ich hätte solch eine magische Falle nicht erwartet. Beim nächsten Mal würde ich vorsichtiger sein.
»Und jetzt wirst du dich ergeben«, endete der Wachmann.
Sie rückten langsam auf mich zu. Und noch immer fand ich keine Karte, die mir weiterhalf.
»Ok, ok! Ich gebe auf und komm mit euch«, beruhigte ich die Wachen. Erleichtert senkten sie die Waffen ein kleines Stück. Als sie kaum zwei Meter vor mir standen, hatte ich endlich die entsprechende Karte gefunden.
So schnell ich konnte zog ich sie hervor und fing die anderen, die dabei rausflogen, mit der linken Hand auf.Ein kurzer Griff und der Zauberbrachsich seinen Weg in die Welt.
Durch die Gasse schoss ein roter Lichtblitz und Flammenzungen leckten bis auf die Straße, als er bei den Wachleuten explodierte. Ein Flammenball – einer meiner letzten Offensivzauber, die ich gegen Menschen einsetzte – war meine Rettung.
Die Stadtwachen lagen schwer verletzt in der Seitenstraße verteilt, kleine Flammen hingen noch an ihren Kleidern. Ich hatte nicht viel Zeit bis stärkere Wachen anrücken würden. So ein Zauber blieb nicht lange unbemerkt.
Ich kniete mich neben sie und suchte eilig ein paar leichte Heilzauber heraus, damit sie nicht starben, bis sie jemand fand.
Einige Minuten später verließ ich die Gasse. Ich schaute mich flüchtig um und wählte einen Weg zumGildentor, um von dort aus zum Hafen und zu meiner Wohnung zu kommen. Ich brauchte etwa einehalbeStunde für diesen kurzen Weg; die Straßen waren voller Wachen.
Das war nicht normal. Selbst für das Verletzen der Wachmänner in der Seitengasse würde man nicht so viele Männer nach mir ausschicken … Etwas war anders …
Am Tor sah ich einen Goliath, der das Tor bewachte. Es war eine gut drei Meter hohe Metallmaschine, die auf zwei kräftigen Beinen lief; von Kopf bis Fuß mit schrecklichen Waffen ausgerüstet.
Hier gab es vorerst kein Durchkommen, wenn man zu Fuß war. Also wählte ich einen Flugzauber und hob mich aus einer leeren Seitengasse in die Lüfte. Ich konnte nicht lange fliegen. Die Wachen sahen ja eventuell noch mein Zauberpulver, aber um kurz über die Mauer zu setzen, reichte es aus.
Der Rest des Weges war nicht einfacher, dafür auf mir bekannten Routen und so fand ich schließlich in den Morgenstunden zu meiner Wohnung zurück.
Das Auftauchen der Stadtwachen während meines Tanzes war ganz und gar ungewöhnlich. Sie konnten mich einfach nicht gefunden haben. Wie denn auch? Ich hatte keine Beweise hinterlassen, die auf meine Person wiesen. Da war ich mir absolutsicher.
Oberhalb der Häuserdächer sah ich auf den Platz hinab, immer noch darauf bedacht, von unten nicht gesehen zu werden. Sie durchkämmten die Menschenmenge und schienen ernsthaft nach jemandem zu suchen.
Nervosität breitete sich aus. Wenn sie nach mir fragten, konnte ich nicht mehr hierher kommen, um zu trainieren und Geld zu verdienen. Sobald sie hier etwas von mir erfuhren, fänden sie mich auch in der Akademie. So müsste ich meine magische Ausbildung an den Nagel hängen. Mir würdenichtsbleiben!
Ich schluckte und versuchte, mich zu beruhigen, als mein Blick auf diesen Jungen fiel. Ich wusste nicht einmal, wie er hieß. Im Unterricht war sein Name nicht ein Mal gefallen, dabei schien er kein stiller Typ zu sein. Ich erkannte ihn aus der Menschenmenge von hier oben genau, niemand hatte solch leuchtende Haare. Sie leuchteten nicht direkt, nicht wie Licht und trotzdem war die Farbe so kräftig, dass man ihn nicht übersehen konnte – genauso wie meine. Würde ich nicht so auffallen, gäbe eskeinenGrund, vor ihnen zu fliehen. Aber so?
Ich bemerkte, dass auch er sich der Menge anschloss und den Platz verließ. Doch schien er es, um einiges eiliger zu haben, als diejenigen, die aus Furcht vor den Wachen flohen. Waren sie etwa hinter ihm her?
Ich erhob mich aus meiner Hocke und lief die Dächer entlang, ihm folgend und mein Blick trotzdem behutsam den Stadtwachen zugewandt, die ihn scheinbar entdeckten. War es womöglich nur eine Verwechslung wegen der Haare? Oder waren sie wirklich ihm auf der Spur? Hatte er dennetwasgetan?
Ich nahm Anlauf und sprang über die Hausdächer, ebenfalls die Verfolgung aufnehmend. Ich musste wissen, was da los war. Was, wenn er unschuldig war und sie ihmetwasanhängen wollten? Eswärenicht das erste Mal. Die Regierung besaß viele schmutzige Geheimnisse.
Es war für mich ein Leichtes, ihnen auf den Fersen zu bleiben, war ich doch eine blitzschnelle Läuferin und in jeder Hinsicht trainiert darauf, Hindernisse zu bezwingen undwarendiese noch so groß und verschachtelt. Irgendeinen Weg hinein, hinausoderdrüber weg gab es immer. Man musste ihn nur aufspüren.
Ich hüpfte in kraftvollen Sprüngen über die Hausdächer, den Blick stets nach unten steuernd, um ihn zu finden. Je nach Geschwindigkeit, die ich aufnahm, um einen Spalt zwischen den Häusern zu überwinden, war ich gezwungen, mich auf der anderen Seite abzurollenoderzu springen und hing anschließend an der Hauswand. Es war notwendig, den Aufprall mit meinen Beinen zu dämpfen, ehe ich mich mit beiden Armen hochzog. Auf einmal stoppte ich erschrocken. Er war in eine Sackgasse gelaufen.
Soeben wollte ich ihm etwas herunterrufen, als die Stadtwachen bereits um die Ecke bogen. Irgendetwas erschien mir seltsam. Sie hatten ihn zu leicht aufspüren können. Sie wussten, wo er war, selbst wenn sie ihn nicht sehen konnten. Nicht ein Mal falsch abgebogen. Da war doch was faul.
Ich hockte mich nieder, um keinen Schatten zu werfen und nicht aufzufallen. Ich musste erst einmal wissen, was los war. Womöglich handelte es sich ja einfach nur um ein Missverständnis und sie zogen ohne Weiteres ab?
»Halt! Stehen bleiben!«, schrie eine von ihnen durch die Gasse. Die anderen Stadtwachen erhoben ihre Waffen gegen ihn. Sollte das etwa bedrohlich wirken? Ich konnte mir ein schelmisches Grinsen nicht verkneifen. »Endlich haben wir dich, du verdammter Dieb! Jetzt kannst du uns nicht mehr entkommen!«
Ich musste mich bemühen, nicht laut loszulachen. Glaubten sie ernsthaft, nur weil er eine Mauer in seinem Rücken hatte und sie mit ihren kleinen Waffen dort standen, könnte er ihnen nicht entwischen?
Moment. Er war beiWeitemnicht so flink wie ich. Er war vermutlich gar nicht in der Lage, die Wände hoch zu sprinten, ehe eine Kugel ihn überhaupt streifte. Ich musste überlegen. Jetzt schien die Situation doch gravierender, als ich sie imerstenAugenblick eingeschätzt hatte.
Ich starrteweiterhinab. Was unternahm er? Schließlich konnte er nicht wissen, dass ich hier oben zusah und ihm notfalls helfen würde. Ich wollte natürlichersteinmal sehen, was er auf sich gestellt gegen sie ausrichtete.
Er mimte den Unschuldigen und ich grinste nur, weil ichsichergenau dieselbe Taktik gewählt hätte. Er probierte also, Zeit herauszuschlagen. Ich bemerkte, dass er sie in ein GesprächüberZauberpulver verwickelte. Siewarenleicht manipulierbar und plauderten wie die Marktfrauen.
Plötzlich entdeckte ich, dass er die Hände seltsam versteckt hielt und etwas durchblätterte. Ich versuchte, mich weniger auf ihre Worte zu konzentrieren, sondern zu erkennen, was er da genau tat. Ich beugte michüberdie Dachkante. Ein ungeübter Akrobatwärein dieser Haltung sicher bereits abgestürzt. Ich hockte beinahe waagerechtüberdie Gasse gebeugt auf der Kante des Daches. Nur meine nackten Füße hielten mich – ich tanzte immer barfuß, so spürte ich den Boden unter mir intensiver – meine Zehen umklammerten den Rand im wahrsten Sinne des Wortes. Es war Training, sonstnichts.
Doch leider war alle Anstrengung vergebens. Die Schatten in der Seitengasse fielen so ungünstig, dass ich nicht mehr erkennen konnte als vorher. Wie sah er, was er da brauchte?
»Und jetzt wirst du dich uns ergeben«, sagte die Stadtwache spürbar verärgert und sie rückten auf ihn zu. Schnell, wollte ich schreien. Da geschah, was ich nicht verstand.
Der Junge riss etwas, das nur halb so groß wie seine eigene Hand war, in die Höhe und ein ungewöhnlich helles Licht ging davon aus. Die Gasse und die Straßen in der unmittelbaren Umgebung wurden überflutet von dem magischen Feuer. Rote Lichtblitze quollen hervor und schienen aus dem Gegenstand selbst zu kommen. Flammen rannen durch die Seitengasse und formten einen gewaltigen Feuerball, der die Stadtwachen überrannte.
Ich war geblendet von der Schönheit dieses Zaubers und gleichzeitig erschrocken von seiner Stärke. Dieser Feuerzauber war viel zu mächtig, als dass ihn ein Adept unseres Ranges ausführen können sollte. Ich wusste nicht einmal, ob Miss Scarlett dazu imstande war. Wie hatte er das gemacht? War es möglicherweise nur eine Illusion gewesen?
Die Flammen verschwanden und die Wachen lagen am Boden. Ich bemerkte schwere Verletzungen an ihren Körpern und mir wurde leicht übel, denn der Geruch von verbranntem Fleisch zog selbst hier oben durch die Luft. Jetzt war ich mir absolutsicher: Es war keine Sinnestäuschung, sondern ein echter Kampfzauber gewesen!
Der Junge heilte sie mit einem Zauber, doch ein paar Narbenwürdendefinitiv zurückbleiben. So einen starken Heilzauber konnte er einfach nicht sprechen können.
Als er sich umschaute, duckte ich mich erschrocken, weil ich total vergessen hatte, meinen Schatten zu verbergen. Als ich seine Schritte vernahm, sah ich auf und er war verschwunden. Aber nicht mit mir! Ich sprang auf und hechtete ihm über die Dächer hinterher. Für mich war es ein Leichtes, ihn einzuholen,mussteer doch aufmerksam beobachten, stoppen, schleichen undwarten, wenn eine Reihe Soldaten durch die Straßen zog.
Mir war bekannt, wieso sich so viele Wachen hier aufhielten und mir tat es schon ein wenig leid, dass er es dadurch so schwer hatte. Aber ichmussteweitergehen.
Er kam schließlich an einem Tor an. Scheinbar wohnte er auf der anderen Seite des Flusses. Eine imposante Maschine, gebaut von den Technomanten, erwartete ihn. Ermussteeinen alternativen Weg nehmen, wenn er dort herüber wollte.
Ich sah zu, wie er erneut einen flachen Gegenstand in dieLuftriss. Augenblicke später erhob er sich in dieLüfte. Hier war sie vorbei – meine Verfolgungsjagd. Fliegen konnte ich nicht.
Was für ein seltsamer Junge, dachte ich. Und was für eine paradoxe Art, zuzaubern. Wie macht er das nur? Und wieso kann er all diese mächtigenZauberbereits so fehlerfrei ausführen?
Ich hatte den gesamten Heimweg zurück ins Magierviertel darüber nachgedacht, war aber zu keiner Lösung gekommen. Ich beschloss, später weiter nachzudenken und öffnete langsam die Tür zu Miss Scarletts Laden.
Ein Duft von Zimt lag in der Luft, Weihrauch und das Rauschen vom Meer. Ich schloss leise die Tür und lief über den aus Mandala bestehenden Mosaikboden in ihr Lieblingszimmer. Sie saß in ihrem Sessel und bestickte ein langes Stück Stoff mit Zaubergarn und Spinnenfäden. Ihre kleinen Helferlein wickelten für sie etwas Garn ab, machten sich jedoch immer wieder einen Spaß daraus, ihre Beine damit einzuwickeln.
»Ich bin zuhause«, sagte ich leise. Die Öllampe stand wie jeden Tag brennend auf dem Tischchen, das wir als Aquarium benutzten. Die Federn zum Schreiben vereinzelter Aufträge oder seltener Briefe befanden sich daneben und auch ein Aschenbecher. Sie konnte ihre Gewohnheit einfach nicht ablegen, eine Rohnelke am Tag zu rauchen. Ich mochte ihren Geruch sehr, aber den Qualm ertrug ich nur schwer.
»Setz dich zu mir«, sagte sie herb. »Ich habe mit dir zu reden.«
Ich wusste, dass ihr etwas missfiel. Ihre Stimme klang in diesen Momenten einfach anders. Ich stieg über die im Zimmer verteilten bunten Garnrollen, wich den kleinen Spinnenmarionetten aus, die mich mit ihren bemalten Puppengesichtern nur ansahen und ratternd weiterarbeiteten. Die Porzellanpuppe Alice nahm ich von dem Flügelhocker hoch und setzte mich vor den Flügel, der neben ihr stand, aber nie gespielt werden durfte. Die Puppe tat ich behutsam auf meinen Schoß und sah Miss Scarlett erwartungsvoll an.
»Hast du mir etwas zu sagen?«, forderte sie mich auf. Doch ich wusste nicht, was sie genau meinte.
Sie legte das Stück Stoff beiseite und holte eine seltene Pflanze hinter ihrem Plattenspieler hervor, den sie von einem alten Technomanten erstanden hatte. Er spielte jedoch keine Platten mehr ab, schon seit Jahren.
»Was habe ich dir gesagt, sollst du nicht tun?«, stellte sie mir wieder eine Frage. Ich überlegte. Sie sagte mir viel, was ich nicht tun durfte. Wie sollte ich da wissen, was genau sie meinte?
Ich zuckte nur mit den Schultern, doch das schien sie nur noch wütender zu machen. Ihr nach hinten gebundenes, schwarzes Haar kräuselte sich leicht. Sie hatte das Gesicht einer hübschen Puppe und auch ihre Figur war makellos, was ihre betonten, unifarbenen Kleider sehr gut zur Geltung brachten. Ich verstand nicht, wieso sie sich keinen Mann nahm und eine Familie gründete. Aber darüber durfte ich jetzt ebenfalls nicht nachdenken. Was sollte ich denn angestellt haben?
Sie seufzte und griff nach meiner Hand. Ich spürte, wie sie mir etwas von ihrer Energie übertrug und sofort wurde mir wärmer als vorher.
»Bleib in derSonne, meide die Schatten und vor allem, setz nicht sovielMagie ein, Lym«, sagte sie deutlich und dabei bekräftigte sie es durch einen festen Händedruck.
»Ich weiß doch. Ich war heute auch in derSonne. Und ichhabenur beim Unterricht gelernt,vielmehrhabeich nicht gezaubert. Ehrlich«, versuchte ich, mich zu rechtfertigen.
»Lym«, ermahnte sie, ohne Weiteres zu sagen. Ich wusste, was sie meinte. Nichtsdestotrotz konnte ich es mir einfach nicht eingestehen. Ich wollte keine Rücksicht auf meinen Körper nehmen. Ich wünschte mir, frei zu sein, so wie die anderen.
»Wenn du geschwächt bist«, flüsterte sie beunruhigt, »werden sie dich finden. Ich möchte dich nicht an sie verlieren.«
»Wasmeinstdu damit, Miss Scarlett? Du sagst das immer wieder, aber ich verstehe das nicht.«
»Halt dich einfach von der Regierung fern, Lym. Sie bringt dir nur Ärger.«
»Das kann ich nicht! Ich werde gerufen, das weißt du! Ich muss diese Stimme finden!«
Sie drückte meine Hand fester zusammen. »Du wirst diese Nacht nicht auf einen deiner Streifzüge gehen, hast du mich verstanden!?«
»A-Aber…«
»Du wirst jetzt auf dein Zimmer gehen und schlafen. Du wirst nicht in das Regierungsviertel schleichen. Halte dich von ihnen fern.« Ihre Worte brannten sich in meinen Schädel. Ich wollte dagegen angehen, widersprechen, doch es klappte nicht. Etwas blockierte mich, meine Gedanken, meine Stimme. Ihre Stimme brannte, mein Kopf glühte und mir wurde alles egal.